WASSON und der Soma - Wolfgang Bauer - E-Book

WASSON und der Soma E-Book

Wolfgang Bauer

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Beschreibung

Vor etwa 3500 Jahren kam ein Volk, das sich als 'Aryas' bezeichnete und zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört, und nahm das Tal des Indus in Besitz. Mit einem Kulttrank verehrten sie einen ihrer Haupt-Götter, den mondgestaltigen Soma. Dieser Trank wurde nach diesem Gott Soma benannt und war das Extrakt einer besonderen Pflanze. Generationen von Forschern versuchten das Geheimnis dieser Pflanze anhand des Rig Veda, einer uralten Sammlung von Zauberhymnen, zu ergründen. Erst 1968, nachdem er eine Indien-Expedition durchgeführt hatte, gelang es Wasson, die sagenumwobene Götterpflanze zu identifizieren: es handelt sich um den im Schamanenkult zahlreicher Völker verwendeten Fliegenpilz. Das Buch enthält die zwei Hauptkapitel (erstmals ins Deutsche übersetzt) aus Wassons klassischem Werk "Soma - der göttliche Pilz der Unsterblichkeit" sowie eine Zusammenfassung des gesamten Buchinhaltes. Die Fliegenpilzexperten W. Bauer und E. Klapp berichten in ihren Texten über Hintergründe von Wassons meisterhafter Entschlüsselung der geheim gehaltenen Rauschpflanze, sowie über die revolutionäre Bedeutung Wassons für das Verständnis vom Ursprung von Mythen, Religionen und Ritualen. Eine nette Besprechung des Buches finden Sie auf der Webseite des Fliegenpilzmuseums: nielshallerberg.de

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Wasson und der Soma

Gordon Wasson in Mexiko (1955). Innen-Cover des Bandes „The Sacred Mushroom Seeker“. Foto: Allan B. Richardson / Courtesy Wasson Collection

Wolfgang BauerEdzard Klapp

Wassonund der Soma

Heiliger Pilz, berauschender Trank,göttliche Visionen

Die Entdeckungen des EthnomykologenR. Gordon Wasson

Impressum

Verlegt durch:

Nachtschatten Verlag AG

Kronengasse 11

CH-4500 Solothurn

Tel: 0041 32 621 89 49

Fax: 0041 32 621 89 47

[email protected]

www.nachtschatten.ch

© 2012 Wolfgang Bauer und Edzard Klapp

© 2012 Nachtschatten Verlag AG

Umschlaggestaltung und Layout: Janine Warmbier, Hamburg

Lektorat: Nina Seiler, Zürich

Fotos und Bilder, soweit nicht anders vermerkt, stammen aus den Archiven der Autoren oder des Verlages.

ISBN 978-3-03788-161-3

eISBN 978-3-03788-530-7

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten und nur nach Absprache mit dem Verlag erlaubt.

Inhalt

I.

Einführung: R.G. Wasson und der Gott in uns

Wolfgang Bauer

II.

Inhaltsangabe zu den Kapiteln in R. Gordon Wassons Divine Mushroom of Immortality

Edzard Klapp

III.

Das Geheimnis des Soma

3.1

Vorbemerkungen

3.2

Die beiden Formen des Soma

3.3

Attribute, Assoziationen, Metaphern für Soma

3.4

„Hari“ und Rot

3.5

Der Stier und Soma

3.6

Das Euter und Soma

3.7

Der Stiel und Soma

3.8

Somas „Kopf“

3.9

Vier poetische Assoziationen

3.10

„Die Zunge des Weges“

3.11

Die „Knoten“ oder „Knorren“ oder „Knöpfe“ oder „Dornen“ („Stacheln“) auf dem Fliegenpilz

IV.

R. Gordon Wasson: War der Soma der Arier eine uralte Rauschpflanze?

4.1.

Die Fragestellung

4.2.

Mein Lösungsvorschlag

4.3.

Die Lösung

4.4.

Wo die Suche nach Soma fehlschlug

4.5.

Der Baum des Lebens und das wundersame Gewächs

V.

Nachwort: Unsterblichmachung

Edzard Klapp

VI.

Danksagung

VII.

Die Mitarbeiter an diesem Buch

VIII.

R. Gordon Wasson

Widmung

Zur Erinnerung an den Begründer der Ethnomykologie R. Gordon Wasson, an den Entdecker des LSD Albert Hofmann und an den Begründer der Psychedelischen Volkskunde Sergius Golowin.

