Um jeden Preis - Günter Mittag - E-Book

Um jeden Preis E-Book

Günter Mittag

3,9

Beschreibung

Ohne die Einheit Deutschlands wäre es in der DDR zu einer wirtschaftlichen Katastrophe mit unübersehbaren sozialen Folgen gekommen. - Diese Bankrotterklärung, abgegeben von einem der mächtigsten Männer der DDR, steht am Ende seiner Betrachtung über vierzig Jahre praktizierte sozialistische Planwirtschaft: Günter Mittag, Ökonom, Politbüromitglied, analysiert als Beteiligter die Strukturen der Macht und die Ambitionen der Mächtigen, sucht nach den Ursachen für den verhängnisvollen Zustand der DDR-Wirtschaft und findet sie unter anderem in den enormen Aufwendungen für innere Sicherheit und Rüstung, im Missverhältnis von Subventionen, Konsumtion und produktiver Akkumulation, im Vereiteln längst fälliger Reformen. Systembedingte Abhängigkeiten und subjektives Versagen werden dem Urteil der Geschichte preisgegeben.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-359-50081-6

ISBN Print 978-3-360-02179-3

© für diese Ausgabe Das Neue Berlin, Berlin, 2015

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin, 1991

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild – Mehner

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Günter Mittag

Um jeden Preis

Im Spannungsfeld zweier Systeme

DASNEUEBERLIN

Gerhard Schürer über Günter Mittag

Günter Mittag hat mein Schicksal wie kaum ein anderer beeinflusst. In seinem Buch »Um jeden Preis« beschreibt er unsere Zusammenarbeit und charakterisiert die Arbeit der Staatlichen Plankommission unter meiner Leitung. Einiges wird dabei sachlich richtig dargestellt, vieles jedoch entstellt und negativ wiedergegeben.

Dennoch will ich das Folgende nicht als eine Attacke auf sein Buch verstanden wissen, schon aus dem Grund, weil Günter Mittag sich nicht mehr wehren kann. Ich möchte jedoch auf eine ausführliche Charakteristik der Persönlichkeit Günter Mittags und seiner Handlungsweise nicht verzichten, da er viele Kapitel der DDR-Geschichte gravierend mitgeschrieben hat.

Mindestens zwei Drittel seines Buches halte ich für wertvoll, weil die Aussagen auf gründlichen Analysen beruhen und Materialien und Einschätzungen berücksichtigen, die von Wissenschaftlern und Praktikern sowie aus Berichten der Regierungsorgane und der Abteilungen des ZK der SED stammen, die offensichtlich von seinem langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Professor Claus Krömke, mit verlässlicher Sachlichkeit zusammengestellt worden sind. Das betrifft z. B. die Darstellungen zur ungenügenden produktiven Akkumulation der Wirtschaft, zum Anspruchsdenken statt Leistungsforderungen, zu den Unwägbarkeiten der sogenannten zweiten Lohntüte, in der für jeden Bürger fast ein zweites Einkommen steckte, das kaum jemand als solches betrachte, und zu den ausufernden Subventionen, die sich unter Honecker fast auf das Achtfache erhöhten. All das kann ich bestätigen.

Wenn er jedoch von sich und seiner Arbeit auf der einen Seite und von der Betonfraktion Stoph und Co. im Politbüro auf der anderen Seite spricht, wenn er Egon Krenz als besonders machthungrig beschreibt, wie er nur selber war; wenn er, der Ulbricht und Honecker wie Götzen verehrte, nun ein »widersprüchliches Verhältnis« zu ihnen gehabt haben will, wenn er dabei den »sich weiter verschärfenden Mangel an Verständnis und Realitätssinn in Bezug auf die ökonomischen Tatsachen« bei seinem Idol Honecker bemängelt, und wenn er abschließend beklagt, dass die Wirtschaftskommission nichts zu sagen gehabt hätte und den inkompetenten Ministern nur mit »Ratschlägen« hatte helfen können, steht die Wahrheit auf dem Kopf und wird zur infamen Lüge.

