Überleben unter 1,3 Milliarden Irren - Jan Aschen - E-Book

Überleben unter 1,3 Milliarden Irren E-Book

Jan Aschen

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Beschreibung

Chinesen spinnen - und es sind viele!

Wussten Sie, dass in China so viel gefälscht wird, dass J.K. Rowling dort nicht sieben, sondern elf Harry-Potter-Bände veröffentlicht hat, die letzten vier aber "exklusiv" für den chinesischen Markt? Dass dort sogar Eier und Erbsen gefälscht werden? Dass jede Taxifahrt eine Nahtoderfahrung sein kann? Und man sich wirklich Sorgen machen sollte, wenn jemand »Kein Problem« sagt? Sie kommen aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus? So geht es auch Jan Aschen, der als Deutscher in Schanghai lebt und sich seit seiner Ankunft fragt, ob er China großartig finden soll oder ob er mitten unter 1,3 Milliarden Irren ums Überleben kämpft. Erstaunlich, absurd, urkomisch - willkommen im Reich der Mitte!

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Seitenzahl: 225

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Originalausgabe 3/2014

Copyright © 2014

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Dr. Annalisa Viviani, München

Umschlaggestaltung: Büro Überland, München,

unter Verwendung eines Fotos

von getty images / IMAGEMORE Co, Ltd.

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-10886-1V002

www.heyne.de

Für Schnocki

Inhalt

Vorwort

Auftakt

TEIL 1

»IST DAS TOLL HIER!«

Schanghai wirkt

Überall Taxis

Liebe geht durch den Magen

Erste Anzeichen des Ankommens

Echt jetzt?

Sprachbehindert

Crabmania

Der Weihnachtsmann lebt nicht am Nordpol

Mein Block

Die Handwerker, die ich rief

Mehr Licht

In Love with Schanghai: Lieblingsorte

Bewegt mich

Attraktionen? Bitch, please

Preisfragen

Werbeversprechen

Die »goldene Woche«

Auf die Vorurteile, auf die Zwölf

Premieren

Wetterfühlig

TEIL 2

»HABT IHR SIE EIGENTLICH NOCH ALLE?«

Tobsucht

Die fünf Tore zur Einzelhandelshölle

Garden Wars

Nachtproleten

China, der Job, mein Blutdruck und ich

Die Theorie des Nervens

Einreiseknacki

Gesund? Check

Verkehrsoptimismus

Post mortem

Valium bitte, ich muss zur Bank

Was denkt ihr euch eigentlich dabei?

China-Tage

Mittwochs im Supermarkt

Immer gut verstecken

Asien um die Ecke

Fatalismus

Exoten sind immer die anderen

Das Taxi brennt

Flieg, Laowai, flieg

Ich bin kein Pekinger

TEIL 3

»DROLLIG«

Von China gelernt

Kauf, China, kauf!

Länderzwillinge

Heiter bis lockig

Stirb, Billy!

Vier steht für Tod

Déguó, Déguó über alles

Hausmittel from Hell

Sing, Baby

Der Drache kommt

Meetings, Workshops, Fisch

Oh, Hangzhou

Warum ausgerechnet Haustiere?

TEIL 4

»ZURÜCKGEHEN WIRD SCHWIERIG«

Wunderlich

Lästernde Gourmets

Das Reich der Bequemlichkeit

Mein Medizinmann

Knigge weint

Deutschtümelei

Griechischer Wein

Schanghai ist nicht genug

Vorwort

Zu Vorworten habe ich ein zwiespältiges Verhältnis. Zum einen will man ein Buch ja vollständig lesen und nachvollziehen, was sich der Autor so alles dabei gedacht hat. Andererseits sind die meisten Vorworte entweder reine Selbstbeweihräucherung oder eine sinnfreie überflüssige Aufzählung von Menschen, die einem weder bekannt noch wichtig sind. Oft scheint es dem Autor selbst auch nicht anders zu gehen.

Ich habe daher bisher immer versucht, Vorworte gar nicht erst zu lesen. Gelingt mir aber nicht immer. Manchmal habe ich es schon fast bis zum Ende des Buches geschafft, nur um dann schuldbeflissen doch noch den Prolog zu lesen. Ich habe sonst ein schlechtes Gewissen. Als würde ich einen wichtigen Teil weglassen. Ich warte aber bis heute darauf, dass mir ein lesenswertes Vorwort begegnet. Vielleicht geht es anderen ja ähnlich.