Albert Hofmann und Sergius Golowin, Ende November 2001. Foto: Roger Liggenstorfer

Cover zu „Magie der verbotenen Märchen“, Merlin Verlag, Gifkendorf, 7. Auflage 1995

I.

Einführung: R.G. Wasson und der Gott in uns

Wolfgang Bauer

Griff nach dem Ei der Hexen

1973 erschien im Hamburger Merlin Verlag ein von mir in der Reihe „Merlins Bibliothek der geheimen Wissenschaften und magischen Künste“ herausgegebenes Buch des Schweizer Märchen- und Mythenforschers Sergius Golowin mit dem Titel „Die Magie der verbotenen Märchen – Von Hexendrogen und Feenkräutern“1.

Das farbige Cover zeigt einen Ausschnitt eines von dem Künstler Pit Morell gemalten Bildes. Man sieht einen langhaarigen jungen Mann, einen Hippie, hinter dem eine junge Frau ekstatisch tanzt. Was der Betrachter nicht sieht: Auf der Originalradierung blickt der junge Mann begehrend auf einen Fliegenpilz. Der Designer des Umschlags fand den Pilz bei einem Buch, das von Drogen und Kräutern handelt, entbehrlich. Und das, obwohl der Künstler seine Kindheit im märchenhaften Reinhardswald verbracht und, wie er mir damals erzählte, sich einiges bei der Gestaltung der Szene gedacht hatte. Denn Golowin schreibt in seinem Buch auch über den Fliegenpilz, das wunderbare Ei der Hexen und Druiden, das sich im Zuge seiner Vervollkommnung in einen Zwerg mit roter Kappe verwandelt: in ein winziges, koboldartiges Männlein, das mit der Fähigkeit begabt ist, seine menschlichen Verehrer und Freunde mit Siebenmeilenstiefeln in Gedankenschnelle in unvorstellbare Märchenabenteuer zu entführen.

Golowin wusste, worüber er schrieb. Ihn hatte eine teeähnliche Abkochung, die aus magischen Kräutern und Fliegenpilzen bestand und die ihm Zigeuner an einem Lagerfeuer in der Camargue einmal zubereiteten, für Stunden in eine Sintflut von Farben und Gesichtern gerissen, die ihm wie ein Eintauchen in den „Tanz der Ewigkeiten“ vorkam. „Nacht, Sterne, Feuer, Schatten, die Gesichter der Zigeuner, alles schmolz zu einer titanischen Einheit, zu einem Gesicht, das alles, Himmel und Tiefen, auszufüllen schien, das irgendwie alles ausdrückte, was ich je in meinem Leben als ein Bildnis des Guten, aber auch des Schrecklichen wahrgenommen hatte.“2 Er erinnerte sich an eine Stimme, die ihm, während er rauschtrunken am Feuer lag, erklärte, dass alles, was ist, das Bild der unendlichen Weisheit Gottes sei. Gott, der Schöpfer von allem, schaffe die Welt als seinen Spiegel. Alles was da ist, sei dazu da, den Gedanken Gottes ein Kleid zu geben.

Von Sergius Golowin erhielt ich viele weiterführende Hinweise und las mich alsbald mit Begeisterung in R. Gordon Wassons 1968 bei Harcourt Brace Jovanovich, Inc. erschienenes Werk „SOMA: Divine Mushroom of Immortality“ ein. Das Buch hätte ich am liebsten als Ganzes sofort auf Deutsch herausgebracht, ich fand aber dafür keinen Verlag. Nachdem ich ein Glas eines (von Sergius’ Sippe sorgfältig zubereiteten) Fliegenpilztrunks konsumiert, eine eindrückliche Erfahrung einer seltsamen Himmelfahrt hatte3 und deshalb auch die Wirkungen des Soma auf die Psyche abschätzen konnte, beschloss ich, ein eigenes Fliegenpilzbuch unter Mitarbeit von Sergius zusammenzustellen. Darin sollten wenigstens die Schlüssel-Kapitel aus Wassons Soma-Buch enthalten sein. An diesem Projekt sehr interessiert war Dieter Hagenbach, der damalige Geschäftsführer des Basler Sphinx-Verlags. Ich schrieb R. Gordon Wasson von meinen Plänen und bekam sofort einen positiven Bescheid, in dem er uns den Abdruck einer ins Deutsche übersetzten Fassung der Texte erlaubte.

