Über den Stolz - Henning Theißen - E-Book

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Henning Theißen

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Beschreibung

Aristoteles sah in ihm eine Tugend, das Christentum verdächtigt ihn als Wurzel der Sünde, für die römisch-katholische Kirche ist er gar eine der sieben Todsünden. Doch der Stolz hat zwei Seiten: Ein zu stark ausgeprägtes Selbstwertgefühl neigt schnell zu Überheblichkeit, wenn nicht sogar zu Narzissmus. Doch zu wenig Stolz kann dazu führen, dass wir ein mangelndes Selbstbewusstsein entwickeln. Henning Theißen beleuchtet in seinem Buch das Phänomen Stolz aus 360 Grad und schafft so die erste Monographie und Kulturgeschichte Über den Stolz aus psychologischer, religiöser und soziologischer Sicht. Dabei beschäftigt er sich auch mit der Frage: Bis wohin ist Stolz gesund?

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Henning Theißen

Über den Stolz

Annäherung an eine riskante Tugend

Für Tanja

INHALT

Vorwort

I. Teil:Grundlegung

Kapitel 1Stolz als Tugend

1.1Zur Grammatik des Stolzes

1.2Zur Theoriegeschichte des Stolzes

Kapitel 2Theologie im Spiegel

2.1Biblische Entdeckungszusammenhänge

2.2Theologische Begründungszusammenhänge

II. Teil:Spiegelungen der Theologie

Kapitel 3Stolz als Gefühl

3.1Eine entwicklungspsychologische Theorie des Stolzes

3.2Zum interdisziplinären Mehrwert der Theorie

Kapitel 4Unkörperlicher Stolz

4.1Der Stolz der Selbstverliebtheit

4.2Die Hybris der Gottebenbildlichkeit

Kapitel 5Körperassoziierter Stolz

5.1Ist Körperlichkeit wesentlich?

5.2Zur Dekonstruktion von Körpergrenzen

III. Teil:Dogmatische und ethische Implikationen

Kapitel 6Körperstolz

6.1Blinde Sünde: das Problem der Scham

6.2Sichtlich stolz: biblische Liebesmetaphorik

Kapitel 7Leibhaftiger Stolz

7.1Leibhaftig aufgrund der Körperlichkeit

7.2„Ich bin stolz auf dich“ – Von der Schwere des Einfachen

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Tausend Meter, vielleicht etwas mehr, sind es von meinem Elternhaus in Mönchengladbach bis zu Schloss Rheydt, einem Renaissancebau der Herren von Bylandt, der als Wasserschloss mit einem Graben versehen wurde. Auf der so entstandenen Wallanlage und in den Schlosshöfen kann man bis heute Pfaue bestaunen, deren männliche Vertreter, wenn man als Besucher oder Spaziergängerin Glück hat, mit dem typischen Radschlag nicht nur ihre Weibchen, sondern auch die umstehenden Menschen beeindrucken. In meiner Kindheitserinnerung waren die – nicht sehr zahlreichen – Gelegenheiten, bei denen ich den Anblick des Pfauenrades genießen konnte, die größte Sehenswürdigkeit von Schloss Rheydt, eindrucksvoller als die Schlossbauten mit dem von ihnen beherbergten Museum und selbst als das Schlosscafé. Vielleicht lag es an dem unverhohlenen Stolz, den die Tiere zur Schau stellten, wenn sie sich ihren Artgenossinnen vom anderen Geschlecht als Brunftpartner zeigten. Das imposante Gehabe verfehlte ja trotz der mir immer etwas geckenhaft erscheinenden Art, mit der die Pfaue im Schlosshof einherstolzierten, nicht einmal auf die anwesenden menschlichen Beobachter seine Wirkung; wieviel mehr musste es bei denen verfangen, denen es eigentlich galt!

