Übertragung – Gegenübertragung - Uwe Henrik Peters - E-Book

Übertragung – Gegenübertragung E-Book

Uwe Henrik Peters

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Beschreibung

Professor Dr. Uwe H. Peters stellt die beiden psychoanalytischen Grundbegriffe Übertragung und Gegenübertragung im Rahmen der psychotherapeutischen Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient dar und macht an Beispielen klar, welche Formen wechselseitige Verständnis- und Identifikationsvorgänge bei beiden Partnern annehmen können. In diesem Zusammenhang werden auch die Phänomene der Regression, der Wiederholung, der Affekte und ungelösten Konflikte der infantilen Neurose behandelt sowie übertragungsähnliche Beziehungen im täglichen Leben, wo menschliche Beziehungen unter dem Gesichtspunkt früher Vater-, Mutter-, Bruder- oder Schwester-Imagos verlaufen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Uwe Henrik Peters

Übertragung – Gegenübertragung

Geschichte und Formen der Beziehungen zwischen Psychotherapeut und Patient

FISCHER Digital

Inhalt

GEIST UND PSYCHE [...]Die „Grundbegriffe der Tiefenpsychologie” [...]»Es bedarf nämlich nur [...]EinleitungEntwicklung und Erkennung einer besonderen psychotherapeutischen »Beziehung« in der Geschichte der dynamischen PsychotherapieBeziehungen zwischen Exorzisten und BesessenenBeziehungen zwischen Hypnotiseur und Hypnotisiertem: ›Rapport‹›Rapport‹ und ›Übertragung‹ in den Anfängen der PsychoanalyseBreuers Übertragungsliebe gegenüber Anna O.Freuds eigene ÜbertragungenWeitere Entwicklung der Übertragung in der Theorie FreudsNegative ÜbertragungC.G. Jungs theoretische Erörterungen zur ÜbertragungÜbertragungsliebeGegenübertragungÜbertragungsneurosenÜbertragung bei den narzißtischen NeurosenÜbertragungspsychoseMultilaterale (= multipersonale) ÜbertragungMehrdimensionale ÜbertragungTechnische Handhabung in der PsychoanalyseDie psychotherapeutische Beziehung in nicht-analytischen PsychotherapienPsychotherapeutische Beziehung in der GesprächstherapiePsychotherapeutische Beziehung in der VerhaltenstherapieDas Präcox–Gefühl eine für Schizophrenie spezifische Gegenübertragung?Übertragungsähnliche GefühlsreaktionenZusammenfassung und SchlußLiteraturverzeichnisPersonen- und Sachregister

GEIST UND PSYCHE

Herausgegeben von Nina Kindler

Die „Grundbegriffe der Tiefenpsychologie” werden herausgegeben von Prof. Dr. U.H. Peters, Mainz und Herrn Prof. Dr. H. Volkel, Kiel.

»Es bedarf nämlich nur geringer Überlegung, um sich zu überzeugen, daß die höchste und innigste Beziehung des Unbewußten einer Seele auf das Unbewußte einer anderen irgendwie an das Gefühl der Liebe geknüpft sein muß.«

CARL GUSTAV CARUS in: Psyche (1846)

Einleitung

Zur Definition der Übertragung schreibt FREUD in seiner Abhandlung Zur Dynamik der Übertragung:

»Machen wir uns klar, daß jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während seiner Kinderjahre eine bestimmte Eigenart erworben hat, wie er das Liebesleben ausübt, also welche Liebesbedingungen er stellt, welche Triebe er dabei befriedigt, und welche Ziele er sich setzt. Das ergibt sozusagen ein Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens regelmäßig wiederholt, neu abgedruckt wird, insoweit die äußeren Umstände und die Natur der zugänglichen Liebesobjekte es gestatten, welches gewiß auch gegen rezente Eindrücke nicht völlig unveränderlich ist. Unsere Erfahrungen haben nun ergeben, daß von diesen das Liebesleben bestimmenden Regungen nur ein Anteil die volle psychische Entwicklung durchgemacht hat; dieser Anteil ist der Realität zugewendet, steht der bewußten Persönlichkeit zur Verfügung und macht ein Stück von ihr aus. Ein anderer Teil dieser libidinösen Regungen ist in der Entwicklung aufgehalten worden, er ist von der bewußten Persönlichkeit wie von der Realität abgehalten, durfte sich entweder nur in der Phantasie ausbreiten oder ist gänzlich im Unbewußten verblieben, so daß er dem Bewußtsein der Persönlichkeit unbekannt ist. Wessen Liebesbedürftigkeit nun von der Realität nicht restlos befriedigt wird, der muß sich mit libidinösen Erwartungsvorstellungen jeder neu auftretenden Person zuwenden, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß beide Portionen seiner Libido, die bewußtseinsfähige wie die unbewußte, an dieser Einstellung Anteil haben.