Ein Jahr später lernte er in Basel bei seinem Freund Albert Hofmann, der das Vorwort zu dem Buch schreiben wollte, Sergius Golowin und Dieter Hagenbach persönlich kennen.

In der Zwischenzeit häuften sich in meiner Praxis in Dreieich in einem Zimmer Fliegenpilzartefakte und Materialien bis zur Decke. 1991 kam es durch Vermittlung des Botanikers und Künstlers Herman de Vries zur ersten Fliegenpilzausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen. Hier wie auch bei allen weiteren Ausstellungen4 gab es eine Vitrine, die den Forschungen von Wasson gewidmet war und die bei den Besuchern stets starkes Interesse, Erstaunen und lange Diskussionen auslöste.

Edzard Klapps und mein Versuch, 1991 die Soma-Kapitel in das Begleitbuch zur Ausstellung („Der Fliegenpilz – Ein kulturhistorisches Museum“) zu integrieren, scheiterten an dem Widerstand des Kölner Kunstbuch-Verlegers, ein noch dickeres Buch produzieren zu müssen. Als im Jahr 2000 im Schweizer AT-Verlag ein neuer Fliegenpilzreader („Der Fliegenpilz – Traumkult, Märchenzauber, Mythenrausch“) mit einem opulenten, farbigen Bildteil erschien (der Sphinx-Verlag existierte nicht mehr), gab es auch hier keinen Platz für die Soma-Kapitel. Der Reader enthielt zum 100. Geburtstag von Wasson aber eine ausführliche Würdigung zu Leben, Werk und Wirkung des Begründers der Ethnomykologie5.

Eine Frage der Praxis?

Wassons These – die er in seinem Buch „SOMA: Divine Mushroom of Immortality“ ausführlich begründete –, dass der im Rig-Veda besungene, göttliche Somasaft aus gepresstem Fliegenpilzsaft bestanden habe, brachte ihm zunächst viel Zustimmung. Der französische Anthropologe Claude Levi Strauss bezeichnete 1970 in einer Rezension Wassons Darlegungen als revolutionär. Seine Ableitungen seien überaus plausibel. Auch der Ethnobotaniker Richard Evans Schultes und der Schweizer Biochemiker Albert Hofmann akzeptierten die von Wasson gefundene Lösung in ihrem 1980 erschienen Buch „Plants of the Gods“ als richtig. Der amerikanische Ethnopharmakologe Jonathan Ott pries Wasson aufgrund seiner Entdeckung als Darwin des 20. Jahrhunderts und verglich ihn mit Gregor Mendel.

Zweifel und Kritik, die von prominenten Vedisten (Sanskritologen) gegen seine Thesen vorgetragen wurden, darunter eine 1971 erschienene 32 Seiten starke Attacke des Indologen Professor Brough6, die Brough persönlich am 8. August 1971 bei Wasson in seinem Haus in Danbury abgab, beantwortete Wasson 1972 mit einer 57 Seiten starken Entgegnung, in der er alle Register zog7. Bis zum Ende seines Lebens nahm er in Aufsätzen und in weiteren Büchern zu Fragen und Zweifeln immer wieder Stellung. Neu entdeckte Funde unterstützten seine Sicht und gaben seinen Thesen zusätzliches Gewicht8.

Nach seinem Tod machte Wassons Schüler und Freund, Jonathan Ott, die Sache seines „verehrten Lehrers“ zu seiner eigenen. In einem Artikel „The Post – Wasson History of the Soma Plant“9 diskutierte er noch einmal ausführlich, ob andere in Indien heimische Pflanzen als der Fliegenpilz in die Beschreibungen passen, die im Rig-Veda gegeben werden. Für Ott kommen nach sorgfältiger Abwägung aller Argumente weder Zubereitungen aus dem Samen der Steppenraute (Peganum harmala), noch mit Psylocybin-Pilzen wie dem Psilocybe cubensis, noch mit Haschisch (Cannabis sativa), noch durch Auflösungen von Mutterkornpilzen, noch ein Getränk aus Meerträubelblättern (Ephedra vulgaris) in Frage. Ott stellt fest: „Wir können der Schlussfolgerung nicht entkommen, dass Wassons ursprüngliche Theorie den Test durch die Zeit bestanden hat und dass sie besser begründet bleibt als jede andere Alternative, die bisher vorgeschlagen wurde.“

