Über die Kunst des Loslassens - Jay L. Garfield - E-Book

Über die Kunst des Loslassens E-Book

Jay L. Garfield

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Beschreibung

Von Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung bis hin zur Selbsthilfe und dem Selfie – die heutige Welt ermutigt die Menschen, selbstbesessen zu sein. Es heißt sogar, dass der Schlüssel zum Glück darin besteht, sich selbst zu finden. Vor mehr als 2500 Jahren argumentierte der Buddha jedoch, dass das Selbst eine Illusion ist und unser Glaube daran die Ursache für die meisten, wenn nicht alle unsere Leiden. Der Schlüssel zum Glück besteht demnach darin, sich selbst zu verlieren! Dieser neue Band der Reihe »Alte Weisheiten für moderne Leser« präsentiert leicht zugängliche neue Übersetzungen alter buddhistischer Schriften über die zentrale buddhistische Lehre des »Nicht-Selbst«. Diese grundlegenden indischen, tibetischen und chinesischen Schriften bieten eine reiche Auswahl an Möglichkeiten, wie buddhistische Philosophen die Idee, dass wir selbstlose Menschen sind, verstanden haben – und warum diese Einsicht so wertvoll ist. Wenn wir das Selbst loslassen, werden wir uns der Gegenwart aller Dinge bewusst, so, wie sie wirklich sind, und wir lassen Angst, Furcht, Gier und Hass los, die Quellen allen Leidens. Das Buch enthält kurze Einführungen zu den ausgewählten Texten und die buddhistischen Originaltexte auf den gegenüberliegenden Seiten.

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Seitenzahl: 129

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titelseite

 

ÜBER DIE KUNST DES LOSLASSENS

Alte Weisheiten für inneren Frieden von Buddha und seinen Nachfolgern

Herausgegeben und mit einer Einleitung von Jay L. Garfield, Maria Heim und Robert H. Sharf

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

 

Für Fragen und [email protected]

 

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

 

Originalausgabe

1. Auflage 2026

© 2026 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 MünchenTel.: 089 651285-0

 

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Princeton University Press. All rights reserved. Die englische Originalausgabe erschien 2025 bei Princeton University Press unter dem Titel How to Lose Yourself: An Ancient Guide to Letting Go. 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektro­nischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

 

Übersetzt aus dem Englischen: Jürgen Neubauer

Redaktion: Ulrike Reinen

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: prapann/Adobe Stock

Satz: Tobias Prießner

eBook: ePUBoo.com

ISBN druck 978-3-95972-829-4  

ISBN ebook (EPUB, Mobi) 978-3-98609-607-6

 

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Einleitung

Frühbuddhistische Lehre

Reden des Buddha

Spätere Kommentare

Die Lehre des Mittleren Weges

Was bin ich?

Die Lehre des Chan

Es gibt keinen Geist

Nichts zu erlangen

Quellen und Literaturhinweise

Einleitung

Jay L. Garfield, Maria Heim, Robert H. Sharf

Selbstfindung. Selbstwahrnehmung. Selbstvermarktung. Selbsterkenntnis. Selbsthilfe. Selbstbewusstsein. Selbstverwirklichung. Selbstentfaltung. Selbstbezogenheit. Selbstgefälligkeit. Selbstachtung. Selbstsucht. Selbstgenügsamkeit. Selbstzufriedenheit. Selbsttäuschung. Offenbar sind wir geradezu besessen von unserem Selbst!

In den Augen des Buddha, der vor zweieinhalb Jahrtausenden lebte, war diese ganze Beschäftigung mit dem Selbst ein Irrweg. Zum einen, weil sich das Selbst, wenn wir uns auf die Suche nach ihm begeben, als flüchtig, wandelbar und unbeständig erweist. Wenn wir den Blick nach innen wenden, ist es schwierig, so etwas wie ein unveränderliches Selbst zu fassen zu bekommen. Wir sind zwar Personen und für uns selbst und andere als Individuen greifbar, doch das Wörtchen »selbst« in diesem Satz meint lediglich die Person im alltäglichen ­ Sinne, und keine metaphysische Wirklichkeit. Der Irrtum rührt von der falschen Vorstellung, dass sich sprachliche Strukturen – zum Beispiel das Wort »selbst« oder die allgegenwärtige Verwendung von Pronomen wie »ich«, »mir« und »mein« – auf irgendetwas beziehen, das in letzter Konsequenz wirklich wäre oder Substanz hätte. Als der Buddha die menschliche Erfahrung in ihren Bestandteilen – Körperlichkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen, mentale Vorgänge und Bewusstsein – analysierte, fand er in dieser sich ständig verändernden Person keinen festen Kern und keine Substanz. Er fand mit anderen Worten kein Selbst.