Allgemein kann man den Pfau als ein Symboltier für den Stolz betrachten. Viele der Eigenschaften, die sich für mich unkundigen Beobachter bei Schloss Rheydt damit verbanden, genössen in der öffentlichen Wahrnehmung keine gute Presse, wenn sie auf Menschen bezogen würden: die überbordend als Lockmittel eingesetzte Körperlichkeit bei gleichzeitiger exzessiver Selbstbezogenheit, die sich im eingebildet wirkenden Gang zu spiegeln scheint; natürlich auch das lustbetonte Element der Abzweckung all dieser Haltungen, wofür kaum ein anderes Wort als Geilheit zur Verfügung steht. Kurzum, es ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, dass der Stolz in der europäischen Geschichte unter dem maßgeblichen Einfluss des Christentums als Hochmut abqualifiziert wurde, nachdem er noch für die griechische Antike eine Tugend, ja der Inbegriff von Tugend gewesen war.

Nicht weil ich dem soeben umrissenen Negativeindruck eine andere Erfahrung von Stolz entgegensetzen will, habe ich dieses Buch geschrieben – denn es geht nicht um meine persönliche Erfahrung. In meinem eigenen Arbeiten schließt die Untersuchung vielmehr an die Kurzdarstellung der theologischen Dogmatik an, die ich ebenfalls unter Rückgriff auf gewisse Tugenden vor einem Jahr veröffentlicht habe (Glaube – Hoffnung – Liebe. Erträge der Theologie für Menschen heute, Gütersloh 2021). Jenseits dieser persönlichen Perspektive schien mir aber eine Studie über den Stolz aus der Feder eines Theologen an der Zeit, weil die Theologie gut beraten ist, ihre Wahrnehmungen menschlichen Lebens und die Glaubensüberzeugungen, die es leiten sollen, im Spiegel anderer Disziplinen und Expertisen kritische Revue passieren zu lassen. So ist dieses Buch eine Spiegelung seines Themas in nichttheologischen Betrachtungen. Im zweiten Schritt legen sie der Theologie eine Neueinschätzung jenes Gefühls nahe, das als gesteigerter Selbstwert empfunden wird, aber über seine körperlichen Begleiterscheinungen überraschenderweise den Weg zum Anderen erschließt – zunächst als „Körperstolz“ im Nahbereich der Paarrelation, schließlich aber auch im leibhaftigen Miteinander des sozialen Lebens. So kommt am Ende tugendhafter Stolz als echte Möglichkeit auch für die theologische Betrachtung in den Blick.

Jeglichen Anspruch, mit diesen Darlegungen zum Stolz das Rad neu zu erfinden, das die Pfaue bei Schloss Rheydt und anderswo schon lange schlagen, weise ich von mir, aber der neue, gespiegelte Blickwinkel, den ich zum Thema beitragen kann, mag helfen, das theologische Pfui über den Pfau ad acta zu legen, ohne dass die Theologie sich vor dem Spiegel insbesondere psychologischer und gendertheoretischer Erkenntnisse zum Thema hübscher herausputzt, als es ihr zusteht.

Anfänglich diente die in diesem Buch entfaltete Argumentation lediglich als Grundlage für eine Vorlesung, die ich im Wintersemester 2021/22 am Institut für Ethik und Theologie der Leuphana Universität Lüneburg vorgetragen habe. Den Hörerinnen und Hörern danke ich für alle kritischen Rückfragen und Diskussionen. Mein Dank gilt darüber hinaus dem Claudius Verlag, der mit der Aufnahme ins Verlagsprogramm die Möglichkeit geschaffen hat, aus diesen Überlegungen ein Buch werden zu lassen. Ich danke auch Jacqueline Sauck, die sich um die Einrichtung der Register verdient gemacht hat. Ich widme dieses Buch dem Menschen, der mich seit der Arbeit daran beflügelt.

Lüneburg, den 20. März 2022

I. Teil: Grundlegung

Tugenden werden in maßgeblichen Partien der abendländischen Geistesgeschichte als eine „Handlungsdisposition“1 aufgefasst, die es Menschen ermöglicht, das Gute zu tun und darin ihrer Bestimmung gerecht zu werden. Wer tugendhaft ist, bringt also alle Voraussetzungen dafür mit, wahrhaft menschlich zu leben. So gesehen können Tugenden niemals ein Besitz sein, auf den man sich zurückziehen kann wie auf ein Landgut,2 sondern sie müssen immer wieder in Gebrauch genommen werden, damit das Gute, das sie auszeichnet, Wirklichkeit wird. Tugenden, die nicht betätigt werden, bewirken das Gute nicht und sind wie totes Kapital, denn darin ähneln sich moralische Güte und wirtschaftliche Güter, dass man mit ihnen wuchern muss wie mit den sprichwörtlichen anvertrauten Pfunden: Wer sie bekommen hat, darf nicht darauf sitzenbleiben, sondern muss sich erst einmal von ihnen trennen, um sie dann mit Zinsen, nämlich zum Wohl und Nutzen aller,3 zurückzubekommen.