Wer es also bis hierhin geschafft hat, lieber Leser: Auch in diesem Vorwort ist nichts wirklich Wichtiges zu finden. Jedenfalls nicht für Sie. Ich möchte mich hier wirklich einfach nur bedanken:

Bei meiner wundervollen Frau, die nicht nur mich und damit viele Unzulänglichkeiten ertragen muss, sondern dies auch immer noch mit einem Lächeln im Gesicht tut. Ich kann nicht mal beginnen zu vermuten, wie viel Kraft es kosten muss zu lächeln, wenn das Schnarchen des Gatten lauter ist als die Anflugschneise, oder wie es sich anfühlt, mit jemandem verheiratet zu sein, der weder Kurz- noch Langzeitgedächtnis besitzt. So viel weiß ich: Ich liebe dich.

Bei Mütterchen, Väterchen, dem Bruder und Puppi, die ich wegen China in drei Jahren zwar nicht live gesehen habe, die aber dank Skype öfter bei mir waren, als lebte ich um die Ecke. Und wer sonst kann die Telefonseelsorge und Comedy-Schreiber seine Familie nennen? Ihr fehlt sehr.

Bei Clemens im Besonderen für das beste Brüdergespann seit Oasis und den Gebrüdern Wright. Obwohl wir beide weder singen noch fliegen können.

Bei Christine, dafür, die beste Schwiegermutter zu sein, die ich mir vorstellen könnte.

Bei unseren Freunden in Schanghai: Christian, Martin, Lars, Kati, Andreas, Resi, Volker, Veronika, Geraldine, Stefan und Sascha – ihr seid zwar Gift für meine Leber, aber das, was Schanghai wirklich liebenswert macht.

Bei Jessica Hein vom Heyne Verlag für das professionellste und netteste Lektorat auf dem Planeten und die Engelsgeduld, es auch mit stark eingeschränkter Kommunikation in China aufzunehmen.

Bei Lars, Sami und Tilo – für den aufrichtigen Versuch, irgendwann bestimmt mal nach Schanghai zu kommen. Danke, dass ihr immer an einen Platz für mich denkt.

Und nicht zuletzt natürlich bei dir, China. Dafür, dass ich noch nicht einen Moment der Langeweile erlebt habe. Dafür, dass ich viele Momente der Sprachlosigkeit erlebt habe. Dafür, dass ich bis heute nicht sagen kann, ob das Land wahnsinnig oder wunderbar ist.

Danke für Nahtoderfahrungen, Lebensmittelvergiftungen und dafür, ein paar der unmöglichsten Menschen der Welt kennengelernt haben zu dürfen.

Danke für traumhaft schöne Momente, Gastfreundlichkeit, das beste Essen der Welt, Leben auf der Überholspur und dafür, viele der wunderbarsten Menschen der Welt kennengelernt haben zu dürfen.

Danke, dass ich hier leben darf.

Auftakt

Schockt mich

Eine amerikanische Psychologin, mit dem fantastisch nach Porno klingenden Namen Cora DuBois, hat 1951 den wundervollen Begriff »Kulturschock« geprägt. Ihrer und der Ansicht vieler anderer Experten nach verläuft die Anpassung an eine neue Kultur in verschiedenen, immer ähnlichen Phasen – lediglich deren Länge ist individuell verschieden:

1.Honeymoon

Alles ist neu, alles ist wunderbar, man ist voller Euphorie und betrachtet alles Andersartige als reines Geschenk. Selbst Live-Schlachtungen an der Straßenecke sind irgendwie aufregend.

2.Krise

Der Putz bröckelt. Man erkennt, dass eben doch nicht alles ideal und wundervoll ist an der neuen Kultur, sondern eben vor allem anders.

Meist geht das mit der Überhöhung der eigenen Kultur einher. Zu Hause ist alles besser, zu Hause würde das so nicht passieren. Live-Schlachtungen an der Straßenecke sind einfach nur widerlich.

3.Erholung

So etwas wie Verständnis setzt ein. Man akzeptiert, dass manche Dinge eben einfach anders sind als zu Hause und versucht, sie zu verstehen.

Live-Schlachtungen an der Straßenecke sind immer noch widerlich, aber man muss Verständnis dafür haben.

4.Anpassung

Die neue Kultur hat einen selbst verändert. Man ist weitgehend integriert und übernimmt sogar partiell neue Verhaltensweisen.

Für ein paar Hühnerspieße braucht man doch nicht extra in den Supermarkt zu gehen. Es gibt doch Live-Schlachtungen an der Straßenecke.

