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György Konrád

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Beschreibung

»Das Dasein ist für den Juden eine zu heiligende Aufgabe, kein Provisorium, sondern ein auszufüllender Rahmen, eine Herausforderung, auf die wir mit all unserem Wissen antworten müssen.« »Worin besteht dein Judentum, wenn es sich dabei um keine Religion und keine traditionelle Gemeinschaft handelt?« Diese Frage seines Schriftstellerkollegen Amoz Oz bezeichnet den Urgrund einer Untersuchung in Essays, mit denen György Konrád nach allen Seiten des Judentums Ausschau hält: nach Wurzeln des Jüdischen, nach familiären Erinnerungsdepots, nach der Bedeutung von Gemeinschaft als Lebensstrategie, nach dem Ort des absoluten Verbrechens in Auschwitz, nach einem Weltvolk in Nationalstaaten, aber auch nach den charakteristischen Tugenden und Fehlern des Judentums. Es wäre kein Konrádsches Buch ohne den zugleich melancholisch gefärbten und doch ruhig-hoffnungsvollen Blick über das Kreisen der Reflexionen hinaus. Auf Personen, Orten und Stätten ruht dieser Blick, in denen jüdisches Erbe fortlebt: im Bannkreis der Weltstadt so gut wie in der intimen Provinz eines heimatlichen Dorfes oder eines vertrauten Herzens.

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»Worin besteht dein Judentum, wenn es sich dabei um keine Religion und keine traditionelle Gemeinschaft handelt?« Diese Frage seines Schriftstellerkollegen Amos Oz bezeichnet den Urgrund einer Untersuchung in Essays, mit denen György Konrád nach allen Seiten des Judentums Ausschau hält: nach Wurzeln des Jüdischen, nach familiären Erinnerungsdepots, nach der Bedeutung von Gemeinschaft als Lebensstrategie, nach dem Ort des absoluten Verbrechens in Auschwitz, nach einem Weltvolk in Nationalstaaten, nach den charakteristischen Tugenden und Fehlern dieses Volkes. Indem Konrád solche Erinnerungsdepots aufschließt und ausschöpft, gerät auch die Stellung des Judentums im Ungarn der letzten Jahrzehnte und der Gegenwart in den Fokus: der Kampf um die Bewahrung der eigenen Identität, gegen eine Form der Assimilation, die allzu leicht in Anpassung und schließlich Selbstverleugnung übergeht.

Es wäre aber kein Konrádsches Buch ohne den zugleich melancholisch gefärbten und doch ruhig-hoffnungsvollen Blick über das Kreisen der Reflexionen hinaus. Auf Personen, Orten und Stätten ruht dieser Blick, in denen jüdisches Erbe fortlebt: im Bannkreis der Weltstadt so gut wie in der intimen Provinz eines heimatlichen Dorfes, in der Erinnerung an das, was Juden der Menschheit geschenkt haben, oder in dem, was ein Denkmal in uns hervorruft. Und auch das nimmt er wahr, was der Staat Israel als eine Heimat für ein Weltvolk bedeuten kann.

György Konrád, 1933 in Debrecen geboren, lebt in Budapest. Er ist Schriftsteller, Essayist und politischer Beobachter. Er war Präsident des Internationalen PEN-Clubs, Präsident der Berliner Akademie der Künste und erhielt zahlreiche internationale Ehrungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Internationalen Karlspreis zu Aachen. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Der Komplize (1980), Geisterfest (1986), Der dritte Blick. Betrachtungen eines Antipolitischen (2001), Sonnenfinsternis auf dem Berg (2005).

Zuletzt erschienen:

Sonnenfinsternis auf dem Berg.

Autobiographischer Roman, 2005

Das Buch Kalligaro, 2007

Das Pendel, 2011

György Konrád

ÜBER JUDEN

Aus dem Ungarischen vonHans-Henning Paetzke

Suhrkamp

Originaltitel: Zsidókról

© György Konrád 2012

Umschlaggestaltung: Ute Fahlenbock

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© der deutschen Ausgabe

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-633-79560-4

www.suhrkamp.de

INHALT

IDie erste Entscheidung

IIDie Pflicht, weiterzuleben

IIIWeltvolk in Nationalstaaten

IVUngarisch-jüdische Bilanz

VTausch

VIAlle treffen wir eine Wahl

VIITante Zsófi und Onkel Gyula

VIIIÜber István Farkas

IXZu zweit

XHeute gibt es keinen einzigen mehr

XIGedenkstunde

XIIDas absolute Verbrechen

XIIIStudienreise

XIVBefreiung der Erinnerung?

XVAugen

XVIAmos Oz auf Entdeckungsreise

XVIIEuropa und Israel

XVIIIDas alte Budapester Judenviertel

XIXDenkmäler

XXWir sind ein Erbe

ÜBER JUDEN

Essays

I

DIE ERSTE ENTSCHEIDUNG

Jemand, den die Vorsehung zum Kind eines jüdischen Menschenpaars gemacht hat, nimmt zur Kenntnis, wer und was er ist. All das, was er vom Judentum weiß, einschließlich des familiären Erinnerungsdepots, führt ihn unweigerlich auf die eine Frage: ob er sich selbst akzeptieren, ob er sich für den entscheiden soll, als der er geboren wurde, ob er seine Eltern und die weitere Familie annehmen, ob er sich als dazugehörig betrachten soll. Oder aber, ob er sich von dieser Gemeinschaft und Dazugehörigkeit nicht besser befreien sollte. Mit anderen Worten: Ob er sich dazu entscheiden soll, selbst nicht länger Jude zu sein. Begreift er sich indes als Jude, dann ist intensiveres Nachdenken darüber unbedingt geboten.