Die Unterteilung des Politbüros und der Regierung in eine Fraktion von Betonköpfen: Stoph, Mielke, Krolikowski und Neumann; in eine ideologische: Krenz, Schabowski, Tisch und Naumann und in die der Inkompetenten und Bürokraten: Schürer, Junker und andere Minister, mag Mittag, als er das alles 1990 in verbitterter Stimmung aufschrieb, so empfunden haben. Als die DDR noch bestand, hat er darüber ganz anders gedacht, sonst hätte er sich schon damals anders verhalten. Seit Jahren hat Günter Mittag angeblich den Zusammenbruch der DDR vorhergesehen und schon frühzeitig über eine Konföderation der beiden deutschen Staaten nachgedacht. Warum hat er dann darüber nicht gesprochen, sondern im Gegenteil jeden »zusammengedonnert«, der sich auch nur vorsichtig mit diesem Gedanken befasste?

Über die komplizierte und einflussreiche Persönlichkeit Mittags, der 1926 in Stettin (Sczeczin) geboren wurde und der seit 1951 im Apparat des ZK tätig war, 1963 Kandidat und 1966 Mitglied des Politbüros wurde und von 1962 bis 1973 sowie von 1976 bis 1989 Wirtschaftssekretär des ZK war, habe ich schon berichtet. Dennoch fällt es mir schwer, diesen groß gewachsenen Mann mit seiner stattlichen Erscheinung, seinem schon mit 40 Jahren schlohweißen Haar und seiner Ausstrahlungskraft gerecht einzuschätzen. Er hatte mehrere Gesichter, taktierte ständig, verfasste in seiner Laufbahn nicht ein einziges Dokument selbst, deprimierte Menschen durch schärfste Kritik und kannte persönlich mit einer Ausnahme keine Freundschaften. Geistig erreichte er nicht das Niveau Apels, war aber noch um ein Vielfaches ehrgeiziger als er und setzte Parteibeschlüsse rücksichtslos gegen jedermann durch. Er war geradezu besessen von dem Willen, als zweitmächtigster Mann in der DDR zu gelten und möglichst einmal im Leben auch die Nummer Eins zu werden.

Bei der sowjetischen Führung, die ihn zu Breshnews Zeiten für einen Agenten des Westens hielten, buhlte er um Anerkennung, und auch im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wollte er eine »führende« Rolle spielen. Auf seinen vielen Auslandsreisen nahm er Container, gefüllt mit wertvollen Gastgeschenken, mit, um sich in eine gute Position zu bringen. Verhandlungen mit westlichen Politikern, Wirtschaftsmanagern und Industrieverbänden führte er stets im Auftrag Erich Honeckers, deshalb hielt man ihn nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland für den kompetenten Wirtschaftsfachmann der DDR, dem auch der Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, so seine Aussage, ein Ministeramt anvertraut hätte.

Mittag arbeitete von früh bis spät, wollte in jeder Frage konsultiert sein, und wenn eine Sache nicht vorher mit ihm abgestimmt war, wurde sie ohne Rücksicht auf Verluste kritisiert und abgelehnt. Jeden Abend und am Wochenende schleppte er Berge von Papier mit nach Hause, die er angeblich gründlich studierte, aber aufmerksame Beobachter registrierten auch, dass ein Teil der Akten am nächsten Morgen bzw. am folgenden Montag das unzerstörte Siegel trugen. Ich selbst brauchte sehr lange, bis ich merkte, dass er oft nur auf den ersten bzw. den weiter hinten folgenden Seiten einer längeren Ausarbeitung Notizen gemacht hatte und sich dazu detailliert äußerte, um zu dokumentieren, dass er das gesamte Material bis zum Schluss durchgearbeitet hatte. Sogar schwererkrankt an Diabetes, mehrfach an den Beinen operiert, hielt er die Krankheit streng geheim. Er ließ sich auch bei seinen Aufenthalten im ­Regierungskrankenhaus Materialien zur Abstimmung bringen, und selbst kurz nach den durchgeführten chirurgischen Eingriffen gab er Hinweise und Aufträge per Telefon oder durch den Kurier an seine Mitarbeiter weiter. Jede Andeutung auf seine schwere Erkrankung bestritt er energisch.