Ich war immer fest davon überzeugt, Kulturschock selbst gar nicht zu kennen. Mich in den letzten drei Jahren nahtlos in China integriert zu haben. Ein wahrer Kosmopolit in Schanghai. Rückblickend muss ich wohl sagen: Nö.

Auch meine Frau und ich haben einen Prozess der kulturellen Anpassung durchlebt. Genau wie alle anderen auch. Trotzdem würde ich Frau DuBois nicht vorbehaltlos zustimmen. Zumindest nicht in China. Hier erlebt man den Kulturschock an einem einzigen Tag: Euphorie am Morgen, Mordgelüste am Mittag, Weglächeln am Nachmittag und Schulterzucken am Abend.

Dieses Buch ist das Ergebnis meines Versuchs, zu begreifen, wie China denn nun eigentlich ist. Und wie ich es denn selbst überhaupt finde.

Weltweit streiten sich die Geister, was China angeht: Ist es das großartigste Land der Erde, dem man nur atemlos und bewundernd zusehen kann, oder Heimat von 1,3 Milliarden Irren, die sich alle sehr ähnlich sehen?

Unter den Expats (Kurzform für Expatriaten, das heißt Menschen, die für eine gewisse Zeit in der Fremde leben) in Schanghai sieht es auch nicht anders aus: Die einen möchten den ganzen Tag jubeln und finden alles total klasse, die anderen erfragen schon mal die Maximalstrafe für einen Axtmord in China.

Nach drei Jahren in China weiß ich es selbst immer noch nicht. Aber ich habe durch meine Aufzeichnungen erkannt, dass auch wir einen Kulturschock erlebt und uns verändert haben. Mein eigener, ganz persönlicher Anpassungsprozess verlief rückblickend etwa so:

1.»Ist das toll hier.«

2.»Habt ihr sie eigentlich noch alle?«

3.»Drollig.«

4.»Zurückgehen wird schwierig.«

Ich habe trotz allem noch nicht einen Tag bereut, nach China gezogen zu sein. Im Gegenteil.

Ein Teil der Beiträge in diesem Buch stammt ursprünglich von meinem Blog, auf dem ich online versuche nachzuvollziehen, wie ich China insgesamt finde, und sind im Rückblick wohl auch ein Ausdruck meiner kulturellen Anpassung. Oder des Gegenteils dessen.

Zeitliche Bezüge habe ich für dieses Buch zu vermeiden versucht. Gelungen ist mir das nicht immer. Sollte es hin und wieder mal einen zeitlichen Sprung geben, so ist das ausnahmsweise kein Zeichen von Vertrottelung, sondern dem nachträglichen Sortieren von Gedanken geschuldet. Die sind oft auch so schon wirr genug.

Insidersprache

Mir ist es das erste Mal beim Telefonat mit meinen Freunden in Deutschland aufgefallen: Es gibt ein Expat-Vokabular. Begriffe und Worte, die jeder kennt, der auch nur einen Monat hier gelebt hat, die sich einem aber nicht zwangsläufig von selbst erschließen. Wer je unter Westlern in Schanghai untertauchen möchte, muss Folgendes wissen:

Pudong und Puxi: Neu- und Alt-Schanghai, getrennt durch den Fluss Huangpu. Pudong bedeutet das neue Schanghai und damit viel Platz und viele Hochhäuser. Puxi bedeutet etwas mehr Authentizität und das alte Schanghai. Expats hier führen Glaubenskriege über die Vorteile der jeweiligen Stadtseiten in einer Intensität, der Dortmund und Gelsenkirchen wie Schwesterstädte scheinen lässt.

Laowai ist die Bezeichnung für Ausländer in China. Heißt so viel wie »alter Fremder«. Es ist nicht wirklich eine Beleidigung, aber auch nicht immer nett gemeint.

Expat ist die westliche Kurzform für »Wir haben Spaß im Ausland«. Es handelt sich um Westler, die im Ausland arbeiten. Expatriats bedeutet »Entsendete«.

Ayi: »Tantchen« auf Chinesisch, das Hausmädchen, die Perle (und unsere ist einfach toll). Das ist weitaus weniger Kolonialherrentum als es sich anhört.

Qingpu, Hongqiao, Luwan – Stadtteile von Schanghai.

Guanxi: persönliches Netzwerk und wichtig für alle Lebensbereiche. Nepotismus, Klüngel.