Cover des Begleitbuchs zur Fliegenpilzausstellung in Hagen, 1991

Cover eines Fliegenpilzreaders des AT-Verlags aus dem Jahr 2000

Die Mehrzahl von Wassons Kritikern hatte, das darf man nicht vergessen, weder Fliegenpilze noch andere psychoaktive Pflanzenzubereitungen probiert. Kompetenter würdigte ein Praktiker wie der amerikanische Bewusstseinsforscher Clark Heinrich 1992 in einem Artikel die Befunde Wassons10:

Der erste Anblick eines wild wachsenden Amanita muscaria könnte etwas beunruhigend sein. Mit seinem Fuß und Stiel von reinstem Weiß und seiner vollendet geformten, feuerrot leuchtenden, mit weißen Flecken übersäten Kappe ist dieser Pilz kein verborgenes Mauerblümchen. Er ist eine stattliche Erscheinung, eine schnell auftauchende und anwachsende Kraft, die scheinbar aus dem Nichts kommt, selbsterzeugt, aber vom Unwetter ausgebrütet, die schwarze Erde aufbrechend und seine Kraft und seinen Glanz der Welt offenbarend. „Hier bin ich“, sagt er.

Cover von Strange Fruit – Alchemy, Religion and Magical Foods – A Speculative History, Bloomsbury Publishing, London 1994

In den vergangenen 15 Jahren habe ich diesen schönsten aller Pilze erforscht und gelegentlich damit experimentiert. Die Forschungsarbeit erbrachte eine Reihe von ganz unerwarteten Folgerungen. Das Experimentieren führte mich, nach dem Trial-and- error-Prinzip, zu einem über-stofflichen [super-essential] Feld reinen Lichts und reiner Glückseligkeit, die Gott selbst zu sein schien. Es führte ebenfalls bei einer anderen Gelegenheit in ein Koma der schrecklichsten und äußersten Finsternis, in das ich wiederholt im Verlauf eines Nachmittags versank. Diese frühen Experimente über die Grenzen des Bewusstseins hinaus waren lebensverändernde Ereignisse.

Einige würden hinzufügen „lebensbedrohende“, aber mein Zustand reichte, wie bei anderen vor mir, nicht bis zum Tode. Und sicher mussten, wie ich dachte, Andere vor mir durch die ganze Geschichte hindurch ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wenn sie diesen Pilz verzehrten. Es gibt ihn schon länger als den Menschen. Er wächst an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt.

Gewappnet mit Erfahrungen aus erster Hand las ich Wassons „Soma“ und spürte unmittelbar, dass seine Theorien der Wahrheit entsprachen. Ich las Übersetzungen des Rig-Veda und fand zu dieser bemerkenswerten Pflanze weit mehr Bezüge als die von Wasson zitierten, und zwar offene wie verdeckte. Die Verse sprachen von seiner variierenden, jedoch bestimmten Färbung; von seinen variierenden, jedoch bestimmten Formen; von seinem Lebenszyklus; von seiner tiefen und subtilen Wirkungsweise. Ich hatte keine Zweifel mehr: für mich war Soma in der Tat der Amanita muscaria.

Alles, was ich über die Wirkung von Soma las, entsprach meinen eigenen Erfahrungen mit dem Pilz: übermäßiges Schwitzen, die Drohung eines „unangenehmen Durchgangsstadiums“ (Übelkeit, Erbrechen, Koma), Sehstörungen, außergewöhnliche Energie und Ausdauer, Redekraft, Hellsehergabe, Telepathie, Glücksgefühl, Leichtigkeit. Lohn für diese Katharsis war immer die Gabe des Geistes. Sogar (oder besonders) Wassons Theorie der zweiten Form des Soma traf zu.

Wie Wasson ausführte, wurde der Feuergott Agni, sowohl Gott wie Feuer, stets mit dem Soma in der Rig-Veda gleichgesetzt. Soma wurde oft Agni genannt, als wenn es in jener Zeit allgemeines Wissen gewesen wäre, dass man sich auf Soma als ‚Feuer’ beziehen konnte, und jeder andere verstand, warum. Und sie würden verstehen, warum, wenn das Feuer, auf das man sich bezog, der Pilz mit seiner feurigen, wie eine glühende Kohle rot leuchtenden Kappe war. Er trägt sogar Flecken von weißer ‚Asche’ in Form von an der Kappe hängen gebliebenen Hüllenresten an der Oberfläche. Soma als Feuer hinterlässt sogar ‚Asche’ in Form eines weißen Sporenstaubes auf allem, was unter der sporenbildenden Kappe liegt. Schließlich ist die hitzige Wirkung des Soma auf den Verwender zu nennen. Um einen so übermäßigen Schweißausbruch zu erleben, muss man wohl Feuer geschluckt haben.