Mehr noch, er stellte fest, dass diese Beschäftigung mit dem Selbst, also unsere fortwährenden Bemühungen, ein Selbst zu erfinden und zu erhalten, sowie unsere unermüdliche Selbstsucht, einer der Hauptgründe und vielleicht sogar die entscheidende Ursache für das menschliche Leid sind. Unsere moderne Welt fördert die Selbstbesessenheit, und wir meinen oft, »Selbstfindung« sei der Schlüssel zum Glück. Wir pflegen unsere Identität in den sozialen Medien, ermuntern einander zur Selbstbehauptung und sind der Ansicht, ein gesundes Selbstwertgefühl und Ego sei die Voraussetzung für unsere psychische Gesundheit. Wir werden angehalten, unabhängig zu werden, auf eigenen Beinen zu stehen und selbstständig zu denken. In Vorstellungsgesprächen müssen wir gute Selbstvermarkter sein, Kinder sollen ihr Selbstbewusstsein entwickeln, wir begeben uns auf die Suche nach unserem Selbst.

Hinter dieser fieberhaften Bemühung, unser Selbst zu entwickeln und zu propagieren, steckt eine tiefe Unsicherheit, genährt von unseren Ängsten und Wünschen. Wir sehnen uns nach einer stabilen Identität und einer festen Substanz, die wie ein Fels in der Brandung des Lebens steht. Wir glauben, dass es tief in unserem Inneren einen festen Wesenskern gibt, der sauber von anderen Menschen getrennt und unabhängig ist, und dem die Welt nichts anhaben kann. Wir sehnen uns nach einem autonomen Selbst, das über unsere Erfahrung waltet. Und wir tun alles, um dieses Selbst zu schaffen, zu gestalten und zu pflegen.

Doch wir wären besser bedient, wenn wir dieses Selbst loslassen würden! Der Buddha war der Ansicht, wenn wir uns nicht mehr an dieses Selbst klammern, sind wir eher in der Lage, die zahllosen Ursachen und Bedingungen zu erkennen, die unsere Erfahrung prägen und uns zu dem machen, was wir sind. Was wir als »Person« verstehen, ist kein in sich geschlossener und unveränderlicher Kern, der durch alle körperlichen und emotionalen Veränderungen hindurch erhalten bleibt, sondern sie entsteht gerade erst durch diese Veränderungen und wird durch sie geprägt. Wenn wir uns von unseren Selbstfantasien lösen, erkennen wir, wie das Selbst untrennbar mit allem anderen verbunden ist. Wir stellen fest, dass wir als Menschen reicher und komplexer sind, weil wir fortwährend und dynamisch von anderen und von der Welt geformt werden. Ein steter Strom von Ereignissen macht uns zu der Person, die wir im jeweiligen Moment sind; doch ein Selbst ist in diesem Strom nicht zu finden.

Wenn wir die Aufmerksamkeit für die wahren Zusammenhänge in unserem Leben schulen, können wir die Ursachen unseres Leidens – der Buddha verstand darunter in erster Linie die drei Gifte Anhaftung, Ablehnung und Unwissenheit – erkennen und überwinden. Wenn das Selbst eine Täuschung ist, die nur entsteht, weil wir uns an unser Ego klammern und alles abwehren, was es gefährden könnte, dann ist die Dekonstruktion dieses Selbst ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem moralischen Leben und innerer Freiheit. Wenn wir das Selbst loslassen, befreien wir uns von Furcht, Angst, Anhaftung und Ablehnung, und damit, so der Buddha, von allem Leid.

