Über den Wolken - Regula Eichenberger - E-Book

Über den Wolken E-Book

Regula Eichenberger

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Beschreibung

Regula Eichenberger wollte fliegen. Unbedingt. Immer schon. Und als ihre zwei Jahre ältere Schwester den Privatpilotenschein machte, lernte sie einfach mit. So bestand sie – ohne je einen Kurs besucht zu haben – mit noch nicht einmal siebzehn Jahren die Theorieprüfung. Acht Jahre später begann die Tochter eines Fluglehrers dann, anderen beizubringen, wie man in die Luft geht und dort auch bleibt. Im Jahr 1983 bewies Moritz Suter, der Gründer der Crossair, sein Marketingtalent und setzte Regula Eichenberger als erste Schweizer Linienpilotin ein. Ihren ersten Flug startete sie – als Copilotin – in Bern-Belp mit dem Ziel Lugano-Agno. Das Medieninteresse war – weit über die Landesgrenzen hinaus – riesig. Und so öffnete Regula Eichenberger Frauen die Tür in eine Welt, die bis anhin von Männern dominiert wurde. In ihrer Autobiografie lesen wir von Halbgöttern in Uniform und kalten Füssen im Cockpit, davon, dass man sich in ein Flugzeug verlieben kann, und von Situationen, die so brenzlig werden können, dass es Nerven aus Stahl braucht. Die Autorin erzählt von wunderbarer, manchmal aber auch sehr harziger Teamarbeit und davon, wie sie – bereits pensioniert – ein schwerer Schicksalsschlag getroffen und in eine Abwärtsspirale gezogen hat, aus der sie ohne die in der Fliegerei erlernten und verinnerlichten Notfallstrategien kaum herausgefunden hätte.

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© 2022 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Brigitte MaternKorrektorat: Andrea LeutholdUmschlaggestaltung: Thomas JarzinaFoto Umschlag: Keystone-SDAFotos Bildteil: Privatarchiv, alle anderen Fotos sind gekennzeichnetBildbearbeitung: Michael C. ThummLayout, Satz und Herstellung: Beate SimsonDruck und Bindung: CPI Books GmbH

Print ISBN 978-3-03763-139-3 E-Book ISBN 978-3-03763-829-3

www.woerterseh.ch

 

Fill your days with life, not your life with days!

Fülle deine Tage mit Leben, nicht dein Leben mit Tagen!

 

Meinem Vater Werner Eichenberger, der ein wunderbarer, fortschrittlicher Mann war und mich stets förderte. Ohne seine Unterstützung wäre ich nie Linienpilotin geworden.

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Vorwort

Prolog

EICHENBERGERS     1955–1983

Kopfsalat mit Zucker

Ein folgenreicher Führerschein

Schon wieder kein Velo!

Der hilflose Herr Gut

Isis Löwenmähne

Der Traum vom Fliegen

Singen, jauchzen und jubilieren

Überfluss im Übermass

Dinner im Militärcamp

Kantönligeist

Die eigenen vier Wände

Erste Schrecksekunden

Loopings im Doppeldecker

Die Fluglehrerlizenz

Die Angst des Porschefahrers

Der verliebte Dottore

CROSSAIR     1983–1989

Ein grosser Coup

Herausforderung Instrumentenflug

»Du fliegst wie ein Walross!«

Auf keinen Fall einen Rock!

Der Herrgott im Cockpit

Aufregung um Mitternacht

Kalte Füsse, heisser Kopf

»Mein Gott, eine Frau!«

Schlaflos in Brüssel

Der tobende Moritz

TRANS EUROPEAN AIRWAYS – TEA     1989–1999

Nebenjob: Fluglehrerin

Hand weg vom Steuer!

Australische Besonderheiten

Der unerträgliche Captain

Von Keflavík bis zum Saigon

Pausenservice

Luftlöcher gibt es nicht

Ein Kugelschreiber für eine Enteisung

Schnorcheln, Fischen, Volleyball

Sind nicht alle Menschen gleich?

Chios, Funchal, Emmen

»This is Africa«

Applaus fürs Cockpit

Zwischenstopp bei Easyjet

BALAIR UND BELAIR     1999–2001 und 2001–2006

Verliebt in eine Maschine

Ärger im Cockpit

»Check sinkrate! Check altitude! Check heading! Check speed!«

Balair am Boden

Eis über Dubai

Schnee über Zürich

Quöllfrisch für Ronaldinho

Düfte und andere Herausforderungen

Flugangst und andere Ausfälle

Brillenketten-Gnusch

Schreck am achtzehnten Loch

Umschulung auf den Airbus

Ein roter Teppich

Mein schwierigster Flug

Noch ein paar Worte zum Schluss

 

ÜBER DAS BUCH

Regula Eichenberger wollte fliegen. Unbedingt. Immer schon. Und als ihre zwei Jahre ältere Schwester den Privatpilotenschein machte, lernte sie einfach mit. So bestand sie – ohne je einen Kurs besucht zu haben – mit noch nicht einmal siebzehn Jahren die Theorieprüfung. Acht Jahre später begann die Tochter eines Fluglehrers dann, anderen beizubringen, wie man in die Luft geht und dort auch bleibt. Im Jahr 1983 bewies Moritz Suter, der Gründer der Crossair, sein Marketingtalent und setzte Regula Eichenberger als erste Schweizer Linienpilotin ein. Ihren ersten Flug startete sie – als Copilotin – in Bern-Belp mit dem Ziel Lugano-Agno. Das Medieninteresse war – weit über die Landesgrenzen hinaus – riesig. Und so öffnete Regula Eichenberger Frauen die Tür in eine Welt, die bis anhin von Männern dominiert wurde. In ihrer Autobiografie lesen wir von Halbgöttern in Uniform und kalten Füssen im Cockpit, davon, dass man sich in ein Flugzeug verlieben kann, und von Situationen, die so brenzlig werden können, dass es Nerven aus Stahl braucht. Die Autorin erzählt von wunderbarer, manchmal aber auch sehr harziger Teamarbeit und davon, wie sie – bereits pensioniert – ein schwerer Schicksalsschlag getroffen und in eine Abwärtsspirale gezogen hat, aus der sie ohne die in der Fliegerei erlernten und verinnerlichten Notfallstrategien kaum herausgefunden hätte.

