Um Leben und Tod - Henry Marsh - E-Book
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Um Leben und Tod E-Book

Henry Marsh

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Bekenntnisse eines Hirnchirurgen

Wie arbeitet ein Hirnchirurg? Wie fühlt es sich an, in das Organ zu schneiden, mit dem Menschen denken und träumen? Wie geht man damit um, wenn das Leben eines Patienten von der eigenen Heilkunst abhängt? Und wie, wenn man scheitert? Mehr noch als in anderen Bereichen der Medizin ist es in der Hirnchirurgie so gut wie unmöglich, nie einem Patienten zu schaden, denn Operationen am Innersten des Menschen sind immer mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Henry Marsh, einer der besten Neurochirurgen Großbritanniens, erzählt beeindruckend offen, selbstkritisch und humorvoll von den Ausnahmesituationen, die seinen Arbeitsalltag ausmachen. Seine Geschichten handeln vom Heilen und Helfen, vom Hoffen und Scheitern, von fatalen Fehlern und von der Schwierigkeit, die richtige Entscheidung zu treffen.

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Seitenzahl: 457

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HENRY MARSH

UM LEBEN UND TOD

Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern

Aus dem Englischen von Katrin Behringer

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Do No Harm. Stories of Life, Death and Brain Surgery bei Weidenfeld & Nicolson, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Alle in diesem Buch geschilderten Ereignisse und klinischen Szenarien haben sich tatsächlich zugetragen; allerdings wurden in einigen Fällen Namen und andere Erkennungsmerkmale geändert, um die Privatsphäre der betreffenden Kolleginnen und Kollegen sowie Patientinnen und Patienten zu schützen.

1. Auflage

Copyright © Henry Marsh 2014

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

In Kooperation mit dem SPIEGEL-Verlag, Hamburg

Fachlektorat: Dr. Christian Schroers, Bristol

Layout und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Fabiol

ISBN 978-3-641-15370-0V005www.dva.de

Für Kate, ohne die dieses Buch nie geschrieben worden wäre

»Vor allem nicht schaden …«

Gemeinhin HIPPOKRATES VON KOS (circa 460 v. Chr.) zugeschrieben

»Jeder Chirurg trägt einen kleinen Friedhof in sich, den er von Zeit zu Zeit zu einem Selbstgespräch aufsucht, ein kleiner Friedhof voll Bitterkeit und Ysop, den er nach dem Grund gewisser Misserfolge befragt.«

RENÉ LERICHE,Philosophie der Chirurgie, 1954

Inhalt

Vorwort

1 – PINEOZYTOM

2 – ANEURYSMA

3 – HÄMANGIOBLASTOM

4 – MELODRAMA

5 – TIC DOULOUREUX

6 – ANGOR ANIMI

7 – MENINGEOM

8 – PLEXUSPAPILLOM

9 – LEUKOTOMIE

10 – TRAUMA

11 – EPENDYMOM

12 – GLIOBLASTOM

13 – INFARKT

14 – NEUROTMESIS

15 – MEDULLOBLASTOM

16 – HYPOPHYSENADENOM

17 – EMPYEM

18 – KARZINOM

19 – AKINETISCHER MUTISMUS

20 – HYBRIS

21 – PHOTOPSIE

22 – ASTROZYTOM

23 – TYROSINKINASE

24 – OLIGODENDROGLIOM

25 – ANAESTHESIA DOLOROSA

Dank

Eine Anmerkung zum Buchcover

Vorwort

Wenn wir als Patient im Krankenhaus liegen, um unser Leben bangen und uns ein furchteinflößender chirurgischer Eingriff bevorsteht, müssen wir den Ärztinnen und Ärzten, die uns behandeln, vertrauen – zumindest machen wir uns das Leben ziemlich schwer, falls wir das nicht tun. Kein Wunder also, dass wir, um unseren Ängsten Herr zu werden, Ärzten übermenschliche Fähigkeiten zuschreiben. Wenn die Operation gelingt, ist der Chirurg ein Held, scheitert er, wird er unweigerlich zum Bösewicht.