Es ist also völlig normal und verständlich, wenn die erwartungsvoll bereitgehaltene Libidobesetzung des teilweise Unbefriedigten sich auch der Person des Arztes zuwendet. Unserer Voraussetzung gemäß, wird sich diese Besetzung an Vorbilder halten, an eines der Klischees anknüpfen, die bei der betreffenden Person vorhanden sind, oder, wie wir auch sagen können, sie wird den Arzt in eine der psychischen ›Reihen‹ einfügen, die der Leidende bisher gebildet hat. Es entspricht den realen Beziehungen zum Arzte, wenn für diese Einreihung die Vater-Imago (nach JUNGs glücklichem Ausdruck) maßgebend wird. Aber die Übertragung ist an dieses Vorbild nicht gebunden, sie kann auch nach der Mutter- oder Bruder-Imago usw. erfolgen. Die Besonderheiten der Übertragung auf den Arzt, durch welche sie über Maß und Art dessen hinausgeht, was sich nüchtern und rationell rechtfertigen läßt, werden durch die Erwägung verständlich, daß eben nicht nur die bewußten Erwartungsvorstellungen, sondern auch die zurückgehaltenen oder unbewußten diese Übertragung hergestellt haben.« (GW VIII, 364–366).

FREUDs Umschreibung der Übertragung hat bis heute nichts an Klarheit eingebüßt. Dennoch erscheint es notwendig, auf einige Einzelheiten besonders hinzuweisen. Hierzu gehört, daß der Übertragungsvorgang für den Betreffenden selbst unbewußt bleibt. Die Übertragungsinhalte sind dagegen bewußt. Für den psychoanalytischen Prozeß ist wichtig, daß die Herkunft der Übertragungen durch diesen Vorgang selbst bereits in die Nähe des Bewußtseins gerückt ist. Es ist ein wichtiger Teil der psychoanalytischen Therapie geworden, die Ursprünge von Übertragungen bewußt werden zu lassen – und die Widerstände, die sich einem Bewußtwerden entgegenstellen. Jede Übertragungsanalyse ist daher zugleich auch eine Widerstandsanalyse.

Übertragung ist aber auch mit Regression verbunden. Hier sind die Zusammenhänge wechselseitig. In der »klassischen« psychoanalytischen Technik liegt der Patient auf der Couch, während der Therapeut aufrecht sitzt. Dies entspricht der normalen Haltung eines Säuglings gegenüber einem Erwachsenen, so daß durch die Herstellung dieser Situation die Herausbildung von an die Kindheit anknüpfenden Übertragungen provoziert wird. Übrigens schon dadurch unterscheidet sich die Übertragungs-Situation der psychoanalytischen Therapie deutlich gegenüber den Übertragungs-Verhältnissen, die sich in anderen Psychotherapien zwischen Therapeut und Patient, zwischen Arzt und Patient oder zwischen verschiedenen Menschen untereinander herausbilden. Regression ist in diesem Bereich der Therapie erwünscht, weil dann am ehesten Wiederholungen, Affekte und ungelöste Konflikte der infantilen Neurose zum Ausdruck gebracht werden. Der »Regression« in der Haltung entspricht daher auch eine »Regression« in der Therapie, die in sich spezifisch psychoanalytisch ist.