 

ÜBER DIE AUTORIN

© Wörterseh

Regula Eichenberger, geb. 1955, absolvierte, bevor sie Berufspilotin wurde, das Lehrerseminar. Als sie ein Vikariat im Bündnerland nicht antreten konnte, weil sie »nur« über das Zürcher Lehrerdiplom verfügte, begann sie, sich auf dem Flugplatz Buttwil zur Berufspilotin ausbilden zu lassen. Bis zu ihrer Pensionierung flog sie fünfzig unfallfreie Jahre, davon dreiunddreissig als Linienpilotin, mehrheitlich auf Boeing-Flugzeugen. Zugang zur Aviatik bekam sie durch ihren Vater Werner Eichenberger, der als Fluglehrer davon überzeugt war, dass es falsch ist, Frauen das Cockpit zu verwehren. In ihrem Logbuch finden sich 22 830 Flugstunden und 19 444 Starts und Landungen. Sie, die erste Linienpilotin der Schweiz, arbeitete zuerst für die Crossair, dann für die TEA, für die sie unter anderem auch in Australien, Vietnam und Afrika stationiert war. Danach folgte die Swissair-Tochter Balair und nach dem Grounding unseres Nationalstolzes die Belair. Regula Eichenberger lebt in Eglisau.

 

VORWORT

Als ich mich vor fast zwanzig Jahren zur Pilotin ausbilden liess, gaben mir meine Instruktoren viele nützliche Tipps, was ich ergänzend lesen oder auf Youtube anschauen könnte. Darunter war auch die TV-Serie »Air Crash Investigation«, in der die Hintergründe diverser Flugunfälle aufgearbeitet werden – die Bilder der Crashs haben sich mir tief in die Netzhaut eingebrannt. Durch diese Serie und die empfohlene Literatur habe ich viel gelernt. Noch nie habe ich jedoch in einem einzigen Buch so viel über das breite Spektrum wünschenswerter Verhaltensweisen und Fähigkeiten eines Piloten, über das sogenannte »Airmanship«, gelernt wie in der Autobiografie von Regula Eichenberger.

In ihrer erfrischend ehrlichen Art beschreibt sie nüchtern und realistisch die vermeintliche Traumwelt der Aviatik. Dabei spürt man gerade in ihrer schonungslosen Selbstreflexion, was sie zu einer so aussergewöhnlichen Persönlichkeit und einer ebenso aussergewöhnlichen Pilotin macht: ihre Aufrichtigkeit sich selbst, aber auch ihrem Umfeld gegenüber. Damit wird das Buch »Über den Wolken« zur Pflichtlektüre für jede angehende Pilotin und jeden angehenden Piloten. Der »perfekte« Flug gelingt einem sehr selten. Dass man trotzdem immer danach streben sollte, dieses Bewusstsein spürt man in jeder Zeile, die Regula Eichenberger schreibt.

Dieses Buch ist jedoch weit mehr als ein Buch für Aviatikbegeisterte. Es ist die Lebensgeschichte einer starken Frau, die vielen anderen Frauen Türen geöffnet hat. Als Aushängeschild zu fungieren, hat ihr jedoch wenig behagt, was sie uns noch sympathischer macht.

Beeindruckend ist für mich aber vor allem das Feuer, das beim Lesen des Buches zu spüren ist: die grosse Leidenschaft für das Fliegen. Dieses Feuer ist bei Regula Eichenberger schon früh entfacht worden, und es hat sie ihr Leben lang begleitet. Es hat sie durch die ganze Welt geführt und ihr in jeder noch so verrückten Situation Rückhalt gegeben.

Eine solche Leidenschaft, gekoppelt mit einem derartigen Urvertrauen, wie sie es entwickeln durfte, können wir unseren Kindern für ihre Zukunft nur wünschen. Denn beides zusammen lässt uns Berge versetzen und manchmal bis hoch in die Wolken und darüber hinaus fliegen.

Dominique Gisin, Ski-Olympiasiegerin und Pilotin, im August 2022

 

PROLOG

Wenn ich Menschen kennen lerne, kommt meist irgendwann die Rede auf den Beruf. Sage ich dann, dass ich Pilotin war, sind sie erstaunt, und fast immer stellen sie die gleichen Fragen. Wie das so war als Frau im Cockpit. Ob ich von den männlichen Kollegen akzeptiert wurde. Ob das mit der Anziehungskraft zwischen Piloten und Flight-Attendants stimmt. Welche schwierigen Situationen ich in der Luft erlebt habe. Ob ich dabei Angst hatte. Welchen Flughafen ich am herausforderndsten fand und welches Flugzeug besonders toll. Was mich an meinem Beruf faszinierte, was ich weniger gut fand. Ob ich ihn wieder ergreifen würde. Und überhaupt: Was das Schönste am Fliegen war.

Das Schönste am Fliegen? Eine eindeutige Antwort fällt mir schwer, denn es gibt so viel Spannendes in diesem Beruf. An erster Stelle steht sicher das Beherrschen der Maschine. Ob sie gross sein mag oder klein: Beschleunigen und Abheben ist etwas unglaublich Faszinierendes. Toll war aber auch, dass ich die Welt so oft von oben sehen durfte. In meinem Kopf trage ich noch heute viele wunderbare Bilder mit mir herum. So oft schon bin ich über unsere Alpen geflogen und konnte mich doch nie daran sattsehen. Besonders im Winter. Oder bei Sonnenuntergang. Oder wenn der Vollmond aufging, zuerst schwammig dunkelrot, dann immer heller, bis er weiss und scharf vom dunklen Himmel herab die Bergspitzen beleuchtete. Schön war auch, wenn im Herbst nach dem Start die Wolkenfetzen nur so ums Cockpitfenster sausten und sich dann, wenige Sekunden später, ein unendlich blauer Sonnenhimmel über der wellig weichen Nebeldecke ausbreitete.