Die Realität sieht natürlich vollkommen anders aus. Auch Ärzte sind nur Menschen, und vieles von dem, was in Krankenhäusern geschieht, hängt vom Zufall ab. Häufig liegen Erfolg und Scheitern nicht im Einflussbereich des Arztes. Zu wissen, wann man nicht operieren sollte, ist genauso wichtig wie zu wissen, wie man operiert, eine Fähigkeit, die allerdings sehr viel schwerer zu erwerben ist.

Das Leben eines Hirnchirurgen ist alles andere als langweilig und kann zutiefst bereichernd sein, doch es hat seinen Preis. Man macht zwangsläufig Fehler, und man muss lernen, mit den bisweilen entsetzlichen Konsequenzen zu leben. Man muss lernen, angesichts des Erlebten objektiv zu bleiben und sich nicht von seinen Gefühlen leiten zu lassen, ohne dabei jedoch seine Menschlichkeit zu verlieren. Die Geschichten in diesem Buch handeln von meinen Versuchen, und gelegentlichen Fehlschlägen, das richtige Maß zwischen Abgeklärtheit und Mitgefühl, zwischen Hoffnung und Realitätssinn, zu finden – Eigenschaften, die für eine Laufbahn als Chirurg unerlässlich sind. Ich habe nicht die Absicht, das Vertrauen, das die Öffentlichkeit Gehirnchirurgen oder dem Berufsstand der Ärzte insgesamt entgegenbringt, zu untergraben. Ich hoffe aber, dass mein Buch dazu beitragen kann, die – in so vielen Fällen eher menschlichen als fachlichen – Probleme begreiflich zu machen, denen sich Ärzte bei der Ausübung ihres Berufs gegenübersehen.

1

PINEOZYTOM

das, -s: ein seltener, langsam wachsender Tumor der Zirbeldrüse

Häufig muss ich in das Gehirn hineinschneiden – etwas, was ich überhaupt nicht gern tue. Dazu veröde ich zunächst mithilfe einer elektrischen Koagulationspinzette die wunderschönen, fein verästelten roten Blutgefäße, die die glänzende Oberfläche des Gehirns überziehen. In diese Oberfläche schneide ich dann mit einem kleinen Skalpell ein Loch, durch das ich einen feinen Sauger hindurchschiebe: Da das Gehirn die Konsistenz von Wackelpudding hat, stellt der Sauger das wichtigste Werkzeug eines Hirnchirurgen dar. Ich blicke durch mein Operationsmikroskop, taste mich langsam durch die weiche weiße Substanz des Gehirns nach unten vor und halte dabei Ausschau nach dem Tumor. Die Vorstellung, dass mein Sauger sich in diesem Moment durch das Denken selbst, durch Gefühl und Vernunft, bewegt, die Vorstellung, dass Erinnerungen, Träume und Gedanken aus Wackelpudding sein sollen, ist schlicht zu merkwürdig, um nachvollziehbar zu sein. Alles, was ich vor mir sehe, ist Materie. Und dennoch weiß ich: Falls ich mich in die falschen Regionen verirre, die sogenannten eloquenten Hirnareale, wie Neurochirurgen sie nennen, werde ich, wenn ich nach der Operation den Aufwachraum betrete, um zu sehen, was ich vollbracht habe, einem schwer geschädigten und behinderten Patienten gegenüberstehen.