Nachdem sich Übertragungen eingestellt haben, macht sich beim Patienten eine Neigung zum Agieren, zum Ausleben verdrängter infantiler Wünsche, zu ihrer sozialen Realisierung bemerkbar, die mit dem Wiederholungszwang zusammenhängt. Diese Verhaltensweise ist vom Standpunkt der Therapie aus unerwünscht, weil damit die Übertragungen in den Dienst des Widerstandes gestellt werden. Ihre Prozesse sollen daher lieber erkannt und in Worte gefaßt als ausgelebt werden.

Die Übertragungsvorgänge haben durch FREUD ein so klares Bild erhalten, daß nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch viele andere übersehen, daß es ganz ähnliche Vorgänge auch schon in den vor-analytischen, ja selbst in den ältesten Psychotherapien gab und daß es auch heute außerhalb der psychoanalytischen Therapie ähnliche, aber nicht identische Vorgänge gibt. Für sie alle den Ausdruck »Übertragung« zu verwenden, hieße das Spezielle gerade der analytischen Situation zu verwischen.

Dieses Buch trägt zwar den Titel Übertragung-Gegenübertragung, weil der Gedanke darin seine am weitesten verbreitete und klarste Ausformung gefunden hat. Die Darstellung erstreckt sich aber auf den breiteren Rahmen der besonderen »psychotherapeutischen Beziehung«, die sich bei jeder längeren Behandlungsdauer zwischen Psychotherapeut und Patient entwickelt, ganz gleich, welches ihre Technik oder Theorie ist, und ganz gleich, ob die Therapeuten es selbst anerkennen oder nicht.

Unsere Darstellung beginnt daher mit einer kurzen ideengeschichtlichen Darstellung der psychotherapeutischen Beziehung. Einerseits macht die historische Perspektive es leichter, aus den Problemen der Gegenwart herauszutreten und sie dann mit neuen Augen zu betrachten. Andererseits ist aber auch schon die Kenntnis der älteren Entwicklungen verlorengegangen – so daß dann Übertragung zugleich als etwas ganz Neues, Einzigartiges und Allgemeines erscheint –, obwohl FREUD selbst und andere immer wieder auf sie hingewiesen haben. Schließlich versucht das Buch, auf übertragungsähnliche Beziehungen auch außerhalb aller Psychotherapien hinzuweisen und darauf, was unter dem Begriff der Übertragung alles verstanden werden kann.

Entwicklung und Erkennung einer besonderen psychotherapeutischen »Beziehung« in der Geschichte der dynamischen Psychotherapie

In der psychotherapeutischen Beziehung werden Erinnerungen und Gefühle von Arzt und Patient in einer zunächst für beide schwer überschaubaren Weise ineinander verwoben. Es ist daher einerseits nicht verwunderlich, daß derartige Erscheinungen erstmalig auftraten, als Therapeut und Patient anfingen, in eine engere Relation zueinander zu treten, und ebensowenig, daß dies beiden lange verborgen blieb. Die Geschichte dieser engeren Arzt-Patienten-Beziehungen ist aber auch deshalb von Interesse, weil darin besonders deutlich wird, daß man es bei dem, was heute allgemein Übertragung-Gegenübertragung heißt, nicht mit einem isolierten psychoanalytischen Problem zu tun hat.

Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß es in früheren Jahrhunderten nicht zu einer engen Beziehung zwischen Arzt und Patient mit Übertragungscharakter gekommen ist, wenn nur die Bedingung erfüllt wurde, daß es sich um eine längerdauernde Beziehung und um eine psychotherapeutische Einwirkung handelte. Es fehlen aber anschauliche Berichte darüber.

Beziehungen zwischen Exorzisten und Besessenen

Eine frühe und enge Beziehung zwischen Heiler und Krankem tritt im Exorzismus deutlicher zutage. Exorzismus setzt die Krankheitslehre der Besessenheit voraus, die bei vielen Völkern in vielen Teilen der Welt (allerdings nicht überall) und vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert eine fast universelle Gültigkeit besaß und somit eine der dauerhaftesten und offenbar auch brauchbarsten Krankheitstheorien darstellt. Erst durch die Einwirkung der Aufklärung verschwanden die Besessenheitsvorstellungen allmählich, ohne doch bis in die Gegenwart ganz ohne Bedeutung zu sein. Nach dieser Krankheitstheorie ist Krankheit (körperliche oder psychische) auf böse Geister zurückzuführen, die in den Körper des Kranken eingedrungen sind. Der Kranke erlebt die Krankheit selbst als eine Art intrapsychischen Parasitismus (T.K. ÖSTERREICH, 1921). Als eine der denkbaren Therapieformen kann die Austreibung der eingedrungenen Geister mit geistigen Mitteln gelten. Tatsächlich ist dieses Vorgehen – neben anderen Methoden – seit dem Altertum und bei vielen Völkern üblich gewesen und hat in der katholischen Kirche als Exorzismus eine offiziell anerkannte Funktion gehabt. Es darf davon ausgegangen werden, daß die exorzistische Technik im Laufe der Jahrhunderte – obwohl im Kern gleichbleibend – verschiedene Wandlungen durchgemacht hat, daß aber das jeweilige Verfahren sich am besten auf die jeweilige soziokulturelle Situation einstellt und damit auch den Bedürfnissen des Einzelindividuums (zeitgebunden wie es ist) am meisten entgegenkommt. An dieser Stelle interessiert hauptsächlich die sich dabei ergebende Beziehung zwischen Exorzist und Besessenem. Es wird dabei sichtbar, daß der Exorzismus bereits eine gut strukturierte Form der Psychotherapie darstellt. Ihre grundlegenden Merkmale sind nach ELLENBERGER (1973) folgende:

»Der Austreiber spricht gewöhnlich nicht in seinem eigenen Namen, sondern im Namen eines höheren Wesens. Er muß zu diesem höheren Wesen und zu seinen eigenen Fähigkeiten absolutes Vertrauen haben, ebenso muß er von der Realität der Besessenheit und des besitzergreifenden Geistes absolut überzeugt sein. Im Namen des höheren Wesens, das er vertritt, spricht er den Eindringling feierlich an. Dem Besessenen spricht er Mut zu; seine Drohungen und Ermahnungen richtet er nur an den Eindringling. Die Vorbereitung des Austreibers auf seine Aufgabe ist schwierig und dauert lange, oft muß er auch beten und fasten. Die Austreibung soll, wenn irgend möglich, an einem heiligen Ort, in einer strukturierten Umgebung und in Gegenwart von Zeugen stattfinden, zugleich muß man Ansammlungen Neugieriger vermeiden.

Der Austreiber muß den Eindringling zum Sprechen bringen, und nach langem Hin- und Herreden wird manchmal ein Handel abgeschlossen. Die Austreibung ist ein Kampf zwischen Austreiber und dem eingedrungenen Geist – oft ein langer, schwieriger und verzweifelter Kampf, der manchmal tage-, wochen-, monate- oder sogar jahrelang fortgesetzt werden muß, bevor ein vollständiger Sieg erreicht werden kann. Nicht selten erlebt der Austreiber eine Niederlage; er ist ständig in Gefahr, selbst von dem Geist besessen zu werden, von dem er den Patienten eben befreit hat …« (S. 37f.).