TEIL 1

»IST DAS TOLL HIER!«

Schanghai wirkt

Wenn man wie wir beschließt, seinen Lebensmittelpunkt nach China zu verlegen, tut man gut daran, sich vorher genau zu informieren, alles exakt zu planen und nichts dem Zufall zu überlassen, man zieht schließlich auf die andere Seite des Planeten. Also exakt das Gegenteil dessen, wie wir unseren Umzug geplant haben.

Als wir das erste Mal in unsere neue Heimatstadt fuhren, hatte ich dort zuvor vier Tage in ein paar Meetings verbracht und drei Restaurants von innen gesehen. Meine Frau hatte nicht einmal das. Sie kannte Schanghai nur von Fotos. Natürlich nur den vorteilhaften. Unser Kenntnisstand von Schanghai und dem Leben in China war auf einer Ebene mit dem von Austernzucht. Null.

Wenn man das erste Mal vom Flughafen in die Stadt fährt, fällt einem neben der Tatsache, dass Chinesisch keine leicht zugängliche Sprache ist, als Erstes auf, wie entsetzlich hässlich die Stadt ist. Sogar an guten Tagen hat Schanghai in etwa so viel Charme wie Bitterfeld an schlechten. Und das ist noch ein Kompliment an Bitterfeld. Unser erster Tag in der Stadt beginnt um 7.00 Uhr morgens. Was schon ohne Jetlag nicht gerade meine Lieblingstageszeit ist. Wenn ich müde bin, werde ich ein wenig ungeduldig. Weshalb China wohl der Ansicht war, mir gleich mal eine Lektion in Geduld zu erteilen.

Während meines Vorstellungsgesprächs beim ersten Besuch hatte man mich in dem wundervollen Radisson Blu Xing Guo Plaza Hotel in der French Concession untergebracht. Westlicher Standard mit riesigem Zimmer, inmitten eines wundervollen Parks. Ich wiegte mich daher in der Hoffnung, dass das angekündigte Luxushotel für unsere ersten Wochen, in denen wir ein Haus suchten, ein Ort der Glückseligkeit und Oase im Großstadtdschungel sei. Für jemanden, der in der Werbung arbeitet, ist es unfassbar peinlich, auf Werbeversprechen reinzufallen.

Unsere temporäre Bleibe ist das Rayfont Celebrity Hotel & Apartments. Das allein hätte eigentlich schon stutzig machen sollen. Zwar ist ein Zimmer reserviert, es ist aber erst nachmittags fertig. Mit Glück. Keine Jubelnachricht, wenn man einfach nur schlafen will. Kurze Zeit später bekomme ich meine ersten Lektionen für das Leben in China.

Die Dame am Empfang möchte umgerechnet 1500 Euro Kaution für die reservierten vier Wochen haben. Ich habe 2000 RMB (etwa 240 EUR) bei mir.

Der Versuch, bei der Bank um die Ecke Geld mit unserer EC-Karte abzuheben scheitert. Gut, dass wir alle unsere anderen Kreditkarten in Deutschland schon mal gekündigt hatten. Wir sind nicht ganz mittellos nach China gereist, dann müssen wir eben Bargeld tauschen. Auch dieser Versuch ist kein Riesenerfolg, jedoch bin ich nach knappen neunzig Minuten Diskussion in einer mir völlig fremden Sprache um weitere 3000 RMB Bargeld reicher, zurück ins Hotel. Nach weiteren dreißig Minuten Schlange stehen habe ich eine neue Empfangsdame vor mir, die weder mich noch unsere Reservierung je gesehen hat. Nach weiteren kurzweiligen fünfundvierzig Minuten möchte auch sie eine Kaution haben. Dieses Mal sind es umgerechnet 500 Euro. Das folgt keiner Logik. Also probiere ich mein Glück und sage: »Ich habe leider nur 2000 RMB. Mehr nicht.« Sie sieht mich kurz konsterniert an, sackt dann aber mein Geld ein und gibt mir einen Zimmerschlüssel. Erste Lektion, die man hier nie, nie, nie vergessen sollte: Alles ist verhandelbar. Was nicht heißt, dass es immer auch eine gute Idee ist, es zu versuchen.

Wir fallen also ermattet, aber glücklich in unser neues Bett. Auch wenn es nur ein temporäres ist. Müdigkeit macht ja auch milde – im Zustand euphorischer Schlafdeprivation fällt uns erst auch gar nicht auf, dass die in der Broschüre angegebenen fünfzig Quadratmeter mehr als optimistisch waren. Egal, Schlaf ist Schlaf.