Soma war der Bulle, der den Boden mit seinem Horn aufpflügte; er war der Nabel; er war der Pfeiler des Himmels; er war ‚Honig’ (getrocknete reife Kappen schmecken nach Honig); er war Feuer. Wenn er alle diese Dinge war, kann man sinnvoll annehmen, dass er auch andere Dinge war, dass er noch andere Namen hatte. Wir wollen nicht vergessen, dass Soma das zentrale und wesentliche Element der gesamten religiösen Praktiken dieser Zeit war, was ihn zu einem heißbegehrten Gott machte.

Der König im Wald

In jedem Herbst sind die Wälder bei uns voll mit den kleinen, in Purpurrot gekleideten, feuerfarbenen Fliegenpilzkobolden, die die Vorübergehenden grüßen. Im russischen Märchen gilt das unter den Wurzeln der Fichten wohnende Pilzmännlein Och als König, der als mächtiger, schamanisierender Waldgeist die Menschen, die sich ihm anvertrauen, in seinem „Feuer“ zu Kohle verbrennt, sie mit „Lebenswasser“ (Fliegenpilzsaft) besprengt und wiederbelebt und sie – über diese Initiation geläutert und mit magischem Wissen versehen – ins Leben entlässt11. In der Bezeichnung Königsfliegenpilz (Amanita regalis) schwingt ein solcher tiefer Respekt auch in der deutschen Bezeichnung noch mit12.

Wasson wäre nicht Wasson gewesen, hätte er nicht auch das deutsche Lied vom Männlein mit dem purpurroten Mäntlein entdeckt, mit dem Hoffmann von Fallersleben Kindern ein leicht zu beantwortendes Rätsel aufgibt. Obwohl ihm die Farbe „Purpurrot“ nicht so ganz für die Farben des Fliegenpilzes, den er aus den USA kannte (gelb, orange, rot), zu stimmen schien, fand er es bemerkenswert, dass diese Farbe dem im Lied besungenen Pilz „kaiserliche Erhabenheit“ („imperial majesty“) verleiht13.

Der einfüßige König des Waldes schlägt immer noch und immer wieder Menschen in seinen Bann. Dem Pfälzer Schriftsteller, Künstler und Landschaftsschützer Hans Wagner gab die frühe Begegnung mit dem stillen und stummen Männlein im Wald wichtige Impulse:

Als Knabe hatte ich einmal ein seltsames Erlebnis mit Amanita. Ich saß unter einer großen, mächtigen Fichte, es war die Zeit des Frühherbstes, der moorige Boden war voller Morgentau und tausende silberner Spinnweben durchfunkelten den morgendlichen Wald. Ich schwänzte mal wieder die Schule und fühlte mich so richtig wohl bei dem Gedanken an meine pflichtbewussten Mitschüler, sollten die nur einmal lernen. Direkt vor mir wuchs ein herrlicher Fliegenpilz, er gefiel mir so gut, dass ich ihn ewig lange anstarrte. Plötzlich regten sich in mir Gedanken, wie ich sie nie zuvor gedacht hatte. Ich wollte mit einem Male so sein wie dieser Pilz hier in seiner einzigartigen Schönheit. Einfach nur Tag und Nacht an diesem Platze verweilen, den Liedern der Vögel lauschen, Rehe und Hasen beobachten, den gleitenden Flug des Bussards und Sperbers erspähen, ja dies war für mich etwas ganz Großartiges und dieser Gedanke hat mich mein Leben lang nicht mehr losgelassen, und oft habe ich später dies Gefühl wieder in mir gefunden: dieses „In der großen Gemeinschaft mit Baum, Stein und Tier bin ich nicht alleine“. Erst später wurde mir klar, dass ich mich an jenem Frühherbsttage das erste Mal bewusst mit einem Wesen aus dem Pflanzenreich unterhalten hatte. Und wenn ich heute bei meinen Waldgängen Fliegenpilzen begegne, dann habe ich großen Respekt vor ihnen. Manchmal treffe ich auch einen besonders prächtig aussehenden unter ihnen, dann weiß ich, dies ist der König aller Fliegenpilze, eine Inkarnation jenes großartigen Wesens meiner Kinderzeit.