»Worin besteht dein Judentum, wenn es sich dabei um keine Religion und keine traditionelle Gemeinschaft handelt?« fragte mich im Frühjahr 1986 mein Schriftstellerkollege Amoz Oz. »Wie kann man nach Auschwitz noch immer in Mitteleuropa leben? Die Deutschen haben die Aktion lediglich geleitet, Helfershelfer jedoch unter Österreichern und Polen, Litauern und Ukrainern, Ungarn und Rumänen, Kroaten und Slowaken zur Genüge gefunden. Der gesamte Raum in der Mitte Europas und damit zusammen auch deine Heimat haben zum Ausdruck gebracht, daß sie die Anwesenheit der Juden nicht wünschen, und zu ihrer Vernichtung haben sie mehr oder weniger aktiv beigetragen. Was hast du dort zu suchen?«

Wie bin ich Jude? Möglicherweise kann ich darüber auf den Hügeln von Jerusalem am gründlichsten nachdenken. Ich weiß nicht, woher dieser Starrsinn kommt, daß ich auf Dauer nicht weit weg von jenem Hauseingang wohnen möchte, vor dem ich fast erschossen worden wäre. Einige Häuser weiter weg habe ich als Jungverheirateter gelebt. Auch das mag eine Rolle spielen.

Jude außerhalb Israels zu sein stimmt irgendwie pessimistisch. Ich mache mir nicht einmal Hoffnungen, irgendwo unproblematisch existieren zu können. Warum auch? Ich praktiziere den traditionellen Beruf einer gewissen Sorte von Juden, die Disziplin eines Außenseiters, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Einsamkeit muß ebenso erlernt werden wie Zusammenleben. Vielleicht betrachten Juden die Dinge ähnlich wie ich. Doch wenn ich aus dem Fenster zu den Bäumen und Bergen hinausblicke oder wenn ich voller Rasierschaum in den Spiegel sehe, kommt es mir nicht in den Sinn, daß ich dies als Jude tue.

Die Sehnsucht der Juden nach einer Gemeinschaft ist ergreifend. Deren Erfüllung allerdings läßt noch auf sich warten. In Israel haben sie es erreicht, als Staat einsam zu sein. Im Fach Einsamkeit ein gutes Prüfungsergebnis zu erzielen ist nicht leicht. Der Mensch führt den Allmächtigen und den Kugelschreiber mit sich und sucht nirgendwo nach der Heimat des Mutterschoßes.

Daß es zwischen mir und den anderen einen Abstand gibt, halte ich nicht für tragisch, ja, nicht einmal für traurig. Nirgendwo auf der Welt ist es vorgekommen, daß ich in einer Stadt oder einem Dorf keinen Gesprächspartner gefunden hätte. Gegen Angreifer kann man sich sowohl kollektiv als auch allein in Gesellschaft einiger Freunde verteidigen. Mit Waffengewalt, durch die Feder oder auch nur durch einen stummen Blick. Unsere Hasser müssen wir nicht angreifen, ja, ihnen nicht einmal Aufmerksamkeit schenken.

Die Religion umspannt Person und Gemeinschaft als Lebensstrategie. Die Juden gaben sich allein damit, daß sie lebten, nicht zufrieden. Dabei war auch dies schon ein Geschenk. Von morgens bis abends dachten sie darüber nach, wie ein rechtschaffenes Leben auszusehen habe. In einer Welt, die dich bestraft und gelegentlich sogar tötet, nach deiner eigenen Überzeugung zu leben – ein biblischer Ansporn. Ein verrücktes Volk sind wir. Fixe Ideen, Propheten und Weltrevolutionäre finden sich unter uns in beachtlicher Anzahl.

Selbst wenn er fast genauso ist wie seine Umgebung, selbst wenn er sich alles, was die Aufenthaltskultur ihm zu bieten hat, seinen Fähigkeiten entsprechend angeeignet hat, auch dann bleibt der Jude irgendwie anders. Wer Angst davor hat, sich zu unterscheiden, für den ist es eine ziemlich große Bürde, als Jude geboren zu sein. Er wird gezwungen sein, sich im Sport des Außenseiterseins abzuhärten. Wer gern seine jüdische Identität betont, der wird sich in Israel wohler fühlen. Für jenes eine, daß er Jude und ihm dies anzusehen ist, wird man ihn dort nicht hassen. Aber auch in Israel gibt es Menschen, die eine gar zu große Betonung dieser Tatsache nervös macht.

Es gibt mehr oder weniger aufgeklärte Städte, wo der Mensch nicht verachtet wird, weil er dies oder jenes ist und nicht so wie die anderen. Unter den von mir bisher aufgesuchten Städten war es in New York am natürlichsten, daß die anderen andersartig, verschieden sind. Dort wird der Sich-Unterscheidende am wenigsten dafür bestraft. Will der Mensch sein Zuhause nicht fluchtartig verlassen müssen, dann muß er etwas dafür tun, daß die eigene Stadt ihm, dem anderen, eher mit Neugier als mit Argwohn begegnet. Fühle ich mich in der seelischen Haut des Andersseins wohl und vertrete ich eine passionierte Minderheit, werde ich mich leichter für ein solches Verhalten entscheiden.