Wir werden wach, als es schon dunkel ist. Genauer gesagt werden wir wach, weil es dunkel ist und deshalb die Neonbeleuchtung am Einkaufscenter gegenüber angegangen ist. Im Zimmer ist es so hell, dass es sich anfühlt, als seien wir bei Flutlicht im Stadion wach geworden. Abgesehen von Licht und Lärm, ein Blick aus dem Fenster beweist: Die Stadt ist geil.

Wir erkunden die Gegend und stellen schnell fest, dass das Celebrity Hotel zwar seinen Namen nicht verdient und dessen Architekten nicht rechnen können, die Lage jedoch ist unschlagbar. Direkt an der Zhaojiaobang Lu, einer Hauptverkehrsader unweit des zwar sehr touristischen, aber wunderschönen Viertels Tian Zi Fang.

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie unfassbar toll der erste Abend in so weiter Ferne war. Tropische Wärme mitten im Oktober. Straßenhändler, die einem lächelnd Welpen, Zigaretten, Broccoli oder DVDs anbieten. Oft im Sammelpack. Lärm, Gehupe und Gedränge – ohne auch nur einen Hauch von Aggression.

Nachts um drei kehren wir noch zu unserem ersten »richtigen« chinesischen Essen im Restaurant ein. Proppenvoll und geschäftig wie Volksfeste an einem herrlichen Sommertag. Eine Explosion für die Sinne (und für die Magen-Darm-Motorik, wie sich zeigen wird).

Ich werde diesen ersten Tag nie vergessen. Schanghai ist bei aller Größe, bei aller Molochhaftigkeit und allen wahrscheinlich nicht völlig unberechtigten Vorurteilen einfach die aufregendste und wunderbarste Stadt, in der ich je sein sollte. Es gibt viel zu entdecken.

Überall Taxis

Auch nach langer Zeit in Schanghai, gibt es ein paar Dinge, an die ich mich nur schwer gewöhnen kann und vielleicht nie werde. Das ständige Rumspucken auf der Straße. Laufend beinahe überfahren zu werden. Zu verfluchen, einen Geruchssinn zu besitzen. Dafür ist vieles auch einfach grandios – unter anderem die Taxis.

Allein der Komfort: 50000 Taxis in Schanghai sorgen dafür, dass man selten länger als zwei Minuten warten muss. Zwar fahren natürlich auch sie wie Henker auf Drogen, aber man kommt weltweit kaum in einer Stadt besser, einfacher und vor allem billiger von einem Ort zum anderen.

Hinzu kommt, dass für Taxifahrer hier, genau wie für ihre Kollegen in anderen Teilen der Welt, eine Karriere im Dienstleistungsgewerbe zwar angesichts ihres Charmes keine wirklich nachvollziehbare Wahl ist, sie aber dafür jede Ecke kennen. Und das ist schon im doch wesentlich kleineren Frankfurt nicht selbstverständlich. Dort habe ich schon mal einem Fahrer erklären müssen, wie er zur Oper kommt. Hier das kurze Raunzen einer Straßenkreuzung, und los geht’s. Gut, manchmal müssen sie sich noch Rat von Kollegen per Handy holen, aber in neun von zehn Fällen findet jeder Fahrer auch die noch so kleinste Gasse.

Technisch hinken die meisten Taxis hier ein wenig hinterher – ich persönlich mag diese Santana-Schüsseln ganz gerne. Aber ich mag auch Achtzigerjahre-Musik und Fischpaste, das muss also nichts heißen. Zur Expo wurden schon mal ein paar Taxis erneuert: schicke VW Touran in elegantem Gewand. Aufgeräumt, schnell und auch olfaktorisch tipptopp.

Kürzlich habe ich mal einen genaueren Blick auf eines der Hinweisschilder geworfen, dort ein kleines lachendes Pferd entdeckt und dachte nur: »Sie spinnen einfach.« Jetzt mal ernsthaft: ein Pferd? Dann habe ich vermehrt drauf geachtet – außer dem Pferd gibt es noch Pandas, Hunde, Häuschen und vieles mehr.

Man hat sich aber etwas dabei gedacht: Hier geht es nicht um subtile Verschönerung für eine harmonische Welt (was in China nicht mal verwunderlich wäre), so sollten sich ausländische Expo-Besucher merken können, in welchem Taxi sie gesessen haben, sollten sie mal was liegen gelassen haben. Ich habe keinen Schimmer, ob es viele Anrufe gab wie: »Mir ist mein Schlüssel im Panda-Taxi runtergefallen«, aber den Gedanken an sich finde ich sehr amüsant und nett.

