Über Wahrheit im außerdigitalen Sinne - Peter Schmitt - E-Book

Über Wahrheit im außerdigitalen Sinne E-Book

Peter Schmitt

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Beschreibung

In Zeiten von Deepfakes und maschineller Intelligenz scheint die Suche nach Wahrheit über den Menschen ein antiquiertes Vorhaben zu sein. GPS-trackbar und HD-Kamera-durchleuchtet passt die altertümliche Wahrheit nicht mehr so recht in unsere computerisierte Welt. Dabei ist die Suche nach Wahrheit nichts weniger als das Programm unserer Kulturgeschichte selbst. Alle Künste sind auf sie geeicht: Bilder, Filme, Texte haben nur Bestand, wenn sie eine bestimmte Wahrheit in sich tragen. Für sie gehen Menschen über ihre Grenzen und bringen sich in Gefahr. Manche gehen für die Wahrheit sogar in den Tod. Von einem Mangel an Bedeutung kann man bei ihr kaum reden. Sie kolportiert vielmehr ein unerklärliches Zuviel davon. In seinem neuen Buch begibt sich Peter Schmitt auf die Suche nach Wahrheit im außerdigitalen Sinne. Sein Denkweg, der ihn zu so unterschiedlichen Philosophen wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Günther Anders und Yuval Noah Harari führt, mündet in ein engagiertes Plädoyer: Jenseits von bloßer »Truthiness« und aktueller KI-Gläubigkeit müssen wir anerkennen, dass die Suche nach Wahrheit eine elementare Wesenseigenschaft des Menschen ist. Nur wir Menschen sind zur Wahrheit fähig, nur wir besitzen diesen dubiosen Wahrheitstrieb.

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Peter Schmitt ist Musiker und promovierter Philosoph. In Musik und Schrift verarbeitet er den Weltzustand Technik und dessen Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft.

PETER SCHMITT

Über Wahrheit im außerdigitalen Sinne

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4571-7

eISBN (ePub) 978-3-7873-4572-4

Umschlaggestaltung: Stefan Adamick unter Verwendung einer Illustration von Shany Muchnik (Shutterstock)

Bildnachweis: Pexels.com (S. 6, 152)

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Prolog

0

Der bestirnte Himmel

Von Mücken und Menschen

Sprache der Götter

Der atmende Kosmos

Das Erhabene

1

Die ganze Welt in mir

Die Ich-Zentrifuge

Einmal Ich und nie wieder

Angst

Seiltänze

1 und 0

Téchne

Rechenergebnisse

Mythos der neutralen Technik

Maschinelle Emotionen

Menschenhaufen

Psychotechnik

1

Alethaia

Das Meer der Sprache

Lüge und Übertreibung

Vom Wissen einer Wahrheit

Information

0

Träume

Leid, Lust und Kunst

Augenblicke

Sein zum Tod

(Un)Möglichkeiten

Mut zur Wahrheit

Useless People

Epilog

Literatur

Anmerkungen

Prolog

Es macht im Grunde keinen Sinn: Wir, auf einem unbedeutenden Planeten, »in irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls«1. Was bringt, in Anbetracht der Flüchtigkeit unseres Lebens, die Suche nach so etwas wie Wahrheit? Es lässt sich über sie ja kaum vernünftig reden. Für viele gibt es sie nicht mal. Sie sei ein gefährliches und anmaßendes Projekt, weil der Glaube an sie immer in falsche Gewissheit umschlage, eine pathetische Geste der Spezies Mensch und damit eigentlich bedeutungslos.

Dabei ist die Suche nach ihr nichts weniger als das Programm unserer Kulturgeschichte selbst. Alle Künste sind auf sie geeicht: Bilder, Filme, Texte sind nur dann gut, wenn sie Wahrheit in sich tragen. Und da langt es dann, wenn man sie erahnen kann. Die Wahrheit regt uns seit jeher zu den erstaunlichsten individuellen und kollektiven Leistungen an. In der konkreten Lebenspraxis ist sie ein Risiko. In zurückgezogener Reflexion hingegen wird sie zur vielschichtigen und fragilen Angelegenheit.

Dort funktioniert sie fast wie ein geistiges Hormon, das tief gehende Denkprozesse initiiert. Mit der Wahrheit kann man nicht an der Oberfläche bleiben, sondern späht immer in Abgründe. Mit ihr ist das Nervensystem der Wissenschaften freigelegt. Erst die Suche nach ihr füllt den philosophischen Gedankengang mit Leben. Blutarm jener, der sie aus den Augen verloren hat. Sie beflügelt und verführt. Für sie gehen Menschen über ihre Grenzen und bringen sich in Gefahr. Manche gehen für sie sogar in den Tod. Von einem Mangel an Bedeutung kann man bei ihr also eigentlich kaum reden.