Später, als Erwachsener, kommunizierte er mit dem Geist einer mächtigen alten Fichte, einem der Wirtsbäume des Fliegenpilzes:

In einer Vollmondnacht begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben einem Baumgeist. Das Licht des Mondes fiel in den Fichtenhain, der Waldkauz lockte. Im Farn regten sich Maus, Igel und Unke. Es war eine warme Nacht; und manchmal schwirrte eine Fledermaus über mir durch den Mondschein. Ich saß in dieser sehr romantisch wirkenden Nacht mit dem Rücken an meine Fichte gelehnt. Ich fühlte mich wohl bei meinem Baum und war fast eins mit ihm. Selbst wenn ich nicht bei ihm war, hatte ich in letzter Zeit oft dieses Gefühl seiner Nähe gespürt. Irgendwann spürte ich ein Beben, mehr eine Bewegung, eine Art Zucken durch den Stamm der alten Fichte zittern. Es war weniger mein Körper als mein Bewusstsein, das dieses Beben erfasste. Mit einem Male umtanzten mich schmetterlingsgroße Wesen – es entstand eine Kommunikation ohne Sprache. Wir teilten einander mit, und im Stamm der alten Fichte, mit der ich durch mein Rückgrat in Verbindung stand, durchflackerte uns gemeinsam ein Lebensodem.

Baumgeist, Zeichnung von Ute Knieriemen Wagner

Schließlich nahm er in einem nächtlichen Ritual im Wald sieben getrocknete Fliegenpilze zu sich. Solchermaßen von den Hexen glücklich gesalbt, zog er das Fazit:

In vielen Begegnungen mit Amanita, da er mir in den verschiedensten Verkörperungen erschien, lehrte er mich ein Stückchen Daseinserkenntnis. Er lehrte mich die äußere Natur als eine Analogie zur inneren Natur zu sehen. Er lehrte mich auch, das Göttliche im Menschen zu erkennen, das Göttliche zu begreifen. Im Banne Amanitas mag uns Gott wie ein vielfältiger Kristall erscheinen. Er spiegelt sich immer wieder neu, vom dunklen Schwarz bis zum hellsten Licht, in allen Brechungen und Farben, denn er ist in der Made, die der Vogel aus der Rinde zieht, und er ist das Wesen des Baumes, an dem der Kleiber klettert. Er ist in der uns umgebenden Natur. Er ist nichts und doch alles.14

Als Künstler malt Hans Wagner den Fliegenpilz bis heute immer wieder. Es geht ihm dabei nicht darum, ihn möglichst naturgetreu zu malen, sondern er will den kleinen knollenfüßigen Waldfürsten mit seiner ganzen sonnenhaften Ausstrahlung, in seinem feurigen Charakter, in seinem geheimnisvollen Wesen erfassen.

Fliegenpilze, Bild von Hans Wagner, gemalt mit Acryl

Der Gott aus dem Ei

Das göttliche Feuer, die Sonne, repräsentiert auch ein anderes rotbemütztes Manikin: der über Indien, Persien, Kleinasien und Rom bis nach Germanien eingewanderte und nur von streng Auserwählten in nächtlichen geheimen Ritualen verehrte Gott Mithras. (Der Kult um ihn stand sogar unter dem besonderen Schutz der Cäsaren.)

Bei den rituellen Gastmählern bediente ein als Rabe mit Flügeln verkleideter Mann (als niedrigster von sieben Weihegraden). Er reichte den höherrangigen Mysten auch den von einer Schlange umwundenen Kratér mit dem Rauschtrank15.

Kultbilder zeigen Mithras mit roter Zipfelmütze, zumeist rotem, flatterndem Mantel und rotem Röcklein, mit grünen Hosen, roten Schuhen und goldenen Locken. Er ist umgeben von Tieren, Pflanzen und anderen, rote oder gelbe Mützen tragenden, zwergenhaft wirkenden Personen. In der Hand hält er ein Kurzschwert. Ein Rabe fliegt, Nachrichten bringend, zu Mithras und durchbricht dabei das Rund der Grotte, in der Mithras geboren wurde, oder er sitzt schon auf dem Mantel des Gottes und schaut ihm neugierig bei seinem Tun zu. Die Ähnlichkeit von Mithras mit einem Elf, einem Zwergenkönig ist verblüffend. Andere Bilder zeigen Mithras, wie er in jugendlichem Alter aus einem feurigen Ei geboren wird. Die beiden Kappen des Eis, aus denen noch das Feuer züngelt, sind über dem Kopf und unter den Füßen des Gottes zu sehen.