Chinesisch pragmatisch, leicht verschroben, aber durchaus liebenswürdig. Sollten wir je zurückkommen, versuchen wir mal Schlümpfe in Frankfurter Taxis zu etablieren.

Liebe geht durch den Magen

Ich liebe Essen. Ob Fast Food oder Michelin-gekrönt: Gutes Essen macht einfach Spaß. Weil Dumplings deutlich lustiger als Sit-ups sind, werde ich Schanghai wahrscheinlich als Dickerchen verlassen, aber das ist ein anderes Thema.

Bevor wir hierherkamen, haben wir viel gelesen und gehört: »Authentische chinesische Küche wird euch umhauen.« – »An jedem Straßenstand eine Köstlichkeit.« – »Kranke Sachen essen die.« Stimmt alles und gleichzeitig auch nicht. Es gibt vieles, was die Stadt kulinarisch einmalig macht.

■Vielfalt: Ich komme aus Darmstadt. Wie vielfältig das Angebot dort ist, kann man sich vorstellen. Schanghai ist da nicht nur eine andere Liga, es ist ein anderer Sport. Es gibt hier wirklich alles. ALLES. 50000 Restaurants (kein Witz!) in der Stadt sorgen dafür, dass selbst wenn mir der Sinn nach rumänischer Hausmannskost oder bolivianischer Edelküche stünde, es hier todsicher ein entsprechendes Restaurant gibt. Klar hat jedes Dorf in Deutschland einen Italiener, Frankfurt auch einige Thais und sicher auch ein paar Exoten, aber gegen die Vielfalt hier, können europäische Städte einpacken. Ja, das gilt auch für dich, London.

■Qualität: Wir gehen zwei- bis dreimal die Woche auswärts essen. Nicht weil wir faule Snobs sind, sondern weil es preislich kaum einen Unterschied macht – und einfach großartig ist. Das Beste: Von sicher mehr als dreihundert Restaurantbesuchen waren nur drei wirklich schlecht. In Deutschland hatten wir teils mehr miese Restaurants in einer Woche als hier in einem Jahr. Gut, dafür gibt es in Deutschland auch keinen Begriff für »sich eine Woche lang nicht weiter als fünfzig Meter von einer Toilette bewegen können«. Hier schon. Zu Recht. Man kann nicht alles haben.

■Preis: Wahrscheinlich ist die deutsche Wesensart in einem tiefer verwurzelt, als man denkt. Geiz und Preisjagd sind mir fremd – wahrscheinlich habe ich deshalb auch noch keinen Porsche. Fuck. Aber hier wird man sofort zum jubelnden Kleinbürger, wenn es an das Bezahlen der Rechnung geht. Köstliche Dumplings zum Lunch? 5 Yuan (50 Cent), Dinner im Szechuan-Restaurant um die Ecke zu sechst mit zwölf Gerichten und viel zu vielen Drinks? 700 Yuan (75 Euro). Hinzu kommt, dass Trinkgeld eher Beleidigung als Anerkennung ist. Ich sollte hier mal Butterfahrten organisieren.

Zugegeben, manche Gerichte sind, hm, ein wenig ungewohnt. Hund werde ich nie essen, auch lebendig-zuckendes Meeresgetier ist widerlich (und nicht gerade nett), und es gibt einiges, bei dem man als Durchschnittseuropäer eher »Urgh!« als »Ah!« sagen würde.

Dafür sind Ochsenfrosch-Fondue, gehobelte Hühnerfüße, Honigbienen und Quallensalat leckerer, als man sich vorstellt. Wenn auch nicht sehr viel. Das besserwisserischere »Chinesische Küche in Deutschland hat nichts mit China zu tun« stimmt leider. Auch wenn nicht alles wirklich köstlich ist, nur weil es authentisch ist. Kurze (wenn auch sehr subjektive) Erkenntnisse:

Kantonesisch ist entweder zum Niederknien köstlich oder zwingt einen aus anderen Gründen in die Knie. Gut für Einsteiger: Crystal Jade (große, leicht klinische Restaurantkette). Weniger gut: Essen, das noch zu lebendig ist, Essen, das einen anglotzt, und Essen, das sonst in keinem Teil der Welt als Essen gilt.

Für alle, die China erleben wollen:

Schanghainesisch ist süß und ölig. Für alle, die Pfannkuchen mit Spiegelei und Sirup lustig, aber noch nicht ungesund genug finden.

Szechuan ist nicht scharf. Wirklich nicht. Dafür würzen sie alles mit einem bestimmten Pfeffer, der nach Seife schmeckt und die Zunge betäubt. Für alle, die auch gerne Geldmünzen lutschen.