Sie kolportiert vielmehr ein unerklärliches Zuviel davon.

Die Wahrheit ist so bedeutungsvoll, dass wir es mit ihr eigentlich gar nicht aushalten können. Sie überfordert uns. Und doch denken wir – als wäre sie ein Fehler in unserem System – regelmäßig über sie nach. Sie ist wie ein neurotischer Wiederholungszwang, bei dem wir immer wieder an den gleichen Stellen landen: Es gibt sie eigentlich nicht. Und wenn es sie gäbe, dann könnten wir sie bestimmt nicht begreifen. Sie entspringt dem Glauben an etwas. Jeder konstruiert sich seine eigene. Sie ist Zeugnis sprachlicher Selbstüberschätzung. Etwas, das wir erfunden haben, um uns nicht so bedeutungslos vorzukommen – inmitten der gewaltigen und unbegreiflichen Dimensionen, der unendlichen Geschichte von Werden und Vergehen.

Und gerade da, in den gewichtigen, unveränderlichen Koordinaten unseres Daseins blitzt sie grell auf: in Zeit und Raum, in der Geburt, im Leiden, im Sein, in Angst, im Überlebenskampf, im Widerspruch, in Kunst, in Tugenden, im Erhabenen, im Tod. Sind aber diese sogenannten Wahrheiten nicht doch nur Worte, die uns womöglich zu groß geraten sind? Wortgebirge, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen? Können sie überhaupt so wesentlich sein, wie sie zu sein vorgeben? Die Bedeutsamkeit der Wahrheit hallt ja konsistent in unserer Alltagssprache nach: Wir unterscheiden rigoros zwischen dem besonderen, teuren »Wahren« und dem gewöhnlichen, billigen »Unwahren«. »Wahre Freundschaft« gibt es nicht auf Facebook. »Wahre Liebe« ist nicht »nur« Liebe, sondern die eine, große, ohne die man im Leben keinen Sinn mehr sieht.

Wahrheit ist dann tief empfundene Bedeutungsspitze, die auf ominöse Weise unerklärlich bleibt, das »Ding an sich«, das man nicht erkennen kann. Warum es die Liebe des Lebens war, kann man letztlich nie so ganz genau sagen. Auch den »wahren Freund« umgibt ein Nimbus der Unerklärlichkeit. Dem wahren Gehalt des Lebens haftet etwas zutiefst Unplausibles und Unheimliches an. Und damit drückt sich gewissermaßen eine Wahrheit im Verhältnis zur Wahrheit selbst aus: Man sollte im Umgang mit ihr nicht zu direkt sein, ihr nicht zu nahekommen. Denn sie verschwindet sonst. Als ob sie neben der Wirklichkeit ein scheues Eigenleben führen würde, das man nur von weitem (bei bestimmten Lichtverhältnissen) beobachten kann. Überhaupt das Licht. Es ist die Allegorie auf die Wahrheit. Und der Himmel, der ist voll davon.

0

DER BESTIRNTE HIMMEL

Es ist Nacht. Unvorstellbar und doch – wenn es das Wetter erlaubt – sichtbar, ist der Sternenhimmel das wohl mysteriöseste Phänomen, dem wir gegenüberstehen. Er kommt uns als überwältigende Erscheinung zu und ist nicht zu begreifen: die weiß schimmernden Punkte im schwarzen Nichts. Galaxien, Millionen von Lichtjahren von uns entfernt, ihr Licht bereits Millionen Jahre alt. Wie könnten wir das je verstehen? Wir müssen die gewaltigen Ausmaße einfach hinnehmen und akzeptieren, selbst ein winziger, flüchtiger Teil eines gewaltigen Ganzen zu sein. Doch gerade entgegen dieser Bedeutungslosigkeit und Flüchtigkeit begeben wir uns auf die Suche nach Wahrheit. Philosophie muss beim Blick in die Sterne entstanden sein, aus Trotz. Es ist in der Tat unwahrscheinlich, dass der Mensch der Vorzeit beim Beerensammeln oder auf der Jagd angefangen hat, die verborgenen Zusammenhänge seiner Existenz in Frage zu stellen. Erst mit den spekulativen Erwägungen zu den ominösen Umständen (unter denen wir auch heute noch unser Dasein fristen) hat er sich in die Tiefen der philosophischen Auseinandersetzung begeben können. Und der Nachthimmel war in einer Zeit lange vor den Stadtlichtermeeren der Großstadt das eindrücklichste Phänomen, das ihn immer wieder zu bestimmten Fragen bewegt haben muss. Immanuel Kant entdeckte eine eigenartige, sich selbst verstärkende philosophische Dynamik in der Ästhetik des Nachthimmels. »Je öfter und anhaltender sich das Nachdenken« mit ihm beschäftigt, bewegt er uns zu »immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht«. Der »bestirnte Himmel«2 kam für ihn noch vor dem moralischen Gesetz. Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen«.3 Erstaunlich: Der Nachthimmel bewegt selbst den Begründer der transzendentalen Erkenntnistheorie zur Relativierung seiner selbst.