Oder die nächtlichen Südanflüge auf den Flughafen Zürich, auf die Piste 34. Bei klarem Nachthimmel konnte ich – einfach aufgrund ihrer verschiedenen Lichtquellen – alle Städte und grösseren Dörfer erkennen. Flüsse und Seen schimmerten silbern im Mondschein. Und auf einem Flug ins indische Goa konnte ich erstmals den Kometen Hale-Bopp beobachten. Grossartig auch der Himalaja oder Agra, wo ich tief unten den Taj Mahal stehen sah. Unvergessen die Anflüge über die James-Bond-Insel Khao Phing Kan in Thailand. Die Malediven im türkisblauen Ozean. Dubai mit seinen Wolkenkratzern und den künstlich angelegten Palmeninseln. Und dann erst die Nordlichter! Wir waren auf dem Heimweg vom mexikanischen Cancún nach Zürich und flogen etwas nördlicher als sonst. Plötzlich, mitten in der dunkelsten Nacht, waren sie da, die mächtigen grünen Vorhänge, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte. Obwohl wir bereits über zehntausend Meter hoch flogen, schwebten sie weit über uns. Sie waberten auf und ab, verschwanden und waren wie von Zauberhand plötzlich wieder da. Wir riefen damals die Besatzung einzeln ins Cockpit, damit alle die magische Naturerscheinung bestaunen konnten. Wie winzig kam ich mir damals vor.

Und dann gibt es noch die Frage, wie ich überhaupt zum Fliegen kam. Nun gut, ich werde Ihnen meine Geschichte erzählen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Aber dazu später.

 

EICHENBERGERS

1955–1983

 

KOPFSALAT MIT ZUCKER

Meine Ankunft in dieser Welt begann mit einem gebrochenen Schlüsselbein und einem anderen Namen: Der Arzt hatte bei der Geburt offenbar etwas zu energisch mitgeholfen, sodass ich, kaum hatte ich den ersten Schrei ausgestossen, geröntgt werden musste. Auf dem Röntgenbild wurde als Name »Irene Eichenberger« vermerkt. Ein paar Stunden später entschied sich meine Mutter jedoch um, und fortan hiess ich Regula; Irene liess sie mir noch nicht einmal als Zweitnamen. Das war im Oktober 1955 in Zürich. Im Familienfotoalbum notierte sie damals: »53 cm, 4,08 kg, Haare rotblond, gute Stimme, grosse Füsse«.

Meine Schwester Eva war damals bereits zwei Jahre alt, und die kleine Wohnung an der Zürcher Hohlstrasse wurde schnell zu eng. Im nahe gelegenen Urdorf fanden meine Eltern ein bezahlbares Stück Land, erhielten vom Grossvater mütterlicherseits ein Darlehen, und bald war der Grundstein für unser Haus gelegt. Urdorf mit seinen etwa viertausend Einwohnern gehörte in jener Zeit zu den stark wachsenden Agglomerationsgemeinden des Limmattals. Mit dem Zug war man in wenigen Minuten mitten in Zürich. Das hatte ich, wie meine Eltern mir erzählten, bereits mit drei Jahren einmal ausprobieren wollen; ich kam allerdings nur bis zum Urdorfer Bahnhof, dort griff man die kleine Ausreisserin auf und überbrachte sie der aufgelösten Mutter.

Wir hatten nicht viel Geld damals, es wurde gespart, wo es nur ging. Mein Vater arbeitete als Fahrlehrer in der Fahrschule seines Vaters Heinrich; er verdiente bis zu seiner Heirat gar nichts und später, als er zusammen mit seinem Bruder Ruedi den Betrieb übernahm, sehr wenig. Lebensmittel und Kleider waren im Verhältnis zum Einkommen ohnehin viel teurer als heute; ausserdem musste die Hypothek für das Haus abbezahlt werden. Die Finanzen verwaltete Mutter, mein Vater hatte selten mehr als eine Zwanzigernote im Portemonnaie. Sie kochte Früchte ein, Aprikosen, Zwetschgen und Beeren aus dem eigenen Garten, oder machte daraus Konfitüre; im Keller lagerte sie Äpfel und Kartoffeln ein. Damals lieferte der Bäcker das tägliche Brot übrigens noch bis ins Haus, und der Milchmann brachte Frischmilch, Butter und Käse. Meine Mutter warf nie etwas fort, sie verwertete alle Resten in einer Suppe oder einem Auflauf. Zum Zvieri bekamen wir einen Apfel und ein Stück Brot, manchmal zusammen mit einem Reiheli Schoggi. Ganz selten einmal gab es einen Zwanzigräppler, mit dem wir uns am Bahnhofskiosk ein Stängelglace kaufen konnten.