Hunan bietet oft viel Gemüse, viel Chili und weniger Öl. Sehr lecker. Für alle, die beim Thai nicht weinen.

Im Allgemeinen sagt man, China habe acht unterschiedliche Regionalküchen mit unendlich vielen Variationen. Mag sein, so groß sind die Unterschiede aber auch nicht. Das meiste ist doch sehr, sehr ähnlich. Aber ich finde auch, dass Thüringer und Nürnberger Würste im Grunde nur eines sind: Bratwürste. Vielleicht fehlt mir aber auch die Sensibilität.

Eine besondere Erwähnung wert sind die Straßenstände in China. Sie sind in Schanghai weniger sicher und hygienisch als beispielsweise in Singapur oder Bangkok. Muss man sich trauen, angeblich sind manche lecker. Und nein, im Lammspieß für 2 Yuan (20 Cent) ist kein Lamm. Auch kein Schwein. Wer raten kann, wie man Fleisch billigst bekommt und warum alles so stark gewürzt ist, weiß auch, was es wahrscheinlich ist. Angeblich können sich einige Straßenimbisse absolute Kampfpreise erlauben, weil sie Öl wiederverwenden, das ihre Kollegen in den Gulli geschüttet haben.

Trotzdem. Schanghai ist kulinarisch unschlagbar, wirklich.

Ganz subjektive Top Five Schanghais:

1.Lost Heaven: Yunnan-Küche aus dem Südwesten Chinas, ein wenig wie Thailändisch mit milder Depression.

2.Din Tai Fung: Dumpling-Götter aus Taiwan. Michelin-Stern im Essen, nicht auf der Rechnung.

3.Qimin Organic Hotpot: chinesisches Fondue und grandioses Winteressen. Dazu noch angeblich mit Biosiegel. Sogar wenn man es nicht glaubt, immer noch lecker.

4.Hikari: Sushi auf lustige und köstliche Art. Foie gras und Aal begegnen sich sonst nicht in vielen Gerichten.

5.Yang’s Fried Dumplings: ewig Anstehen, kein Wort verstehen, Handgemenge am Nebentisch, unmöglich mit Würde zu essen, aber: grandios.

Fazit: Wenn es ums Essen geht, rockt Schanghai. Wirklich.

Erste Anzeichen des Ankommens

Man merkt es auf einmal, ohne Ankündigung und ohne groß darüber nachzudenken: Wir sind wohl doch ein wenig angekommen in China. Den wirklich unmittelbaren Kulturschock mit entsetzlichem Heimweh haben wir scheinbar ausgelassen. Kein einziges Mal haben wir daran gedacht, China den Rücken zu kehren – auch wenn sowohl meine Frau als auch ich noch nie so wüst Menschen beschimpft und über Situationen geschimpft haben und wir vieles noch immer nicht verstehen, aber wir akzeptieren es.

Die Katharsis kam bei der Hausinstandsetzung. Anlass: ein tropfender Wasserhahn in der Küche. Unsere Ayi hatte die Reparatur angeordnet und alles koordiniert. Sie ist mittlerweile extrem autark, deutlich mehr Haushaltsmanagerin als Hausmädchen. Wir lieben sie dafür.

In jedem Fall lief es, wie es eigentlich immer läuft in China, wenn etwas gemacht, repariert, erledigt werden muss.

Phase 1: Bestandsaufnahme

Der Compound Facility Manager (so sein Titel auf der Karte) steht ein wenig unangemeldet vor der Tür. Ein wahnsinnig netter Chinese um die fünfzig, der nur einen einzigen Anzug zu besitzen und zu tragen scheint. Er lächelt immer, ist sehr engagiert und unfassbar freundlich. Im Schlepptau hat er einen Installateur oder so etwas Ähnliches. Zumindest wohl der, der es richten soll. Ich spreche noch immer kein Chinesisch (was mir jeden Tag peinlicher ist), er keinen Ton Englisch. Seine Zeichensprache ist grottig. Mittlerweile weiß ich, mit einem zuversichtlichen »Hao de« (einverstanden) kann nicht allzu viel schiefgehen. Meistens. Oft. Manchmal.