Lange vor Kant beginnt die europäische Philosophiegeschichte mit einem Denker, der beim Blick in den Sternenhimmel in einen Brunnen fällt. Konzentriert auf das sich ihm bietende Schauspiel vergisst er die Welt um sich herum und stolpert in den tiefen Schacht. Die Anekdote über Thales wird meistens verwendet, um den abgehoben weltfremden Typus des Philosophen darzustellen. Dabei verdeutlicht sie vor allen Dingen die Wichtigkeit des Nachthimmels selbst. Oder besser: Die Wichtigkeit des Nachthimmels als Inspirationsquelle, als Impulsgeber zum gedanklichen Verweilen vor der dubiosen flimmernden Unermesslichkeit. Und die umgibt uns jede Sekunde unseres Daseins. Hier und jetzt. Dabei ist der Himmel prinzipiell Teil unserer Welt und doch gleichzeitig auch nicht. »Der Sternenhimmel als ›äußerste Peripherie der menschlichen Lebenswelt‹ […], wie der stoische Philosoph Poseidonios den Himmel apostrophiert, entzieht sich dem unmittelbaren Zugang der Menschen, erstreckt sich jedoch sichtbar über den gesamten nächtlichen Himmel über ihnen und gehört als ›Grenze‹ dieses Raumes dennoch zum System der Welt dazu.«4 Es scheint, dass genau diese Ambivalenz den Himmel so faszinierend macht. Er ist ultimative Grenze und gleichzeitig Teil von uns. Wer einmal die Möglichkeit hat, den Sternenhimmel – wie er sich uns bietet – in vollem Volumen zu erleben, samt Silhouette der Milchstraße, die langsam bei einsetzender Morgendämmerung einem fulminanten Farbenspiel am Horizont weicht, wird es nicht leugnen können: Philosophie entzündet sich automatisch beim Blick nach oben und mischt sich mit purer ästhetischer Entrückung und einer Ahnung davon, dass etwas wahr sein muss, das weit über uns hinaus geht.

VON MÜCKEN UND MENSCHEN

Wahr ist damit unsere Begrenztheit. Auch über die lässt sich nicht sinnvoll reden. Das macht gerade die Grenze aus. Die Beschränktheit unseres Geistes können wir nicht von außen betrachten. Wir bleiben immer in ihm gefangen. Wir sind immer Teil eines limitierten Ganzen. Friedrich Nietzsches berühmte Eröffnung seines Essays »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« beginnt mit dem selbstreflexiven Blick in die Sterne. Unbedeutend und weit ab vom Schuss wir Menschen, »kluge Tiere«, die »das Erkennen erfanden«. Wie ein Monument stehen diese einleitenden Gedanken da: »Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.« Das Eingesperrtsein in unsere Wahrnehmung und unser primäres Medium (die Sprache) scheint eine Wahrheit zu sein, der wir nicht entkommen können. Mehr noch: Unser Intellekt bleibt im Zuge dessen immer hinter den gewaltigen Ausmaßen der Welt zurück. »Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern Menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.«5 Unser intellektuelles Pathos überlagert die Erkenntnis unserer mückenhaften Existenz. Wie die Mücke sind wir eingesperrt in unsere Wahrnehmung und bilden uns ein, die Welt, wie sie ist, erkennen zu können. Doch niemand kann eigentlich sagen, wie die Welt wirklich sei. Inmitten unserer Wahrnehmungsgrenze bleibt sie uns (und allen Mücken) auf seltsame Art unzugänglich.