Wo es ein seit langem am selben Ort lebendes christliches Mehrheitsvolk gibt, dort ist der Jude Gast, auch wenn seine Vorfahren seit Jahrhunderten dort leben, vielleicht sogar länger als die Nachbarn. Je mehr er sich als Jude zu erkennen gibt, desto eher ist er Gast. Verhält er sich unruhig, kann der Hausherr Lust bekommen, über ihn herzufallen. Der Allmächtige würde das nicht zulassen? Wer weiß. Den Gedanken der Schöpfung müssen wir nicht unbedingt mit der Vorstellung von Güte verbinden. Der Tod rastet nicht, ist raffgierig. Angesichts der Hinfälligkeit des Lebens anderer können einige der Verlockung, es zu vernichten, nicht widerstehen. Der Dämon entbindet die Menschen vom Schuldbewußtsein, um sie zu befähigen, sich auf das Verbrechen einzulassen. Er raunt ihnen zu, daß das Leben einiger nicht heilig sei, setzt Abstraktionen höher an. Der Teufel verleiht Rechtstitel zum Töten.

Meine Onkel, Juden ungarischer Staatsbürgerschaft und Bildung, Patrioten Hungariae, fühlten sich in der Donaumonarchie nicht als Gäste. So waren meine Onkel im Ersten Weltkrieg allesamt mehrfach ausgezeichnete Offiziere des gemeinsamen Heeres geworden. Sie gaben sich tollkühn, droschen Karten, führten ein Lotterleben, sangen und spielten Geige. Fast so wie die vornehmen ungarischen Herren aus der Provinz. Es hat den Anschein, daß dies weniger und auch mehr gewesen sein könnte als das abgewogene Verhalten eines Gastes.

Die sensible Zusammensetzung von Angleichung und Abweichung finden, uns selbst – auf unsere Weise – als Juden behaupten, ohne damit zu prahlen, das haben die weiseren Juden in jenem Annäherungsprozeß versucht, in dem die übereilte Assimilation ebenso ihre Strafe erhielt wie die halsstarrige Dissimilation.

Der Gast sollte ein gut entwickeltes Gefühl für Selbstkritik haben. Sonst ist ein Zusammenleben mit den anderen nicht ohne größere Störungen möglich. Diese Sensibilität ist die Grundvoraussetzung für ein rücksichtsvolles Miteinander. Fähig zur Selbstkritik sind wir nur dann, wenn wir den Juden in uns kennen und pflegen.

In seinen charakteristischen Tugenden sind auch die Fehler des Judentums zu suchen. Die Juden vermögen Leben und Religion nicht mit der gebotenen heiteren Gelassenheit voneinander zu trennen. Was nicht geweiht worden ist, dem haftet in ihren Augen Zweifelhaftes an. Sich isolierender Hochmut, Ablehnung des Besten vom Mastrind, des Rückens also. Wenn Juden sich von den Geboten und Verboten der eigenen Religion distanzieren, neigen sie zur Suche nach einem neuen Glauben, einer umfassenden Lebensstrategie. Juden, so könnten wir sagen, sind religionshungrig.

Wir wollen uns dessen, daß unser Tun richtig sei, sicher sein. Jovialer Zynismus sich behaglichen Einrichtens im moralisch Verdächtigen ist uns fremd. Fragwürdiges Handeln versuchen wir, mit dem Herrn abzustimmen. Zwar täuschen wir ihn gelegentlich, doch übergehen können wir ihn nicht. Entweder feilschen wir mit dem Ewigen, oder aber wir verleugnen ihn.

Verleugnen wir ihn, dann fabrizieren wir uns eine andere Gottheit. Wenn schon keine göttliche, dann menschliche Transzendenz, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle Götter, revolutionären oder toleranten Fortschritt. Und wir fangen an, das eine oder andere Gesicht unserer Welt zu vergöttlichen. Soziologische Begriffe erhalten die Geltung einer Offenbarung. Neuartige Beschreibungen von Mechanismen des Universums und des menschlichen Bewußtseins, Manifeste und die ars poetica vermögen wir für lebenswichtig zu halten.

Dies kann auch als groteskes Verhalten an sich auffallen. Noch dazu geht es mit jener Unannehmlichkeit einher, daß es unter den Juden viele gibt, die bedrückend wertorientiert, urteilend, streng oder sarkastisch sind. Ich kenne mehrere Juden, die andere persönlich dafür verantwortlich machen, daß sie ihre Meinung nicht teilen. Die häufig einem Verstehen vorgreifende Kritik wird umrankt von einem Moralkult. Für jenen Menschen, der so schrecklich korrekt ist, sind die anderen inkorrekt.

Die Erinnerungen an das Ghetto und an die Vernichtungslager sowie die damit verbundenen intuitiven Automatismen bleiben in der Seele, in der schriftlichen und mündlichen Überlieferung der Juden gegenwärtig. Mit dem in die Seelen eingebrannten Ghetto hängt der auf der Lauer liegende Kritizismus zusammen. Oft hat es den Anschein, als wäre uns die trennende Grenze wichtiger als die erotische Anmut des anderen Menschen.

Es heißt, der Jude verkünde gefährliche Lehren, untergrabe die stabilen Grundlagen des Staates, zersetze die reine Moral, ja, ausgestattet mit dämonischem Wissen und entsprechenden Praktiken, sei er Ketzer, Verführer, Versucher, Kuppler, Wucherer, Schacherer, Fliegenfürst, Beelzebub, Vampir, das Blut rinne ihm aus den Mundwinkeln. Mit seinem paradoxen Verstand könne der Jude nicht nur das sagen, was er meine, sondern auch das Gegenteil davon, man werde einfach nicht klug aus ihm.

Für Revolutionen sei er ziemlich gut zu gebrauchen, doch in der schweren staatserhaltenden Arbeit sei er eher ein Störfaktor. Er habe einen Hang zu extremen Gesten, sei unberechenbar, wolle fortwährend etwas erneuern, sei überflüssig schnell und neige in seiner Hast zur Oberflächlichkeit. Der konservative Hausherr, der selbst das verschmitzte Lächeln des radikalen Gastes bemerke, lasse sich nun einmal nicht gern verspotten.

Das Dasein ist für den Juden eine zu heiligende Aufgabe, kein Provisorium, sondern ein auszufüllender Rahmen, eine Herausforderung, auf die wir mit all unserem Wissen antworten müssen. »Sieh dich nach allen Richtungen um, halte die Augen offen, sonst wirst du getötet!« sagte mir am Ende des Krieges ein alter Jude. Natürlich kann es trotzdem passieren.

Wie konnte der Mord an sechs Millionen der Unseren geschehen? Darüber müssen wir nachdenken. Wie konnten wir das zulassen? Warum haben wir gegen unsere Schlächter keine Terrorakte verübt? Warum haben wir uns nicht rechtzeitig verteidigt? Wenn ein Volk so massenhaft zum Opfer wird, dann hat es sich irgendein Versäumnis zuschulden kommen lassen. Viele kluge Menschen haben nicht einmal gemeinsam genügend Klarblick besessen. Der Tod von sechs Millionen deutet darauf hin, daß die Solidarität unter den Juden nicht wachsam und stark genug gewesen ist.

Zu derart loyalen Lämmern gegenüber ihren Staatsmördern waren die Juden deshalb geworden, weil sie durch den Nationalismus der sie aufnehmenden Mehrheit in eine arglose psychische Abhängigkeit geraten waren. Man hatte ihnen gesagt, und allmählich glaubten sie auch selbst daran, daß sie sich als gute Patrioten diszipliniert vernichten lassen müßten. Die Juden schwächten sich selbst, gaben nicht genügend acht auf sich. Unsere Ausrottung zuzulassen unterliegt einem absoluten Verbot. Die Juden hatten die Opferromantik akzeptiert. Das war eine schuldhafte geistige Verantwortungslosigkeit.

Die Generation unserer Väter hat gefehlt, hat beim Schutz ihrer Kinder die erforderliche Wachsamkeit vermissen lassen. Diesen Fehler dürfen die Nachfahren nicht wiederholen. Ohne Selbstverteidigung gibt es nur Ausgeliefertsein und Erniedrigung. Bewahre dir deinen klaren Blick, sieh dich um und verteidige dich mit aller Kraft, so sehr du nur kannst! Ertüchtige dich, um möglichst wenig ausgeliefert zu sein! Was ist heilig? Die Familie, die Freunde, die Meister, die Gleichartigen. Heilig ist die Stadt, der Kontinent, der Erdball, derjenige, den ich liebe, was mich überlebt und übertrifft. Jedes Volk braucht etwas, das ihm heilig ist, das es höher ansetzt als das Leben. Heilig ist etwas, wofür der Mensch, wenn es sein muß, sogar den Tod auf sich nimmt.

Die Juden dürften nicht die Wahrheit gesagt haben, selbst wenn sie beteuerten und noch so ehrlich daran glauben wollten, daß sie ebenso Ungarn, Deutsche oder Franzosen sein wollten wie die anderen, nur eben solche mosaischen Glaubens. Als Juden wollten sie jüdische Ungarn, Deutsche oder Franzosen sein. Nicht einfach Ungarn, Deutsche oder Franzosen, sondern eigentümliche und anders als diese. Für die Zusicherung der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit war die Aufgabe ihres eigentümlichen Selbstbewußtseins ein allzu hoher Preis. Die nationale Emanzipation hat die Zusammengehörigkeit und das Aufeinanderangewiesensein der internationalen jüdischen Diaspora, der Galutinseln, nicht beseitigt. Auch eine negative Zusammengehörigkeit gibt es, nämlich die, wenn man in eine gemeinsame Gaskammer getrieben wird. Auschwitz war für das Judentum der größte Denkzettel. »Gleich, was du von dir denkst, du bist und bleibst Jude«, sagte Auschwitz.

»Ihr gehört nicht zu uns«, behaupteten die Schöpfer der Judengesetze. »Eure Angleichung ist falsch und oberflächlich. Und überhaupt, wir möchten gar nicht, daß ihr mit uns verschmelzt, für uns seid ihr eine Frage, die irgendwie gelöst werden muß. Am einfachsten wäre es, ihr würdet weggehen.« Die Ausbürgernden nannten die Dinge schärfer beim Namen als die Integrierenden, die das Problem versüßten.

Gab es für die Selbstbehauptung des jüdischen Volks irgendeine unbewußte Weltstrategie? Gab es irgendein kollektives Selbstbewußtsein, das in den gelegentlichen Entscheidungen der Juden, der einzelnen Juden wirkte, was sich die Antisemiten wie geheime Anweisungen vorstellen, die vom Rat der Weisen Zions als einem rätselhaften Direktorium im Untergrund verbreitet werden? Es ist wirklich wahr, der dämonische Geist der Weisheit durchdringt die Formen, überquert die Meere, es fällt ihm nicht im Traum ein, sich auf Burgen zu verstecken; lieber schon zieht er wandernd über die Landstraßen, setzt sich dem leidenschaftlichen Risiko unmittelbarer Erfahrung aus, wagt sich, vor das Angesicht Gottes zu treten.

Die Juden sind nicht nur zerstreut worden. Auch von selbst sind sie auseinandergegangen. Sie wollten gar nicht unbedingt zusammensein, sie können die Autorität des anderen nicht ertragen.

Hinter jedem ganzen, Halb- und Vierteljuden steht Auschwitz. Nicht nur die Überlebenden, auch die Nachkommen können es nicht vergessen. Selbst wenn sie wollten, könnten sie es nicht. Kann man in Verbindung mit Jesus das Kreuz vergessen? Die entschlossene Ausrottung von Kindern ist unverzeihlich. Ja, es gibt unverzeihliche Handlungen.

Die Massenausrottung der Juden im Zweiten Weltkrieg, die ich nur zufällig überlebt habe, macht mich zum Juden. Ich verweigere mich nicht der Solidarität und der Gemeinschaft mit denen, mit denen zusammen ich in einem Ofen hätte verbrannt werden sollen.

Für unschuldig halte ich auch die Juden nicht. Manch einer von ihnen diente nach dem Krieg den Russen als Instrument bei der Unterwerfung Mitteleuropas. Der Ausrottung von Kindern allerdings haben sie sich nicht schuldig gemacht. Außerdem gab es unter ihnen nicht nur Vernehmer, sondern auch Vernommene.

Von den Juden aus meiner Kleinstadt sind nur wenige Kommunisten geworden. Die meisten von ihnen sind nach dem Krieg weggegangen. Und wer in die Kommunistische Partei eingetreten ist, der machte meist das gleiche wie zuvor. Auch jetzt arbeitete er als Händler oder Gutsverwalter in etwas größeren, jedoch nunmehr staatlichen Unternehmen. Viele existierten als gerade so bezahlte Kleinbürger, klassenfremde Bürger, wurden zwangsumgesiedelt oder überlebten die Jahrzehnte des Kommunismus zurückgezogen in einer mit anderen geteilten kleinen Wohnung.

Die Leichen kann man zählen. Es sind viel mehr Juden getötet worden, als durch die zu uns gehörenden Mörder zu Tode gekommen sind. Die Tatsache, daß meine Freunde und Freundinnen aus der Kindheit in Mitteleuropa nur als zu erstickende und zu verbrennende Arbeitsstücke betrachtet wurden, deutet auf eine derartige seelische Umnachtung hin, daß wir uns beim Nachdenken darüber fragen können, was wir eigentlich hier noch zu suchen haben.

Tatsache ist, daß ein Jude zugleich erschüttert sein und scherzen kann, Tatsache ist, daß er ein geborener Frevler, noch dazu unverschämt ist, streitsüchtig und aufdringlich, außerdem unverzeihlich schnell, so daß es für Völker, die bedächtiger und stärker mit der Scholle verbunden sind, gar nicht so schwer ist, zu Antisemiten zu werden. Wer in dieser Region nicht daran gedacht hat, die Judenfrage irgendwie dennoch lösen zu müssen, wenn anders nicht, dann geistig oder etwa durch Mischehen, der war ziemlich tolerant und menschlich.

Wenn erst einmal damit begonnen wird, über die sogenannte Judenfrage nachzusinnen, die nicht die Frage der Juden ist, sondern die der anderen, und wenn die Maschinerie der Lösung radikal in Gang gesetzt wird, dann ist es schwer, vor der Endlösung haltzumachen. Jener Bischof, der den Gesetzesentwurf zur Beschränkung der Juden einbringt, kann vor der Geschichte nicht unberücksichtigt bleiben. Der spätere Gestank des Krematoriums verbreitet sich im Plenarsaal des Parlaments. Die Vorereignisse und die Folgen sind voneinander nicht zu trennen. Etatistische Rhetoriken können die Entrechtung einer Gruppe von Bürgern rechtfertigen. Sowohl der Hitlerismus als auch der Stalinismus haben dies getan.

Die christlichen Kirchen waren verunsichert. In dem Umstand, daß der ungarische Fürstprimas Mindszenty erst nach der Deportation der Juden aus der Provinz protestiert und sich auch dann lediglich für die Verschonung der Getauften unter ihnen eingesetzt hat, spiegelt sich eine Moral, die viel erbärmlicher ist, als daß sie eine Jesus entsprechende genannt werden könnte.

Manch einer meint, mit dem mitteleuropäischen Abenteuer der Juden sei es eigentlich vorbei. Nolens volens sei zwischen der eifrigen Anpassung und den Massengräbern irgendein Zusammenhang entstanden. Die Selbstverleugnungen sind etwas Vorläufiges. Gleich welche Sprache sie sprechen, gleich wo und nach welchen Bräuchen sie leben, auf Dauer will es den Juden irgendwie nicht gelingen zu vergessen, daß sie Juden sind. Christliche Familien bewahren selbst bis ins vierte Glied im Gedächtnis, daß sie einen Anteil jüdisches Blut in sich haben, einen Urgroßvater, eine Urgroßmutter; ein dunkles und interessantes Geheimnis liegt in ihnen verborgen.

Christliche Völker können wechselseitig und spurlos miteinander verschmelzen. Es genügen eine Mischehe, ein Menschenalter und der sprachliche Wechsel, um den persönlichen Wandel zu vollziehen. Die Sonderstellung der Juden dagegen bleibt bestehen, dies selbst dann, wenn sie ebenso und in derselben Kultur wie die Christen leben. Das vielleicht deshalb, weil sie für eine vollständige, weitgehende und bedingungslose, sich selbst nicht zurückhaltende Vermischung keine geistige Notwendigkeit sehen. Auch dann nicht, wenn sie sich in der Situation eines Paria, eines Ausgestoßenen, befinden.

Was ist und was wird mit den Juden zwischen Prawoslawen, Moslems und westlichen Christen geschehen? Worauf stützt sich das Vertrauen der Überlebenden und Hiergebliebenen? Warum bleiben sie in der Nähe der einstigen Lager? Warum bleibe ich in jener Stadt, in der nicht mein Wohlsein, sondern vielmehr mein Nichtsein wünschenswert gewesen ist? Sollte ich mich irren? Bin ich schwerfällig? Vielleicht bequem und ängstlich? Wage ich nicht, die letzten Schlußfolgerungen zu ziehen? Darf ich hier überhaupt wir sagen? Mit wem verbindet mich in diesem Land ein Wir? Ich fahre auf der Rolltreppe hinauf und hinunter, betrachte die Gesichter. Hier und da der eine oder andere, mit dem ich mich vielleicht verstehen könnte, der mich vielleicht nicht ausliefern würde. Die Mehrheit würde dulden, daß einige unter ihnen herausgefischt werden würden. Sie würden mich nicht verstecken, mir nicht zur Flucht verhelfen. Manch einer würde die Behörden verständigen.

Gibt es unterschwellig-unterirdische Werte, um die herum sich in aller Stille das natürliche Wir aufbaut? In meinen bitteren Momenten meine ich, daß der offenen Rede in dieser Gegend keine Achtung entgegengebracht wird. Wenn der Duckmäuser Realist ist, dann ist derjenige, der sich nicht beugt, ein Idiot. Möglicherweise gibt die Geschichte hierzulande Lektionen in stillschweigender Komplizenschaft und im Verbergen der Gedanken. Nicht alles zur Sprache bringen, aussprechen, höchstens aufblitzen lassen, Anspielungen machen, nur soviel sagen, wie möglich ist. Emsig konsumiere ich diese Sinnesart und könnte nicht behaupten, daß ich sie auf Dauer genießen würde.

1944 war ich ungarischer Jude, seit 1945 bin ich ein jüdischer Ungar. Weil ich hier lebe und Ungarisch spreche, weil ich mich hier auskenne, weil Ungarn demzufolge meine Heimat ist. »Meine Heimat«, das sage ich als Jude. Mit den Gräbern meiner Vorfahren, die hier beerdigt sind, und vielleicht auch mit meinen Arbeiten, habe ich dafür bezahlt. Seit langem schon wohne ich hier im schönen Buda. Meine jüdischen Lehrer haben in der ungarischen Literatur ihre Visitenkarte hinterlassen. Sollen wir Milán Füst, Frigyes Karinthy und Miklós Radnóti nach Hause nach Jerusalem bringen? Sollen wir die Bibel unter den Arm nehmen und nach Hause bringen? Soll ich betonen, daß ich zu euch gehöre? Das solltet lieber ihr sagen, wenn ihr so denkt und es gern verkündet. Dessenungeachtet: Nächstes Jahr in Jerusalem! Der rechte Arm soll mir verdorren, wenn ich es vergesse. Schon möglich, daß er verdorren wird.

Tatsache ist, antisemitische Christen gibt es um mich her in Mitteleuropa zur Genüge. Wie auch in der Umgebung von Israel reichlich antizionistische, judenfeindliche Moslems leben. Feinde findest du überall. Und wenn du Jude bist, besonders viele. Der passive, der völkische Antisemitismus ist für mich kein Grund, von meinem Wohnort wegzuziehen. Für diejenigen, die nichts Besseres zu tun haben, als mich zu verabscheuen, gibt es dafür viele Begründungen. Der europäische Antisemitismus bereitet sich heute nicht darauf vor, die Juden zu massakrieren. In der Umgebung von Israel dagegen würde der arabische Antizionismus viele Juden abschlachten, hätte er die Möglichkeit dazu. Um der Genauigkeit willen sei gesagt, daß es auch Menschen gibt, die mich nicht verabscheuen. Diese Erfahrung mache ich auf der Straße, im Zug, auf dem Markt und in Cafés.

Im Frühjahr 1986, als ich schon einen Monat in Jerusalem weilte, brummte ich still vor mich hin: »Nur weg von hier, weg aus Israel, zu viele Juden gibt es hier. Unter ihnen fange ich schon an zu glauben, daß nur wir allein auf der Erde gelitten haben und daß nur wir allein auf der Welt sind. Wenn andere mich nicht in mein Judentum einschließen, soll ich selbst mich dorthin zurückziehen? Und überhaupt, warum soll ich mich einsperren? In Budapest bin ich Gast. Mich interessieren die Stadt und deren Bevölkerung, die Ortsansässigen. Ich habe Freunde, Illusionen indes nicht. Ich reise zurück ins jenseits des Eisernen Vorhangs gelegene Budapest. Doch Jerusalem wird mir fehlen, schmerzlich fehlen. Im Rückblick aus dem grauen Budapest wird sich die Erinnerung zusehends verschönern, und von den israelischen Juden werde ich immer mehr Gutes sagen können. Sie haben eine Nation gemacht, die für ein modernes Leben nötigen Institutionen geschaffen, sie bauen ansehnlich und großzügig, nehmen alle Juden auf, die hierherkommen wollen, sie haben sich verteidigt, sind miteinander solidarischer gewesen als die anderen Völker, und was ich am meisten schätze: Sie leben in einer Demokratie, die sich nicht in eine Diktatur verwandeln läßt.«

II

DIE PFLICHT, WEITERZULEBEN

(Jerusalemer Gedanken)

Die herrschenden Ideen des zwanzigsten Jahrhunderts waren fast ausnahmslos mörderischer Natur, auch wenn sie dies ursprünglich nicht im Sinn hatten. Wie viele Massengräber unseres Jahrhunderts gehen auf Stilblüten und Schwärmereien von Literaten zurück? Die Hauptereignisse der Geschichte sind im allgemeinen mit dem Tod vieler Menschen verbunden. Mit dem gewaltsamen, von Menschen bewirkten Tod natürlich. Gemordet hat die Rechte ebenso wie die Linke. Jeder Nationalismus hat gemordet, auch der jüdische. Wer vermag zu beurteilen, welcher Mord rechtens ist?

Jude sein in Mitteleuropa, das ist der Imperativ persönlicher Freiheit des Denkens. Gewiß auch ein Konflikt mit verschiedenen kollektiven Identitäten. Selbstbestimmung, persönliche Weltanschauung und individueller Klarblick sind Erwachseneneigenschaften. Alte und häufig angegriffene, im Überlebenskampf erfahrene Völker haben beste Chancen, erwachsen zu sein. Ich weiß, die Gemeinschaft schließt uns nicht herzlich und helfend in die Arme. Jude sein in Mitteleuropa heißt wachsam sein. Je wilder das Menschenwild, desto sensibler wird es für den Geruch des Jägers.

In der Diaspora leben heißt, in kleinen Gruppen, ja, sogar allein sich zu behaupten. In einer Mannschaft – das Gefühl hatte ich immer – ist der Mensch ein Halbfertigprodukt. Die typische Gemeinschaft ist der Kindergarten. Ich wäre lieber Abenteurer als Soldat. Kindergartenkinder und Soldaten, der Gemeinschaftsmensch, müssen noch reifen.

Vielerlei Nationalismen verstehe ich, doch teilen kann ich keinen von ihnen. Die Nachteile jüdischen Daseins in Mitteleuropa müssen wir zu unserem geistigen Vorteil wenden, daraus lernen. Ich bin ein Mensch. Jede nähere Bestimmung ist fraglich, zufällig. Dein ganzes Leben kannst du mit diesen elenden Identitäten vertrödeln.

Die Vielfalt der Juden in der Welt ist zweifellos unvergleichlich groß. Fast in jeder Sprache, Kultur, gesellschaftlichen Lage und politischen Familie finden sich ihre Vertreter. Die Widerspiegelung dieses Pluralismus in den Selbstreflexionen der Juden ist begründet. Daß das Judentum seinen eigenen Fundamentalismus ebenso besitzt wie die anderen Völker, ist allerdings auch eine Tatsache: einen religiösen und nationalistischen Fundamentalismus, der Vielfalt für einen Fehler hält und das Judentum zu etwas Gleichartigem, Homogenem und Monolithischem machen möchte. Stärkstes Argument des jüdischen Fundamentalismus ist der judenfeindliche Fundamentalismus der anderen Völker. Kaum daß der christliche und schließlich nationalistische Fundamentalismus Europas einen großen Teil des europäischen Judentums vernichtet hatte, trat der islamistische Fundamentalismus des Nahen Ostens auf den Plan, dessen Brennpunkt und gemeinsamer Nenner im Antizionismus zu sehen sind.

Es stellt sich die Frage, welche Antworten die Juden auf diese Herausforderung entwickeln können. Ist auf den Angriff des Fundamentalismus eine pluralistische Antwort möglich? Der islamistische Fundamentalismus wird wahrscheinlich ein dauerhaftes Phänomen bleiben. Keine vergängliche Mode. Eine eroberungssüchtige Weltanschauung, die eine Lebenseinheit anbietet, radikal missionieren will und im Kreis der Mohammedaner nicht weniger wirkungsvoll ist als einst der Faschismus und Kommunismus in den christlichen Mehrheitsgesellschaften.

Die Antwort vieler Juden darauf lautet, dem islamistischen Fundamentalismus müsse ein israelisch-jüdischer Fundamentalismus entgegengesetzt werden. Manchmal hat es den Anschein, als sei dies die Antwort der Mehrheit, doch dann stellt sich heraus, daß es sich eher um die der Minderheit handelt. Eines indes ist sicher: Für alle israelischen Juden und all jene Diasporajuden, die sich mit ersteren solidarisch erklären, ist der jüdische Fundamentalismus etwas Existierendes und Abgewehrtes oder auch nur eine in Parenthese gesetzte Versuchung.

Man kann auch spekulieren, daß der eine nur durch den anderen Fundamentalismus niedergerungen werden könne. Wenn man uns wieder ausrotten, vertreiben oder ins Meer jagen wollte, würden auch wir mit der Waffe in der Hand zur Stelle sein. Ein realistischer Militär sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn, auf jeden Schlag werden wir reagieren, denn dies ist die einzige Sprache, die von den anderen verstanden wird. Geachtet wird nur, wer sich verteidigen kann.«

Im Lager der Militärs ist Individualismus kein vorrangiger Wert. Dort herrscht die erste Person Plural. In Grenzsituationen zeigt sich, daß Solidarität am wichtigsten ist. Dann bedarf es nicht nur der Autonomie, sondern auch der Disziplin. In Grenzsituationen ist klar, daß man für die anderen selbst zu sterben bereit sein muß.

In der Zwischenzeit gehen in der Welt die transnationalen Prozesse vor sich, auch in Europa belebt sich allmählich das kollektive, übernationale Bewußtsein unseres Erdteils. Das Attribut des Europäischen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Juden neigten auch früher mehr schon als die anderen dazu, sich als Europäer zu fühlen. Diese kulturelle Umorientierung ist ihnen also nicht fremd.

Die nationalen Fundamentalismen, in denen die Juden nicht allzuviel Platz finden, wollen Unterscheidungen treffen. Diese verschiedenen nationalen Fundamentalismen ähneln einander sehr stark, was sich vor allem in ihrer Ikonographie fast bis zur Lächerlichkeit zeigt. Die nationalistischen Psychosen und Rhetoriken haben internationales Gepräge. Wer schwenkt keine Fahnen?

Die in der Welt verstreut lebenden Juden brauchen Israel, und Israel braucht sie. Die größte Tugend der Juden, in den Augen der Judenfeinde zugleich auch ihre größte Sünde, besteht darin, daß ihre Solidarität etwas, nicht viel, stärker ausgeprägt ist als die durchschnittliche Solidarität der anderen Völker.

Die Gegensätze zwischen religiösem und weltlichem Judentum, die Dispute zwischen Fundamentalisten und Pluralisten stellen diese Solidarität unter den innerhalb und außerhalb des Landes lebenden Juden auf die Probe. Ohne die Unterstützung des Weltjudentums wäre Israels Lage im Nahen Osten unsicherer. Jedenfalls greift in Israel zusehends die Meinung um sich, daß die in Europa und insbesondere in Mitteleuropa verbleibenden Juden eigentlich einem Irrtum, aufgrund eines defekten Selbstwertgefühls einem Selbstbetrug unterlägen, sich selbst auslieferten, aufgäben, indem sie an der Umgebung der einstigen Konzentrationslager festhielten.

Wenn der Staat Israel nicht auf die jüdische Gesellschaft, eine existierende Vielfalt also, präziser formuliert: nicht auf die Juden selbst baut, sondern auf die jüdische Religion, die Gebote und Verbote, und nicht einmal nur auf die zehn Gebote, sondern auf die dreihundertsechzig Vorschriften, also statt auf das Vorhandene auf das, was sein muß oder sein müßte, wenn diejenigen im Namen des Judentums am lautstärksten ihre Stimme erheben, die als sehr jüdische Juden für besser und gerechter gehalten werden wollen als die anderen, wenn diejenigen den Ton angeben, die andere nach strengen Maßstäben wägen und freilich für zu leicht befinden wollen sowie sich wechselseitig aus Texten abgeleiteten Regeln unterwerfen, dann ergibt sich die paradoxe Situation, daß nun Juden andere Juden aus der von ihnen interpretierten jüdischen Gemeinschaft verbannen, und zwar mit der gleichen Logik, mit der damals die Antisemiten in ihren verschiedenen Gemeinschaften die Juden geächtet haben.

Ist denn eine Seele, die an derart viele Vorschriften von erlaubt und nicht erlaubt gebunden ist, nicht bedrückend? Ebenso wie viele Diasporajuden Angst haben, den Erwartungen der Nicht-Juden um sie her nicht zu entsprechen, so hat der orthodoxe Jude hier in der eigenen Gemeinschaft Angst, den Normen der anderen nicht zu genügen. Das Volk des Gesetzes neigt zu der Schwäche, sich den Gesetzesauslegern auszuliefern. Man kann um uns her eine Ghettomauer errichten, doch ist es auch möglich, sie von innen abzustützen.

Es stellt sich die Frage, wie lange das Judentum seine militärische Überlegenheit gegenüber den israelischen Nachbarn wird behaupten können. Möglicherweise wird die Stärke des islamistischen Fanatismus eher zunehmen. Das Weltjudentum von hier aus Jerusalem zu verbannen, käme einem politischen Selbstmord gleich. Sollten nationaler oder religiöser Fundamentalismus in Israel die Oberhand gewinnen, dann wird es zwischen israelischen und überall in der Welt verstreut lebenden Juden nicht allzuviel Kommunikation geben, dann werden sie wieder isoliert und wir ohne Stütze sein.