Bei Staatsbesuchen, Honecker reiste fast nie ohne Mittag, nahm er trotz der körperlichen Behinderung an allen, selbst für gesunde Menschen anstrengenden Veranstaltungen teil, als ginge nichts ohne ihn. Auch schleppte er sich stundenlang auf seinen in Japan hergestellten Prothesen, auf jede Gehhilfe verzichtend, über die Messen in Leipzig, Hannover, Brno oder Poznan und verzog dabei keine Miene, auch wenn ihn der Schmerz fast überwältigte. Man konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein über den Kampf, den er mit sich selbst führte.

Er konnte aber auch Leute schikanieren, beleidigen, heruntermachen. Den bestehenden und übertriebenen Zentralismus trieb er auf die Spitze, weil er buchstäblich alles wissen wollte und jeden verurteilte, der die Zahlen und Fakten nicht gleich parat hatte, nach denen er fragte. Oft schrie er Menschen unflätig an und beschimpfte sie. Nach einer Kritik Erich Honeckers änderte sich sein Verhalten anderen gegenüber schlagartig. Statt die Leute zu beschimpfen, stellte er sich auf die ironische, tief verletzende, hintergründige Kritik um, die schlimmer sein konnte als ein herzhafter Krach.

Auf seine Schultern lud er Verantwortung, die den Einzelnen erdrückt hätte, aber selbst das reichte ihm nicht. Er mischte sich darüber hinaus noch in andere Bereiche ein, wie in die Außenpolitik, die Kunst und Kultur, die Arbeit der Bezirksleitungen, die Landwirtschaft. Mit Honecker hatte er gemeinsam ein System der Verständigung und Abstimmung entwickelt, damit beide nach Möglichkeit in den Politbürositzungen immer im Einklang blieben: So nickte Mittag, wenn Honecker sprach, in Abständen zustimmend bzw. blickte stur aus dem Fenster, wenn er mit ihm nicht einer Meinung war, und Honecker korrigierte nur in ganz seltenen Fällen seine Äußerungen. Wenn in den Sitzungen größere Probleme auftraten, wurden stets Arbeitsgruppen des Politbüros unter der Leitung oder zumindest unter Mitwirkung Mittags gebildet, wie die Arbeitsgruppe zur Unterstützung der Parteiarbeit im Bezirk Dresden, mit dem Ziel, Hans Modrow wieder auf die sogenannte Parteilinie zu bringen, wobei sich Mittag für die Abberufung Modrows aus der Funktion einsetzte, sich aber gegen Honecker nicht durchsetzen konnte.

In den letzten Jahren konzentrierte Mittag eine bedeutende Machtfülle auf sich. Er war Mitglied des Politbüros, Sekretär des Zentralkomitees für Wirtschaft, Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates, Mitglied der Volkskammer, Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats der DDR, Vorsitzender des Ausschusses für Industrie, Bauwesen und Verkehr der Volkskammer und leitete eine Vielzahl ständiger Arbeitsgruppen des Politbüros, wie die zur materiellen Sicherung der Landesverteidigung, zur Koordinierung aller die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik betreffenden Fragen, zur Koordinierung der Hilfeleistungen an Entwicklungsländer und schließlich die schon genannte Arbeitsgruppe des Politbüros für die Zahlungsbilanz.