Dabei ist es doch die Mücke, die ihre Welt erst erzeugt. Und wir sind es, die den bestirnten Himmel erst zum Leben erwecken, könnte man Nietzsche entgegenhalten. »Allein durch das Licht des Bewusstseins wird das Universum sichtbar, und sollte dieses Licht verlöschen, bliebe nur das Nichts. Außerhalb der erleuchteten Bühne des menschlichen Bewusstseins ist der mächtige Kosmos bloß eine geistlose Unwesenheit. Nur durch menschliche Worte und Symbole, die menschliches Denken festhalten, kann das von der Astronomie erforschte Universum von seiner immer währenden Leere erlöst werden.«6 Bei Lewis Mumford ist nicht der Mensch in seiner arroganten Selbstüberschätzung unbedeutend, sondern vielmehr das Universum tot, ohne den Menschen, der es erst zum Leben erweckt. Er erkennt – wie Nietzsche ein knappes Jahrhundert vor ihm – das sich nie auflösende Problem der antropomorphen Bedeutungszuschreibung. »Jeder Versuch, den Milliarden Jahren, die der Kosmos vor dem Auftreten des Menschen anscheinend existiert hat, objektive Realität beizumessen, schmuggelt heimlich einen menschlichen Beobachter in diese Feststellung, denn es ist die Fähigkeit des Menschen, rückwärts und vorwärts zu denken, die diese Jahre erschafft, sie zählt und mit ihnen rechnet. Ohne die zeitsetzenden Aktivitäten des Menschen ist das Universum zeitlos, so wie es ohne die Raumbegriffe des Menschen, seine Entdeckung von Formen, Strukturen und Rhythmen ein gefühlloses, formloses, zeitloses und bedeutungsloses Nichts ist.« Mit dem Blick in den Himmel entsteht erst die Poesie der menschlichen Deutung. Seine Faszination entwickelt sich nicht aufgrund der objektiven Größenordnungen. Letztere sind schon Bedeutungszuschreibungen, die im Radius der menschlichen Situation bleiben, der wir nicht entkommen können. Gerade bei wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja oft als Wahrheiten missverstanden würden, sei das so. Mumford verdeutlicht das am Beispiel der Zeitrechnung in Jahren. »Nicht die Sterne oder die Planeten erfahren die Jahre, noch weniger messen sie sie, sondern der Mensch tut es. Diese Beobachtung selbst ist ein Ergebnis der Aufmerksamkeit des Menschen für sich wiederholende Bewegungen, jahreszeitliche Vorgänge, biologische Rhythmen und messbare Perioden. Wird die Idee des Jahres auf das physikalische Universum zurückprojiziert, so zeigt sie etwas Weiteres, das für den Menschen wichtig ist; davon abgesehen, ist sie eine poetische Fiktion.«7

SPRACHE DER GÖTTER

Die Sterne galten in der Tat lange Zeit als die Sprache der Götter. »Die Masse der am Himmel mitgezogenen Sterne erscheint […] als Träger der Zeichen des Zeus: Als Teil der Mechanik sind sie ›in großer Zahl hierhin und dorthin‹ verstreut«. Sie erscheinen zunächst so, »wie sie sich einem Beobachter auf den ersten Blick zeigen: Als eine Vielzahl unorganisierter Punkte, die über den Himmel verstreut sind. Ihre Bewegung ist nicht ihre eigene, sondern die des Himmels, daher verändern sie ihre relative Position zueinander auch nicht, sondern ihre Verteilung bleibt gleich. Diese ›Festigkeit‹ der Fixsterne ist jedoch lediglich mechanisch und trägt noch keine Bedeutung. Erst das ›Befestigen‹ des Zeus gibt ihrer Position und Bewegung auch eine Funktion und Bedeutung: Die Zeichen sind handwerklich fest gemachte Bedeutungen in Form der Sterne«. Und weiter heißt es: »Zeus ordnet die Sterne so, dass sie« bestimmte Bedeutungen »zuverlässig anzeigen.«8

Die Passage aus Clausing-Lages Schrift über die Anfänge der Meteorologie deutet eine oft vernachlässigte und doch höchst eigenartige Qualität des Nachthimmels an: Er ist nicht nur beeindruckend und unerreichbar – er befindet sich in einer immerwährend feststehenden Ordnung. Die gleichbleibende Verteilung und gerade nicht die unorganisierte »Ausgegossenheit« (wie Nietzsche es formulierte) verleiht dem Sternenhimmel bei aller physikalischen Undurchdringlichkeit doch auch etwas Vertrautes. Die Festigkeit der Fixsterne – nach heutigem Wissensstand Galaxien und Galaxienhaufen mit völlig unnachvollziehbaren Ausmaßen, in völlig unnachvollziehbaren Entfernungen – erscheinen jede Nacht an gleicher Stelle. Was hat dieser Umstand für einen Einfluss auf uns Menschen gehabt? Welchen anthropologischen Rückschluss lässt die konsistente Exposition des Einzelnen unter der zuverlässig jede Nacht auf ihn wartenden unabänderlichen Sternenformation zu?