Gehirnchirurgie ist hochriskant, auch wenn die moderne Technik das Risiko bis zu einem gewissen Grad verringert hat. So kann ich inzwischen, wenn ich am Gehirn operiere, eine Art von Navigationssystem nutzen, die sogenannte Neuronavigation, bei der Infrarotkameras auf den Kopf des Patienten gerichtet sind wie Satelliten, die die Erde umkreisen. Mithilfe der kleinen reflektierenden Kugeln, die an ihnen befestigt sind, sind die Kameras imstande, die Instrumente, die ich in der Hand halte, zu »sehen«. Dank eines Computers, der an die Kameras angeschlossen ist, wird mir auf einem kurz vor der Operation angefertigten Hirnscan die Position meiner Instrumente im Gehirn des Patienten angezeigt. Zudem habe ich die Möglichkeit, den Patienten im wachen Zustand unter örtlicher Betäubung zu operieren und dabei das Gehirn mit einer Elektrode zu stimulieren, um auf diese Weise die eloquenten Hirnareale zu erkennen. Meine Anästhesistin stellt dem Patienten währenddessen leichte Aufgaben, sodass wir gleich merken, ob ich im Verlauf der Operation irgendwelche Schädigungen verursache. Wenn ich am Rückenmark operiere – das noch empfindlicher ist als das Gehirn –, kann ich eine Untersuchungsmethode namens »evozierte Potenziale« einsetzen, die ebenfalls auf elektrischer Simulation basiert und mich warnt, bevor ich eine Lähmung verursache.

Doch trotz dieser ganzen Technik ist die Gehirnchirurgie nach wie vor ein gefährliches Unterfangen, und Geschicklichkeit und Erfahrung sind noch immer unerlässlich, wenn ich meine Instrumente in das Gehirn oder das Rückenmark gleiten lasse. Vor allem muss ich wissen, wann ich aufhören muss. Oft ist es ohnehin besser, der Krankheit ihren natürlichen Lauf zu lassen und überhaupt nicht zu operieren. Und natürlich spielt auch der Zufall eine große Rolle. Man kann Glück oder Pech haben, und mit zunehmender Erfahrung scheint mir das Glück immer wichtiger zu werden.

An diesem Tag musste ich einen Eingriff an einem Patienten vornehmen, der an einem Tumor der Zirbeldrüse litt. Im siebzehnten Jahrhundert verortete der dualistische Philosoph Descartes, der die Auffassung vertrat, Verstand und Gehirn seien voneinander getrennte Entitäten, die menschliche Seele in der Zirbeldrüse. Ihm zufolge war dies der Ort, an dem das materielle Gehirn auf magische und mysteriöse Weise mit dem Verstand und der unsterblichen Seele kommuniziert. Ich weiß nicht, was er gesagt hätte, wenn er hätte sehen können, wie meine Patienten auf einem Videomonitor ihr eigenes Gehirn betrachten, was manche von ihnen tun, wenn sie unter Lokalanästhesie operiert werden.

Tumoren der Zirbeldrüse, sogenannte Pinealome, sind sehr selten. Sie können sowohl gutartig als auch bösartig sein: Die gutartigen müssen nicht unbedingt behandelt werden, die bösartigen können zwar mittels Strahlen- und Chemotherapie behandelt werden, sind aber dennoch potenziell tödlich. In der Vergangenheit wurden sie als inoperabel eingestuft, was inzwischen dank der modernen mikroskopischen Neurochirurgie nicht mehr der Fall ist. Inzwischen gilt eine Operation als angezeigt, zumindest um eine Biopsie durchzuführen und die Art des Tumors festzustellen, sodass man im Anschluss festlegen kann, wie der Patient am besten therapiert werden soll. Die Zirbeldrüse sitzt tief im Zentrum des Gehirns, weshalb der Eingriff, wie Chirurgen es ausdrücken würden, eine Herausforderung ist. Wenn Neurochirurgen Schnittbilder von Zirbeldrüsentumoren betrachten, tun sie dies mit einer Mischung aus Furcht und Erregung, ähnlich wie Bergsteiger, wenn sie den Blick auf einen hohen Berggipfel richten, den sie erklimmen wollen.