Seinem Wesen nach war Mittag ein intrigierendes Organisationsgenie, und ich musste oft an Goethes Mephisto oder noch besser an das boshafte Treiben des Jago in Shakespeares »Othello« denken, wenn er im politischen und wirtschaftlichen Alltag der DDR seine Fäden zog. Oft waren Mittags Ideen richtig, aber sein extremes Denken ließ diese sehr oft zum Unsinn verkommen. Drei Millionen Tonnen Heizöl im Verbrauch in der DDR einzusparen, war nach der Kürzung der sowjetischen Erdöllieferungen und bedingt durch die steigenden Rohölpreise auf dem Weltmarkt lebensnotwendig. Aber dann weitere drei Millionen Tonnen zu streichen, war blanker Unsinn und teurer als die eingesparte Erdölmenge, weil die ballastreiche Braunkohle, die nun als Energieträger eingesetzt wurde, bis nach Rügen und in das letzte Dorf des Thüringer Waldes geliefert werden musste. Kombinate zu bilden war richtig, aber die gesamte zentrale und örtliche Wirtschaft einheitlich in Kombinaten zusammenzuschließen, konnte nicht gut gehen.

Die Hochtechnologien und besonders die Mikroelektronik in der DDR zu entwickeln, war aufgrund der Lieferschwäche der UdSSR und wegen des westlichen Embargos notwendig, aber 40 bis 60 Prozent des gesamten Weltsortiments produzieren zu wollen und Chips mit höchstem Integrationsgrad in geringer Stückzahl zu fertigen, war für die DDR-Wirtschaft kommerzieller Wahnsinn.

Günter Mittag hat bis zu seinem frühem Tod, den ich bedauert habe, denn bei allen Differenzen, die wir hatten, ­haben wir mehr als 30 Jahre sehr eng zusammengearbeitet, klar denken können und hätte mit dazu beitragen können, gegen die pauschalisierenden Einschätzungen, dass die DDR ein verbrecherischer Staat mit einer maroden Wirtschaft gewesen sei, aufzutreten und damit das Land mit all seinen Widersprüchen so zu zeigen, wie es wirklich war. Denn kaum ein anderer aus der ehemaligen Partei- und Staatsführung hat so im Zentrum der Macht gestanden wie er, der sowohl unter Ulbricht wie auch unter Honecker an bi- und multilateralen Verhandlungen zwischen der DDR und anderen Staaten teilgenommen hatte.

Sich selbst sah er immer in »tiefer Bescheidenheit« als den berufenen und entscheidenden Menschen der DDR, der die wissenschaftlich-technische Revolution meistern wollte, der das Leitungssystem gegen den Widerstand der Bürokraten modernisieren wollte und der allen scheelen Blicken seiner Politbürokollegen zum Trotz die Kooperation und die Wirtschaftsbeziehungen mit den westlichen Industrieländern ankurbeln wollte. Selbst die mangelnden Spezialisierungs- und Kooperationsbeziehungen im RGW, die in ihrer Gesamtheit nicht funktionierten, konnten nach seiner Meinung wenigstens zwischen der DDR und der ČSSR nur funktionieren, weil er selbst diesem Wirtschaftsausschuss vorstand. Leider wurde er nach seinen eigenen Worten jedoch daran gehindert, seine kühnen Ideen in die Tat umzusetzen, weil die Wirtschaftskommission »keinerlei Entscheidungsbefugnisse« hatte. Formal stimmt das sogar, denn sie war eine »Kommission des Polit­büros« und kein Beschlussorgan. In Wirklichkeit aber hat sie den Ministerrat durch das Primat der Politik aus seiner durch Sachwissen begründeten Verantwortung gedrängt. Wehe, einer der anwesenden Minister hätte etwas anderes als von Mittag vorgegeben getan, es wäre ihm nicht gut bekommen.

Als Hauptschuldige für die Katastrophe benannte Mittag letztlich in seinem Buch Willi Stoph, Alfred Neumann, Gerhard Schürer und Wolfgang Junker, und fügte dann noch Egon Krenz hinzu, der die Krise der DDR geschürt hätte, um »ihr Beendiger« sein zu können. Damit verpasste Günter Mittag leider die Chance, Bleibendes zur Aufarbeitung der DDR-­Geschichte beizutragen. Nur den Titel des Buches hat er treffend ausgewählt, denn »Um jeden Preis« hat er die Verantwortung, die er selbst hatte, auf andere abgewälzt.