Wenn auch für Tugenden gilt, dass sie nur als Investition und nicht als Besitz gut sind, geht die Annäherung an sie, wie sie in diesem Buch versucht wird, angesichts jener Notwendigkeit zur Trennung eigentlich in die falsche Richtung. Tugenden kann man sich jedenfalls nicht aneignen, weil sie in demselben Maß, wie sie mir als Einzelnem in Fleisch und Blut übergehen und im Idealfall zu meiner zweiten Natur werden mögen, auch schon zur Machtdemonstration moralisch-religiöser Überlegenheit gegenüber anderen verkommen und ihren eigentlich konstitutiven Bezug auf das Gemeinwohl und den allgemeinen Nutzen einbüßen. Dieselbe Geistesgeschichte, der wir die Aufmerksamkeit auf so etwas wie Tugenden überhaupt verdanken, ist voll von Beispielen für diesen Zwiespalt der Tugend.4 E. Kästner, bei dem die Ernüchterung über die Früchte des Abendlands vollkommen war, hat ihn in den schlagenden Aphorismus gekleidet: „Es gibt nichts Gutes / Außer: Man tut es.“5

Das offene Eingeständnis jenes Zwiespalts, das ich alternativ zum teleologischen Ansatz an den Anfang meiner Überlegungen stelle, betrifft deshalb sowohl die philosophische als auch die theologische Dimension abendländischer Tugendverständnisse. Wie kaum eine andere Tugend weist der Stolz die Tragweite dieses Zwiespaltes auf. Wer sich ihm nähert, kann das nur in der Form der Auseinandersetzung tun, die ihrem Wortsinn nach schon wieder Distanzierung einschließt, sodass sich in der theoretischen Beschäftigung mit der Tugend die eben erwähnte praktische Paradoxie von Annäherung und Trennung spiegelt. Gerade in der Tugend des Stolzes liegen Attraktion und Abstoßung dicht ineinander. Von Aristoteles als Ausprägung der Tapferkeit gerühmt, die das androzentrische Menschenbild seiner Ethik am stärksten verkörpert, wird derselbe Stolz ab dem christlichen Mittelalter durch den überragenden Einfluss des Augustinus, der die Brücke herüber von der Antike schlägt, zum Inbegriff der als Hochmut verstandenen Sünde.7

Es wäre (zu) einfach, der Philosophie die positive und der Theologie eine negative Wertung des Stolzes zuzuschreiben. Ertragreicher, aber auch riskanter wird eine Annäherung sein, die beide Perspektiven miteinander verbindet, wie ich es in den drei Teilen dieses Buches vorhabe. Ich schreibe als evangelischer Theologe und mit einem theologischen Interesse am Stolz als Tugend, doch ist die Annäherung daran nur in der Auseinandersetzung mit deren Zwiespalt, also indirekt möglich, indem die eigentliche inhaltliche Beschäftigung mit dem Stolz auf doppelte Weise als Spiegel der Theologie geschieht: Im Stolz, der kein exklusiv theologisches Thema ist, spiegeln sich durch seine Behandlung mithilfe anderer Fachexpertisen wie Psychologie und Gender Studies zahlreiche Themen der Theologie; sie halten ihr damit aber auch den Spiegel vor, indem sie sie zur Revision ihres seit Augustinus etablierten Negativurteils über den Stolz animieren. Erst im Anschluss an diese umfangreichen Spiegelungen, die den zweiten Teil dieses Buches bilden, wird in dessen Schlussteil eine theologische Betrachtung möglich sein. Und noch vor alldem obliegt es dem einleitenden Buchteil, die zugrunde liegenden geistesgeschichtlichen Hintergründe und methodischen Vorannahmen zu entfalten und einen ersten Umriss davon zu geben, inwiefern Stolz als Tugend wahrgenommen (Kapitel 1) und wie die vorgesehenen Spiegelungen der Theologie (Kapitel 2) aufgefasst werden können.

Kapitel 1 Stolz als Tugend

Stolz kennen und erleben wir alle. Und obwohl das Erleben so individuell ist wie die Menschen, die je zu ihrer Zeit und an ihrem Ort leben, gibt es gelegentlich Anlässe, die großen Zahlen von Menschen ganz ähnliche oder sogar gleiche Empfindungen bescheren. Ein solches Beispiel soll am Anfang dieses Buches stehen; es findet sich ähnlich auch in dem originellen und empfehlenswerten Nachschlagewerk „Philosophie der Gefühle“.8

1.1 Zur Grammatik des Stolzes

Als M. Götze am Abend des 13. Juli 2014 mit einem Tor in der 23. Minute der Verlängerung des WM-Finales gegen Argentinien die deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren zum Weltmeistertitel schoss, werden nicht wenige Deutsche Stolz über diesen vierten Titel für Deutschland empfunden haben. Der Satz „Wir sind Weltmeister“ kommt in so einer Situation auch solchen Deutschen über die Lippen, die aus guten historischen Gründen Schwierigkeiten mit allzu offensiv zur Schau getragenem Nationalstolz haben, und die Verkleidung von Auto-Außenspiegeln mit Überzügen in den Farben der deutschen Flagge war in jenen Wochen auch in Kreisen anzutreffen, die sich unter anderen Umständen für eine solche Demonstration vielleicht geschämt hätten. Doch Ereignisse wie der WM-Titel rufen kollektive Erfahrungen des Stolzes wach, die eine Mehrzahl der Deutschen empfunden haben dürften, auch wenn ihnen ihr Deutschsein sonst nicht bedeutsam erscheinen mag oder gar schamhaft in den Hintergrund gedrängt wird.

Was lehrt dieses Beispiel unsere Betrachtung des Themas Stolz? Zuerst ist zu sagen, dass Stolz nicht nur ein Begriff ist, sondern wie viele Begriffe die Einordnung eines höchst realen Phänomens, auf das sich unsere Aufmerksamkeit vor der begrifflichen Anstrengung richten muss. Zweitens handelt es sich bei diesem Phänomen allem Anschein nach um ein Gefühl, das bestimmte charakterliche Dispositionen zum Ausdruck bringt. Das zeigen die Abgrenzungen von den benachbarten Phänomenen. In gewisser Hinsicht ist Stolz das Gegenteil von Scham, wenn nämlich die deutsche Erfolgssträhne bei der WM 2014 viele Menschen in Deutschland dazu bewog, das peinliche Berührtsein durch deutsche nationale Symbole zurückzustellen und z. B. ihre Autos für ein paar Wochen mit schwarz-rot-goldenen Accessoires auszustatten. (Nicht zu verschweigen ist natürlich, dass dieselbe Erfolgssträhne einer Minderheit auch dazu dient, ihr sonst schon ostentatives Selbstverständnis, „stolz, ein Deutscher zu sein“, noch weiter aufzublähen.) Stolz, der sich auf diese Weise gegen Schamgefühle zumindest vorübergehend durchsetzt, steht auf andere Weise zugleich dem Gefühl des Neids entgegen. Dieser Neid gilt nicht dem eigenen Umgang mit nationalen Symbolen, sondern dem anderer Völker mit den ihrigen, wenn etwa in Frankreich die Tricolore bei beinahe jeder Gelegenheit unverkrampft herausgekehrt werden kann. Stolz, so eine erste grundlegende Folgerung, scheint also verschiedene Betrachtungsweisen zuzulassen, und je nachdem, welche man wählt, kann Stolz das Gegenteil von Scham, aber auch von Neid sein.

Daraus folgt, dass Stolz offenbar kein eindimensionales Phänomen ist, das genau ein logisches Gegenteil besitzen müsste. Wenn Stolz diese Komplexität aufweist, ist das eine Einladung, dem Phänomen näher auf den Grund zu gehen. Nach dem Gegenstand des Stolzes wird gefragt, wenn man überlegt, worauf jemand stolz ist. Der Grund des Stolzes, also sein Warum, ist damit noch nicht berührt. Vielmehr muss dafür neben dem Worauf und dem Warum des Stolze eine dritte W-Frage hinzukommen: Wer ist stolz? Damit erst ist das grammatische Grundgerüst errichtet, das es ermöglicht, vom Phänomen Stolz fortzuschreiten zum Begriff des Stolzes, der dieses Phänomen auch unabhängig von einzelnen oder auch kollektiven Beispielen präzise erfasst.

Es ergibt sich also eine dreigliedrige Grammatik des Stolzes: Jemand ist auf etwas aus bestimmten Gründen stolz. Die Wer-, die Worauf- und die Warum-Frage sind für Begriff des Stolzes konstitutiv.9 Die vielleicht grundlegendste Form von Stolz liegt vor, wenn jemand auf eine eigene Errungenschaft stolz ist. Ich nenne dies Leistungsstolz. Zwischen dem Wer und dem Worauf besteht dann eine Kausalbeziehung, die die Frage nach dem Warum unmittelbar beantwortet.

Unterstellt man nun in unserem Beispiel, dass Götze das Tor ohne die wunderbare Vorlage von A. Schürrle nicht erzielt hätte, dann hat sicherlich auch Schürrle allen Grund zum Stolz, denn obwohl er das Tor nicht selbst geschossen hat, kann man auch hier von einer bloß etwas indirekteren Urheberschaft des Wer für das Worauf sprechen. Es zeigt sich jedoch, dass beim Stichwort Leistungsstolz die Beziehung des Wer zum Worauf in abgestufter Weise auftreten kann, sodass der Punkt denkbar ist, an dem die Frage aufkommt, ob wirklich noch von einer Leistung der betreffenden Person zu sprechen ist, die das Worauf des Stolzes hervorgebracht oder mit hervorgebracht hat. Der Stolz von Millionen Deutschen angesichts des WM-Titels 2014 ist ein schlagendes Beispiel dafür. Kaum jemand aus der Fußballnation vor den Fernsehgeräten oder auf den Streamingplattformen wird von sich behaupten können, mit seiner oder ihrer Leistung ursächlich für den Erfolg der Nationalmannschaft gewesen zu sein. Die Brücke zwischen dem Wer und dem Worauf ist hier viel schmaler als bei den zuerst betrachteten Beispielen, sie besteht tatsächlich nur in der geteilten Nationalität. Als Deutsche:r kann man stolz auf den Sieg einer deutschen Mannschaft sein, weil diese Mannschaft im Turnier Deutschland im Ganzen repräsentiert. Zwischen dem Wer und dem Worauf des Stolzes gibt es dann keine direkte Verbindung, sondern sie läuft über den Umweg der Nation, der sich sowohl die Bundesbürger:innen vorm Fernseher als auch der WM-Erfolg zuordnen lassen. Der Nationalstolz, der sich auf dem Boden der Annahme entwickelt, dass einzelne Menschen oder ihre Taten das Ganze eines Volkes oder einer Nation repräsentieren, lässt sich so beschreiben, dass er auf Teilhabe oder Partizipation beruht. Die Männer auf dem Fußballplatz und die Massen vor den Fernsehern haben gleichermaßen an den historischen Errungenschaften derselben Nation teil, sodass die Partizipation an der Nation die Warum-Frage des Stolzes beantwortet.

Auf den ersten Blick ist dieser partizipative Stolz, wie ich ihn kategorisieren möchte, ein abständiges Konstrukt, das sich von der direkten Verursachung des Leistungsstolzes weit entfernt. Aber muss man zugestehen, dass der Stolz von Millionen Deutschen im Juli 2014 dennoch genauso echt, intensiv und ursprünglich war, wie er sich für die Aktiven der Nationalmannschaft angefühlt haben dürfte. Noch wichtiger: Partizipativer Stolz und Leistungsstolz lassen sich beide mit Hilfe der drei Funktionsstellen des Begriffs Stolz festhalten: seinem Wer, seinem Worauf und seinem Warum. Es bedarf dieser drei, wenn man nun in einem zweiten, vom Beispiel zur Theorie wechselnden Schritt einen Blick auf wenige ausgewählte Stationen der Geschichte werfen will, in der in Philosophie und Theologie über den Stolz nachgedacht worden ist. Es hätte keinen Sinn gehabt, blindlings ein Lexikon aufzuschlagen und diese Theoriegeschichte nachzuverfolgen, wenn nicht zuerst an konkreten Phänomenen ein Eindruck davon gewonnen wäre, welche Frage dabei überhaupt leitend sein soll.

1.2 Zur Theoriegeschichte des Stolzes

Die Theoriegeschichte des Stolzes ist lang und stoffreich,10 auch wenn das Thema nach der Französischen Revolution keine hervorgehobene Bedeutung mehr im Nachdenken über die menschlichen Tugenden besessen hat. Das könnte aber einfach daran liegen, dass die Tugendlehre generell bis vor vergleichsweise kurzer Zeit kein großes Interesse aus Philosophie oder Theologie mehr auf sich gezogen hat. Auf der Rückseite dieser Beobachtung liegt die für unseren Zusammenhang wichtigere Feststellung, dass die theoretische Einordnung des Stolzbegriffes bei den Tugenden erfolgt und damit im Herzen der Ethik in der Tradition des Aristoteles. Das verdient Beachtung, denn wenn Stolz als Tugend aufgefasst wird, tritt das Merkmal, dass das Phänomen Stolz zunächst als Empfindung erlebt wird, in den Hintergrund. Während das Phänomen Stolz eher als Gefühl auftritt, erfolgt seine begriffliche Sortierung unter die Kategorie der Tugend. Zwischen Tugend und Gefühl ist theoretisch keine rechte Brücke zu schlagen. Denn Tugenden sind, wie schon erwähnt, Handlungsdispositionen, d. h. unter ihrem Blickwinkel werden Menschen als handelnde Wesen gesehen, die sich bei ihren Handlungen von rationalen, insbesondere zweckrationalen Erwägungen leiten lassen und eben nicht von Gefühlen. Das entspricht der Unmittelbarkeit und Wucht des Stolzes, mit der der Schuss eines M. Götze ins Netz und in die Herzen von Millionen Menschen trifft, ganz und gar nicht. Das schillernde Bild, das den Stolz zwischen Gefühl und Tugend zeigt – als Phänomen eher Ersteres, als Begriff Letzteres –, erklärt vielleicht auch den gewissen Zickzackkurs der Theoriegeschichte und wird jedenfalls den weiteren Gang der Darstellung in diesem Buch (besonders in Kapitel 3) beeinflussen.

Ab der Zeit des Augustinus, der das gesamte christlich-antike Erbe in eigenständiger Transformation an die lateineuropäische Epoche (das sog. christliche Abendland) weiterreicht, wird der Stolz grundsätzlich abqualifiziert, indem Augustinus ihn mit dem Hochmut (lat. superbia) der aristotelischen Maßhaltungsskala gleich-, ihm die Demut als christliche Tugend entgegensetzt und damit den Gedanken der goldenen Mitte fallen lässt.12 Im Ergebnis erscheint der Stolz im christlichen Mittelalter als reine Negativfolie, von der sich die christlich zu übende Tugend der Demut umso leuchtender abhebt. Augustins „Umbesetzung“ des Stolzes auf die Systemposition des Hochmuts wäre kaum denkbar, wenn nicht die graduierende Herangehensweise des Aristoteles im Hintergrund stünde, deren relative Inhaltsunabhängigkeit Augustinus die Neubewertung erleichtert.

Der Stolz und sein eigentliches Subjekt. Das von Augustinus bestimmte Bild des Stolzes bleibt die lateineuropäische Epoche hindurch in Kraft, bis die britische und später die kontinentale Aufklärung die gesellschaftliche Prägekraft der Religion hinterfragt und im Laufe der Zeit auch untergräbt. Für die Beurteilung des Stolzes ist hier D. Hume zu nennen, der eine Generation vor dem Auftreten Kants noch einmal eine positive Würdigung etabliert.13 Dies gelingt ihm durch einen methodischen Neuansatz, den wir in Kapitel 1.1 bereits unausdrücklich in Gebrauch genommen haben. Hume differenziert zwischen dem Objekt und der Ursache des Stolzes, ordnet diesen aber, dem sensualistischen Zugang aufklärerischer Erkenntnistheorie folgend, nicht mehr den Tugenden, sondern den Wahrnehmungen (perceptions) zu. Dadurch erscheint als Objekt des Stolzes regelmäßig das Selbst (self) der stolzen Person. Damit bereitet Hume die Zugangsweise der modernen Psychologie vor, die den Stolz durchgehend zu den selbstbewussten (d. h. das Selbstbewusstsein ausdrückenden) Gefühlen (self-conscious emotions) rechnet. Der enorme Erkenntniszuwachs an Genauigkeit in der Phänomenbeschreibung, der mit der psychologischen Theorie des Stolzes einhergeht, wird sich in Kapitel 3 dieses Buches bemerkbar machen. Die Psychologie steht damit wesentlich auf dem von Hume erschlossenen Boden. Stolz heißt in Humes aufgeklärtem Verständnis, sich selbst als stolz wahrzunehmen, bezeichnet also, modern gesprochen, ein hohes Selbstwertgefühl. Hume bleibt jedoch im Unterschied zur späteren Psychologie zugleich der klassischen Tradition verbunden, insofern er an der Möglichkeit einer ethischen Beurteilung des Stolzes festhält, auch wenn er dafür nicht mehr den aristotelischen Rahmen der Tugendlehre beansprucht. Gleichwohl muss es Hume zufolge für das Selbstwertgefühl Gründe geben, deren Triftigkeit er danach beurteilt, wie eng sie mit dem Selbst zusammenhängen. Gerechtfertigt ist Stolz also in dem Maße, wie er sich auf Eigenes richtet. Humes Position bereitet damit die moderne Idee des Leistungsstolzes vor, die uns in Kapitel 1.1 als grundlegend erschien, ist aber nicht damit gleichzusetzen. Denn Leistungen lassen sich zuverlässig nur an einem Maßstab messen, der außerhalb der Person liegt, die die Leistung erbracht hat. Humes Zuordnung des Stolzes zum Selbstwertgefühl erfasst jedoch auch den Fall, dass die Ursache des Stolzes von Anderen nicht akzeptiert, die ihm zugrundeliegende Leistung intersubjektiv also nicht anerkannt wird und der stolze Mensch nur in seinen Selbstbild so gut dasteht, wie es einer eigenen Leistung entspräche. Auch in diesem Fall wäre von einem hohen Selbstwertgefühl zu sprechen, obwohl Hume vor Augen steht, dass der Stolz anderer den eigenen Stolz ankratzen kann. Nach Hume ist sogar die Konstellation denkbar, in der das stolze Selbst sich Ursachen seines Stolzes zurechnet, die auch in der Selbstwahrnehmung nicht als eigene Leistung erscheinen können, weil sie z. B. in angeborenen Eigenschaften oder ererbtem Besitz bestehen. So können im Sinne Humes Menschen Stolz auf ihre körperliche Erscheinung oder auf familiären Grundbesitz empfinden.14

Der Stolz und sein legitimer Gegenstand. Es ist vor dem Hintergrund der besonders von A. MacIntyre initiierten Revitalisierung der Tugendfrage aufschlussreich, dass T. Smith eine sehr grundsätzlich operierende Rehabilitation der Tugend des Stolzes unternommen hat, die sehr bewusst den aristotelischen Tugendbegriff heranzieht.15 Das ist nur auf den ersten Blick ein Schritt hinter Humes psychologische Öffnung des Stolzbegriffs zurück. Zwar grenzt Smith den Stolz als Tugend deutlich von jedem Begriff des Gefühls ab, doch ist ihr sehr wohl bewusst, dass gerade die Zuordnung des Stolzes zu den self-conscious emotions die Wahrnehmung dafür schärft, dass Stolz, der auf reiner Selbstwahrnehmung aufbaut, verzerrt und unangemessen sein kann, mag auch die Psychologie selbst (anders als ihr Wegbereiter Hume) sich jeder Wertung stolzer Gefühle enthalten. In dieser Konstellation will Smith die moralische Relevanz des Stolzes dadurch gewährleisten, dass sie ihn konsequent dem traditionellen Begriff der Tugend als Handlungsdisposition zuordnet. Denn Tugenden in diesem aristotelischen Sinne können sich nur auf künftig geplante Handlungen richten,16 sodass bereits abgeschlossene, wir können auch sagen: vollbrachte Handlungen von vornherein als Gegenstände möglichen Stolzes ausscheiden. Smiths Theorie wirkt sich darum als drastische Beschränkung auf den Gegenstandsbereich des Stolzbegriffs aus.

Mit diesem Ansatz nimmt Smith einen radikalen Schnitt vor, weil die exklusive Bezugnahme auf beabsichtigte Handlungen den großen Phänomenbereich des Leistungsstolzes ausschließt. Das erscheint beim ersten Hinsehen willkürlich, wird jedoch einer wichtigen Eigenart des Stolzes gerecht, die von der psychologischen Betrachtung ans Licht gebracht worden ist. M. E. wird hier die untergründige Urteilsstruktur des Stolzes erkennbar. Denn auch der Stolz auf eigene Leistungen der Vergangenheit basiert nicht allein auf der Leistung selbst oder ihrer Zuordnung zur eigenen Person, sondern führt dadurch zu der charakteristischen Erhöhung des Selbstwertgefühls, dass diese Leistung des Selbst in Bezug zu anderen Personen und ihrem Selbst gesetzt wird. Das heißt nicht automatisch, dass Stolz aus dem Vergleich oder gar Wettkampf mit anderen und ihren Leistungen hervorgeht, sondern nur, dass stolze Menschen von anderen die Akzeptanz der eigenen hohen Selbsteinschätzung erwarten,17 selbst wenn der eigene Stolz auch im entgegengesetzten Fall bestehen bleiben oder sogar noch weiter hervorgekitzelt werden kann nach der Devise „jetzt erst recht“. Hohe Selbstwertgefühle binden sich also nicht an das Urteil anderer, fordern es aber ein.

Mit ihrem Fokus auf Handlungsdispositionen insistiert Smith darauf, dass Stolz immer – also auch beim Stolz auf vollbrachte Taten – ein Element der Vorwegnahme aufweist. Stolze Menschen beziehen in ihr Selbstwertgefühl immer das Urteil anderer ein, bevor es überhaupt ausgesprochen ist, binden sich aber eben deshalb nicht daran.

Diese Urteilsstruktur des Stolzes ist zugleich der Grund dafür, dass Verbrecher auf einen kaltblütig ausgeführten Coup stolz sein können und dieser Stolz auch von anderen nachvollzogen wird, die die Handlung selbst aus tiefstem Herzen missbilligen. So ist z. B. die öffentliche, auch von Kriminalisten geäußerte Bewunderung für die Bande, die im Jahre 1995 einen ausgeklügelten, über Monate klandestin ausgeführten Plan zum Tunnelbau realisierte, um den Tresorraum einer Berliner Bank auszurauben, ein Beleg dafür, dass diese Problemanzeige kein bloßes Theoriekonstrukt oder Hirngespinst ist. Es ist vielmehr dieses Problem des Stolzes auf böse Handlungen, für das die aufgeklärte Betrachtung, die seit Hume den Stolz an das subjektive Empfinden bindet, keine Lösung hat.

Smiths radikal tugendethischer Kurswechsel in der Theorie des Stolzes kann als Lösungsversuch für dieses Problem aufgefasst werden. Denn der klassische Tugendbegriff als Disposition zu moralischen Vollzügen (Handlungsdisposition) kann per Definition nur gute Handlungen erfassen. Die Berliner Bankräuber mögen das Gefühl des Stolzes empfunden haben, sie haben aber in keinem Fall die Tugend des Stolzes realisiert.18 Wir stoßen hier auf die beiden Kategorien, denen wir den Stolz schon in Kapitel 1.1 zugeordnet haben; jetzt jedoch stehen sie in voller Konkurrenz zueinander.