Mithras tötet (zum Wohl der Welt immer wieder neu) einen weißen Stier, der sowohl als Symbol für den vollen, mit Wasser prall gefüllten Mond wie auch für die Pflanze, die den Rauschtrank liefert, steht. Das „Blut“ des Stiers ist der Regen, der von dem immer kleiner werdenden („sterbenden“) Mond zur Erde fließt und der Saft, der aus dem Fliegenpilz gepresst wird (= Haoma/ Soma) und der dem (vermutlich) aus Wasser, Wein und anderen Ingredienzen gemischten Kulttrank beigegeben wurde.

Der einzig erhaltenen mithraischen Liturgie zufolge hoffte der frisch eingeweihte und mit dem Rauschtrank versehene Anwärter auf den Rang des Sonnenläufers (heliodromus) darauf, dass er „nach scharf und mich läuternd bedrängenden Nöten (Übelkeit, Todesangst, Koma, Initiationstod) zum Schauen des ewigen Urstandes gelange“. Später, nachdem er die grausigen Prüfungen durch die Wächter der Schwelle bestanden hatte, wies man den Mysten an: „Öffne dein Seelenauge, und du wirst die Türen offen schauen und die Welt der Götter hinter ihnen, so dass dein Geist vor Wonne des Schauen und vor Entzücken hinaufgerissen wird und emporsteigt.“16 Nach der geglückten Einweihung nahm der Pater, der Myste mit dem höchsten Weihegrad, dem frisch gebackenen Sonnenläufer die rote Kappe ab und krönte ihn mit einem goldenen Strahlenkranz.

Rekonstruktion des Geschehens in einem Mithräum (nach Homayoun)

Mithräen gab es gehäuft in den von den Römern besetzten Gebieten in England und in Germanien, und dort speziell im Gebiet des heutigen Südhessen. Märchen und Sagen aus diesen Gegenden erzählen bis heute von hexenkundigen Tieren und von kleinen rotmützigen Männlein, die unter der Erde wohnen und mit geflügelten Wesen Feste feiern.

Die wichtigsten mythischen Vorstellungen des Kultes wurden „in Bildern“ erzählt. (Man „dachte“ in Bildern.) Dabei konnte das Thema in mehreren und scheinbar sehr unterschiedlichen Bildern ausgedrückt werden.

Bilder wie die Geburt des Gottes Mithras aus dem Weltenei (oder aus dem Felsen, oder aus einem Pinienzapfen), die Tötung des „weißen Stiers“, aus dem „alle Dinge“, ja der gesamte Kosmos entstehen, die Wirkung des „Wasserwunders“ durch ihn, das „den die Welt rettenden Nektar“ hervorbrachte und das Festmahl der Mysten über der ausgebreiteten „Stierhaut“, scheinen allesamt auf eine kultische Verehrung und Verwendung des Fliegenpilzes hinzuweisen.

Obwohl Edzard Klapp in seinem immer wieder nachgedruckten Aufsatz „Rabenbrot“ bereits 1982 auf die Zusammenhänge zwischen dem Fliegenpilz und dem Mithraskult und dem „sein Gewand sprengenden“ Attis hinwies17, blieb eine Resonanz lange aus.

Mark Hoffmann, Carl A.P. Ruck und Blaise Staples nahmen sich schließlich 2002 in einem längeren Artikel in „Entheos, The Journal of Psychedelic Spirituality“ der Causa Mithras an18. Für das Cover der Zeitschrift wählten die Autoren ein Bild aus, das Mithras bei der „Stiertötung“ zeigt. Seine Mütze, seine Kleidung und sein sich bauschendes Mäntlein sind übersät mit Sterne darstellenden weißen Punkten. Die Ähnlichkeit zu einem weiß gepunkteten Fliegenpilz kann deutlicher nicht sein.

Auf Mithras weisen auch Jan Irvin und Andrew Rutajit in ihrem 2005 erschienenen Buch „Astrotheology & Shamanism – Christianity’s Pagan Roots“ hin.