Über das Trinken - Peter Richter - E-Book

Über das Trinken E-Book

Peter Richter

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Beschreibung

Ein Plädoyer für selbstbewussten Lebensgenuss

So viel zu trinken. Und so wenig ohne Alkohol! Jeder Blick in eine Bar oder die Karte eines halbwegs guten Restaurants zeigt: Man muss schon triftige Gründe haben, um bei der traurigen Trias aus Wasser, Cola und Apfelschorle hängen zu bleiben. Aber unsere Haltung zum Trinken ist widersprüchlich: Auf der einen Seite kann gar nicht genug davor gewarnt werden, auf der anderen hält einem ständig einer ein Glas hin. Wer trinkt, hat ein Problem. Wer nicht trinkt, hat erst recht eins. In seinem neuen Buch befasst sich Peter Richter auf ebenso kluge wie amüsante Weise mit einer Kultur, die in berauschenden Getränken schwimmt: unserer. In einer Gesellschaft, die Genussmitteln zunehmend kritisch gegenübersteht, plädiert er dafür, zu selbstbewusstem Lebensgenuss zu stehen – und sich den Rausch auf keinen Fall nehmen zu lassen.

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Seitenzahl: 203

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Inhaltsverzeichnis

I. »Einleitung« oder: Was war und wozu diente die Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit?II. Wozu trinken  – und wozu dieses Buch?III. Die Trunkenen und die Nüchternen  – ist der Konflikt lösbar?Copyright

I. »Einleitung« oder: Was war und wozu diente die Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit?

Diplomatie mit dem Weinglas · Trinken für denFrieden · Eine berauschende Erfahrung · Und eineernüchternde Erkenntnis · Die Nichtigkeit desNichttrinkens · Warum der Geschmack nicht alles ist · Sondern schon auch die Wirkung zählt

Klingt wie ein Märchen, ist aber keins: Es war einmal ein König, der mit seinem Nachbarkönig ein paar ernsthafte Streitigkeiten hatte. Beide waren ehrgeizig und etwa gleich stark. Vielleicht war der andere sogar noch ein bißchen stärker, das war schwer zu sagen. Wenn es aber schwer zu sagen ist, ob man im Zweifel gegen den anderen gewinnen kann  – was tut man dann? Man geht gemeinsam einen trinken.

Die Erkenntnis, daß nach ein paar Gläsern Wein die Welt schon ganz anders aussieht, daß nach ein paar Flaschen davon die Differenzen plötzlich gar nicht mehr so groß erscheinen  – und daß man über alles reden kann, wenn das Reden für Außenstehende erst einmal angefangen hat, wie Lallen zu klingen: Diese Erkenntnis hat zur Gründung der einzigen Geheimgesellschaft geführt, die jemals einen sinnvollen Zweck hatte, oder wenigstens gute Laune. Ihr Name war: Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit.

Es war August der Starke, König in Polen und Kurfürst von Sachsen, der diese Gesellschaft gründete. Und sie erfüllte tatsächlich alle Kriterien, die man von Geheimbünden aus Abenteuerromanen kennt: verschwiegene Treffpunkte, Tarnnamen und ein striktes Geheimhaltungsgelübde. Das Gremium tagte bei Graf Wackerbarth, der verdonnert worden war, die Kellerräume seines Kurländer Palais in Dresden dazu zur Verfügung zu stellen. Als rituelles Zentrum ließ August seinen Hofarchitekten einen runden Tisch anfertigen, der die Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit automatisch in eine Traditionslinie stellte, die von der mythischen Tafelrunde des König Artus bis zu den »Runden Tischen« während der sogenannten friedlichen Revolution in Ostdeutschland reicht. Die Idee dahinter ist simpel genug: Wo eine Runde wirklich kreisförmig tafelt, kennt die Sitzordnung keine Hierarchien mehr; wenigstens formal sind hier alle gleich.

Die Verzierungen der Tischplatte bildeten zugleich das Siegel dieser Gesellschaft: »sceau de la table ronde« stand da umlaufend, Siegel des Runden Tisches. Acht Linien formten ein achteckiges Kreuz, in dessen Ecken acht Buchstaben standen, die zusammengenommen »la gahete« ergaben, was eine etwas altmodische oder vielleicht einfach auch nur falsche Schreibweise ist für »la gaieté«  – die Fröhlichkeit.

In der Mitte des Tisches schließlich: das Wort »sub« und darunter eine stilisierte Rose  – und daß die Redewendung »sub rosa« zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet: Das braucht man in einer Welt, in der die Bücher eines Dan Brown zum Allgemeingut gehören, sicher nicht weiter zu erläutern.

August persönlich hatte die Satzung und die Mitgliederliste verfaßt. Hoher sächsischer und preußischer Adel, auch Damen waren dabei. Geredet werden sollte über alles, und zwar zwanglos und ohne einander ins Wort zu fallen. Am 13. März 1728 wurde Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., der sogenannte Soldatenkönig, offizielles Mitglied. Und es heißt, daß die Beziehungen zwischen den beiden hart konkurrierenden Mächten Preußen und Sachsen tatsächlich spürbar friedlicher geworden seien, solange die Gesellschaft ihren Statuten gemäß arbeitete, also: trank.

Das, dachte ich im ersten Moment, ist das Einleuchtendste, Klügste und Anrührendste, was ich jemals über irgend etwas gehört habe. Es war auf dem Staatsweingut Schloß Wackerbarth in Radebeul, wo sie die Geschichte begreiflicherweise schon aus Gründen der Eigenwerbung gern erzählen und auch einen Nachbau des Runden Tisches im Keller haben. Eine Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit! Alkohol als Mittel der Diplomatie!! Trinken für den Frieden!!!

Ich war wie berauscht von dem Gedanken.

Und dann kam, noch mit der gleichen Post gewissermaßen, auch schon die Ernüchterung.

Denn selten ist ein Konzept dermaßen nicht aufgegangen. Schon wenige Jahre später, im Siebenjährigen Krieg, haben die Preußen ihre sächsischen Saufbrüder trotzdem brutal über den Haufen gerannt. Und davon mal ganz abgesehen: Was ist mit all den zerstörten Lebern, was mit den zerstörten Leben? Was ist das Gelächter der Trunkenen gegen die Lächerlichkeit der Besoffenen? Und woher kommt, wenn das Trinken den Frieden stiften soll, dann die ganze Gewalttätigkeit? Die Typen, die im Suff Menschen totschlagen. Und die sich am nächsten Morgen nicht einmal mehr daran erinnern können…

Die Wahrheit ist: Ganz so schwerwiegend waren meine Gedanken im ersten Moment noch nicht. Es war vielmehr einfach so, daß wir, wie gesagt, auf einem Weingut saßen. Und die Erkenntnis, daß es tatsächlich einmal eine staatliche Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit gegeben hat, die wäre eigentlich ein ganz guter Grund zum Anstoßen gewesen.

Aber ich war der, der nachher noch fahren mußte.

Und was dabei das Trinken betrifft  – da sind unsere Polizisten bis heute leider von preußischer Unnachsichtigkeit, sogar die in Sachsen.

Das war  – gerade, wenn man durch ein Glas Wein darauf schaute  – ein Problem von philosophischen Ausmaßen: Trinken verbietet sich für den, der fährt. Aber Nichttrinken ist nicht nur auch keine Lösung  – Nichttrinken entzieht gleich der Fahrt als solcher die Grundlage. Wozu ist ein Weingut denn da?

Und nur soviel zu trinken, daß es keine Wirkung tut: Das ist von allen Varianten die mit Abstand erbärmlichste. Wer nur mal nippt, trinkt nicht. Wer nur nippt, verschwendet Rohstoffe. Denn, nein: Es geht eben nicht nur um den Geschmack. Wenn es nur um den Geschmack ginge, könnte man den Wein nach dem Gegurgel auch wieder ausspucken wie der Winzer bei der Probe. Seinen Gästen würde der Winzer das aber übelnehmen, und zwar völlig zu Recht. Der tiefere Sinn des Weins ist nicht, daß er schmeckt, sondern daß er wirkt. Sein Stifter war Dionysos, ein grausamer Genuß-Gott, und nicht irgendein Feinschmecker mit gekräuselten Lippen. Der Geschmack ist nur eine Zugabe, wenn auch eine erfreuliche. Wer aber sagt, daß es ihm ausschließlich auf den Geschmack ankäme, auf den Alkohol hingegen könne er verzichten: der ist entweder ein Lügner, oder er hat auch vom Geschmack keine Ahnung, denn der Geschmack ist verwoben in die Drehzahl. Das, was man das maßvolle Trinken nennt, ist deshalb immer nur ein Flirt mit dem Rausch. Irgendwann muß man sich aber auch mal trauen, einen Schritt weiter zu gehen.

Vielleicht, wer weiß, geht ja von Wackerbarths Weinkeller trotz alledem bis heute eine bedenkenswerte Botschaft aus: Die Bekämpfung der Nüchternheit bleibt ein Anliegen der Gesellschaft.