Dieser spezielle Patient konnte sich nur schwer damit abfinden, dass er an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt und sein Leben nun außerhalb seiner Kontrolle lag. Er arbeitete als hochrangige Führungskraft in einem Unternehmen. Die Kopfschmerzen, von denen er nachts aufgewacht war, hatte er zunächst auf den Stress geschoben, denn es hatte ihn stark belastet, dass er infolge der Finanzkrise von 2008 gezwungen war, zahlreiche Angestellte zu entlassen. Wie sich herausstellte, litt er jedoch an einem Zirbeldrüsentumor sowie an akutem Hydrozephalus. Da die Geschwulst die normale Zirkulation der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit um das Gehirn behinderte, hatte die Flüssigkeitsansammlung zu einem Druckanstieg in seinem Kopf geführt. Ohne Behandlung würde er innerhalb von wenigen Wochen erblinden und sterben.

In den Tagen vor der Operation hatte ich zahlreiche Gespräche mit ihm geführt, bei denen er sich sehr besorgt gezeigt hatte. Ich erklärte ihm, dass die Operation zwar Risiken berge, unter anderem, einen schweren Schlaganfall zu erleiden oder zu sterben, dass diese jedoch letztlich geringer seien als die Risiken, falls man nicht operieren würde. Alles, was ich sagte, tippte er mühsam in sein Smartphone, als könnte er durch das Eintippen der langen Wörter – obstruktiver Hydrozephalus, endoskopische Ventrikulostomie, Pineozytom, Pineoblastom – auf irgendeine Weise die Kontrolle über sein Leben zurückerlangen und womöglich gerettet werden. Doch nicht nur er war nervös, auch ich sah dem Eingriff an ihm mit einem unguten Gefühl entgegen. Der Grund dafür war eine Operation, die ich in der Woche zuvor durchgeführt hatte und die vollkommen missglückt war.

Am Abend vor der Operation war ich noch einmal bei ihm gewesen. Wenn ich am Abend vor einem chirurgischen Eingriff mit meinen Patienten spreche, versuche ich immer, mich nicht allzu lange bei den Risiken der bevorstehenden Operation aufzuhalten, über die ich sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgeklärt habe. Stattdessen versuche ich, ihnen Mut zu machen und ihnen die Angst zu nehmen, auch wenn dies bedeutet, dass ich mich selbst stärker unter Druck setze. Es ist leichter, anspruchsvolle Operationen durchzuführen, wenn man dem Patienten zuvor erklärt hat, dass der Eingriff furchtbar gefährlich ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit schiefgehen wird – denn dann ist das quälende Schuldgefühl, das man empfindet, wenn er tatsächlich misslingt, womöglich nicht ganz so stark.

Seine Frau saß neben ihm und wirkte äußerst verängstigt.

»Die Operation an sich ist unkompliziert«, erklärte ich mit vorgetäuschtem Optimismus, um die beiden zu beruhigen.

»Aber es könnte sein, dass der Tumor sich als bösartig herausstellt, oder?«, wollte sie wissen.

Etwas widerstrebend gab ich zu, dass das der Fall sein könne. Ich erläuterte, dass während der Operation ein Gefrierschnitt angefertigt werde – also eine Gewebeprobe, die sofort im Anschluss von einem Pathologen untersucht werde. Würde dieser feststellen, dass es sich nicht um eine Krebsgeschwulst handelt, würde ich nicht versuchen müssen, auch noch den letzten Rest des Tumors zu entfernen. Und wenn es ein sogenanntes Germinom wäre, müsste ich die Geschwulst überhaupt nicht entfernen und ihr Mann könnte stattdessen mit einer Strahlentherapie behandelt – und höchstwahrscheinlich geheilt – werden.

»Also ist die Operation sicher, wenn es kein Krebs ist oder wenn es sich um ein Germinom handelt«, sagte sie mit unsicherer, am Ende leiser werdender Stimme.