Aus heutiger Sicht erscheint es als wesentlich, daß sich eine eventuell über Jahre dauernde Beziehung zwischen Exorzist und Besessenem herstellen konnte. Dabei ermöglicht die Teilung der Beziehung auf zwei verschiedene Ebenen einen Austausch von Gefühlen und Gedanken ohne die Hemmungen und Beschränkungen der jeweiligen Konvention. Der Besessene spricht einerseits als vernünftiges soziales Wesen, hat aber mit Hilfe des vermeintlich in seinem Leibe wohnenden bösen Geistes eine zweite Stimme, die keinen Beschränkungen unterliegt. Aber auch der Exorzist redet mit der einen Stimme dem Besessenen Mut zu und kann zugleich mit anderer Stimme auf die Gedanken und Gefühle des Besessenen (vermeintlich: der eingedrungenen Geister) Einfluß nehmen. Es wird auch dem heutigen Psychotherapeuten einleuchten, daß diese sich aus der Theorie ergebende technische Möglichkeit ungeheuere Vorteile bietet. Verständlicherweise ist dieses System nur funktionsfähig, wenn Besessener und Exorzist fest von der Realität (der zugrunde liegenden Krankheitstheorie) überzeugt sind, und allein aus diesem Grunde heute nicht mehr anwendbar. Eine der eindrucksvollsten Beschreibungen bezieht sich zwar schon auf die Neuzeit, läßt aber vielleicht deswegen Strukturelemente der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient deutlicher sichtbar werden. Es handelt sich um den berühmten Exorzismus, der über zwei Jahre hin und am Ende erfolgreich (1842/43) vom Pastor JOHANN CHRISTOPH BLUMHARDT (1805–1880) an der GOTTLIEBIN DITTUS vorgenommen wurde.[1] Pastor BLUMHARDT hatte erst vier Jahre vor der Austreibung, als er 33 Jahre alt war, die Pfarre in Möttlingen im Schwarzwald übernommen. Es wird berichtet, daß die GOTTLIEBIN DITTUS schon in dieser Zeit sein beliebtestes Pfarrkind war. Als er die Pfarre antrat, war sie 24 Jahre alt. Die Besessenheit der Gottliebin ist aus heutiger Sicht als hysterische Symptomneurose zu klassifizieren. Die »besondere Beziehung« wird schon im Vorfeld des Exorzismus durch die Bezeichnung »liebstes Pfarrkind« deutlich. Sie bleibt dauernd erhalten, denn die Gottliebin trat später »an Kindes Statt« lebenslang in die Familie von Pfarrer BLUMHARDT ein, was schon V. V.WEIZSÄCKER (1926) zu der Bemerkung veranlaßte: »Diese Auflösung bedeutet einen Sieg BLUMHARDTs über die Hysterie, einen Sieg der Gottliebin über BLUMHARDT.« Der Preis für die Heilung war die lebenslängliche Bindung, allerdings hier mit gegenseitigen Vorteilen, da BLUMHARDT aus dem gelungenen Exorzismus außerordentliches Ansehen als Geistlicher gewann.

Man kann ferner darauf hinweisen, daß die »Beziehung« zwischen einem gerade in den mittleren Jahren befindlichen Manne und einem hysterischen Mädchen hergestellt wurde, bei der beide auch die darin enthaltene sexuelle Note offensichtlich übersahen und darum arglos vor der Öffentlichkeit ausbreiteten. Solche Beziehungen ergeben sich nicht eben selten im Bereich der dynamischen Psychiatrie. Wir finden sie auch bei der Beziehung CHARCOTs zu seinem bevorzugten Demonstrationsobjekt BLANCHE WITTMANN, »Königin der Hysterikerinnen« genannt. Aber auch BREUERs Beziehung zu Anna O. entspricht dem gleichen Modell, wie später im einzelnen zu zeigen sein wird. Schließlich ist auch innerhalb der gegenwärtigen Antipsychiatrie die Beziehung zwischen R.LAING beziehungsweise J.BERKE und ihrem »berühmtesten Fall« MARY BARNES deutlich nach dem Muster eines nicht durchschauten Übertragungs-Gegenübertragungs-Verhältnisses zwischen Therapeut und hysterischer Patientin, die sich hier zeitgemäß in die Rolle einer Schizophrenen eingelebt hat, geformt (U.H. PETERs, 1977). Die Natur solcher Beziehungen wird nach diesen Vorbemerkungen ohne weitere Kommentare in dem anschaulichen Bericht BLUMHARDTs deutlich.