Aus: Gerhard Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche ­Biografie, edition ost, Berlin 2014, S. 220ff.

Vorwort

Lange habe ich überlegt, ob ich der Öffentlichkeit die Bearbeitung meiner Aufzeichnungen seit den Oktobertagen des Jahres 1989 vorlegen soll. Ich habe mich trotz mancher Bedenken dazu entschlossen.

Vor allem möchte ich damit einen, wenn auch nur bescheidenen, Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten. Die DDR, für die ich gelebt habe, für die ich alle meine Energie und Kraft einsetzte – sie gibt es nicht mehr.

Der Sozialismus in seiner bisherigen Gestalt auf deutschem Boden ist gescheitert. Eine Gesellschaftsperiode ist zu Ende gegangen. Am 3. Oktober 1990 wurde das vereinigte Deutschland politische Realität. Die Geschichte hat ihr Urteil gesprochen. Die Spaltung Deutschlands, Folge des Zweiten Weltkrieges, ist überwunden. Nun gilt das Grundgesetz der Bundesrepublik auch für das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Die Einheit und die Herstellung voller Souveränität ist ein historisches Ereignis nicht nur für Deutschland, nicht nur für Europa. Sie hat globale Dimension.

Die Entscheidung fiel auf unerwartetem Wege, auf dem der unblutigen Revolution im November 1989. Sie eröffnet den Menschen in der DDR die Perspektive, an der Weltentwicklung auf dem Niveau eines modernen Industrielandes teilzunehmen, wenngleich auch das keine glatte Straße sein wird.

Eine objektive Analyse über die ehemalige DDR gibt es bisher nicht. Vielleicht ist die Zeit dafür noch nicht reif. Trotzdem besteht jetzt schon für mich das Bedürfnis zur Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, vor allem auch, weil ich auf verantwortlichem Posten politische Verantwortung getragen habe.

Die Abrechnung mit der Vergangenheit ist Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit. Dabei wird das Handeln von Personen zum Ausgangspunkt genommen. Mir sollte nach der Wende in der ehemaligen DDR, wie anderen auch, ein Hochverratsprozess gemacht werden. Schließlich erkannte man, dass politische Fehler und natürlich auch historisch bedingte Abläufe sich schlecht juristisch beurteilen lassen.

Angesichts der schweren politischen und ökonomischen Krise, in die die DDR 1989 geriet, spüre ich die Schwere der Verantwortung, der ich mich zu stellen habe. Ich kann und will ihr nicht ausweichen. In manchen Situationen habe ich auch opportunistisch gehandelt, weil ich immer wieder glaubte, dass sich Vernunft und Realitätssinn schließlich durchsetzen werden. Dahingehend versuchte ich zu wirken. Das ist mir leider nur bedingt gelungen.

Ich habe auch zuweilen, wo es um politisches Sein oder Nichtsein ging, öffentlich Positionen vertreten, die im Grunde gegen meine innerste Überzeugung waren. Das mag manch Widersprüchliches in meinem Verhalten zu bestimmten Fragen erklären, aber nicht entschuldigen.

Ich habe die Funktion des Wirtschaftssekretärs des ZK der SED von Juli 1962 bis 1973 und von 1976 bis Oktober 1989 ausgeübt. In den drei dazwischenliegenden Jahren war ich Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR. Insofern ist mein Wirken eng mit der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR verbunden, insbesondere im Bereich der Industrie, des Bauwesens und des Transport- und Nachrichtenwesens.

Ich verstehe, dass die Frage nach den Ursachen für die eingetretene Entwicklung viele Menschen tief bewegt, auch die Frage nach der persönlichen Verantwortung. Gerade sie stand in einer sich als sozialistisch verstehenden Gesellschaft viel schärfer noch als anderswo. Also müssen wir uns am Ergebnis messen lassen – und das sehe ich so auch für meine Tätigkeit.

Diese ganze Situation zwang mich natürlich zum Nachdenken, zur selbstkritischen Einschätzung, aber auch zur sachlichen Aufarbeitung des Vergangenen, des eigenen Erlebens und Handelns.

In meiner gesamten Arbeit gibt es manches, was ich als subjektiven Fehler anerkennen muss, aber auch manches, was einer Erklärung der Umstände bedarf, die zu dieser oder jener Entscheidung führten. Einige Beschuldigungen müssen als unzutreffend oder sogar als Versuch anderer, Fehler und Unvermögen von sich selbst abzuwälzen, charakterisiert werden. Ich bin den Menschen Erklärung und Rechenschaft schuldig, die in der ehemaligen DDR mit Fleiß und Hingabe an ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gearbeitet haben. Deshalb möchte ich Gelegenheit nehmen, mich zu den Geschehnissen, soweit ich sie zu überblicken vermag, öffentlich zu äußern.

Das fällt mir sehr schwer, auch aus gesundheitlichen Gründen. Einige Materialien und Notizen stammen noch aus der Zeit meiner Vorbereitungen auf ein Auftreten vor dem ehemaligen ZK der SED, andere waren für die Rechenschaftslegung vor der Zentralen Parteikontrollkommission gedacht. Allerdings war man damals an einer sachlichen Aufarbeitung der entstandenen Fragen nicht interessiert. Es ging vor allem um eine Vorverurteilung in der Öffentlichkeit und nicht um Klärung von Problemen.

Am 3. Dezember 1989 wurde ich verhaftet. Trotz schwerer körperlicher Behinderung und äußerst labilen Gesundheitszustandes wegen einer schweren, erblich bedingten Diabetes­erkrankung war ich bis 2. August 1990 inhaftiert. In dieser Zeit habe ich in Hinsicht auf die Vorwürfe wegen angeblichen Hochverrats weitere Notizen angefertigt. Sie bilden zusammen mit anderen den Grundstock für die Bearbeitung der vorliegenden Aufzeichnungen.

Ich musste schreiben, um Beschuldigungen zurückzuweisen, um Legenden entgegenzutreten, aber auch, um mit mir selbst ins Reine zu kommen und meine Position klarer zu bestimmen. Die gedankliche Auseinandersetzung half mir zugleich zu vermeiden, dass ich mich der Krankheit ergebe.

ErsTERTEIL

Ablauf der Ereignisse – Rückblick und Reminiszenzen

Die Ereignisse im Oktober 1989

Mein politisches Aus

Mitte Oktober 1989 wurde ich als Mitglied des Politbüros und als Sekretär des ZK der SED abgelöst. Das war noch vor dem Höhepunkt der friedlichen Revolution. Im weiteren Verlauf der Ereignisse verlor ich auf Beschluss der 10. Tagung des Zentralkomitees die Mitgliedschaft in diesem Gremium. Die Volkskammer der DDR entband mich von der Funktion eines Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrates. Die Fraktion der SED strich mich von der Liste der Abgeordneten. Durch die Zentrale Parteikontrollkommission wurde ich am 23. November aus der SED ausgeschlossen.

Obwohl mir bewusst war, dass ich einige geschworene Feinde im Politbüro hatte, trafen mich diese Entscheidungen unvorbereitet. Ich hatte meine Arbeit immer aus innerer Überzeugung, das Beste für die DDR und ihre Bewohner zu tun, geleistet und mich dabei wahrlich nicht geschont. Irgendwelche persönlichen weitergehenden politischen Ambitionen hatte ich nicht. Deshalb haben mich die Vorwürfe tief getroffen. Meine Überzeugung, in der Grundlinie richtig gehandelt zu haben, konnten sie nicht brechen. Damit will ich nicht sagen, dass es mir immer möglich war, solche Entscheidungen herbeizuführen, die notwendig gewesen wären. Dazu hätte es der Zustimmung des Generalsekretärs und der Mehrheit des Politbüros bedurft.

Tatsache ist, dass es nicht gelang, der Wirtschaft jenen Stellenwert in der Politik und konkret bei der Verteilung des erarbeiteten Nationaleinkommens zuzumessen, die den Erfordernissen ihrer ständigen Modernisierung nach dem neuesten Stand der Technik gerecht geworden wäre.

Leider wurden oftmals andere Prioritäten gesetzt. Ich bin mir aber heute – wie bereits schon seit längerer Zeit – bewusst, dass die DDR auf Grund der internationalen politischen wie ökonomischen Kräftekonstellation keine Überlebenschance mehr hatte. Mit dieser Erkenntnis jedoch fühlte ich mich alleingelassen. Die Hoffnung, irgendwann einmal doch noch die grundsätzlichen Fragen zu Gehör bringen zu können, ließ mich an meinem Platz. Eine letzte Möglichkeit sah ich in der Phase der Vorbereitung des XII. Parteitages der SED. Die Ereignisse waren schneller.

Bereits in einer Sitzung des Politbüros am 10. Oktober 1989 stellte Alfred Neumann1 den Antrag, mich von meinen Funktionen abzulösen. Er richtete heftige Angriffe gegen meine Person. Es war ein ganzer Katalog, und er wies eine bemerkenswerte Spannweite auf. Diese reichte vom Lieblingsthema Neumanns, der angeblichen Unsinnigkeit der Entwicklung von Schlüsseltechnologien in der DDR, bis zu der Feststellung, dass ich während der kurzen Zeit, in der ich Erich Honecker bei der Leitung des Politbüros und des Sekretariats vertreten habe, nicht entschieden genug gegen die »konterrevolutionären Aktivitäten« vorgegangen wäre. Das war die Hauptbegründung. Günter Mittag habe zugelassen, dass sich die Konterrevolution und die feindlichen Kräfte in der DDR entwickeln konnten, und er habe die revolutionäre Wachsamkeit sträflich vernachlässigt.

Gegen diesen Angriff haben sich Mitglieder des Politbüros ausgesprochen. Heinz Keßler2 fragte: Gibt es noch andere Fragen, die Mittag betreffen? Er schlug vor, diesen Beschluss nicht zu fassen. So wurde in jener Sitzung auch entschieden.

Der Angriff Neumanns fand an diesem Tag noch keine Mehrheit. Aber die Richtung für die Suche nach einem »Sündenbock« war bestimmt. Das schien vielen der einfachste Weg, glaubten sie doch, auf diese Weise selbst verschont zu werden – wie sich zeigte, eine absolute Fehleinschätzung der wirklichen Situation. Das politisch Entscheidende jedoch war, dass durch die scharfmacherische Rede Neumanns die Stimmung gegen mich angeheizt worden ist.

Es ist doch eigenartig, dass sowohl Krenz3 als auch sein ehemaliger Freund Schabowski4 in ihren Veröffentlichungen nicht auf diese Tatsachen eingehen. Sie haben die Beratung im Politbüro am 10. Oktober nur schemenhaft dargestellt und die Angriffe Neumanns auf mich einschließlich seiner Begründungen für die Forderung nach meiner Ablösung nicht dargestellt, weil ihnen dessen Argumente nicht in den Kram passten. Ich sollte doch als der »Scharfmacher« hingestellt werden – aber nach Ansicht Neumanns war ich gerade das eben nicht. Heinz Keßler hat die scharfmacherischen Argumente Neumanns zurückgewiesen.

Er unterstützte demgegenüber in keiner Weise dessen Forderungen nach härterem Durchgreifen und war bestrebt, ein Blutvergießen nicht zuzulassen. Zu dieser grundsätzlichen Diskussion in diesen so schicksalsträchtigen Tagen fehlt von Krenz und anderen jegliche Stellungnahme.

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