Phase 2: Viele Beteiligte involvieren

Die Ayi koordiniert Heerscharen am Telefon. Ständig steht jemand Neues im Haus oder Garten und wurstelt an irgendwas. Erst kommt der Repräsentant des Landlords, um Fotos von dem zu reparierenden Wasserhahn zu machen. Er hat sich englische Sätze zurechtgelegt, die ich nicht verstehe. Es gibt gerade viel zu tun in unserem Haus – ich verstehe ihn falsch und zeige ihm die Teiche im Garten. Verwirrung in seinem Gesicht. Ich führe ihn zum Sicherungskasten. Verzweiflung in seinem Gesicht. Beim dritten Anlauf haben wir es.

Als Nächstes lungert jemand fünfzehn Minuten im Vorgarten herum und legt dann Pakete vor der Tür ab. Eines davon trägt die wundervolle Aufschrift: »The flower spreads the design tasty of the head top-grade, the shape is elegant, the amount of water regulates the convenience comfort. Designer in consideration of your convenience uses the queous and each details.«

Ich bin auch nicht sofort draufgekommen – es ist ein neuer Wasserhahn. Habe mir aber vorgenommen, mich nicht ständig über Chinglish lustig zu machen, ich kann ja schließlich auch kein Chinesisch. In jedem Fall könnte es nun losgehen.

Phase 3: Magisches Verschwinden

Unser Haus gleicht einer Baustelle. Die Teiche werden gereinigt, Grassamen gesät, Leitungen und Lampen installiert, diverse Reparaturen. Zwischenzeitlich waren zehn Leute gleichzeitig irgendwo beschäftigt. Und wie immer, wenn sie da sind, passiert etwas Merkwürdiges: Auf einmal sind sie alle weg. Verschwunden. Mehrere Tage lang blicken wir auf halb begonnene oder halb beendete Baustellen. Keine Sau kommt. Aber just, wenn man mit dem Gedanken spielt, mal nachzuhaken erfolgt:

Phase 4: Aktivität 1.1

Der Installateur war wieder da. Gemeinsam mit jemandem vom Compound. Sie haben den alten Wasserhahn in Windeseile entfernt und den neuen eingebaut. Und dabei kaputt gemacht. Auf einmal halten sie vier Teile in der Hand, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Sie wollen später noch einmal wiederkommen. Oder irgendwann. Erst mal haben wir also keinen tropfenden Wasserhahn, sondern einfach gar kein Wasser in der Küche.

Und hier setzt die Erkenntnis ein: Es war uns egal. Man nimmt es hin, regt sich nicht auf. Mehr noch: Verständnis fast. Sie geben sich schließlich Mühe, und irgendwann werden sie es schon richten. Worüber sich also aufregen? Ändert eh nichts. Und ernsthaft: Von einem Wasserhahn lasse ich mir nicht den Tag verderben. Als ich noch so drüber nachdachte, fiel mir auf, dass wir uns, glaube ich, wirklich angepasst haben. Dass wir schon ein bisschen angekommen sind.

Meine Top-fünf-Anzeichen dafür, in China schon nicht mehr ganz fremd zu sein:

1.Langmut: Irgendetwas gibt immer den Geist auf. Handwerker kommen nie zur vereinbarten Zeit, aber gerne zehnmal, um Reparaturen durchzuführen, die keine sind. Man beginnt, kleine Unannehmlichkeiten als das zu sehen, was sie sind: klein. Ich versuche dann, mich im Winter daran zu erinnern, wenn es im Haus wieder elf Grad hat.

2.Ausblenden: Ich höre Hupen nicht mehr. Kein Scherz, vor ein paar Tagen ist direkt neben mir die Alarmanlage eines Autos angesprungen, und ich habe locker eine halbe Minute gebraucht, bis ich es wirklich registriert habe. Ich verbringe etwa zwei Stunden am Tag in Taxis auf der Straße. Wahrscheinlich hat mein Gehör aufgegeben.

3.Körperliche Abhärtung: Im ersten Monat hatte mich »China Belly«, eine Durchfallerkrankung, die fast alle Neuankömmlinge in China in den ersten Wochen plagt, dazu gebracht, mich nie weiter als fünfzig Meter von einer Toilette zu entfernen. Ein zweifelhaftes Sushi in Peking hat mich fast hingerichtet. Ein massiver Infekt im Winter fast verenden lassen. Und jetzt? Nichts. Auch im Grunde merkwürdiges (zumindest nicht eindeutig identifizierbares) Essen ist einfach nur lecker und hat keine Nachwirkungen. Wirklich abstinent gelebt habe ich die letzten Jahre schon nicht, jetzt ist meine Leber wohl im China-Modus. Hier wird unfassbar viel getrunken, aber wirklich betrunken war ich schon lange nicht mehr.

4.Benehmen: