Überlebt - Hartmut Wewetzer - E-Book

Überlebt E-Book

Hartmut Wewetzer

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Beschreibung

Diagnose Krebs: Was hilft gegen die Angst?

Manche Diagnosen sind niederschmetternd, machen hilflos und lösen Todesängste aus. »Was geschieht mit mir?«, fragen sich die Kranken. Und haben oft das Gefühl, sich selbst die Antwort geben zu müssen.

Mit Anfang fünfzig erkrankt der Arzt und Journalist Hartmut Wewetzer plötzlich an Magenkrebs. Sein Leben steht buchstäblich auf Messers Schneide. Seine Existenz, seine Familie, seine Karriere – alles ist infrage gestellt. In dieser Situation begibt er sich auf eine ganz besondere Reise – eine Expedition in die »Krebswelt«. Als jemand, der sein ganzes Berufsleben lang über Krebsmedizin berichtet hat, als Arzt, dem die Krankheit aus der Praxis vertraut ist – und als Betroffener. Er recherchiert tiefgehend über Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und Wege, die Krankheit seelisch zu bewältigen. Und er berichtet über die Schicksale von anderen Patienten, erzählt die Geschichte bahnbrechender Entdeckungen und revolutionärer Therapien und schildert das Auf und Ab seines eigenen Krankendaseins.

Sein Rezept lautet: Wissen. Wer die Krankheit versteht, hat den ersten großen Schritt getan, um sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Darüber hinaus gibt der Autor seinen Leserinnen und Lesern eine Vielzahl von praktischen Tipps. Etwa zu der Frage, wie man die beste Therapie und den besten Therapeuten findet.

Überlebt. Was ich von meinem Krebs gelernt habe ist ein Buch für Patienten, Angehörige und alle, die mehr über diese Krankheit wissen und sich schützen wollen. Es ist ein Mut machender Führer durch das Labyrinth der Krebswelt.

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Seitenzahl: 482

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Cover

Titel

Dr. Hartmut Wewetzer

überlebt

Was ich von meinem Krebs gelernt habe

Herausgegeben von Friedrich-Karl Sandmann

Insel

Impressum

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Der Herausgeber: Friedrich-Karl Sandmann, geboren 1948 in Ostwestfalen, veröffentlichte als Verleger zahlreiche nationale und internationale Bestseller. Seit 2016 ist er verlegerischer Herausgeber für den Insel Verlag.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Sofarobotnik, Augsburg & München

Kasha Malasha/Shutterstock, Berlin

eISBN 978-3-458-77789-2

www.suhrkamp.de

Widmung

6Für Carola (1964-2003)

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorwort

TEIL I Gen: Was Krebs ist

Böses Erwachen

»Sie haben ein Ulkus!«

Diagnose Krebs

Den Schock verdauen

Ein Lichtblick

Der Befund

Warum hat es mich getroffen?

Heilung nicht vorgesehen

Fragliche Erklärungsversuche

Nachher ist man immer schlauer

Aus einer einzigen Zelle entsteht der Krebs

Fünfauge – mein Treffen mit Rudolf Virchow

Das unaufhaltsame Urprogramm Zellteilung

Mehrzeller wie wir

Was Krebs mit Evolution zu tun hat

Die Krankheit der Zelle

Kosmos im Kleinen

Kleine Veränderung mit großer Wirkung

Entfesseltes Wachstum

Apoptose – wie Blätter, die fallen

Erbfäden und Lebensfäden

Vergehen und Werden

Metastasen – wenn der Krebs streut

Chaos in der Bibliothek des Erbguts

Eine Wunde, die nicht heilt

Leben ohne Luft

Perfide Perfektion

Krebs hat viele Gesichter

Überleben – eine Frage des Tumors

Vererbtes Risiko

Das defekte Reparatur-Programm

Das Krebsgenom ist die Festplatte der Krankheit

Die unaufhörliche Evolution

Das Protein p53 – Porträt eines Wächters

TEIL II Risiko: Was den Krebs hervorbringt

Eine Frage des Lebensstils

Das Quartett der gefährlichen Laster

Rauchen – das Risiko aller Risiken

Übergewicht als Risiko

Ernährung auf dem Prüfstand

Fleisch – die rote Gefahr?

Alkohol – Rausch und Risiko

Wer sich bewegt, lebt nicht verkehrt

Toxisches Risiko aus der Umwelt

Viren und Bakterien als Aggressoren

HPV

– ein Virus wird gejagt

Ein Erreger, viele Tumoren

Die sieben Krebsviren

Helicobacter – das krebserregende Bakterium

Krebs als Altersleiden

Entropie – wenn die Unordnung im Körper zunimmt

Der Zufall spielt mit

Glück oder Pech – eine Frage der Mutation

Kann Stress Krebs auslösen?

Männer erkranken häufiger

Wie lange habe ich noch?

Reise ins Ungewisse

TEIL III Alarmzeichen

Krebs rechtzeitig erkennen

Früherkennung – was die Medizin tun kann

Schilddrüse – die weltweite Überdiagnose

Haut – das Problem mit den Leberflecken

Brust – Früherkennung durch Mammografie

Prostata – das Test-Dilemma

Gebärmutterhals – das Virus und der Abstrich

Lunge – Früherkennung durch Screening?

Krebsrisiko Polyp – Darm ohne Charme

Der Weg zur bestmöglichen Behandlung

Erfahrung bedeutet weniger Komplikationen

Leitlinien als Entscheidungshilfen

Behandlung in zertifizierten Zentren

TEIL IV Klinik: Wie man Krebs behandelt

Chemotherapie – frontal gegen den Tumor

Die Idee der Chemotherapie

Chemische Therapie – ein Gedanke nimmt Gestalt an

»Man kann von einer Heilung träumen«

Kombinationstherapie – ein chemisches Trommelfeuer

»Totale Therapie« – vom Schrecknis zur Heilung

Im Garten der Gifte

Krebsstation bei Nacht

Mit Stammzellen erfolgreich gegen Krebs – und Aids

Detox – die Entgiftungszentrale des Körpers

Wirksames gegen Übelkeit und Erbrechen

Hormone – Botenstoffe mit Macht

Am Testosterontropf – Prostatakrebs

Anti-Östrogen – Schrumpfkur für den Brustkrebs

Antikörper – Medikamente nach der Natur

Das hochkomplexe Immunsystem

Monoklonale Antikörper – »Zauberkugeln« vom Fließband

Viren, Gene, Antikörper – Vom Huhn zum Heilmittel

Herceptin – ein Antikörper gegen Brustkrebs

Konjugate – trojanische Pferde gegen Krebs

Kleine Moleküle – Small & Smart

Ein Durchbruch, der seinen Namen verdient

Lockdown für die Krebszelle

Die Krebszelle überlisten

Im Taumelflug aus der Gefahrenzone

Immuntherapie – Kraft für die Körperabwehr

Im Dauereinsatz fürs Überleben – das Immunsystem

Wirkstoffe aus dem Arsenal der Immunabwehr

Das große Impfen – ein Schlag ins Leere

Die

CAR

-T-Zelltherapie – lebende Medikamente

Über die Entfesselung des Immunsystems

Der Wirkstoff Ipilimumab – der Blockadebrecher

Der Weg zur Immuntherapie

Eine neue Waffe gegen Krebs – unsere eigene

Chirurgie – wirksamste Therapie gegen Krebs

Eine zweite Operation ist nötig

Chirurgie und Musik – zu Besuch bei Theodor Billroth

Narkose – Traum der Chirurgie

Hygiene – eine Frage auf Leben und Tod

Einschneidende Eingriffe – Operieren, wenn möglich

Schnittmuster mit System – die Chirurgie wird Wissenschaft

Elektrochirurgie – Revolution der Verödung

Alles auf Anfang – Kurt Semm, der Magier von Kiel

Die Roboter kommen

Strahlentherapie – Energie gegen Krebs

Röntgen – das »unsichtbare« Licht

Radium – gezielte Strahlentherapie

Ein weiterer Fortschritt – der Linearbeschleuniger

Palliativmedizin – Behandlung jenseits der Heilung

Darüber sprechen, was ist

Krebs bekämpfen – der Weg geht weiter

TEIL V Leben: Krebs bewältigen

Reha – Schritt zurück ins Leben

Alternative Heilverfahren

Die vier Segmente alternativmedizinischer Behandlungen

Begleittherapien – Krebsdiät, Psychoonkologie, Immunstärkung

Gesucht – eine Kur für Körper und Geist

Halluzinogene Wirkstoffe – Erleichterung auf dem letzten Weg

Der Krebs und das Ich

Wege aus dem Dunkel

Bewältigung durch Leugnung?

Der Silberstreif

Zeit für Neues

Wie Philosophie hilft, in der Krankheit zu bestehen

Viktor Frankl: Das Leben hat Sinn bis zum letzten Atemzug

Skepsis – vom Nutzen des Zweifels

Stoa – Lob des Gleichmuts

Epikur: Im Garten der Genüsse

Ende einer Reise: Fünf Jahre danach

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Hinweis und Dank

Informationen zum Buch

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7Vorwort

»Hartmut sieht aus wie der Tod.« Dieser Satz ist mir zu Ohren gekommen. Hartmut, das bin ich. Nicht schmeichelhaft, was mein Freund K. anderen Freunden über meinen Zustand mitteilt, nachdem er mich besucht hat. Ungeschönt, schonungslos – und leider ziemlich zutreffend.

Es ist Frühjahr 2014. Nach einer mehrmonatigen einschneidenden Chemotherapie und zwei schweren Bauchoperationen bin ich am Ende meiner Kraft. Ich bin geschwächt und abgemagert. Meine Gesichtszüge sind eingefallen, und beim Treppensteigen bin ich rasch aus der Puste. Mit meinen knapp 53 Jahren komme ich mir vor wie eine gefällte Eiche. Eben noch baumstark und mitten im Leben, nun ein keuchendes Elend. Vielleicht sehe ich nicht ganz aus wie der Tod, das denn doch nicht. Aber er und ich sind uns schon mal über den Weg gelaufen.

Und dann ist da noch der Schatten. Der Krebs, der mich erwischt hat. Hier erzähle ich, was ich von ihm gelernt habe.

Das letzte unbeschwerte Ereignis ist für mich Silvester 2013. Ich habe eine nebulöse Erinnerung. Wie aus ferner Zeit, wie aus dem Märchenbuch. Wir feiern in Leipzig, in einer stilvoll renovierten Remise in der Altstadt. Geschmackvoll und gediegen eingerichtet, mit viel Holz, alten ererbten Möbeln und Bücherregalen. Hier leben Akademiker, Juristen beide, mit zwei Jungs, die draußen Knaller werfen. Das Buffet ist ergiebig. Die Gäste haben Salate, Buletten und Tiramisu mitgebracht. Es sind Menschen um die 40, Lehrer, Architekten, Juristen, Journalisten. Man verteilt sich auf den Sofas und Sitzgelegenheiten oder steht auf den Gängen zusammen, plaudert im schummrig gelben Licht. Ein bisschen befangen, aber nicht verkrampft, die Zunge vom Alkohol gelöst. Zwischen den Beinen der Erwachsenen wieseln aufgekratzte kleine Kinder hindurch, hier und da ermahnt, drängelnd und lärmend. Sie sind auch das Hauptthema der Unterhaltungen.

8Dann ist 2014 da. Wir prosten uns zu, und ich werfe wie jedes Jahr einen Blick voraus. Was will ich erreichen? Wo will ich hin? Beruflich ist eigentlich alles im grünen Bereich. Der Alltag besteht aus viel Routine, gemischt mit Momenten der Euphorie und des Verdrusses, mit kleinen Siegen und Niederlagen. Der übliche Mix. In der Familie sehe ich mit einer gewissen Sorge auf meine beiden Söhne. Aber dann wieder bin ich überzeugt, dass sie ihren Weg gehen werden. Alles in allem besteht kein Grund zu größeren Befürchtungen in meinem Leben, so scheint es. 2013 ist vergangen und wird rasch verblassen, 2014 seinen Platz einnehmen und es ihm irgendwann gleichtun. Die Jahre, eine verwehte Spur auf der Straße des Lebens.

Die Partygesellschaft zieht zwischen den Häuserblöcken zu einem freien Platz, einem unbebauten Areal. Hier werden die Silvesterraketen gezündet und noch ein paar Flaschen entkorkt. Entspannte Feierlaune. Dann geht es zurück in die Remise.

Freund K. hat eine Flasche Wodka aufgetrieben, schenkt mir und sich ein. Ein bisschen Schnaps zur Feier des Tages muss sein, denke ich und kippe den ersten. Aber er geht wider Erwarten nicht glatt runter. K. füllt sogleich nach. Diesmal lehne ich ab. Mein Bauch sagt Stopp.

»Sorry, ich kann nicht mehr«, wehre ich ab.

K. sieht mich ungläubig an. Ich fühle mich unwohl. Etwas ist anders. Dieses andere ist das Thema des Buchs.

Krebs, das war für mich immer etwas, das mich nicht direkt betraf. Er erwischte stets andere. Familienangehörige, Freunde, Patienten. Oder Prominente, über die man in den Medien erfuhr. Eine unberechenbare und brutale Krankheit. Als Medizinstudent und angehender Arzt finde ich die Vorstellung schwer erträglich, auf einer Krebsstation zu arbeiten. Es schockiert mich, eine unheilbar erkrankte 30-Jährige mit zwei kleinen Kindern sterben zu sehen.

Später, als Journalist, verfolge ich die Entwicklung der Krebsforschung aufmerksam. Ich berichte über echte und vermeintliche Durchbrüche und Pioniertaten. Häufig zeichne ich ein Vexierbild, 9das zwischen Hoffnung und Skepsis wechselt. Mit den Jahren werde ich misstrauischer gegenüber den Erfolgsmeldungen. Manchmal erweisen sie sich als Kulissen einer fragwürdigen Inszenierung, bei der es mehr um Ruhm und Geld und eher wenig um das Patientenwohl geht.

Dann trifft es tatsächlich mich selbst, willkürlich wie der Blitz aus heiterem Himmel. An diesem Punkt beginnt das Buch. Meine Erfahrung mit der Krankheit ist der rote Faden, von Anfang bis Ende. Es ist zugleich eine Art Entdeckungsreise, auf die ich mich für das Buch begebe. Ich gehe zurück zu den Anfängen der neuzeitlichen Krebsforschung. Vor mehr als 150 Jahren wurden die ersten Schritte getan, um dieses Leiden zu verstehen. Es sind die Quellen, von denen ich mich in der Zeit voranbewege bis zur Gegenwart. Aus dem Rinnsal ist ein breiter Strom geworden. Ich und ungezählte andere verdanken ihm ihr Leben.

Dies ist auch ein Buch der Geschichten. Von Patienten, Ärzten und Forschern. Manche sind alltäglich, andere außergewöhnlich. In ihnen spiegelt sich die Krankheit, die auch beides ist, altbekannt und rätselhaft zugleich. Je weiter ich bei meiner »Expedition« vorstoße, umso mehr formen sich die Mosaiksteinchen des Wissens, die ich zusammentrage, zu einem Bild. Was ist Krebs? Wie wird er behandelt? Was kann ich selbst tun? Wie kann ich die Krankheit bewältigen? Auf diese Fragen habe ich versucht, Antworten für mich zu finden. Ich hoffe, dass sie auch Ihnen helfen werden. Dabei, diese unheimliche Krankheit zu verstehen, ihr vorzubeugen und sie zu überwinden.

Hartmut Wewetzer

Falkensee, Sommer 2023

10TEIL I

Gen: Was Krebs ist

Böses Erwachen

Es ist kurz vor vier, als ich aufwache. Ich brauche drei Sekunden, um zu mir zu kommen. Ein Donnerstagmorgen mit Ausblick auf das Wochenende liegt vor mir. Angenehm, eigentlich.

Kurz darauf steigt Ärger von gestern wieder in mir hoch. Eine Kollegin hatte einen Artikel geschrieben, mit dem ich, als Ressortleiter ihr Vorgesetzter, insgeheim nicht einverstanden war. Doch ich hatte nicht den Mumm, sie offen zu kritisieren. Ich hatte es geschluckt, in mich hineingefressen. Ein Minidrama im journalistischen Berufsleben. Jetzt nagt die Sache an mir. Ich würge den unverdauten Konflikt wieder hoch. Nur irgendein Zeitungsbericht, der einem den Schlaf raubt, morgens um vier.

Aber da ist noch etwas. Mein Herz schlägt schnell. Hektisch. Ist das der unterdrückte Zorn? Was soll’s, als Arzt weiß ich sogleich Rat. Ich gehe zum Medikamentenschrank, breche eine Tablette Metoprolol entzwei und spüle eine Hälfte mit etwas Wasser herunter.

Metoprolol ist ein Blutdrucksenker aus der Gruppe der Betablocker. Der Wirkstoff nimmt das hektische Herz an die Zügel, bremst den Puls und besänftigt auf diese Weise. Ein probates Mittel, um vor Vorstellungsgesprächen, Kongressvorträgen und ähnlichen Anlässen für Lampenfieber cool zu bleiben.

11Jetzt ist hoffentlich Ruhe im Karton. Ich versuche, wieder einzuschlafen. Doch nach kurzer Zeit spüre ich nicht nur das rasche Herzklopfen, sondern auch ein Rumoren im Bauch. Eine merkwürdige Übelkeit. Ich bin alarmiert, springe auf und haste zur Toilette. Muss ich mich übergeben? Das ist immer ein Albtraum, verbunden mit einer geradezu mystischen Angst vor Ersticken.

Ich stehe neben der Toilettenschüssel, müde und aufgewühlt zugleich. Vielleicht geht es ja vorüber, hoffe ich. Ich schaue in den Spiegel und sehe ein bleiches, graues Gesicht. Wo und wann habe ich mir bloß den Magen verdorben? Am besten, ich beruhige mich und warte ab, bis das Würgen vorbei ist.

Aber daraus wird nichts.

Es bricht aus mir heraus. Eine unkontrollierbare Eruption, eine Explosion. Schwallartig übergebe ich mich. Es sind mindestens anderthalb, wenn nicht zwei Liter. Ich sehe rot. Die Toilettenschüssel ist voller Blut, hell und leuchtend. Es ist überallhin gespritzt, an die Kacheln und das Wachbecken, und auf die hellgrauen Bodenfliesen.

Ganz frisch muss es geblutet haben, vermutlich aus einer Schlagader. Ich bin fassungslos, wie vor den Kopf geschlagen. Noch verstehe ich nicht, was los ist. Aber ich spüre: Es ist ernst.

»Das kann nicht sein«, sage ich vor mich hin. »Das kann doch verdammt noch mal nicht sein.«

Benommen versuche ich, das Bad von den Blutspritzern zu reinigen, so gut es fürs Erste geht. Das scharlachrote Happening beseitigen, nur das Schlimmste aus der Welt schaffen. Dann wecke ich B., meine Frau. Es ist halb fünf.

»Was ist los?«, fragt sie schlaftrunken.

»Ich habe mich übergeben«, sage ich. »Ich habe Blut erbrochen, ich muss ins Krankenhaus.«

12»Sie haben ein Ulkus!«

B. bewahrt die Ruhe. Wenn es anders ist, lässt sie sich das nicht anmerken. Aber sie ist keine Medizinerin und ihr ist nicht bewusst, was alles eine innere Blutung verursachen kann. Manchmal ist es besser, nicht zu viel zu wissen. Sie fährt mich zum nächsten Krankenhaus, es sind nur fünf Minuten Weg. Die Klinik grenzt an ein Waldgebiet, eine Idylle am Berliner Stadtrand. Das Krankenhaus ist mir vertraut von früheren Ambulanzbesuchen – mit einem meiner Kinder, das fieberte oder sich den Daumen eingeklemmt hatte. Jetzt bin ich an der Reihe.

Am Schalter der Ersten Hilfe sage ich, was vorgefallen ist. Kurz und knapp, so wie es Mediziner handhaben. Nur die Fakten, nicht den Schrecken. Blut erbrochen, hellrot, mindestens ein Liter. Jetzt ist es in der Welt. Mein Erlebnis wird zu einem Tatbestand. Objektiv, offiziell, aktenkundig.

Die Schwestern reagieren zügig und professionell. Keine Spur von Hektik. Ich muss nicht lange warten. Nach wenigen Minuten bringen sie mich zu einem separaten Raum in der Aufnahme, wo ich auf einer Liege auf den Arzt warten soll. Ich schicke meinem Arbeitskollegen und Stellvertreter eine E-Mail und informiere ihn andeutungsweise. Mit mir brauchen sie heute im Büro nicht mehr zu rechnen. Und auch morgen nicht.

Eigentlich wollte ich an diesem Donnerstag meine Kolumne für die Sonntagsausgabe schreiben. Sie behandelt gute Nachrichten aus der Medizin und muss bis Freitagmittag vorliegen. Aber eine gute Nachricht von mir gibt es an diesem Wochenende nicht, und auch nicht an den folgenden. Meine schmunzelnde Miene auf dem Foto über meiner Kolumne verschwindet vorerst aus der Zeitung. Eine Kollegin springt für mich ein, füllt den einspaltigen Platz auf der letzten Seite der Sonntagsbeilage.

Einen Moment lang ist Stille um mich herum. Seit dem »Ereignis« ist es das erste Mal, dass ich Luft holen kann. Ich strecke mich auf der Liege aus und starre an die Decke mit ihren grellen 13Leuchtröhren. Es hat etwas Beruhigendes, hier zu sein. Hier, wo man jederzeit auf alles gefasst ist, wo größte Aufmerksamkeit herrscht.

Der morgendliche Krankenhausbetrieb wird bald beginnen. Aber noch läuft die Maschinerie im Leerlauf. Draußen ist es dunkel, die letzte Stunde der Nacht. Dann wird ein Morgen anbrechen, für die meisten Menschen ein ganz gewöhnlicher Tag. Mit Kaffee am Frühstückstisch, einer Schale Müsli oder einer Scheibe Toastbrot, den Blick aufs Smartphone oder in die Zeitung gerichtet. Einfach Alltag. Nicht für mich.

Ich bin allein mit meinen Gedanken. Ein Augenblick in einem Zeitspalt, zwischen gestern und morgen. Nicht mehr gesund, noch nicht krank. Eine Zwischenwelt. Das Etikett klebt schon auf meiner Patientenakte. Aber noch fehlt die Diagnose.

Nach einer Viertelstunde kommt ein Arzt und befragt mich kurz. Ich werde eine Magenspiegelung bekommen, eine Gastroskopie. Dazu wird ein Schlauch, ein Endoskop, über den Mund in den Magen vorgeschoben werden. Dorthin, wo es geblutet hat. Ich unterschreibe eine Einverständniserklärung.

Auf der Liege werde ich zunächst vor den Behandlungsraum gerollt, inzwischen habe ich einen Venenkatheter, durch den Kochsalzlösung aus einer Infusionsflasche in meine Vene läuft. Sie soll unter anderem helfen, den Blutverlust auszugleichen. Der Arzt spritzt eine narkotisierende milchige Flüssigkeit in den Gefäßzugang. Kurz darauf schlafe ich ein.

Aus einem wohligen Traum erwache ich. Aber schnell holt mich die Wirklichkeit ein. Ich bin wieder – oder immer noch? – auf der Liege, die Magenspiegelung ist vorbei. Vor den Räumen der Endoskopie warte ich darauf, abgeholt zu werden. Ich habe etwas das Zeitgefühl verloren, es muss Vormittag sein.

Schließlich werde ich auf die Station gerollt. Ich komme in ein Zweibettzimmer. Der andere Patient ist ein netter junger Mann von Anfang, Mitte 30. Er ist wegen Rückenschmerzen da und wird bald entlassen. Besorgt erkundigen er und seine Freundin sich nach 14meinen Problemen. Ich antworte ausweichend, ich weiß ja noch nichts. Ich ahne nur etwas. Sie wünschen mir alles Gute. »Es wird schon nichts Schlimmes sein«, sagt der Mann ernsthaft. »Wir drücken die Daumen.«

Zur Mittagszeit höre ich Rumoren und Getuschel vor der Tür des Krankenzimmers. Das kenne ich aus meiner Zeit in der Klinik: Bei der Visite besprechen Ärzte und Schwestern die heiklen Fragen, bevor man zum Patienten ins Zimmer geht. Dann weht die weiße Wolke herein, angeführt von einem schnurrbärtigen Chefarzt. Er nimmt mich in Augenschein und stellt dann mit Bestimmtheit fest: »Sie haben ein Ulkus!«

Kurzzeitige Erleichterung. Ein Ulkus ist ein Magengeschwür. Das kann bluten und würde demnach das »Ereignis« erklären. Es lässt sich mit Medikamenten fast immer dauerhaft heilen. Dann aber relativiert der Chefarzt ein wenig: »Es ist nicht ganz auszuschließen, dass sich da noch ein Tumor verbirgt, ein kleiner Krebs. Aber der ist zu 90, 95 Prozent heilbar.« Noch bevor ich Fragen stellen kann, zieht die weiße Wolke weiter.

Meine leicht gehobene Stimmung hält nicht lange an. Eine Stunde später kommt die Stationsärztin zu mir ins Zimmer und klärt mich auf, wie es wirklich steht. Der Hoffnungsschimmer löst sich auf. Noch ist der Befund der Gewebeprobe aus dem Geschwür nicht eingetroffen. Damit sei frühestens morgen zu rechnen. Von einem alleinigen »Ulkus« sei aber nicht auszugehen, sagt sie.

»Wir müssen leider annehmen, dass es etwas Bösartiges ist«, fährt sie fort. »Falls der Befund das nicht bestätigt, würden wir die Gastroskopie wiederholen.«

Sie sind sich also sehr sicher. Ich bedanke mich für die klaren Worte. Aber warum hat der Chefarzt dann so eine Komödie aufgeführt? Warum das Theater? »Sie haben ein Ulkus!« Es trifft zwar zu. Dennoch klingt es jetzt wie Hohn. Verglichen mit Krebs ist ein Ulkus fast eine Lappalie. Als wenn ein Automechaniker darauf hinweist, dass die Beleuchtung des Handschuhfachs ausgefallen ist, und damit salopp über einen Motorschaden hinweggeht.

15Natürlich habe ich ein Ulkus. Geschwüre sind häufig Begleiterscheinung von Tumoren. Magenkrebs nagt sich in vielen Fällen von der Schleimhautoberfläche in das Gewebe hinein. Es entsteht ein geschwüriger Krater mit einem Saum aus Krebszellen. Den müssen sie bei der Magenspiegelung bei mir entdeckt und Verdacht geschöpft haben. Auch meine Blutung lässt sich plausibel erklären. Der Krebs kann ein Loch in eine Schlagader gefressen haben.

Meine Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang ist auf einen kümmerlichen Rest zusammengeschrumpft. Mit ihm – und einer Schlaftablette – überbrücke ich die Nacht zum Freitag, dem Tag, an dem ich meine Diagnose erfahren soll.

Diagnose Krebs

Der Freitag ist ein fahler Wintertag. Januar pur.

Die Stunde der Wahrheit schlägt am frühen Nachmittag. Wieder stürmt ein forscher Mediziner, einer der Oberärzte, in mein Zimmer. Er eröffnet mir, dass er mir etwas mitzuteilen habe. Im Schlepptau hat er die Stationsärztin, die vorschlägt, das Ganze gleich im Patientenzimmer zu erledigen. Aber der Oberarzt legt Wert darauf, dass das Gespräch bei ihm erfolgt. Er ist ungeduldig, fast hektisch. Also eilen wir zu dritt in sein Dienstzimmer. Zur Urteilsverkündung nehmen wir an einem runden, schmucklosen Besprechungstisch in der Mitte des Raums Platz.

»Der Befund ist eingetroffen«, sagt der Oberarzt. »Sie haben Krebs. Magenkrebs.« Seine Stimme klingt sachlich. Eine Tatsachenfeststellung. Direkt, ohne Warnung, ohne Wertung. Keine Einordnung, kein Trost, kein Blick nach vorne.

Immerhin, jetzt ist es heraus. »Sie haben Krebs«: Das ist der Satz, der nun mein Leben bestimmt. Aber noch will er nicht in meinen Kopf hinein. Es ist keine 36 Stunden her, dass ich noch einer von den Gesunden war, scheinbar zumindest.

16»Das habe ich mir schon gedacht«, erwidere ich. Irgendwas muss ich schließlich sagen. Ich versuche, ebenfalls cool zu wirken. Bloß keine Schwäche zeigen. Auch wenn die Wahrheit mir einen brutalen Schlag versetzt hat.

»Ein Adenokarzinom, mäßig gut bis schlecht differenziert«, liest die Assistenzärztin aus dem Befund des Pathologen vor. Adenokarzinom, das ist ein Wort wie ein Hammer. Krebs der drüsenbildenden Schleimhaut. Ich höre »mäßig gut« und bin ein wenig erleichtert, ein ganz klein wenig. Je »differenzierter«, also normaler aufgebaut die Zellen einer Geschwulst sind, umso günstiger für die Behandlung. »Schlecht differenziert« klingt nicht so gut. Und tatsächlich wird in späteren Arztberichten das »mäßig gut« nicht mehr erwähnt werden. Unnötiger Zierrat, dieses »mäßig gut«.

Der Oberarzt schaut die Assistenzärztin mürrisch an, als ob sie ihn gestört hätte. Er scheint gereizt. Das hier ist sein Auftritt, er hat mich extra aus meinem Zimmer geholt, um mir die Diagnose zu eröffnen. Und er will offenbar, dass es rasch vorbei ist.

»Steht so im Befund«, sagt sie, wie um sich zu verteidigen.

»Früher haben wir den Patienten oft nicht die ganze Wahrheit gesagt«, sagt der Oberarzt. »Das machen wir heute, aber es ist vielen auch wieder nicht recht.« Ist das ein Vorwurf an mich? Oder weiß er einfach nicht, was er noch nach der Eröffnung des Urteils sagen soll?

Ich fühle mich getroffen, verletzt. Es ist, als hätte die Diagnose mich bloßgestellt, schuldig gesprochen. Ein armer Sünder, für den es Mitleid gibt, aber mit dem man um keinen Preis tauschen würde. Dort der Kranke, hier der Gesunde, dazwischen eine unsichtbare Mauer. Ich kenne das von mir selbst, von früher, wenn ich mit Schwerkranken zu tun hatte. Mitgefühl, ja. Aber dabei schwingt immer ein wenig mit: Was für ein Glück, dass ich gesund bin, dass ich nicht in deiner Haut stecke! Auch Mediziner sind nur Menschen.

Ich wechsle noch ein paar Sätze mit der Stationsärztin und dem Oberarzt über die nächsten Schritte, dann gehe ich wieder auf mein Zimmer. Es ist der 10.Januar 2014. Für Montag, den 13.Januar, sind Untersuchungen angesetzt. Mit ihnen soll geklärt werden, wie weit 17der Tumor schon fortgeschritten ist. »Staging« heißt das im Medizinsprech. Dann wird sich zeigen, ob ich noch eine nennenswerte Chance auf Heilung habe.

Nachdem die Formalitäten geklärt sind, verlasse ich auf eigene Verantwortung für das Wochenende das Krankenhaus. Am Sonntagabend werde ich zurückkehren.

Ich gehe zu Fuß nach Hause. Vorbei an verwahrlosten Schrebergärten mit aufgebrochenen Lauben, über den ehemaligen Mauerstreifen, bis zu meiner behaglichen Stadtrandsiedlung. »Behaglich«, dieses Wort mag ich eigentlich. Aber »behaglich« ist nichts mehr.

Den Schock verdauen

Die Diagnose sickert in mein Bewusstsein. Krebs! Und nicht irgendein Krebs. Nein, ausgerechnet Magenkrebs. Warum nicht Darmkrebs? Man nimmt das verkrebste Stück vom Dickdarm heraus. Und damit ist’s dann getan, so scheint mir. Fast bin ich neidisch. Dagegen Magenkrebs: unangenehmer – und tödlicher. Sehr oft muss das gesamte Organ entfernt werden, bei dennoch unsicheren Heilungsaussichten. Nur jeder dritte Patient mit Magenkrebs überlebt die ersten fünf Jahre. Nach mancher Statistik sind es noch deutlich weniger.

Magenkrebs nimmt vom 50.Lebensjahr an deutlich zu. Ich bin 52 Jahre alt, habe also gleich den ersten Zug ins Tumorland genommen. Alles einsteigen! Oh ja, ich bin dabei! Schwer, jetzt nicht zynisch zu werden. In dem Alter, in dem andere die oberste Sprosse der Karriereleiter erklimmen, Chefärztin werden oder Chefredakteur, eine Professur erlangen, als Architekt ein aufsehenerregendes Projekt an Land ziehen oder als Wissenschaftler höchste Ehrungen zugesprochen bekommen, in dem Alter, das die Rushhour des Lebens heißt, in dem die Ernte eingefahren wird, in diesem Alter war meinem Körper nichts Besseres eingefallen, als mir einen Krebs anzuhängen und mich aus der Bahn zu werfen. Chaos zu schaffen, mal eben so. Einfach so.

18In der Nähe meines Hauses gibt es einen kleinen brandenburgischen See, verschilft und umstanden von Birken, Kiefern und Eichen. Es gibt Enten, Reiher, Schwäne und Angler. Hier kann man Abstand gewinnen und auf neue Gedanken kommen. Ich habe den See schon Hunderte Male umrundet. Es ist Sonnabend, der Tag nach der Diagnose, ein kühler und verhangener Januarnachmittag. Wieder drehe ich eine Runde. Aber diesmal ist es anders. Der See gibt keine Antwort. Er schweigt, spiegelt meine Ratlosigkeit.

Ich bin bedrückt und fühle mich, als hätte ich einen Stein im Bauch. Am Horizont flackert die Angst. Gleichzeitig gibt es etwas in mir, das kontrolliert und sachlich bleibt, das nüchtern kalkuliert. Eine Bastion gegen die Angst, einen Pol der Ruhe. Bange machen gilt nicht. Vielleicht ist es das, was der See mir sagen will.

Ich informiere die Familie, Freunde, Kollegen in der Redaktion. Die Nachricht wird sicher rasch die Runde machen, spätestens, nachdem man das Wort »Magenkrebs« bei Google eingegeben hat. Klingt alles nicht gut, was dort steht. Möchte man nicht haben. In den nächsten Tagen werde ich Zuspruch und Trost bekommen, dazu jede Menge gute und manchmal auch merkwürdige Ratschläge.

Aus meiner Krankheit habe ich von vornherein kein Geheimnis gemacht. Der Gedanke, Krebs mit einem Tabu zu belegen, ist mir fremd. Allerdings, wer krebskrank ist, ist verletzlicher als ein Gesunder. Nicht nur körperlich, auch seelisch und sozial. Ein Konflikt, eine Intrige treffen jetzt doppelt. Für wen es ums Überleben geht, dem ist die nächsthöhere Besoldungsstufe oder der nächste Karriereschritt ziemlich egal. Das wissen die Geier, die schon auf der Lauer liegen.

Nein, die Welt ist nicht nur voller Mitgefühl. Es gibt geheucheltes Mitleid. Auch in meinem Fall werden manche versuchen, meine Schwäche auszunutzen. War es also ein Fehler, dass ich mich offenbart habe? Dass alle Bescheid wissen? Ich denke, nein. Denn eine unbekannte Krankheit gibt umso mehr Anlass für Gerüchte und Spekulationen. Das muss man aushalten. Am Ende ist es die Entscheidung jeder und jedes Einzelnen, wie sie oder er mit der Diagnose »Krebs« umgehen will. Wenn es ein Geheimnis bleiben soll – auch gut.

19Ein Lichtblick

Sonntagabend gehe ich zurück in die Klinik. Ich bin jetzt allein in dem Zweibettzimmer, in dem ich zusammen mit dem jungen Mann mit den Rückenschmerzen war. Im Fernsehen läuft Hangover 2, eine amerikanische Komödie über die komischen Abenteuer sorgloser kalifornischer Junggesellen. Hätte ich sonst keines Blicks gewürdigt. Jetzt ist es mir recht, und ich muss sogar schmunzeln. Für Leute in meiner Situation werden diese Filme gemacht, denke ich. Sie bringen dich zum Lachen, obwohl dir eher zum Heulen zumute ist. Humor in humanitärer Mission. Danke, Hangover.

Was gibt es am Ende dieser Woche Positives festzuhalten? Immerhin weiß ich, dass ich in Gefahr bin. Dass ich von einer tödlichen Krankheit bedroht bin. Die schlechte Nachricht ist zwar, dass ich Krebs habe. Die gute aber ist, dass der Feind entdeckt wurde. Wie weit er vorgedrungen ist, wird sich nun zeigen.

Am Montagmorgen bringt mir eine Schwesternschülerin Frühstück aufs Zimmer. Freundlich lasse ich es zurückgehen. Es ist keine gute Idee, vor einer Magenspiegelung etwas zu essen. Dieser Irrtum hätte mich wegen der dann notwendigen Verschiebung vermutlich einen Tag gekostet. In meiner Situation eine doppelt schlechte Idee. Wir wollen den Magenkrebs schließlich nicht warten lassen.

Ich bekomme vormittags meine zweite Magenspiegelung, diesmal mit einer Ultraschallsonde. Diese Untersuchung erlaubt es, in die Tiefe des Gewebes zu sehen. Genauso wie die Computertomografie (CT), die am Nachmittag erfolgt – mit einem Kontrastmittel, um die inneren Organe deutlicher abzubilden, also »kontrastreicher«. Die entscheidende Frage ist, ob der Krebs gestreut hat. Bei einem Magenkarzinom ist das so gut wie ein Todesurteil.

Es ist schon später Nachmittag, als es mir nach meiner Untersuchung gelingt, die junge Radiologie-Ärztin auf das CT anzusprechen.

»Können Sie schon etwas sagen?«, frage ich. Vermutlich steht mir die Angst ins Gesicht geschrieben.

20»Eigentlich ist das CT noch nicht befundet«, sagt sie. »Aber ich kann rasch einen Blick darauf werfen. Bitte warten Sie einen Moment.«

Ich warte. Es sind fünf extrem nervenaufreibende Minuten. Dann kommt die Ärztin aus ihrem Büro auf mich zu. Was hat sie mir zu sagen?

»Soweit ich auf den ersten Blick sehen konnte – aber das ist nur vorläufig –, sind die anderen Organe frei. Kein Hinweis auf neue Herde.«

»Vielen Dank«, sage ich und meine: Danke, dass Sie mir eine Chance geben. Sie nickt mir freundlich und wissend zu und huscht wieder in ihr Büro, meine Botin der Hoffnung. Ich bin aufgewühlt, aber diesmal in gutem Sinne. Mir ist der sprichwörtliche Stein vom Herzen gefallen. Zum ersten Mal seit vier Tagen verspüre ich Erleichterung. Seit jenem Donnerstagmorgen, der mein Leben in zwei Teile geteilt hat.

Der Befund

Am Nachmittag des nächsten Tages gehe ich wieder ins Krankenhaus, um den Arztbrief und die Befunde abzuholen. Sie haben schnell gearbeitet. Am Donnerstag habe ich geblutet, und am Montag ist bereits geklärt, in welchem Stadium sich mein Magenkrebs befindet. Das ist wirklich nicht schlecht. Es entscheidet über die Behandlung.

Wenn der Krebs schon über den Magen hinaus gewachsen wäre oder gestreut hätte, wäre es nicht mehr sinnvoll, noch den Magen herauszunehmen. Umgekehrt kann der Magen weitgehend erhalten bleiben, wenn der Tumor noch sehr oberflächlich liegt und nicht in die Tiefe gewachsen ist. Letzteres ist leider eher selten. Es sind die 90 bis 95 Prozent Heilungsrate, von der der Chefarzt bei der Visite gesprochen hat. Er hat die Ausnahme zur Regel erklärt.

Über das Wochenende habe ich Kontakte zum Universitätsklinikum geknüpft und beschlossen, mich dort behandeln zu lassen. Ich 21will auf Nummer sicher gehen. Magenkrebs ist, lässig gesagt, kein Wald-und-Wiesen-Tumor. Je seltener ein Krebs ist, umso eher ist Spezialistenwissen und -können erforderlich.

Einer der Stationsärzte aus dem Krankenhaus am Rande der Stadt übergibt mir den Arztbrief und die Befunde.

»Wo würden Sie sich behandeln lassen, wenn Sie in meiner Situation wären?«, frage ich ihn.

Er überlegt nicht lange. »Ich glaube, ich würde mich auch an der Universitätsklinik behandeln lassen«, sagt er. Seine Offenheit und Bescheidenheit beeindrucken mich. Das ist einer der Gründe, weshalb ich das Krankenhaus in guter Erinnerung behalte.

Mein Befund: Ich habe ein Adenokarzinom des Magens, kurz gesagt Magenkrebs.1 »Adeno« heißt hier »von Drüsengewebe abstammend« und »Karzinom« bedeutet, dass der Krebs von oberflächlichem Gewebe herrührt, dem Epithel. 80 Prozent aller Krebsformen sind Karzinome. Das liegt daran, dass das Oberflächengewebe von Haut und Schleimhäuten stark beansprucht wird und im Kontakt mit der Außenwelt Risiken wie Mikroorganismen, Chemikalien und Strahlung ausgesetzt ist. Maximaler Stress für die Zellen.

Die Zellen des Tumors sind mäßig gut bis schlecht differenziert. Hier gilt die einfache Regel: Je mehr die Krebszellen noch an das Organ erinnern, aus dem sie entstanden sind, umso besser sind die Aussichten. Und je chaotischer das Bild, umso schlechter. »Mäßig gut« klingt also noch ganz okay, »schlecht differenziert« dagegen gar nicht. Schlimmer ist nur »entdifferenziert«.

Der Tumor ist etwa zwei Zentimeter groß, das entspricht einer Zweieuromünze. Er hat zu einem Geschwür geführt, also einem tiefgreifenden Gewebeschaden, und bohrt sich trichterförmig in den Magen hinein.

Als Teil des Verdauungstrakts ist der Magen im Prinzip ein Muskel, nach innen mit einer Schleimhaut ausgekleidet und nach außen – also zur Bauchhöhle hin – mit einer Deckschicht aus Bindegewebe, Serosa genannt. Sie sondert eine glitschige Substanz ab, die dafür sorgt, dass der Magen und die anderen Organe in der Bauchhöhle 22gut aneinander vorbeigleiten. Jedoch ist der Tumor durch diese äußere Schicht bereits durchgebrochen. Er hat Kontakt zur Bauchhöhle und damit zu neuen saftigen Weidegründen.

Am beunruhigendsten ist die Lage des Tumors. Anders gesagt: Schlechter könnte der Krebs im Magen kaum platziert sein. Die Geschwulst sitzt knapp unter der Speiseröhre direkt am Mageneingang, der Kardia. Bessere Aussichten würden bestehen, wenn der Tumor mitten im Organ oder an seinem Ausgang läge. Je weiter oben, umso schlechter sind die Überlebenschancen. Hier kommt es auf jeden Millimeter an. Liegt der Tumor am Übergang von der Speiseröhre zum Magen, der als Z-Linie bezeichnet wird, ist das Risiko noch höher. Ebenso, wenn er am unteren Ende in der Speiseröhre sitzt.

Mein Krebs ist »noch« ein Magenkrebs. Er ist jedoch besonders eingestuft, weil er an der heiklen Grenze zur Speiseröhre liegt. Er wird in die Kategorie AEG III eingeordnet.2 AEG steht für »Adenokarzinom des ösophagogastralen Übergangs«. Im Fall von AEG III liegt das Tumorzentrum im Magen. Hinzu kommt jedoch, dass die Geschwulst den Mageneingang bereits zur Hälfte umwachsen hat.

Das sind alles in allem ernüchternde Aussichten. Mein größter Trumpf ist die Tatsache, dass es keine sichtbaren Hinweise auf Tumorabsiedlungen gibt. Keine auffälligen Lymphknoten, keine Metastasen in der Leber oder der Lunge, wohin Magenkrebs häufig streut. Das ist jetzt der Strohhalm, an den ich mich klammere.

Warum hat es mich getroffen?

Mir geht es wie vermutlich vielen Menschen. Ich hänge der intuitiven Vorstellung an, dass es einen ungeschriebenen Plan für mein Leben gibt, fast so etwas wie eine höhere Ordnung. Kismet. Karma. Ein Schicksal, das es gut mit einem meint.

23Daraus spricht Vertrauen in die Welt, ein grundsätzlicher Optimismus, getragen vom Glauben an das große Ganze. Wenn man so denkt (oder besser fühlt), dann erscheint das eigene Leben als ein einziger Bildungsroman. Es ist keine Aneinanderreihung von Zufällen, sondern eine von bedeutsamen, einander ergänzenden und aufeinander aufbauenden prägenden Ereignissen. Der Krebs aber entlarvt den großen Lebensplan als Illusion. Aus dem großen Gelingen wird das große Misslingen.

Scheinbar aus dem Nichts schlägt die Krankheit zu. Aus heiterem Himmel. Verdächtige Symptome sind bei Krebs zunächst eher selten. Es gibt praktisch kein Frühwarn- und Abwehrsystem des Organismus wie bei anderen Gesundheitsgefahren. Eine Infektion bekämpft der Körper mit Fieber, das zugleich zur kraftsparenden Ruhe zwingt; eine Wunde verrät sich durch ihren Schmerz, um dann zu verschorfen und abzuheilen.

Heilung nicht vorgesehen

Natürliche Wege zur Gesundung gibt es bei Krebs nicht. Eine Heilung ist gar nicht erst vorgesehen. Der Organismus kann sich nicht selbst von einem Tumor befreien. Krebs ist ein Leiden, das aus dem Inneren kommt, das im Körper selbst entstanden ist. Die Evolution hat den Menschen gegen Feinde von außen gewappnet, aber nicht gegen sich selbst.

Für Krebs besitzt der Körper keine Alarmsirenen. Die allgemeinen Krankheitszeichen sind vage und werden oft zunächst als bedeutungslos fehlgedeutet: Gewichtsverlust, Mattigkeit, Husten oder Heiserkeit, Schluckbeschwerden, Blut in Stuhl oder Urin, eine Wunde, die nicht heilt. Schmerzen, die nicht weggehen. Es sind eher Anzeichen dafür, dass mit dem Körper etwas passiert, statt für eine aktive Abwehr. Er erduldet, statt zu handeln.

Bis zu meinem Blutsturz gibt es auch bei mir keine auffälligen Symptome. Gelegentliche Verdauungsbeschwerden halte ich für 24Bagatellen, und vielleicht sind sie das auch. Sodbrennen und Aufstoßen, wer hat nicht damit zu tun?

Und dann ist es tatsächlich Krebs. Die Krankheit, die immer nur anderen zustößt. »X hat Krebs, hast du schon gehört? Es soll ganz schlimm ...« Was eine ferne Bedrohung war, ein Donnergrollen am Horizont, ist plötzlich ganz nah. Genau genommen ist es näher als nah. Es ist in dir.

Der Ausbruch von Krebs bremst den Lauf des Lebens. Wie eine Bahnschranke, die heruntergeht und aus voller Fahrt zum Stopp zwingt. Nicht nur die eigene Existenz ist bedroht. Was wird mit der Familie, den Plänen, Hoffnungen und Erwartungen, der Karriere?

Und warum gerade ich? Natürlich, ich habe nicht immer gesund gelebt. Ich habe früher geraucht, aber beim 101.Versuch ist es mir geglückt, damit aufzuhören. Da war ich Anfang 30. Davon kann der Krebs nicht sein, das ist zu lange her. Denke ich jedenfalls.

Ich habe auch mitunter eine Schwäche für Junkfood, für Burger, Pommes und Pizza. Und ich mag Kartoffelchips. Obst und Gemüse sind eher nicht meine Favoriten. Obwohl ich täglich einen Apfel esse und meist etwas Salat. Kann es also von falscher Ernährung kommen? Von zu viel ungesundem Essen? Und was ist mit Alkohol? Zwei Flaschen Bier am Abend, manchmal was Hochprozentiges, ein Grappa oder Ouzo nach dem Essen, ein Whisky in abendlicher Runde … Und was ist mit Stress, privat, beruflich, ganz allgemein? So befrage ich mich, fahnde nach der entscheidenden Schwachstelle.

Man hat sich eingerichtet im Leben, alles ist an seinem Platz. Die Jahre fließen ruhig dahin. Doch nun gilt nicht mehr, was richtig und selbstverständlich schien. Was eben noch solide gebaut war, erweist sich als morsche Kulisse. Man sitzt auf der Anklagebank. Auch wenn man nicht weiß, was für ein Verbrechen man begangen hat. Wie eine Figur aus einem Roman von Franz Kafka. Aber es ist keine ausgedachte Geschichte. Es ist die Wirklichkeit. Was habe ich falsch gemacht, womit habe ich dieses Urteil verdient? Und wie hoch ist die Strafe?

25Fragliche Erklärungsversuche

Es gibt Leute, die auf jede Frage eine Antwort haben. Auch beim Thema Krebs haben sie sogleich eine Erklärung parat. »Du hättest eben doch mehr Müsli essen sollen«, sagt mir eine an sich nette Kollegin. »Aber jetzt ist es zu spät, jetzt bringt es auch nichts mehr, sich zu ärgern.« Charme war nie ihre große Stärke.

Vielleicht habe ich mir die Sache mit dem Müsli gemerkt, weil sie so absurd klingt. Vielleicht auch, weil man als Betroffener besonders genau hinhört. Selbst ein gedankenlos dahingesagter Satz bleibt im Gedächtnis, obwohl er nicht böse gemeint war. Sondern vermutlich nur dazu dient, dass der Gesunde sich besser fühlt. Ihm die Genugtuung verschafft, alles richtig gemacht zu haben. Wenn es jemand in der Umgebung erwischt hat, kommt man ins Grübeln und fragt sich, ob man in Gefahr ist. Meine Kollegin hat die Lösung gefunden: Müsli. Damit ist sie aus der Gefahrenzone.

Wer viel Müsli isst, hat praktisch ein Anrecht auf Gesundheit. Somit gibt es nicht nur einen Grund für meinen Tumor, sondern auch für das eigene Wohlbefinden. Eine andere Bekannte mutmaßt, Kartoffelchips seien mir zum Verhängnis geworden. Eigentlich gab es daran für sie keinen Zweifel. Erstaunlich, dass Müsli und Chips im Wesentlichen aus der gleichen Grundsubstanz bestehen, nämlich aus Kohlenhydraten. Einmal als knuspriger Übeltäter mit Paprikageschmack, der Krebs hervorruft. Das andere Mal als weißer Ritter in Form milchigen Müslischleims, der die Geschwulst im Keim erstickt.

Im Internet finden sich ähnlich schlüssige Erklärungen. Auf einer viel besuchten Webseite etwa werden Antibiotika, der Hefepilz Candida albicans, Käse, Fleisch und Zucker als Krebsverursacher verdächtigt – eine merkwürdige Mischung. Die gute Seite der Krebsverhinderer vertreten Makrobiotik, Soja (»programmiert das Immunsystem auf Krebsvernichtung«), Speisepilze, Beeren, Ballaststoffe, Hülsenfrüchte und manches mehr. Unerbittlich stehen sich Krebserreger und Krebsverhüter gegenüber.

26Menschen neigen dazu, die Welt in Gut und Böse, Freund und Feind einzuteilen. »Uns« und »die anderen« – und wenn das nur die Fans des gegnerischen Fußballvereins sind. Wir denken in Schwarz und Weiß, mit Grautönen tun wir uns schwer. Erst recht bei einer Krankheit wie Krebs, die nach einfachen Erklärungen zu verlangen scheint.

Der Erklärtrieb ist fast ein Instinkt. Reflexartig forschen wir nach der Ursache. Wenn es im alten Rom blitzte und donnerte, dann waren das die zürnenden Götter. Wenn im Mittelalter die Kühe auf der Weide starben, lag das an der Hexe aus dem Nachbardorf. Und wenn heute jemand an Krebs erkrankt, dann sind bestimmt Antibiotika und Zucker die Auslöser. Oder Chips. Oder zu wenig Müsli.

Die Neigung, für alles die Ursache zu finden, ist nützlich, um die Welt zu erforschen und besser zu verstehen. Und sie bewahrt vor unangenehmen Situationen. Wenn es in der Steinzeit im Gebüsch raschelte, dann war es überlebenswichtig, das Geräusch ernst zu nehmen und rasch eine Mutmaßung über den Verursacher parat zu haben. Etwa, weil im Gesträuch eine feindliche Kriegerhorde oder ein Tiger lauerten.

Ob die schnelle Antwort auch bei Krebs die richtige ist, muss jedoch bezweifelt werden. In vielen Fällen dürfte die Suche nach der Ursache komplizierter ausfallen. Auch wenn Krebs kaum weniger gefährlich als der Tiger im Gebüsch ist.

Nachher ist man immer schlauer

Antworten auf die Frage nach dem Warum bei Krebs sind keine Mangelware, wie wir gesehen haben. Vom Müsli bis zur Makrobiotik. Das Problem an all diesen Erklärungen ist, dass sie nach dem Ereignis abgegeben werden. »Post hoc« heißt das im Wissenschaftslatein, was so viel wie »nachher« heißt. Verglichen mit Studien, die nach vorn blicken (»prospektiv«), haben solche, die zurückblicken 27(»retrospektiv«), häufig eine geringere Aussagekraft. Nachher ist man eben immer schlauer.

»Nachher-Erklärungen« haben oft einen Beigeschmack von Selbstgerechtigkeit. »Dass der Wewetzer Krebs bekommen hat, wundert mich nicht! Das liegt bestimmt daran, dass ...« Aber das ist nicht das Wesentliche. Entscheidend sind zwei Stolpersteine für vorschnelle Alleswisser, die genau zu wissen glauben, warum der Krebs einen erwischt hat.

Zum einen trifft die Krankheit auch jene Menschen, die immer auf ihre Gesundheit geachtet haben. Die nie geraucht haben, sich immer ausgewogen ernährt und viel bewegt haben. Auch Veganer und Leute mit Vorliebe für Bio-Kost bekommen Krebs.

Zum anderen verschont das Leiden mitunter jene, die auf ihren Körper keine Rücksicht nehmen. Die keinen Sport treiben, rauchen und trinken und an keinem Imbissstand vorbeigehen können. Man denke an den kettenrauchenden Helmut Schmidt oder den Zigarrenraucher und Whisky- und Champagnerfreund Winston Churchill, die beide ein hohes Alter erreichten. Schmidt starb mit knapp 97, Churchill wurde 90 Jahre alt.

Die Natur ist anscheinend parteiisch beim Verteilen ihrer mitunter zweifelhaften Gaben. Den einen straft sie frühzeitig, obwohl offenkundig schuldlos, mit einer schweren Krankheit. Der andere wird ebenso grundlos verschont.

Der Graben ist tief, der Gesunde und Kranke trennt. Ein Gesunder kommt kaum auf die Idee, sich zu fragen, warum er sich wohlfühlt. Warum er mit sich und seinem Körper in Einklang, im Reinen ist. Niemand »bemerkt« seine Gesundheit, solange er gesund ist. Erst wenn sie schwindet, spürt man sie. Bemerkt, dass man aus dem Paradies vertrieben wurde, in dem man so selbstverständlich und scheinbar auf unbegrenzte Zeit gelebt hat.

Für einen Kranken ist die Frage, warum es ihm so ergeht, wie es ihm ergeht, unausweichlich. Auf die Frage nach dem »Warum?« antwortet der Kosmos mit einem unbeeindruckten »Warum nicht?«. Warum? Darum.

28Man kann mit Christopher Hitchens die Frage nach dem Warum als bedeutungslos abtun. In seinem Fall erübrigt sie sich fast. Der Schriftsteller erlag einem Speiseröhrenkrebs. Als starker Raucher und Whiskytrinker war sein Risiko stark erhöht, das »Warum« hinreichend geklärt. Er musste damit rechnen. Dennoch, warum traf es ausgerechnet ihn, unter so vielen anderen Rauchern und Freunden harter Drinks?

Was Krebs ist, warum und wie er entsteht – dieses Wissen hilft der Medizin, die Krankheit zu bekämpfen. Und es ermöglicht den Betroffenen, sich aus der Umklammerung zu lösen.

Aus einer einzigen Zelle entsteht der Krebs

Als Journalist mache ich eine ganz ansehnliche Karriere. Ich bin Ressortleiter, mit Preisen ausgezeichnet, eine feste Größe in meinem Feld, dem Wissenschaftsjournalismus. Das Thema hat über die Jahrzehnte für mich nichts an Faszination eingebüßt. Es fesselt mich wie am ersten Tag und füllt mich aus. Langeweile kenne ich nicht.

Ich habe interessante Persönlichkeiten kennengelernt und interviewt: James Watson, den Erstbeschreiber der DNS-Doppelhelix (mit der wir es hier noch oft zu tun bekommen werden); Richard Dawkins, den Evolutionsbiologen und Atheisten (und vor allem genialen Autor); Ian Wilmut, der das Klonschaf »Dolly« erzeugte; und viele, viele mehr. Der Status als Mediziner hat mir dabei Rückenwind gegeben. Ein Kompetenz- und Prestigevorteil, warum auch nicht. Wenn ich Artikel schreibe, schreibt immer auch der Arzt mit.

Vom Schreiben leben zu können, das war mein Traum gewesen, schon als ich kaum das Alphabet kannte. Er hat sich erfüllt. Mein Leben ist ein ruhiger Fluss. Zur Arbeit fahren, planen und konferieren mit den Kollegen, in der Teeküche beim Kaffee ein wenig tratschen. Dann konzentriert einige Stunden recherchieren, einen 29Text schreiben oder eine Seite produzieren. Abends irgendwas Nettes machen, ins Konzert gehen, Freunde oder Kollegen treffen, ein Spiel am Computer zocken, eine Serie schauen.

Natürlich hat der Beruf auch andere Seiten. Da ist der gute Stress, unter Zeitdruck eine Geschichte über ein spannendes Thema schreiben zu müssen. Damit habe ich keine Probleme. Doch es gibt auch den täglichen Ärger, etwa Streit um Platz in der Zeitung, um Themen und ihre Bewertung, um faire – und häufig unfaire – Kritik. Bei der Zeitung geht es mitunter ruppig zu. Und ungerecht.

Mit Anzeigenschwund, schrumpfender zahlender Leserschaft und geringeren Erträgen wächst die Angst, unter die Räder zu kommen. Seit ich bei der Zeitung arbeite, schreibt sie rote Zahlen. Ich kenne es nicht anders. An die Sparappelle des Geschäftsführers bei den Weihnachtsfeiern oder der Chefredakteure in der Konferenz bin ich so sehr gewöhnt, dass sie mich nicht mehr beeindrucken können. Inzwischen muss jedem klar sein: Wir sitzen auf einem langsam sinkenden Schiff.

Dennoch, ich bin nicht unzufrieden. Hinabgetrieben im Fluss der Zeit, erreiche ich das 50.Jahr. Da erschrecke ich ein wenig. Ein halbes Jahrhundert bin ich plötzlich alt. Wie schnell das gegangen ist! Würde da noch etwas kommen, etwas Besonderes? Wo will ich noch hin, welche Ziele mir stecken?

Und dann kommt das 53.Jahr, in dem das Schicksal höchstpersönlich mir die Sache aus der Hand nimmt.

»Ich habe andere Pläne mit dir«, raunt es mir zu. »Du bist erledigt.«

»So weit würde ich nicht gehen«, antworte ich. »Ich habe noch eine gewisse Chance.«

»Eine gewisse Chance«, äfft das Schicksal mich nach. »Dass ich nicht lache! Du bist ein verdammtes Würstchen. Klammerst dich verzweifelt an den letzten dünnen Ast, bevor du in die Tiefe rauschst. Ich muss nur husten und du bist weg. Verschwunden für immer. Getilgt.«

30Es stimmt, ich muss mit allem rechnen. Da hat dieses Ungeheuer einen Nerv getroffen. Aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Keine Schwäche zu zeigen. Am wenigsten mir selbst gegenüber. Immer schön den Ball flach halten, meine hilfreiche Devise in allen Lebenslagen.

Ehrlich gesagt glaube ich, dass viele, die von meiner Diagnose erfahren haben, mich insgeheim schon abgeschrieben haben. Sie sagen es nicht offen, sie wünschen mir alles Gute, natürlich. Aber sie alle haben sich im Internet informiert und ihre Schlüsse daraus gezogen. Für sie bin ich ein Toter auf Abruf.

Womöglich haben sie recht. Doch ich will mich nicht geschlagen geben. Soll das schon alles gewesen sein? Es gibt eine Menge, wofür es sich zu leben lohnt. Meine eigene kleine Odyssee hat begonnen. Als einer von etwa 500000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an Krebs erkranken. Es ist eine lange Irrfahrt, die mir bevorsteht. Vielleicht schaffe ich es nach Hause. Vielleicht auch nicht.

»Kenne deinen Gegner«, heißt es. Wenn du ihn kennst, dann kennst du seine Stärken und vor allem seine Schwächen. Das gilt auch für Krebs. Was ist Krebs eigentlich? Mit dieser entscheidenden Frage beginnt meine Expedition.

Begleiten Sie mich auf eine Reise in das 19.Jahrhundert. Eine der wichtigsten Krebsforscher dieser Epoche ist der Berliner Pathologe Rudolf Virchow (geboren 1821, gestorben 1902).3 Er ist der vielleicht berühmteste Arzt seiner Zeit, genannt »Papst der Medizin«. Sein Weltruf ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Virchow kein begnadeter Operateur ist, kein neues Medikament entdeckt und kein Heilverfahren entwickelt. Als Pathologe seziert und mikroskopiert er, um Krankheiten auf die Spur zu kommen. Wie ein Detektiv, der das Motiv eines Verbrechens finden will.

Als Virchow mit seinen Forschungen beginnt, kursieren noch allerlei, heute abenteuerlich erscheinende medizinische Theorien. Verbreitet ist die Lehre von den vier Körpersäften. Störungen im Gleichgewicht von schwarzer Galle und gelber Galle, ebenso von 31Phlegma (Schleim) und Blut sollen die Krankheiten verursachen. Der Aderlass gilt als probate Methode, um hier Abhilfe zu schaffen – mit häufig tödlichen Folgen. Auch ist nicht eindeutig klar, auf welche Weise Zellen entstehen. Manche vermuten, dass sie in Bindegewebe heranreifen, erzeugt aus dem Amorphen, beseelt von Lebensenergie.

Virchow ist angetreten, diese Irrlehren zu zerstreuen. Sein zentraler Gedanke: Zellen entstehen aus Zellen. »Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein, ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstanden sein kann«, schreibt er in seiner Cellularpathologie. Das klingt heute banal, ist aber 1850 revolutionär.

Alle Krankheiten sind Krankheiten der Zelle, lautet Virchows zentrale Erkenntnis. Das gilt auch für Krebs, und hier ganz besonders. Er beschreibt und zeichnet genau, was er sieht. Was ist. Virchow ist Mediziner, Anthropologe, Politiker und manches mehr. Alle diese Professionen betreibt er im Hauptberuf. Aber er ist nicht fehlerlos. Er unterschätzt die Bedeutung von Krankheitserregern, bezweifelt die Abstammungslehre Charles Darwins und verkennt den tödlichen Kehlkopfkrebs des späteren Kaisers Friedrich III. Vielleicht sind gerade Virchows Irrtümer ein Grund, ihn sympathisch zu finden. Als jemand, der trotz seiner vielfältigen Verdienste fehlbar ist. Irren ist menschlich – auch wir Gegenwärtigen irren. Virchow lehrt auch das.

Fünfauge – mein Treffen mit Rudolf Virchow

Der Backsteinbau aus der Gründerzeit beeindruckt mich.4 Eine prächtige Empfangstreppe mit einem Portal, das an den Giebel eines griechischen Tempels erinnert, führt hinein. Ich trete ein, Deckenlampen verströmen schummriges gelbes Licht. Die Räume sind mit Schränken und Vitrinen vollgestellt. Ich mustere die Schaukästen und erkenne in alkoholgefüllten Gläsern konservierte Organe. Da ist eine Geschwulst, knotig hervorbrechend aus einer Darmwand; 32ein von weißlichen Tuberkuloseherden durchsetzter Lungenflügel, eine von einem Blutklumpen zerdrückte Hirnhälfte. Und schließlich das Leben, das nicht zum Leben bestimmt war. Totgeborene ohne Gehirn, mit Zyklopenauge, mit dem Leib einer Nixe. Ihre bleichen Körper scheinen die Schöpfung anzuklagen.

Ein trister Ort. Merkwürdig, dass ich gerade hier meinen Streifzug durch die Krebsmedizin beginne. Hier gibt es anscheinend keine Menschen. Nur Organe. Kranke Organe. Die Schaukästen voller Eingeweide, Knochen und Muskeln füllen ganze Säle, sind in den Gängen aufgereiht, bis unters Dach des fünfstöckigen Hauses. Ein ganzes Institut angefüllt mit Zerfall, Zerstörung, Vergehen.

Diejenigen, von denen diese Präparate einst ein Teil waren, sind nicht mehr. Ihr Schicksal, ihr Leben, ihre Geschichten, alles, was sie zu Individuen gemacht hat, ist verschwunden. Was von ihnen ausgestellt wird, sind kranke Organe. Es klingt fast brutal, aber genau das ist Virchows Verdienst: Finde die Regel, das Typische, und verliere dich nicht im Besonderen, im Einzelnen. Finde das Muster im Menschen.

»Nun sein Se man nich so zimperlich«, höre ich eine Stimme hinter mir. Ich wende mich um und sehe einen untersetzten Mann mit dunkler Fliege, Weste und Gehrock, in der Mode der wilhelminischen Zeit. Ich erkenne ihn sofort. Der Mann ist Mitte 50, er hat nur noch dünnes, über die Glatze gezogenes Haupthaar und einen angegrauten, fransigen Bart. Unter der massigen Stirn sehen kleine Augen aus schmalen Sehschlitzen prüfend zu mir auf. Die Brille mit den ovalen Gläsern verdoppelt diesen Eindruck. Es ist ein Vier-Augen-Blick. Stechend, allwissend, kalt. Hat er meine Diagnose schon gestellt, will er mich in einer seiner Vitrinen ausstellen?

»Herr Professor Virchow«, sage ich ehrfürchtig und unsicher wie jemand, der auf frischer Tat ertappt wurde. »Sie können Gedanken lesen.«

»Den meisten Besuchern meiner Sammlung sieht man ohne Weiteres an, dass sie in einen Abgrund blicken«, sagt Virchow. »Und 33zugleich fasziniert sind! Die Leute begegnen hier Krankheit und Tod, der dunklen Seite des Lebens.«

»Ein trostloser Ort.«

»Ganz und gar nicht! Der Tod lehrt uns das Leben!« Virchow ist jetzt aufgeregt, wie angestochen. »Was meinen Sie denn, warum ich diese ganzen Präparate gesammelt habe? Doch nicht aus Jux und Dollerei, oder gar aus Geschäftemacherei! Ich bin doch kein Schausteller! Diese Ausstellung hat einen ganz anderen Zweck. Bevor wir eine Krankheit richtig behandeln können, müssen wir sie verstehen. Darum geht es hier – ums Verstehen.«

»Aber wie wollen Sie eine Krankheit verstehen? Nur mit Präparaten in Vitrinen?«

»Junger Mann, lassen Sie mich das Ihnen erklären«, erwidert Virchow leise, mit angespannter Stimme und in einem Ton leichter Herablassung. »Was wir hier tun, am Pathologischen Institut, an Leichenpräparaten und an mikroskopischen Gewebeschnitten, ist, den Gegenstand unserer Untersuchung genau zu fixieren. Verstehen Sie das?«

Ich nicke. Fixieren?

»Genaue Beobachtung, genaue Beschreibung, das bedeutet: alles exakt so darzustellen, wie es wirklich ist. Nichts hinzufügen, nichts weglassen. Das ist die wichtigste Grundlage der Medizin.« Virchow seufzt erleichtert, nachdem er diese bedeutsamen Worte ausgesprochen hat.

»Das erscheint mir selbstverständlich, Herr Professor.«

»Das ist es nicht! Mein ganzes Leben habe ich gegen die Scharlatanerie gekämpft, wie sie in der Medizin noch zu Anfang meines Jahrhunderts zu Hause war. Ich sage nur: Humoralpathologie! Dieser Unfug von den vier Säften hat seit dem Altertum in den Köpfen der Ärzte gespukt. Ich war nicht ganz unschuldig daran, dass dieser Sumpf von einer Irrlehre trockengelegt wurde!«

»Es war ein Versuch, Unerklärliches zu erklären …«

34»Zellen werden aus Zellen. Das ist das ganze Geheimnis. Zellen! Die große Welt im Kleinen. Immer gilt: Eine Zelle entsteht aus einer Zelle!«

»Bei mir ist aus einer verdammten Zelle Magenkrebs entstanden«, sage ich. »Eine Krebszelle aus einer Zelle.«

»Das ist – bedauerlich. Sehr bedauerlich. Und das in Ihrem Alter. In den besten Jahren, wie man so sagt. Bitte folgen Sie mir, ich möchte Ihnen etwas zeigen, junger Mann.«

Virchow führt mich in einen kleinen Saal mit Tischen, auf denen Mikroskope und Kästen mit Präparaten aufgereiht sind. Die Mikroskope sind zierliche Geräte aus glänzendem Messing, mit Zahnrädern, langen Linsenzylindern und eleganten, geschwungenen Sockeln. Assistenten in weißen Kitteln und mit emporgereckten Schnurrbärten betrachten Gewebeschnitte unter den Mikroskopen. Hier ist sie also, die Manufaktur des Wissens, Virchows Herzkammer.

Nun zieht Virchow einen Kasten mit Präparaten hervor und betrachtet einige Glasplättchen gegen das trübe Licht. Er setzt sich ans Mikroskop und mustert einen Gewebeschnitt durch das Okular. Aus seinen vier Augen sind nun fünf geworden. Er winkt mich heran.

»Hier, schauen Sie.«