Meine Mutter war in einem Gärtnereibetrieb aufgewachsen, heiratete ironischerweise aber einen Mann, der weder Gemüse noch Salat ass. Sie war eine gute und vielseitige Köchin, richtete sich jedoch meist nach den Essgewohnheiten meines Vaters. Und da dieser Süssspeisen liebte, kamen oft Milchreis mit Kompott, süsse Wähen oder Aufläufe auf den Tisch. Auch ich liebte (und liebe) Süsses über alles. Sogar auf den Kopfsalat streute ich Zucker, sonst hätte ich ihn gar nicht erst gegessen. Fleisch gab es bei uns fast nur sonntags. Wenn Poulet vom Grill mit selbst gemachten Pommes frites auf dem Speiseplan stand, war das für uns ein Festessen. Ebenso für unsere Katzen, mit denen wir aufwuchsen, denn sie bekamen die Innereien. Katzen waren mir ein Leben lang wichtig, bis vor kurzem hatte ich selbst eine. Damals war Mitzi der Liebling meines Vaters, sie sass beim Mittagessen immer laut schnurrend neben ihm auf der Eckbank. Hinter Eva und mir auf einer Ablage sass Wyss-Pfote, eine Pfote auf unsere Schulter gelegt. Füttern durften wir sie nicht, sie bekamen die Resten; aber natürlich verstiess unser Vater immer wieder gegen das Verbot und gab ihnen etwas Wurst oder Rösti von seinem Teller.

Zum Leidwesen meiner Mutter, die von zu Hause anderes kannte, stellte mein Vater auch die Tischregel auf: »Esst nur, was ihr gernhabt, und nur so viel, dass noch eine halbe Bratwurst Platz hätte. Was ihr aber selber geschöpft habt, wird aufgegessen.« Das imponiert mir noch heute. Er kam werktags zum Mittagessen nach Hause; die Woche hatte damals noch sechs Arbeitstage, und auch wir gingen samstags zur Schule. Er machte eine halbe Stunde Mittagspause, dann wartete bereits der nächste Fahrschüler. Oft sass auch einer der zwei oder drei Fahrlehrer, die er angestellt hatte, mit am Tisch. Und ein sogenanntes Zimmerfräulein. Um das Budget aufzubessern, vermieteten meine Eltern nämlich eines unserer Zimmer, Essen und Familienanschluss inklusive. Meine Schwester und ich liebten diese Zimmerfräuleins, denn sie waren für uns wie grosse Schwestern.

Auch bei der Kleidung wurde sorgsam gespart. Selbstverständlich musste ich die Sachen meiner Schwester nachtragen und immer eine Schürze darüber anziehen. Und Mutter strickte für uns: Pullover, Strumpfhosen, Socken und Mützen und den von mir gehassten blauen Glockenjupe, den sie immer wieder auftrennte, um ihn grösser zu stricken. Sonntagskleider gab es leider auch. Denen sollte ich besonders Sorge tragen, Rollschuh fahren war damit also nicht erlaubt. Ein weiterer Streitpunkt mit Mami waren die wollenen Strumpfhosen. Erst wenn es warm war, durften wir die blöden Strumpfis gegen die geliebten Kniesocken tauschen; meistens war das um Ostern der Fall. Wie gross aber die Enttäuschung, wenn dann noch Schnee lag und Mami sich partout nicht davon überzeugen liess, dass es endlich Zeit für Kniesocken war!

In der sechsten Klasse erhielt ich dann die ersten Hosen. Mein Vater ging mit Eva und mir einkaufen, und alle drei kamen wir mit Jeans nach Hause. Wie stolz war ich auf dieses praktische Kleidungsstück! Zwar machte ich noch kurz die Minirock-Mode mit, aber dank der Erfindung der Jeans war die Zeit des Röcketragens für mich bald endgültig beendet.

EIN FOLGENREICHER FÜHRERSCHEIN

Ich hatte gute, einfühlsame Eltern, allerdings waren sie völlig verschiedene Charaktere. Meine Mutter war pessimistisch veranlagt und schaute sehr skeptisch auf die Welt, während mein Vater ein unermüdlicher Optimist und sehr lebensbejahend war. Unlösbare Probleme oder unüberwindbare Hürden gab es für ihn nicht. Mutter achtete stets darauf, nicht aufzufallen, und vermied alles, was andere stören könnte. Wenn es unser Vater nicht hörte, sagte sie oft zu uns: »Was sollen denn die Nachbarn denken?« Meinen Vater kümmerte nicht, was die anderen dachten. Er hatte keine Angst, weder vor Menschen noch vor Ämtern. Er war offen für alles Neue und unterschied weder nach Hautfarbe noch nach Herkunft oder Geschlecht.

Meine Mutter erzog uns streng, während mein Vater – obwohl er nur wenig Zeit hatte – uns immer liebevoll begleitete, förderte und unterstützte. Meine Schwester und ich vergötterten ihn. Er war ein fantastischer Pädagoge. Wollte er etwas erklären, nahm er meist mit dem Satz »Du weisst sicher, dass …« ein Blatt Papier zur Hand und begann, den Sachverhalt anschaulich aufzuzeichnen. Nie hörte ich von ihm, dass etwas zu schwierig sei. Immer nur: »Du kannst das! Das ist kein Problem für dich!« Auch als ich längst erwachsen war, ermunterte er mich oft: »Mach das jetzt, denn später kommst du vielleicht nicht mehr dazu!«

Dass meine Mutter eine schlimme Kindheit hatte, erzählte sie uns erst, als wir schon grösser waren. Sie war in Albisrieden zur Welt gekommen und hatte ihr eigenes Mami schon mit zwei Jahren verloren. Von ihrer Stiefmutter war sie dann seelisch und körperlich fürchterlich misshandelt worden. Und ihr Vater hatte das zugelassen; er schenkte ihr weder Liebe noch unterstützte er sie in irgendeiner Weise. Bereits als kleines Kind musste sie in der familieneigenen Gärtnerei in Albisrieden schuften, auch dann, wenn sie krank war. Ein gemeinsames Familienleben gab es für sie und ihren zwei Jahre älteren Bruder Willi, der ebenfalls sehr unter der Stiefmutter litt, nicht. Essen mussten sie immer mit den Gärtnereiangestellten, und Freunde und Freundinnen durften sie nicht mit nach Hause bringen. Als sie von einer Kochlehre träumte, war ihr Vater dagegen, dass sie überhaupt eine Ausbildung machte. Er vermittelte ihr – das empfand sie als das Schlimmste –, dass sie nichts wert sei. Mein Grossvater war stockkonservativ. Für ihn zählte nur das männliche Geschlecht etwas. Und selbstverständlich erwartete er von meiner Mutter, dass sie einen Gärtner heiratete und diesem Söhne gebar.

Doch dann sollte Mami den Lastwagen-Führerschein machen, damit sie das Gemüse auf den etwa zwei Kilometer weit entfernten Wochenmarkt in Altstetten karren konnte. Sie besuchte deshalb die Fahrschule Heinrich Eichenberger. Dort entdeckte sie Werner, einen unscheinbaren, schlaksigen Burschen, der sich immer hinter Büchern versteckte. Und der sogar fliegen konnte, und wie! Einmal fegte er im Tiefflug mit seinem Motorflugzeug über den Markt, wo Mami Gemüse verkaufte, nur um sie zu grüssen. Damit stach er sämtliche Konkurrenten aus. Dass er sich das Fliegen, von klein auf seine grosse Leidenschaft, mit Frondiensten ermöglicht hatte, erfuhr sie erst später. Sie verliebten sich, und meine Mutter wurde in der Familie Eichenberger herzlichst aufgenommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr sie Liebe und Geborgenheit.

Ihr Vater war überhaupt nicht begeistert, als die beiden heiraten wollten. Erstens war der Zukünftige kein Gärtner und zweitens von Altstetten, nicht von Albisrieden. Wenigstens war er reformiert! Die Erfahrungen in ihrem Elternhaus machten Mami noch lange zu schaffen, obwohl sie nun einen offenen, herzlichen Ehemann zur Seite hatte. Bei Evas und auch bei meiner Geburt weinte sie, weil sie doch Buben hätte zur Welt bringen sollen. Papi war dagegen hocherfreut über seine Töchter und schimpfte ein bisschen mit ihr. Mami war aber auch ganz schön mutig: Bereits 1959 liess sie sich von Papi das Segelfliegen beibringen, und später lehrte er sie, schwere Motorräder zu fahren. Die beiden führten eine bewundernswert liebevolle Ehe, und als Mami am Ende bettlägerig wurde, pflegte Papi sie, bis sie 2013 starb.

Eines verstehe ich aber bis heute nicht so recht: Warum liebte Mami ihren Vater, obwohl er sie so schlecht behandelt hatte? Noch bis zum Schluss brachte sie ihm jede Woche sein Lieblingsgebäck, das sie zuvor für ihn gebacken hatte. Eva und ich hassten es, wenn wir mitmussten nach Albisrieden, vor allem auch, weil die böse Stiefmutter anwesend war. Wir hatten dort regungslos und mucksmäuschenstill auf dem altmodischen Sofa zu sitzen. Es könnte ja eine der grauenhaften bunten Glasfiguren, die überall herumstanden, in die Brüche gehen! Das war bei Papis Papi Heinrich ganz anders. Er zeigte uns Dinge, die wir noch nicht kannten. Zum Beispiel besass er eine Filmkamera, mit der er Schnecken filmte. Das war sensationell. Ein paarmal packte er uns ins Auto – Eva, die zwei Kinder von Papis älterem Bruder Ruedi und mich –, und wir fuhren nach Engelberg oder ins Tessin, wo wir mit ihm wunderbare Tage verbrachten. Das waren richtige Highlights für uns Kinder! Ich bewundere ihn noch heute, wie er die vierköpfige Rasselbande unter Kontrolle halten konnte. Zumindest meistens, denn manchmal lief es schon gehörig aus dem Ruder. Leider starb seine Frau, das liebste Mami und Grossmami, schon mit einundsechzig Jahren an Leukämie. Ich war damals erst sechs Jahre alt und – wie wir alle – unendlich traurig.

Grosspapi Heinrich war ein ziemlich witziger Erfindergeist. Da gab es zum Beispiel die von ihm abgeänderte Wanduhr, die mich als kleines Kind ungemein faszinierte: Das Uhrwerk war im Büro zu sehen, das Zifferblatt, die Zeiger und das Pendel hingen jedoch in der Stube, also an derselben Wand, aber auf der anderen Seite. Dann gab es in der Wohnung noch einen Staubsauger, dessen Schlauch man aus dem Wandkasten ziehen konnte und der durch die ganze Wohnung reichte. Wo sich der Staubsaugerschlitten versteckte, habe ich nie herausgefunden. Von Beruf war er Elektriker gewesen und hatte neben der Fahrschule in Altstetten auch eine Autogarage mit Tankstelle betrieben. So lernten mein Vater und sein Bruder schon als Kinder, mit Strom zu hantieren und Autos zu reparieren; Testfahrten unternahmen sie ohne Fahrerlaubnis. Als Grosspapi während des Zweiten Weltkriegs Aktivdienst leisten musste, war es für seine Frau sehr schwierig gewesen, die Familie über Wasser zu halten. Grossmami verkaufte kaum noch Benzin, sodass sie den Lieferanten der Firma Shell nicht bezahlen konnte. Nach dem Krieg kam dann der Shell-Vertreter zu ihr und sagte: »Frau Eichenberger, der Krieg ist vorbei, wir beginnen neu und streichen Ihnen sämtliche Schulden!« Das war der Grund, warum mein Vater immer nur bei Shell tankte.

Mein Vater erzählte uns viele weitere wunderbare Geschichten aus seiner Jugendzeit, über Solidarität und Beistand unter den Menschen, die mich noch heute zu Tränen rühren. Wie die Geschichte von den zwei Altstettern, die für seinen Vater, ohne dass der darum gebeten hätte, einen Kredit organisierten und dafür bürgten, damit er die zuvor nur gemietete Garage übernehmen konnte. Allein die Erlebnisse meines Vaters – sei es als Auto-, Töff- und Lastwagen-Fahrlehrer oder als Flieger – würden ein dickes Buch füllen. Leider hat er all das, was er erlebt hatte, nie aufgeschrieben.

Auch er besass erfinderisches Talent. In den Siebzigerjahren baute er mit seinem Vater zum Beispiel einen ersten Fahrschulsimulator: eine Kiste mit Steuerrad, Kupplung, Bremse, Gaspedal und Blinker, vor dem sie selbst gedrehte Filmausschnitte mit verschiedenen Strassensituationen abspielten; später entwickelte mein Vater auch ein E-Learning-Tool für die Flugschule. Ausserdem ging er bis ins hohe Alter problemlos und wie selbstverständlich mit Computern und Handys um, samt diversen Apps wie Whatsapp. Er war ein Autodidakt und sein ganzes Leben lang unglaublich wissbegierig.

SCHON WIEDER KEIN VELO!

Papi hat auch die riesige Schaukel gebaut, auf der ich so gern herumkletterte, wenn ich allein war. An den vier stützenden Metallstangen stieg ich flink wie ein Äffchen hinauf, balancierte auf allen vieren über den Querbalken und rutschte auf der anderen Seite wieder hinunter. Am liebsten aber spielte ich mit Silvia von nebenan, später auch mit meiner Freundin Esthi. Im Sommer fuhren wir mit Rollschuhen ums Haus oder kesselten damit die steile Wohnstrasse runter, wir gingen nach Birmensdorf oder Schlieren schwimmen, spielten Fangis, Stäckli-Verbannis, Räuber und Poli; die Samstagnachmittage verbrachten wir in der reformierten Jungschar von Urdorf. Und natürlich klauten wir im Frühling auch Kirschen beim Bauern, über dessen Wiesen wir unseren Schulweg abkürzten, und schlittelten im Winter die noch unbebauten Hügel oberhalb unseres Hauses hinunter. Früher lag viel mehr Schnee, und ich erinnere mich noch gut an die Zürcher Seegfrörni 1963, als die halbe Bevölkerung auf dem Eis war. Eislaufen war neben Schwimmen und Leichtathletik eine weitere Leidenschaft von mir. Wie gern hätte ich Trainingsstunden im Eiskunstlauf genommen! Aber das lag finanziell einfach nicht drin.

Weihnachten bedeutete mir immer sehr viel, nicht unbedingt nur wegen der Geschenke. Unter dem Baum lag viel Nützliches, mal ein Winterpulli von der Gotte, ein Wintermantel vom Götti oder etwas für die Skiausrüstung. Immer gab es aber auch Spielsachen. Zu meiner Enttäuschung jedes Jahr das Falsche: Mädchen schenkte man damals ungefragt Puppen, also bekam auch ich Jahr für Jahr entweder ein neues Bäbi, ein Bäbiwägeli oder sonst ein Bäbizubehör. Ich spielte aber nie damit! Und so stand der Wagen samt Puppenzeugs unberührt in der Ecke, wo meine Mutter ihn hin und wieder abstaubte.

Wie viel lieber hätte ich einen neuen Ball, bessere Rollschuhe, ein Velo oder ein Trottinett gehabt! Jahrzehnte später sagte meine Mutter einmal kopfschüttelnd: »Warum nur haben wir zugelassen, dass du immer wieder Bäbisachen geschenkt bekommst? Wir haben doch gesehen, dass du nicht damit gespielt hast.«

Toll war Weihnachten vor allem wegen der Familie. Ausser den zwei Wochen Sommerferien im Jahr waren dies die einzigen Tage, an denen beide Eltern uneingeschränkt für uns da waren. Unter der Woche gab mein Vater ja Fahrstunden, und sonntags engagierte er sich auf dem Flugplatz Spreitenbach. Und als die Eltern 1970 zusammen mit meinem Onkel Ruedi den Flugplatz Buttwil eröffneten, wo meine Mutter das Beizli und mein Vater die Flugschule führte, waren beide kaum noch zu Hause, zumal das Flugplatzbeizli auch bei schlechtem Wetter geöffnet hatte. Nur an Weihnachten war der Flugplatz komplett geschlossen. Dann hatten Eva und ich die Eltern endlich für uns. Wir genossen diese ruhige, festliche Zeit. Später als Linienpilotin musste ich sehr oft über Weihnachten arbeiten. Trotzdem haben wir es immer geschafft, an einem Tag mit der Familie zusammenzukommen und zu feiern, es musste ja nicht unbedingt an Weihnachten sein.

Mit meiner Schwester Eva war ich eng verbunden. Während ich ein sehr lebhaftes, unbeschwertes Kind war – weshalb meine Eltern mich Räbel nannten –, war sie introvertiert und scheu. Stundenlang konnte sie allein mit ihren Puppen spielen. Sie war eine Träumerin und pflückte Mami, wenn es ging, jeden Tag ein Sträusschen Wiesenblumen. Sie ängstigte sich vor vielem und schickte gern mich vor, wenn ihr etwas ungewöhnlich oder unheimlich vorkam. Dafür verwöhnte sie mich mit spannenden Geschichten und zauberte dabei mit ihren Händen Schattenfiguren an die Wand. Jeden Sonntagmorgen las sie mir aus der Sonntagsbibel für Kinder vor; unter der Woche unterhielt sie mich abends im Bett mit Büchern wie »Hans Eichhorn, der Lausbub« von Sepp Bauer, »Jim Knopf« von Michael Ende und »Die rote Zora und ihre Bande« von Kurt Held. Ich lag derweil auf dem Rücken und hörte genussvoll zu. Ich selber las nie etwas. Kein Wunder, konnte ich schlecht vorlesen. Das mit der Aussprache war aber auch schwierig! Warum betonte man das Wort »gestern« auf der ersten statt auf der zweiten Silbe? Und wieso las man bei Häuschen und Mäuschen das »s« und das »ch« getrennt und nicht als »sch«?

Klar, stritten wir uns auch. Beispielsweise, wenn wir in einer Wirtschaft zusammen eine Flasche Sinalco oder Vivi Kola trinken durften. Dann stellten wir beide Gläser nebeneinander und achteten streng darauf, dass jede gleich viel bekam. Wehe, wenn nicht! Als Eva zwölf wurde und wir beide ein eigenes Zimmer erhielten, war das für mich ein Drama. Ich protestierte lauthals, aber es nützte nichts. Ich hasste es, allein zu sein, und das abendliche Vorlesen war nun auch vorbei. Ich habe mein Zimmer nie benutzt, auch nicht, um darin Hausaufgaben zu machen. Es diente mir nur zum Schlafen.

DER HILFLOSE HERR GUT

An meinen allerersten Schultag erinnere ich mich nur zu gut. Das Schulzimmer war mit über dreissig Schülerinnen und Schülern und den vielen Eltern krachend voll. Unsere Lehrerin, Frau Aebli, rief uns alle einzeln an die Wandtafel, damit wir unseren Namen schrieben. Ich war die Einzige, die nicht nach vorne ging, denn ich hatte keine Ahnung, wie man Regula schreibt. Heute muss ich darüber lachen, aber damals schämte ich mich ziemlich. Danach aber ging ich gern zur Schule, obwohl Frau Aebli eine Lehrerin alter Schule war. Ohrfeigen zu geben und andere blosszustellen, stand bei ihr auf der Tagesordnung. Da sie schlecht stehen und gehen konnte, umringten wir ihren Schreibtisch, wenn sie das Einmaleins erklärte. Danach mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und bekamen nacheinander eine Rechenaufgabe. Wer sie richtig löste, durfte an seinen Platz zurück; wer falsch antwortete, musste sich erneut in die Reihe stellen. Das zweite falsche Ergebnis hatte eine Ohrfeige und nochmaliges Anstellen zur Folge. Ich hatte mit Rechnen keine Mühe, es war eines meiner Lieblingsfächer, aber die Schüler, die vor lauter Angst nichts mehr zustande brachten, taten mir schon sehr leid.

Nach meinem ersten Schuljahr wurde Frau Aebli pensioniert, und in den nächsten zwei Jahren unterrichteten uns so viele Lehrer, dass teilweise nicht einmal ein Zeugnis ausgestellt werden konnte. Darauf folgten einige Schuljahre ohne besondere Vorkommnisse. Bis 1969, in der zweiten Sekundarklasse, das Chaos ausbrach. Damals wurden wir von zwei Lehrern unterrichtet. Mathe und naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete Herr Bruppacher; »Bruppi« war noch jung, hatte gerade erst das Studium und seinen Militärdienst hinter sich gebracht. Für Sprachen und Geschichte war Herr Gut zuständig, ein liebenswürdiger älterer Herr von über fünfzig. Eines Tages erzählte uns dieser von einem neuen Konzept namens antiautoritäre Erziehung. Er war begeistert davon, und wir sollten als erste Klasse davon profitieren. Keiner von uns begriff so recht, was er meinte. Und so ging es nicht lange, bis die Schulstunden völlig aus dem Ruder liefen. Einige legten ihre Füsse auf den Tisch oder rannten im Klassenzimmer herum, andere stellten ihr Transistorradio an oder spickten Kaugummis an die Wandtafel. Herr Gut redete uns gut zu, aber es nützte nichts. Wir fanden das Durcheinander lustig. Bis Herr Gut einen Nervenzusammenbruch erlitt. Er musste viele Wochen in Kur, und als er zurückkam, war der Schlimmste in unserer Klasse in eine andere Schulgemeinde versetzt.

Bei Bruppi wäre ein solches Benehmen undenkbar gewesen. Er duldete keinerlei Störaktionen, sodass wir in seinem Unterricht alle ganz artig waren. Wir haben ihn auch immer zu unseren Klassenzusammenkünften eingeladen, die noch heute regelmässig stattfinden. Für mich waren diese zwei Jahre eine orientierungslose Zeit, und es wundert mich heute noch, dass ich den Schritt in die Mittelschule geschafft habe. Zumal ich privat ziemlich unbeaufsichtigt war: Meine Mutter drückte damals ebenfalls die Schulbank, da sie für das Wirtepatent lernte; Papi arbeitete ohnehin immer, und meine Schwester besuchte im Welschland – inzwischen ging es uns finanziell viel besser – eine Internatsschule. Oft war ich bis spätabends unterwegs, was für eine Vierzehnjährige eher ungewöhnlich war. Einen Schulschatz hatte ich aber noch nicht, auch wenn ich für den einen oder anderen Jungen schwärmte und doch ein, zwei Verehrer hatte.

ISIS LÖWENMÄHNE

Im Sommer verbrachten wir oft zwei Wochen am Meer, in Spanien, Italien oder Jugoslawien, mit den besten Freunden meiner Eltern und deren Buben Peter und Jürg. Ich liebte das Campingleben. Bereits das grosse Zelt aufstellen war ein Abenteuer. Endlich keine Kleiderzwänge, auch sonntags nicht. Von morgens bis abends in den Badehosen, und so lange im Wasser bleiben, wie wir wollten! Jürg und Peter waren wie Brüder für uns, wir lachten viel, und immer war was los. Manchmal verbrachten wir die Ferien aber auch in einem Segelfluglager im französischen Pont-Saint-Vincent oder in Saanen im Kanton Bern, wo mein Vater mit dem Motorflugzeug Segelflieger in die Höhe zog – im Fachjargon heisst das »schleppen« – oder selber in den Segelflieger stieg. Die Frauen der Segelflugpiloten blieben am Boden und standen parat, wenn sie Mann und Maschine mit dem Transporter abholen mussten, falls sie es nicht zurück auf den Startflugplatz geschafft hatten. Auch hier campierten wir mit unserem Hauszelt, und da es Kinder jeden Alters gab, wurde uns nie langweilig. Einmal fanden wir in Pont-Saint-Vincent eine zerdrückte, schwere Metallhülse im Wald. Wir nahmen sie mit. Es war der 1. August, und am Abend machten wir – ganz schweizerisch – ein grosses Feuer. Der Bruder meines Vaters wusste nichts Gescheiteres, als das Metallteil ins Feuer zu werfen. Wir hatten wirklich Glück, denn es war Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Es gab einen Riesenknall, und in der vordersten Reihe verbrannten sich alle die Haare. Noch nie hatte ich so kurze Stirnfransen.

Mit siebzehn zogen meine Freundin Evi und ich dann erstmals allein los und reisten mit dem Interrailticket quer durch Europa. Wir fuhren an die Côte d’Azur, an den Atlantik nach Biarritz, nach London und Amsterdam. Obwohl wir stets im Zelt übernachteten und fast nur Baguette und »La vache qui rit«, den französischen Streichkäse, assen, kostete der Urlaub Geld. Das hatte ich zuvor als Servicekraft an Festbanketten verdient; das Servieren machte so grossen Spass, dass ich später auch in Cafés und im Flugplatzbeizli meiner Mutter bediente – und später, aber davon wusste ich damals noch nichts, regelmässig bei der Crossair. Als Copilot* und später auch als Captain, zumindest dann, wenn rechts von mir ein guter Copilot sass.

Aber zurück in die Vergangenheit: 1972 besuchte ich bereits seit einem Jahr das Unterseminar an der Höheren Töchterschule in Zürich Stadelhofen. Bruppi hatte mir dazu geraten, als ich den Vorschlag des Berufsberaters, eine kaufmännische Lehre zu machen, verworfen hatte. Dabei wollte ich doch gar nie Lehrerin werden! Gleich am ersten Tag im Untersemi lernte ich Evi kennen, weil sie sich neben mich setzte. Sie ist bis heute nicht meine einzige, aber meine engste Freundin. Von nun an hiess es jeden Morgen, pünktlich den Zug nach Zürich zu erwischen, und dann gings durchs Niederdorf hinauf zur Töchti. Damals hatte ich noch keine Augen für Zürich. Heute finde ich sie eine der schönsten Städte der Welt (und ich kenne viele Städte!) und bin stolz darauf, Zürcher Bürgerin zu sein.

Am Unterseminar ging es streng zu. Ich war es nicht gewohnt, Hausaufgaben zu machen, und glaubte, das Flohnerleben der letzten Jahre an der Urdorfer Sekundarschule ginge auch hier weiter. Uiiihhh, weit gefehlt! Beim Deutschlehrer Huber mussten wir beispielsweise jeden Freitag ein Gedicht auswendig rezitieren. Einmal konnte ich gerade nur den Titel und die erste Strophe. Ich stand vor der Klasse, und meine Kollegin Maja versuchte mir die Zeilen einzuflüstern. Es half nicht viel. Ich bekam eine Verwarnung, und es hiess, dass ich die Probezeit nicht schaffen würde, wenn ich mich nicht endlich anstrengte. Meine Eltern sagten nicht viel dazu, meinten nur, das liege allein in meiner Verantwortung.

Nicht optimal war auch, dass man als zukünftige Lehrerin singen oder wenigstens Klavier spielen können sollte. Ich beherrschte weder das eine noch das andere, sondern nur Querflöte. Im Gesang war ich zumindest nicht die Schlechteste, denn eine meiner Mitschülerinnen sang noch kläglicher: Sie intonierte alle Lieder mit maximal zwei Tönen, was sich so grauenhaft anhörte, dass ich mir immer das Lachen verkneifen musste. Wenn ich selber vorsingen musste, klang es allerdings nicht viel besser. Ich merkte genau, dass der Ton danebenlag, konnte aber leider nichts daran ändern. Mit Wehmut und Neid dachte ich an meine Mutter, die so schön singen, ja sogar jodeln konnte.

Sprachlich war ich auch nicht gerade ein Hirsch. Weder Französisch noch Englisch gehörten zu meinen Lieblingsfächern, obwohl ich diese Sprachen später noch sehr schätzen lernte. Physik, Mathematik und Turnen mochte ich viel lieber. Schon seit frühester Jugend fesselte mich die Weltraumfahrt. In meinem Zimmer hingen neben Postern von Tom Jones und den Bee Gees auch Apollo-Helden; ich verpasste kaum einen Start oder eine Landung der Missionen, selbst wenn sie mitten in der Nacht stattfanden. Wie gern hätte ich Astrophysik studiert! Aber ich kannte meine Limiten.

Im Unterseminar waren wir Anfang der Siebzigerjahre noch eine reine Mädchenklasse. Wir diskutierten damals über Themen wie Frauenrechte, Rauschgift, AKW und Naturschutz, und einmal brachte Marie-Claire, eine meiner Mitschülerinnen, ihren Götti, den Journalisten und Schriftsteller Niklaus Meienberg, mit in die Schulstunde – wir waren begeistert von seiner kritischen Haltung gegenüber dem Establishment und seinen für uns revolutionären Ideen. Geschlossen rückten wir 1973 für vier Wochen in die sogenannte Rüebli-RS im bündnerischen Madulain ein, das 2004 endlich abgeschaffte hauswirtschaftliche Obligatorium für junge Frauen. Ausser Zopf backen blieb bei mir nicht viel hängen, und putzen hatte ich bereits zu Hause gelernt.

Als es 1974 dann auf die Abschlussreise nach Berlin ging, hätte ich beinahe allen die Tour vermasselt. Damals benötigte man, um mit dem Zug durch die DDR fahren zu können, einen