Dem Buddha war nur zu bewusst, dass er mit seiner Lehre gegen den Strom schwamm. Auch die Menschen im alten Indien kannten natürlich dieses starke Selbstgefühl, das wir meinen, wenn wir »Ich« sagen. Wir haben die überzeugende Wahrnehmung, dass dieses »Ich« über die Zeit hinweg stabil bleibt, und dass das »Ich«, das diese Zeilen liest, noch dasselbe ist wie jenes, das vor vielen Jahren und Jahrzehnten bei der Feier unseres fünften Geburtstags präsent war. Doch der Buddha war der Ansicht, eine tiefe Innenschau werde ihn bestätigen. Ihr fünfjähriges Ich hatte einen ganz anderen Erinnerungsschatz und kannte ganz andere Emotionen, Vorstellungen, Denkweisen und so weiter als die Person, die Sie in diesem Augenblick sind. Dennoch fühlt sich diese Kontinuität real an. Also musste der Buddha erklären, warum wir unsere Person als etwas Beständiges empfinden, und gleichzeitig klarmachen, dass diese Wahrnehmung einer Kontinuität allein noch kein Beweis für das Vorhandensein eines unveränderlichen, ewigen und metaphysischen Wesenskerns ist.

Spätere buddhistische Denker erklären, dass sich der Buddha dazu zweier Sprachebenen bediente – der alltäglichen und der absoluten. Im Alltag benötigen wir Wörter wie »ich« oder »mir« und die Vorstellung, dass wir über die Zeit hinweg (mehr oder weniger) mit uns selbst identisch sind. Doch wenn wir nach der absoluten Wirklichkeit fragen, und wenn wir uns von dem Leid befreien wollen, das aus der falschen Vorstellung eines Selbst herrührt, können wir dieses Selbst mithilfe analytischer Verfahren und Therapien dekonstruieren. Auf der absoluten Sprachebene bezeichnen Buddhisten das Selbst als »leer«, womit sie meinen, dass sich das Wort »Selbst« letztlich auf nichts Wirkliches bezieht.

Die Aussage, dass das Selbst leer ist, bedeutet, dass die Person radikal interdependent, also Teil eines komplexen Beziehungsgeflechts ist. Wir setzen uns zusammen aus körperlichen und geistigen Phänomenen, die sich in ständiger Veränderung befinden und dabei dynamisch aufeinander einwirken und einander bedingen. Die Erkenntnis, dass die Person »leer« ist, also keinen autonomen Wesenskern hat, bedeutet gleichzeitig, sich der zahllosen Phänomene bewusst zu werden, die wir tatsächlich sind.

Die Texte in diesem Buch stammen aus unterschiedlichen buddhistischen Strömungen innerhalb der riesigen und vielfältigen Tradition, die wir als »Buddhismus« bezeichnen. Der Buddhismus entstand vor 2500 Jahren im Norden Indiens, verbreitete sich von dort über weite Teile Asiens und entwickelt sich bis heute mit zunehmend globaler Reichweite weiter. Überall, in allen Sprachen, geistigen Traditionen und Kulturen Asiens, waren buddhistische Denker von der Lehre des »Nicht-Selbst« fasziniert. Wir haben hier Texte aus drei Sprachen und Traditionen ausgewählt (obwohl wir viele weitere hätten heranziehen können), um Ihnen die Bandbreite dieser Lehre vorzustellen. Die Texte sind nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet. Wir beginnen mit den indischen Quellen, den Grundlagen der Lehre des Nicht-Selbst. Es folgen Texte aus der indischen Tradition des »großen Fahrzeugs« durch die Linse tibetischer Kommentare, die direkt auf diesen aufbauen. Und den Abschluss machen Dialoge, die zeigen, wie das buddhistische Gedankengut in der chinesischen Tradition des Chan aufgegriffen wurde.

In Teil 1 stellen wir Lehren aus dem ältesten erhaltenen Textkorpus vor, der in der altindischen Sprache Pali überliefert wurde. Der sogenannte Pali-Kanon ist die vollständigste in ­einer indischen Sprache erhaltene Sammlung der »Worte des Buddha« und wurde über Jahrhunderte hinweg überliefert (wobei man festhalten muss, dass der Buddha selbst seine Lehre nicht schriftlich festhielt; wie in anderen religiösen Traditionen dieser Zeit wurde sie zunächst mündlich weitergegeben). Diese Texte sind die Grundlage des Theravada-Buddhismus Sri Lankas und Südostasiens und werden auch im Rest der Welt zunehmend bekannt. Die Sutras ergänzen wir durch kurze Auszüge aus späteren Texten der Theravada-Tradition, um die Lehre des Nicht-Selbst klarer darzustellen.

In Teil 2 stellen wir einige philosophisch exakte Rechtfertigungen der Lehre des Nicht-Selbst vor, die in Indien im Laufe des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung formuliert wurden (und von den Tibetern überliefert wurden, die diese Traditionen später aufgriffen und weiterentwickelten). Der indische Philosoph Nagarjuna verfasste philosophische Abhandlungen und führte lebhafte Debatten mit nichtbuddhistischen Kontrahenten, um die Leere der Person und die Wesenslosigkeit aller Dinge zu demonstrieren. In den folgenden Jahrhunderten wurde seine Lehre immer wieder kommentiert und war Gegenstand von Debatten in Indien, Tibet und Ostasien. Wir stellen hier zwei dieser Kommentatoren vor: den indischen Philosophen Chandrakirti aus dem 7. Jahrhundert und den tibetischen Yogi Tsongkhapa aus dem 14. Jahrhundert. Die Texte in diesem Abschnitt wurden alle auf Tibetisch überliefert.

In Teil 3 kommen wir schließlich zur frühen Chan-Tradition in China. Im Mittelpunkt des Chan (japanisch Zen) steht die Meditation (das Wort »Chan« ergibt sich aus der chinesischen Aussprache des Sanskrit-Wortsfür Meditation), und die Praxis des Chan hat zum Ziel, die absolute Wahrheit zu verwirklichen und zu verkörpern. Die Lehre des Chan wurde beeinflusst von einer buddhistischen Schule aus Indien, die als »Nur-Geist« bekannt ist und eine Art philosophischen Idealismus vertrat. Vertreter dieser Schule erklärten, die Welt, wie wir sie erleben, sei nichts als eine geistige Projektion, und jede Vorstellung, die wir von einer »wirklichen Welt« jenseits unseres Geistes haben könnten, sei lediglich eine weitere Projektion. Das könnte man so interpretieren, dass das Selbst zwar leer, der Geist aber real ist. Doch die Autoren der beiden Texte in Teil 3 lehnen diese Schlussfolgerung ab; für sie ist der »Geist« nichts als ein Platzhalter für das »Selbst« und damit ein weiteres Objekt, an das wir uns klammern. Ihrer Ansicht nach geht es darum, uns von sämtlichen Vorstellungen eines Selbst und einer Welt freizumachen. Nicht zu denken, sondern einfach zu schauen. Sich vom Selbst freizumachen bedeutet für sie, sich nicht nur vom Ego zu befreien, sondern von allem, was an seine Stelle treten könnte.

Die in den drei Teilen dieses Buchs versammelten Texte sollen Ihnen einen Eindruck von der therapeutischen Wirkung vermitteln, welche die Befreiung vom Selbst in der Auffassung verschiedener buddhistischer Schulen hat. Die frühen Pali-Texte beschreiben ganz grundlegend, wie das Selbst in seine Bestandteile zerlegt und analysiert werden kann, um die veränderlichen Phänomene zu erkennen, aus denen wir uns zusammensetzen; sie ­machen klar, dass ­hinter diesen Phänomenen, so sehr wir sie auch analysieren, kein unveränderliches und ewiges Selbst zu finden ist. Nachfolgende indische und tibetische Denker entwickeln diese Gedanken auf höchstem philosophischem Niveau weiter und demonstrieren die Wesenlosigkeit aller Dinge in streng logischer Beweisführung. Die Lehre des Chan holt uns wieder auf den Boden zurück und bringt uns vom Denken über das Nicht-Selbst zu seiner realen Erfahrung.

Sämtliche Texte sind Dialoge mit realen oder vorgestellten Gesprächspartnern, die Fragen stellen, Einwände vorbringen und in einen lebendigen Austausch treten. Wir laden Sie ein, sich an diesen Gesprächen zu beteiligen und sie im Geist der kreativen Auseinandersetzung zu lesen. Wenn wir uns vom Selbst befreien, und mit ihm von allen Täuschungen, die unser Geist hervorbringt, dann erwachen wir für die Präsenz aller Dinge, so wie sie wirklich sind.