»Gottliebin Dittus ist ledig, ohne Vermögen, 28 Jahre alt, und bewohnt seit vier Jahren gemeinschaftlich mit drei gleichfalls ledigen Geschwistern, unter welchen ein halbblinder Bruder, sämtlich älter als sie, ein geringes Parterrelogis in Möttlingen.« Dort war BLUMHARDT am 31. 7. 1838 Pfarrer geworden. Es kam schon bald zu merkwürdigen Erscheinungen. Die Gottliebin hörte manches Unheimliche im Haus und fiel beim Tischgebet bei den Worten »Komm, Herr Jesus« bewußtlos zu Boden. Als sie Dezember 1841 bis Februar 1842 krank war, begann ihr besonderes Verhältnis zu BLUMHARDT, »indem sie, wenn sie mich sah, beiseite blickte, meinen Gruß nicht erwiderte, wenn ich betete, die vorher gefalteten Hände auseinanderlegte«. Also eine Provokation, die bereits des jungen Pfarrers Aufmerksamkeit und Ehrgeiz erregte. Dann wurde von Visionen erzählt, welche die Gottliebin hatte. Es traten Ohnmachten auf, in denen sie wie gestorben wirkte, schließlich kamen Krämpfe, offensichtlich hysterische Anfälle: »Ihr ganzer Leib zitterte, und jeder Muskel am Kopf und an den Armen war in glühender Bewegung, wiewohl sonst starr und steif. Dabei floß häufig Schaum aus dem Mund.« Ein anderes Mal: »Sie verdrehte die Arme, beugte den Kopf seitwärts und krümmte den Leib hoch empor, und Schaum floß abermals aus dem Munde.« Der junge Pfarrer kam öfter und sah in Begleitung anderer »den schrecklichen Konvulsionen zu«. Eines Tages sprach er der Bewußtlosen ins Ohr, sie solle beten »Herr Jesu, hilf mir«. Sie erwachte nach wenigen Augenblicken, tat wie geheißen und war sofort ohne Krämpfe und Beschwerden. Dieser Augenblick des völlig unerwarteten Erfolgserlebnisses des Pfarrers entschied über das weitere Leben beider. »Dies war der entscheidende Zeitpunkt, der mich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Tätigkeit für die Sache hineinwarf. Ich hatte vorher auch nicht den geringsten Gedanken daran gehabt.« Er hinterließ beim Fortgehen, man solle ihn rufen, wenn die Krämpfe wiederkehren sollten. Das war bereits denselben Abend um zehn Uhr der Fall. Dasselbe Verfahren wurde mit demselben Erfolg angewendet, jedoch wurde es immer häufiger notwendig. Dann fing eine verstorbene Frau, die sie zuvor wiederholt als Vision gesehen hatte, an, aus ihrem Munde zu sprechen, sie habe zwei Kinder gemordet, der Teufel sei bei ihr. Einige Tage später wiederholte sich das, drei, dann sieben, schließlich vierzehn Dämonen fuhren aus, später waren es Hunderte und Tausende. Der Pfarrer, der kein exorzistisches Ritual, sondern nur Zwiesprache mit den Dämonen, Gebet und Fasten anwendete, war immer wieder erfolgreich, jedoch mußte er stets spätestens nach einigen Tagen von neuem beginnen, manchmal mußte er die ganze Nacht bleiben. Jedes Mal hoffte er, sie werde jetzt das letzte Mal seiner Hilfe bedürfen. Der »Kampf« dauerte aber zwei Jahre, in denen nicht nur Krämpfe bestanden, sondern auch mancher Fremdkörper von BLUMHARDT aus dem Körper der Gottliebin entfernt werden mußte. Endlich am 28. 12. 1843 trat das dramatische Ende des Kampfes ein. »Da dröhnte aus der Kehle des Mädchens zu mehreren Malen, ja wohl eine Viertelstunde andauernd, nur ein Schrei der Verzweiflung, mit einer erschütternden Stärke, als müßte das Haus zusammenstürzen.« Nach diesem »Urschrei« trat »ein so starkes Zittern« auf, als wollten sich alle Glieder voneinander abschütteln. Schließlich brüllte um zwei Uhr morgens der »Satansengel« aus ihr »mit einer Stimme, die man kaum bei einer menschlichen Kehle für möglich halten sollte … ›Jesus ist Sieger‹«. Um acht Uhr morgens war sie endgültig und für dauernd von allen Geistern und Dämonen frei. Auch in diesem Ende wird die Parallele zu JANOVS (1973, 1974, 1975, 1976) Primärtherapie noch einmal deutlich.