In rein technischem Sinne war die mathematische Orientierung an den Sternen sicherlich der fortschrittlichste Aspekt. Es kann aber nicht der einzige gewesen sein. Die Technifizierung des Sternenhimmels ist eines der deutlichsten Zeichen des instrumentellen Denkens, das nur auf technischen und wirtschaftlichen Erfolg aus ist. Der Sternenhimmel degeneriert hier zur Orientierungshilfe. Die in Poesie sich auflösende Unbegreiflichkeit des Nachthimmels bleibt jedoch auch mit den sich immer weiter ausdifferenzierenden Möglichkeiten der Technik bestehen. Der Himmel ist auch mit Expeditionen zum Mars und Sonden, die in die Tiefen des Weltalls geschickt werden, eine absolute Grenze, über die wir nie endgültig hinauskommen werden.

DER ATMENDE KOSMOS

Gleichzeitig gehört das bewegte und doch stete Firmament zu uns. Es ist mit der Seele des Menschen auf eigenartige Weise verbandelt. Die milesischen Naturphilosophen – auf der Suche nach einem letzten Grund und dem ersten Anfang aller Dinge – sahen in den kosmischen Gewalten nicht nur Parallelen zu unserem Innenleben, sondern konkrete menschliche Eigenschaften. »Der Kosmos atmet ein und aus wie der Mensch und lebt ebenso wie der Mensch genau so lange, als ihm die Fähigkeit zu atmen bleibt. Die menschliche Seele wiederum führt regelmäßige Bewegungen aus so wie die Gestirne«. Der Mensch funktioniert im Grunde seines Wesens so wie der Sternenhimmel, und sein Denken und mit ihm »die Philosophie will die Wahrheit über das All sagen«. Bei den Vorsokratikern richtet sich mit dem Blick in die Sterne der Blick nach innen. Hier wird von der im Menschen angelegten »Affinität zu dem, was der Kosmos eigentlich sei«, gesprochen. Wer die äußeren Dinge verstehen will, muss nach innen sehen. »Die Möglichkeit, den Kosmos zu durchschauen, muss im Menschen selbst liegen.«9

Bei Platon ist der Kosmos selbst ein vernunftbegabtes und beseeltes Wesen. Es besteht aus den vier Urelementen Feuer, Erde, Wasser und Luft. Und das harmonische Verhältnis der Elemente geht zurück auf die ordnende Hand des Demiurgen. Die aus dem Chaos entstandene Ordnung des Kosmos entspricht der Seele des Menschen. Und Letztere wiederum umgibt und durchdringt den gesamten Kosmos. »Als die Seele von der Mitte bis zum äußersten Rand des Himmels alles vollständig durchdrungen und ihn von außen ringsherum umhüllt hatte, begann sie, sich selbst in sich selbst drehend, mit dem göttlichen Anfang eines unaufhörlichen vernunftbegabten Lebens für alle Zeit.«10 Die Vernunft der Schöpfung spiegelt sich in den berechenbaren, regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper. Sie sind die beobachtbaren Äußerungen der kosmischen Seele, die durch uns hindurch strahlt.

Der Logos der Sterne bleibt mehr als der Hälfte aller Menschen auch in sternenklaren Nächten verborgen. Die Bewohner von Großstädten haben aufgrund des konstanten Lichts um sie herum keinen wirklichen Bezug zum Nachthimmel mehr. Was, wenn Kant damals den bestirnten Himmel über Königsberg nicht hätte sehen können? Hätte er ein Interesse an der Teleskopie entwickelt? Seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels hätte er wohl nie geschrieben. Unsicher auch, ob ohne seine frühen astronomischen Erkundungen seine Kritik der reinen Vernunft je entstanden wäre. Dort spricht er von der Sinnlichkeit und dem Verstand als den »zwei Stämme(n) der menschlichen Erkenntnis«, die »vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen«.11 Wahrnehmung und das primäre Medium des Verstandes – die Sprache – stehen bei ihm also in einem konvergenten Verhältnis und haben vermutlich denselben Ursprung. Seine Faszination für den Nachthimmel lässt vermuten, wo dieser Ursprung liegen könnte. Für ihn führt »der Anblick eines bestirnten Himmels, bey einer heitern Nacht« nicht nur zu einer besonderen »Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen empfinden. Bey der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne, redet das verborgene Erkenntnißvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache, und giebt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen.«12 Die unausgewickelten Begriffe, die sich empfinden, aber nicht beschreiben lassen – ist das nicht eine treffende Beschreibung des Ursprungs von Philosophie selbst?

DAS ERHABENE

Der Versuch, beim Anblick des Himmels etwas Unaussprechliches zu artikulieren, findet sich in einigen prägnanten Theorien zur Erhabenheit. Friedrich Schiller spricht in seiner Theorie des Erhabenen zunächst vom »peinliche(n) Gefühl«, das uns befällt, da wir unsere Grenzen aufgezeigt bekommen, das sich dann aber wandelt und ins krasse Gegenteil umschlägt. Das Erhabene entsteht »einerseits aus dem Gefühl unserer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aus dem Gefühl unserer Übermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsere sinnlichen Kräfte unterliegen«. Bei ihm ist zunächst die Furcht vor der unbeeinflussbaren Macht, dem Gewaltigen, im Spiel, die aber nicht zur Abkehr animiert, sondern vielmehr einen kühnen Affekt initiiert. Dem Gefühl der Unterlegenheit (vor der Naturgewalt beispielsweise) entfliehen wir nicht, »sondern werden vielmehr mit unwiderstehlicher Gewalt von ihm angezogen.«13 Auf diese Ohnmacht vor dem ästhetischen Eindruck folgt die renitente Gegenbewegung, aus der sich letztlich das Gefühl der Erhabenheit entwickelt. Nicht »der pathetischen Wirkungsmacht des erhabenen Objekts, die wir passiv erleiden« entspringt also das Erhabene, »sondern der Selbsttätigkeit, durch die sich das Subjekt aktiv gegen die Macht des Affekts behauptet und ihm spontan Widerstand leistet, um nicht durch ihn überwältigt zu werden«14.

Auch Kant spricht in seiner Theorie des Erhabenen von einer überwundenen Furcht im ästhetischen Moment des Dynamisch-Erhabenen in der Natur. Dort sind es »kühne überhängende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses«, die uns überwältigen und uns und »unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit« degradieren. »Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.«

Erhabenheit entwickelt sich durch die unbegreiflichen und gewaltigen Naturphänomene, denen der Mensch auf eine ihm höchst eigene Art trotzt. Er steigert sich dann – fast wie ein Größenwahnsinniger – in das Gefühl der Erhabenheit hinein. Letzteres geht einher mit einer diffusen Ahnung von der problematischen Stellung, die er zwischen der Welt und sich selbst innehat. Erhabenheit gibt es nicht einfach in der Natur. Der Sternenhimmel selbst ist nicht erhaben. Oder wie Kant es formuliert: »Erhabenheit« ist »in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben; und nur unter der Voraussetzung dieser Idee in uns, und in Beziehung auf sie, sind wir fähig, zur Idee der Erhabenheit desjenigen Wesens zu gelangen, welches nicht bloß durch seine Macht, die es in der Natur beweiset, innige Achtung in uns wirkt, sondern noch mehr durch das Vermögen, welches in uns gelegt ist, jene ohne Furcht zu beurteilen, und unsere Bestimmung als über dieselbe erhaben zu denken.«15 Das Erhabene verweist somit auf eine dem Menschen idiosynkratische ästhetische Furchtlosigkeit, die ihn befähigt, in einen Gefühlszustand zu gelangen, der ihn größer macht, als er ist.

Was, wenn Philosophie aus einem solchen Trotz gegen die Unterlegenheit vor den unbegreiflichen Ausmaßen der Natur entstanden wäre? Philosophie selbst als renitenter intellektueller Größenwahn vor der Gewalt der äußeren Erscheinungen, als rationalisierende Trotzreaktion auf das passive Ausgeliefertsein unseres Wesens. Auch Schopenhauer räumt dem Erhabenen eine ästhetische Sonderstellung ein. Er vergleicht es mit dem Schönen. Während bei Letzterem »das reine Erkennen ohne Kampf die Oberhand gewonnen« hat, ist beim Erhabenen »jener Zustand des reinen Erkennens gewonnen durch ein bewusstes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objektes zum Willen, durch ein freies von Bewusstsein begleitetes Erheben über den Willen«16. Einmalig bei ihm diese Erhebung über den Willen. Der Wille wird hier nicht negiert. Seine allumfassende Potenz gilt weiterhin, doch im Moment der Erhabenheit bewegt sich der Einzelne – selbst Produkt des Willens – für den Moment über ihn hinaus. Auch bei Schopenhauer geht es nur durch eine innere Überwindung einer Bedrohung. Eine Bedrohung, die aber doch zu weit weg ist, als dass sie als lebensbedrohlich empfunden werden könnte. Dieser aktive Schritt aus der Bedrohung in die bewusste Wahrnehmung des Drohenden als Erhabenes verweist auf eine zutiefst menschliche Kapazität. Das Erhabene beschreibt die ultimative ästhetische Überwältigung, die Möglichkeit des Menschen, sich in einen Zustand hineinzusteigern, der ihn an einer Wahrheit teilhaben lässt, die ihn weit übersteigt.

Wurden wir zu den ästhetisch fühlenden Wesen, die wir sind, aufgrund der erhabenen Eindrücke der Natur? Sind wir innerlich – wie die Vorsokratiker und Platon es noch postulierten – verbunden mit den mannigfaltigen Veränderungen am Himmel? Letzterer als beständig sich verändernde Leinwand, als immerwährendes Schauspiel der Formen und Farben, das über die Jahrmillionen in uns übergegangen ist? Könnte das so etwas wie eine Wahrheit über unser ästhetisches Empfinden sein?

Tatsächlich setzt mit dem Blick in den Himmel ein höchst eigenartiges emotionales Programm ein: Schwerelose Form und Licht, leuchtendes Orange, tiefes Rot, pastellnes Türkis durchbrechen aufgebauschte Wolkenwände und hinter ihnen verteilt sich schleierhaftes sanftes Rosa bis tief in den Horizont, wo ganz am Ende leuchtend golden, eingebettet in tiefstes Rot, sich etwas Großes ankündigt. Es verhält sich ganz ähnlich wie mit dem Sternenhimmel – auch mit dem Blick in den Tageshimmel manifestiert sich eine bestimmte anthropologische Dimension, die man kaum erklären kann. Unsere Gefühlswelt scheint rätselhaft verquickt mit den Himmelsphänomenen: bedeckt und eintönig, sich auflösend zart verästelt, dramatisch und facettenreich, klar und schier unendlich in die Weiten des Horizonts eingebettet. Die Wärme einer bestimmten Farbschattierung der Abendsonne im September, die Kraft des intensiven Morgenrots über dem Meer, nachdem der Horizont alle erdenklichen Farben angenommen hat.

1

DIE GANZE WELT IN MIR

Morgendämmerung. Viele Wahrheiten bleiben tatsächlich unausgewickelt, im Dunkeln, tief vergraben in uns. Wir haben sie verdrängt. Mit manchen gehen wir ein Leben lang um, in stiller Zurückgezogenheit. Sie sorgen für schlaflose Nächte, drängen auf lange Spaziergänge, alleine. Sie brauchen scheinbar Ruhe und frische Luft. »In der Natur mit klaren Gedanken bei sich sein« – so könnte eine zeitgemäße Definition von individueller Wahrheit lauten. Dabei zeichnet sich die Wahrheit eigentlich durch ihre überindividuelle Gültigkeit aus. Sie ist beides: universell und gleichzeitig unwahrscheinlich intim. Und was könnte je universeller und intimer sein als unser Verhältnis zu uns selbst, zu unserem »Ich«?

Das »Ich« ist eigentlich alles, was wir haben. Und das ist ziemlich viel. Denn »mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts«.17 Die ganze Welt in uns, aus dem Nichts entstanden, und nichts führt über sie hinaus. Alles führt in sie hinein. Jeder (selbstbewusste) Mensch – als »einzig wahre und gedenkbare Schöpfung« – für sich eine eigene Welt, ein eigenes Universum. Gleichzeitig können wir immer nur von uns selbst sprechen. Wir erkennen als vereinzelte Individuen »nur« das, was uns widerfährt. Sicherlich interagieren wir auf vielfältige und komplexe Weise mit unserer Außenwelt und den Mitmenschen. Wir können teilhaben am anderen, kommunizieren, uns in andere hineinversetzen. Und doch bleibt am Ende des Tages immer »nur« ein subjektiver Eindruck zurück. Wir können uns eigentlich ausschließlich auf die subjektiven Eindrücke beziehen. Etwas anderes steht uns schlichtweg nicht zur Verfügung. Wir sind streng genommen höchst isolierte Wesen.

DIE ICH-ZENTRIFUGE

Aldous Huxley formulierte hierzu einmal folgenden Gedanken: »Die Natur verurteilt jeden Geist, der in seinem Körper lebt, dazu, Leid und Freud in Einsamkeit zu erdulden und zu genießen. Empfindungen, Gefühle, Einsichten, Einbildungen – sie alle sind etwas Privates und nur durch Symbole und aus zweiter Hand mitteilbar. Wir können Berichte über Erfahrungen austauschen und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst. Von der Familie bis zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wobei jede Insel ein Weltall für sich bildet.«18 Jeder Mensch (als Insel) kann sich im Geiste in den vertikalen Weiten des imaginierten Weltalls verlieren. Horizontal wird er jedoch immer von einem unüberbrückbaren Ozean begrenzt. Unser Bewusstsein ist wie ein archimedischer Punkt, der im Hintergrund diese Grenzen abzirkelt. Wir beherbergen als Individuen – als unteilbare vereinzelte Lebewesen – dieses unsere Bewusstsein, mit dem wir (auf unserer Insel) ganz auf uns selbst gestellt sind.

Wir können unser subjektives Bewusstsein niemandem zeigen, weil wir zu nah an ihm dran sind, weil wir es zu sehr sind. Es nimmt die Außenwelt wahr und erzeugt jene gleichermaßen. Es ist der Aussichtspunkt, an dem alle Fäden zusammenlaufen, und ist gleichzeitig uneinsehbar, wie in Spiegelglas gekleidet. Es ist »dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird […]. Es ist sonach der Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für das Subjekt ist, was nur immer da ist.«19 Wie könnte man Arthur Schopenhauer hier je widersprechen? Das Subjekt ist so etwas wie ein blinder Fleck der Erkenntnis selbst – absolute Subjektivität. Man kann nicht den Finger darauf halten, wie auf ein Körperteil. Man kann es nicht mal geistig fassen, sondern es ist da und bedingt uns als erkennende Wesen in der Welt. Letztere zerfällt vor diesem Hintergrund in »zwei wesentliche, nothwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt: dessen Form ist Raum und Zeit, durch diese die Vielheit. Die andere Hälfte aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungetheilt in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, eben so vollständig, als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt: verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung nicht mehr.«20 Das einzelne Subjekt erkennt und kann nicht erkannt werden, da es alles ist, was wir sind. Die objektive Welt ist da, weil ich da bin. Ohne mich gäbe es sie zwar höchstwahrscheinlich, ich könnte es aber nie bezeugen. Unsere Existenz bedingt die Welt. Sie ist insofern unsere Vorstellung. Die Welt, die uns erscheint, ist immer nur unser Eindruck, nie an sich. Das Erkennende, nie Erkannte, ist wie der Mittelpunkt der Ich-Zentrifuge. Alle Zentrifugalkraft strömt in ihn hinein. Wir bleiben mit uns unentwegt im atemlosen Taumel des Ichs. Das Unvermögen, nie aus unserem Ich herauskommen zu können, macht jeden Versuch der Objektivität im Grunde unmöglich. »Das Ich ist einem Kreis vergleichbar, der keinen Umfang hat.«21

Denkt man den Gedanken zu Ende, müsste prinzipiell die Existenz einer allgemeinen Realität bezweifelt werden. Denn wir sind ja ohne Unterbrechung, ohne Möglichkeit eines tatsächlichen Aus-unserer-Haut-heraus-Kommens, in uns selbst gefangen. Schopenhauer veranschaulicht das daraus entstehende und sich nie auflösende Perspektivproblem anhand eines eindringlichen Bildes: »Daß der Kopf im Raume sei hält ihn nicht ab, einzusehen, daß der Raum im Kopfe ist«22. Bis heute hat sich das unlösbare Problem als Gehirnparadox tradiert. Der Kopf (als Sitz des Ichs) ist im Raum, wie auch der Raum im Kopf, in unserem Ich als Vorstellung, ist. Zurück bleibt ein nie endendes Vexierspiel. Zurück bleibt auch ein Gefühl für die ominöse und unlogische Grundkonstitution unseres Daseins. Die Grenzen des Ichs sind wie die Grenzen unseres Kosmos. Dahinter wabert dunkle undurchdringliche Materie – etwas, das alles zusammenhält und doch nicht zu erklären ist.

EINMAL ICH UND NIE WIEDER

»Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.«23