Über die Kunst des Loslassens

Teil 1

Frühbuddhistische Lehre

Maria Heim

Den Anfang macht eine Auswahl frühbuddhistischer Texte, die von der Schule des Theravada-Buddhismus auf Pali überliefert wurden. Diese Lehre muss vor dem Hintergrund der Philosophie des alten Indien gesehen werden, die sich mit der Natur und Existenz des Selbst (Atman) beschäftigte und heftige Debatten zu diesem Thema führte. In den früh-hinduistischen Upanishaden ist Atman der metaphysische Kern eines Menschen, ein in sich geschlossener und unveränderlicher Zeuge, der von der wechselhaften Alltagserfahrung unberührt bleibt. Der Buddha lehnte dagegen die Vorstellung entschieden ab, dass der Mensch über ein unveränderliches Selbst oder einen Wesenskern verfügen könnte. Genauso wenig hielt er von dem Gedanken einer unsterblichen Seele, wie ihn etwa der Jainismus vertrat.

In den ersten Texten erklärt der Buddha seinen Schülern, warum es jenseits des in steter Veränderung befindlichen Stroms der Phänomene, die wir erleben und die uns ausmachen, kein dauerhaftes Selbst und keine ewige Seele gibt. Es stimmt zwar, dass wir uns als mehr oder weniger kontinuierlich wahrnehmen und daraus das Gefühl eines Selbst ableiten. Doch wenn wir den Strom unserer Erfahrung in seine Bestandteile zerlegen, finden wir nur veränderliche und bedingte Phänomene, keinen dauerhaften oder unveränderlichen Wesenskern. Wie der Buddha im ersten hier ausgewählten Dialog seinem vertrauten Schüler Ananda erklärt, ist unsere Sinneserfahrung der Welt »leer«: Weder unsere Augen, noch das, was sie sehen, noch der visuelle Kontakt zwischen beidem haben ein festes Wesen oder ein Selbst. Unsere Sinneserfahrung ist nicht substanzhaft oder von Dauer, denn sie wird von zahllosen Faktoren bestimmt, die sich ihrerseits im Fluss befinden. In diesem Sinne ist die Welt unserer Erfahrung – also die einzige Welt, die wir kennen – leer und frei von festen Wesenheiten.

Unsere Erfahrung lässt sich nicht nur über unsere Sinneswahrnehmungen untersuchen. Eine weitere klassische buddhistische Analyse zerlegt unsere Erfahrung in fünf Dimensionen, flüchtige Phänomene, die sich selbst in immer weitere Einzelbestandteile zerlegen lassen. Während Descartes lediglich Körper und Geist kannte, halten Buddhisten die Unterscheidung von fünf »Daseinsaspekten« für nützlicher, da differenzierter. Bei diesen fünf Aspekten handelt es sich um Körperlichkeit (die Materialität des Körpers sowie unser sinnliches Erleben der physischen Welt), Wahrnehmungen (die Benennung und Einordnung dieser Empfindungen), Empfindungen (die hedonische Bewertung der Erfahrung), mentale Vorgänge (das Zusammenwirken von Gedanken, Neigungen, Persönlichkeit, Erinnerungen, Absichten und so weiter) und Bewusstsein (die Tatsache des Gewahrseins).

Der Buddha erklärt, die empirische Untersuchung zeige, dass es jenseits dieser Daseinsaspekte kein Selbst gibt, und dass auch keiner dieser Aspekte für sich genommen ein Selbst ist, da er weder beständig noch von Dauer ist. Keiner dieser Daseinsaspekte ist das, was wir meinen, wenn wir Wörter wie »ich«, »mein« oder »mich« verwenden, doch zusammengenommen machen sie die Summe der menschlichen Erfahrung aus. Die folgenden Texte führen aus, warum weise Menschen, die diesen unterschiedlichen Dimensionen ihres Erlebens auf den Grund gehen, zu demselben Schluss kommen werden wie der Buddha, dass es nämlich kein Selbst und keinen festen Wesenskern gibt.