II. Wozu trinken  – und wozu dieses Buch?

Das gute Glas Wein · Und warum es dabei nichtbleiben darf · Vom Nutzen der Bierflaschen für dieMäßigung · Warum das Trinken ein Problem ist,das Nichttrinken aber erst recht · Was, wenn dasTrinken aus der Welt verschwände? · Weshalb wertrinken will auch lesen sollte · Weil die Praxis aucheine Theorie hat · Und eine Geschichte undziemlich gute Gründe

Trinken sollte zum Rausch führen. Punkt. C2H5OH sollte in ausreichenden Mengen über das Blut ins Gehirn gelangen, um dort für ein paar Veränderungen zu sorgen  – hier ein paar Reize dämpfen, da ein bißchen mehr Hall geben; insgesamt nichts wesentlich anderes als das, was man beim Klavierspielen mit den Pedalen tut.

Das ist es, wovon im folgenden die Rede sein wird. Und das ist eben exakt kein Plädoyer für den Alkoholismus, sondern es ist das stärkste Argument dagegen. Trinken, um nüchtern zu werden  – das ist das Gegenteil dessen, worum es hier geht. Wem zwei Flaschen Wein nicht anzumerken sind, an den sind sie verschwendet; der soll Traubensaft trinken.

Heißt das, die Gefahren zu verharmlosen?

Absolut nicht: Es heißt, sie zu bejahen. Es heißt, sie ins Auge zu fassen. Und zu lernen, trittsicher drumherumzutanzen.

Es wird hier also ganz sicher nicht für das eine Gläschen Rotwein plädiert, das gut sein soll für das Herz. Es geht hier nicht um das eine Gläschen, das schon nichts schaden wird. Das Gläschen in Ehren, das niemand verwehren kann. Es geht, wenn überhaupt, um das eine Glas zuviel. Das, welches gut für die Stimmung ist.

Denn der schlimmste Satz, den man über das Trinken überhaupt schreiben kann, steht meistens in der Autorenbiographie: Der Autor selbst »genieße« »gelegentlich« »durchaus« auch einmal »ein Glas guten Rotweins« …

Dieser Autor hier hält das für großen Blödsinn. Wenn der Rotwein wirklich gut ist, trinkt er nämlich mindestens noch ein zweites Glas. Oder er trinkt von vornherein gar keins. Viel häufiger genießt er übrigens ein schönes Glas schlechten Weißweins. Das bringen das Leben und der Beruf so mit sich. Irgendwer drückt einem immer ein Glas in die Hand.

Und in der Regel ist der Weißwein eben schlecht. Meistens zu sauer. Immer zu warm. Und mit Wasser geizen sie gern, vielleicht aus Angst, daß sonst keine Stimmung aufkommt.

Deshalb sind Bierflaschen so wichtig. Da hat man was in der Hand und ansonsten seine Ruhe. Es kommt kein Kellner und schenkt dauernd nach. Wer will, kann einen ganzen Abend damit bestreiten. Und sie liegt auch leer noch elegant in der Hand. Die Bierflasche ist sozusagen die Clutchbag des Herrn. Und daß so ein Bier nicht unbedingt dem Trinken dient, sondern unter Umständen auch der Abwehr von anderen Getränken, von Trinkzwängen, mit denen zu tun bekommt, wer in dieser Gesellschaft bestehen will: Das ist auch so etwas, um das es hier geht.

Denn wer trinkt, hat in unserer Gesellschaft ein Problem. Wer nicht trinkt, aber auch.

Wer trinkt, gilt als sozialer Störfall. Wer nicht trinkt, aber erst recht.

Trinken ist damit die heikelste Tätigkeit, der man nachgehen kann auf dieser Welt. Das Verhältnis, das die Menschen dazu haben, kann man ambivalent nennen  – oder einfach auch perfide: Man wird immer exakt solange für seine Trinkfestigkeit gelobt, bis es plötzlich heißt, man sei ein Trinker, und dann folgt die Ächtung, dann wird böse getuschelt.

Wer allerdings sagt, er trinke nichts, über den wird sofort getuschelt.

Wer nichts trinkt, macht sich verdächtig. Eine Frau, die nichts trinkt? Bestimmt »in anderen Umständen«. Ein Mann, der nichts nimmt? Sicher religiöse Gründe. Oder noch schlimmer. (Trockener Alkoholiker!)

Es ist in unserer Gesellschaft praktisch nicht vorgesehen, einen Drink abzulehnen. Außer man sagt: »Ich bin ein schwangerer Moslem auf Entzug.«

Aber wer sagt so etwas schon?

Nun ist es nicht so, daß es zu dem Thema bisher noch nichts zu lesen gäbe. Es gibt eine Menge Bücher über das Trinken, das Spektrum reicht von der vulgären Sauf-Apologetik über die Cocktailmixbücher bis zu den Ratgebern für Alkoholkranke. Dieses Buch hier beansprucht gewissermaßen einen Platz in der Mitte. Für Bücher über das Trinken gilt im Prinzip der gleiche Grundsatz wie bei ihrem Gegenstand: »Einer geht noch.« Wer diesen Grundsatz nämlich aufgibt, schafft automatisch Raum für sein Gegenteil  – für die Frage: Geht das überhaupt noch? Und wenn ja, für wie lange?

Berauschende Getränke gibt es, seit es menschliche Zivilisationen gibt. Das heißt aber nicht, daß das auch für alle Ewigkeit so bleiben muß. Noch mag es unvorstellbar klingen, daß das Trinken eines Tages aus unserem Alltag verschwinden könnte. Aber das galt auch einmal für den Hut oder das Pferd: noch vor weniger als einem Jahrhundert im Leben nicht wegdenkbar  – heute im Alltag der meisten Menschen nichts als eine vage Erinnerung, ein Gegenstand der Nostalgie, bestenfalls ein teures Hobby. Wie die Zigarre und das Pfeifchen. Und bald die Zigarette.

Schon heute zeichnet sich ab, daß es auf dem Gebiet des Trinkens zu einer ähnlich restriktiven Gesundheitspolitik kommen könnte wie zuletzt beim Rauchen. Ich möchte niemanden in Unruhe versetzen, aber es gibt Tendenzen, die heute noch belächelt werden und morgen vielleicht schon mehrheitsfähig sein können. Könnte also sein, daß wir es hier mit einem Kulturgut zu tun haben, das schon bald auf dem Weg ins Museum ist. Könnte sein, daß da eine ganze Welt zu verschwinden droht. Es muß nicht, aber es könnte. Etliches spricht dafür. Es lohnt sich auf jeden Fall, noch einmal genau hinzuschauen, was da alles auf dem Spiel steht, wenn dem Rauschtrinken der Kampf angesagt wird. Und es lohnt sich womöglich gerade für diejenigen, die mit ihrem guten Glas Rotwein in der Hand dabei noch assistieren, weil sie sich für kultivierter halten als die fröhlich lärmenden Oktoberfestzecher: Gerade für solche »Ich trinke nicht, ich genieße«-Trinker könnte es sich womöglich am meisten lohnen, den Ast einmal zur Gänze zu betrachten, auf dem sie sitzen, während sie sägen.

Was kann so ein Buch dabei leisten?

Es dient der Begründung. Sie trinken. Ich sage Ihnen, warum das vernünftig ist  – und eine Form der Teilhabe an gewaltigen historischen Prozessen.

Denn wer trinkt, trinkt nie nur so für sich, er stellt sich in bestimmte Traditionen. Jahrtausendelang war das Trinken ein Segen, es war lebensrettend, es war Medizin und Lebensmittel. Alkoholisches war noch das Gesündeste, was man trinken konnte. Jedenfalls gesünder als Wasser. Es sind noch nicht viel mehr als zweihundert Jahre, daß in Europa der Genuß von Wasser als unbedenklich gilt. »Water weakens a person« wissen Engländer, wenn sie im Pub stehen, bis heute. Alkohol desinfizierte, Alkohol konservierte. Und, tja, Alkohol machte irgendwann betrunken. Man muß sich, so deuten es manche Historiker an, das Abendland bis ins 18. Jahrhundert als durchgängig und flächendeckend angeschikkert vorstellen. Vom Kind bis zum Greis und von den Bauern bis zu den Baronen. Von denen, die sich damit die körperliche Arbeit erträglich machten, bis zu denen, die wenig anderes zu tun hatten. Kopfklarheit als Lebensform, so ist zu lesen, das bringt erst ein Dasein zwischen Rechnungsbüchern mit sich, das kommt erst mit dem Bürgertum. Nüchternheit in dem Sinne, wie sie unsere Verkehrsbehörden heute verlangen, ist eine Erfindung der Moderne. Davor gab es ganz offenbar, wenn überhaupt, nur einen Unterschied: den zwischen angetrunken und sturzbetrunken.

Jahrhundertelang war das Trinken nämlich auch ein Zwang. Es konnte nicht abgelehnt werden, wenn es ans Zutrinken ging, wie das rituelle Leeren der Becher damals hieß. Geschäfte wurden so besiegelt, Lehnsverhältnisse, alles. Es gab im 16. Jahrhundert einmal einen Nürnberger Patrizier, der sich von Papst Paul III. von diesem Trinkzwang befreien ließ. Daß man heute noch von ihm weiß, zeigt nur, daß er die berühmte Ausnahme darstellt, durch die jede Regel erst bestätigt wird.

Dauernd trinken zu müssen, wäre heute eine Horrorvorstellung. Gar nichts mehr trinken zu dürfen, allerdings auch. Es könnte sein, daß dieses Buch genau die Schwelle markiert, einen historischen Wendepunkt. Das klingt vielleicht ein bißchen pathetisch  – ist aber vor allem dramatisch. Denn die Phase dazwischen, die Freiheit, jederzeit trinken zu dürfen: Die macht auch immer mehr den Eindruck, als würde es mit ihr zu Ende gehen. Als sei es an der Zeit, vorsichtshalber die vorletzten Runden zu ordern.

Wenn das Trinken aber ein Rückzugsgefecht ist, dann kann man auch gleich das ganze kulturgeschichtliche Gewicht der Sache in die Schlacht werfen. Denn jede Praxis hat eine Theorie. Jedes noch so frische Bier hat eine jahrtausendealte Geschichte. Und eine Bar ist nichts als die Fortsetzung der Bibliothek mit weniger trockenen Mitteln.

Prosit! Das ist Latein und heißt »Möge es nutzen«.

III. Die Trunkenen und die Nüchternen  – ist der Konflikt lösbar?

Der Riß durch den Globus · Sogenannte Softdrinks · Die Alkoholabhängigkeit der Alkoholfreien · Wer ziehtwen auf seine Seite? · Trinken als Wohlstandsindikator · Über die Verharmlosung des Trinkens · Und über dieVerharmlosung der Abstinenz · Denn wer nur Wassertrinkt, hat etwas zu verbergen (Baudelaire)

Es geht heute ein Riß durch die Menschheit, den Globus und jede Getränkekarte. Und schon ein oberflächlicher Blick auf die beiden Lager verrät, auf welcher Seite man stehen wollen sollte: So viele Getränke gibt es auf der Welt. Und so wenige ohne Alkohol!

Schauen Sie einmal auf die Regale einer Bar, wo die Pracht und die Herrlichkeit und vor allem die Vielfalt der Alkoholika ausgebreitet sind wie die Federn eines Pfauenrads. Und dann stellen Sie sich das gleiche danach mit Softdrinks vor. Schauen Sie in einem Restaurant in die Karte  – und dann suchen Sie die Seite mit den alkoholfreien Getränken. Wenn die überhaupt eine ganze Seite füllen. Eine Armada von Weiß-, Rot- und Roséweinen aus aller Herren Länder und Lagen, dazu Biere und Spirituosen gegen die immergleiche traurige Trias aus Selters, Cola und Apfelschorle. Wer in diesen kümmerlichen Gefilden sein Getränk aussucht, muß sich über Mitleid und Ärger im Blick des Kellners nicht wundern. Und wer ein alkoholfreies Bier nach dem anderen ordert, muß nicht erwarten, daß der Barmann ihm am Ende des Abends das Du anbietet.

Schon die Bezeichnung deutet es ja an: alkoholfrei. Nichtalkoholisch. Antialkoholisch.

Ist damit nicht schon hinreichend deutlich, was der Normalfall ist und was die Ausnahme, der Sonderfall, die befremdliche Abart? Nicht einmal das Wort »trinken« ist ja neutral. Wer da von Kaffee, Tee oder Fruchtsaft spricht, muß das schon dazu sagen, sonst versteht ihn keiner.

Trinken ist automatisch Alkoholtrinken, außer man schließt es explizit aus. Die Tragik der Abstinenzler und Antialkoholiker besteht auch darin, daß sie das, was sie nicht trinken wollen, trotzdem immer im Namen mit sich führen müssen. Es verfolgt sie wie ein Fluch, daß sie zuviel davon hatten, wovon sie jetzt nichts mehr haben dürfen, wenn ihnen ihr Leben lieb ist. Die Normalität schmeckt alkoholisch; da beißt auch die Suchtbeauftragte der Bundesregierung keinen Faden ab.

Sogar in streng islamischen Ländern kommt die Alkoholfreiheit nicht ohne die Voraussetzung des Trinkens aus. Muslime sind in gewisser Weise tatsächlich Alkoholiker auf Entzug  – nicht im einzelnen, aber doch gesamtkulturell und historisch betrachtet: Alkohol ist ein Wort aus dem Arabischen. Die Technik der Destillation haben

2. Auflage

Copyright © 2011

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Uhl+Massopust, Aalen

eISBN: 978-3-641-09753-0

www.goldmann-verlag.de

www.randomhouse.de

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