Ich antwortete nicht gleich, da ich sie nicht ängstigen wollte. Meine Worte mit Bedacht wählend, erwiderte ich: »Ja – wenn ich nicht versuchen muss, alles herauszubekommen, ist die Operation deutlich weniger riskant.«

Wir unterhielten uns noch kurz weiter, bevor ich ihnen Gute Nacht wünschte und nach Hause fuhr.

Früh am nächsten Morgen lag ich im Bett und dachte an die junge Frau, die ich in der Woche zuvor operiert hatte. Sie hatte einen Tumor im Rückenmark, zwischen dem sechsten und dem siebten Halswirbel, und war – auch wenn ich nicht weiß warum, da der Eingriff scheinbar komplikationslos verlaufen war – mit einer rechtsseitigen Lähmung aufgewacht. Wahrscheinlich hatte ich versucht, zu viel von der Tumormasse zu entfernen. Ich war wohl zu selbstsicher und zu sorglos gewesen. Diese nächste Operation, die Operation an dem Zirbeldrüsentumor, musste daher unbedingt gut verlaufen – ich sehnte mich nach einem Happy End, danach, dass alle glücklich weiterleben würden bis ans Ende ihrer Tage, damit ich selbst wieder mit mir ins Reine kommen konnte.

Gleichzeitig wusste ich, dass ich – so sehr ich das Geschehene auch bedauerte und so gut die Operation an der Zirbeldrüse auch verlaufen mochte – den Schaden, den ich der jungen Frau zugefügt hatte, durch nichts auf der Welt wiedergutmachen konnte. Die Betrübnis, die ich empfand, war nichts im Vergleich dazu, was sie und ihre Familie nun durchmachen mussten. Und die nächste Operation würde auch nicht einfach deshalb erfolgreich verlaufen, weil ich so verzweifelt darauf hoffte oder weil die vorige OP derart missglückt war. Der Ausgang der Zirbeldrüsenoperation – ob der Tumor nun bösartig war oder nicht, ob es mir gelingen würde, ihn zu entfernen, oder ob er hoffnungslos mit dem Gehirn verwachsen war und alles furchtbar schiefgehen würde –, all das entzog sich weitgehend meiner Kontrolle. Und noch etwas war mir bewusst: Der Kummer darüber, was ich der jungen Frau angetan hatte, würde im Laufe der Zeit nachlassen. Von der Erinnerung daran, wie sie mit einem gelähmten Arm und Bein im Krankenhausbett gelegen hatte, würde allenfalls eine Narbe zurückbleiben, keine schmerzhafte Wunde. Sie würde sich in die Liste meiner Fehlschläge einreihen – ein weiterer Grabstein auf jenem Friedhof, den alle Chirurgen mit sich herumtragen, wie der französische Wundarzt Leriche einmal bemerkt hat.

Sobald eine Operation beginnt, verschwinden solche makabren Ängste normalerweise. Ich nehme das Skalpell – nicht mehr aus der Hand der Operationsschwester, sondern gemäß irgendwelcher Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften von einer Metallschale – und schneide damit präzise und voller Chirurgen-Selbstbewusstsein durch die Kopfhaut des Patienten. In dem Moment, in dem das Blut aus der Wunde quillt, packt mich das Jagdfieber und ich fühle mich Herr der Lage. Normalerweise zumindest. An diesem Tag jedoch betrat ich den Operationssaal aufgrund des katastrophal verlaufenen Eingriffs in der vorangegangenen Woche mit heftigem Lampenfieber. Statt wie sonst mit der Operationsschwester und mit Mike, einem meiner Assistenten in der Facharztausbildung, zu plaudern, reinigte ich die Haut des Patienten und legte die OP-Abdecktücher auf, ohne ein Wort zu sagen.

Mike arbeitete bereits seit mehreren Monaten mit mir zusammen, und wir kannten uns inzwischen recht gut. In meiner dreißigjährigen Laufbahn habe ich zahlreiche Assistenzärzte betreut, und ich bilde mir ein, mit den meisten gut ausgekommen zu sein. Meine Aufgabe ist es, sie auszubilden, und ich muss für das, was sie tun, geradestehen; sie wiederum sind dazu da, mir zu assistieren, mich zu unterstützen und mir, falls nötig, Mut zu machen. Zwar sagen sie einem normalerweise nur das, was man ihrer Meinung nach hören will, aber dennoch kann die Beziehung sehr eng sein – vielleicht ein bisschen wie die zwischen Soldaten in der Schlacht –, und genau das werde ich auch am meisten vermissen, wenn ich einmal im Ruhestand bin.

»Was ist los, Chef?«, fragte Mike.

»Ich wundere mich nur, wie manche Leute glauben können, bei der Neurochirurgie gehe es darum, ruhig und rational wissenschaftliche Erkenntnisse anzuwenden«, brummte ich hinter meinem Mundschutz. »So ein Blödsinn. Wegen dieser verdammten Operation von letzter Woche fühle ich mich genauso nervös wie vor dreißig Jahren und nicht, als würde ich demnächst in Ruhestand gehen.«

»Ich kann’s kaum erwarten«, erwiderte Mike – ein Standardspruch, den sich die mutigeren meiner Assistenzärzte inzwischen, kurz vor Ende meiner beruflichen Laufbahn, trauen zu sagen. Zurzeit befinden sich mehr Ärzte in der Facharztausbildung, als es Facharztstellen gibt, und alle meine Assistenzärzte machen sich Sorgen um ihre Zukunft. »Und wer weiß, wie sich die Situation entwickelt?«, fügte er hinzu. »Sie wird sich bestimmt wieder erholen.«

»Das bezweifle ich.«

»Aber sicher wissen Sie es nicht …«

»Ja, das stimmt wohl.«

Wir standen inzwischen hinter dem bewusstlosen, narkotisierten Patienten, der in sitzender Position gelagert worden war. Mike hatte bereits einen schmalen Streifen Haare an seinem Nacken wegrasiert.

»Messer«, sagte ich zu Agnes, der Operationsschwester. Ich nahm es von der Schale, die sie mir hinhielt, und schnitt damit rasch durch den Hinterkopf des Mannes. Mike saugte das Blut ab, und ich schob die Nackenmuskeln auseinander, sodass wir anfangen konnten, durch den Schädelknochen zu bohren.

»Echt cool«, bemerkte Mike.

Nachdem ich die Kopfhaut des Mannes inzidiert, die Muskeln mit Wundhaken retrahiert, eine Kraniektomie des Schädels vorgenommen sowie die Hirnhäute eröffnet und eine Hochnaht angelegt hatte – die Chirurgie hat ihre ganz eigene, klassische Sprache –, ließ ich das Operationsmikroskop hereinbringen und nahm auf dem Operationsstuhl Platz. Anders als bei anderen Hirntumoren muss man bei einer Operation der Zirbeldrüse nicht durch das Gehirn hindurchschneiden, um an den Tumor heranzukommen. Hat man die Hirnhäute – die unter dem Schädel liegenden Gewebsschichten, die das Gehirn und das Rückenmark umschließen – erst einmal eröffnet, blickt man einen schmalen Spalt entlang, der den oberen Teil des Gehirns (die beiden Gehirnhälften) vom unteren Teil (dem Hirnstamm und dem Kleinhirn) trennt. Es fühlt sich an, als würde man einen langen Tunnel entlangkriechen. In einer Tiefe von etwa siebeneinhalb Zentimeter – was sich aufgrund der Vergrößerung des Mikroskops hundertmal länger anfühlt – wird man den Tumor schließlich finden.

Ich blicke nun direkt in das Zentrum des Gehirns: ein verborgener und geheimnisvoller Bereich, in dem sämtliche wichtige Vitalfunktionen, die uns am Leben und bei Bewusstsein halten, zu finden sind. Über mir liegen, wie die großen Bögen eines Kathedralendachs, die tiefen Hirnvenen: die beiden inneren Hirnvenen, darüber die Rosenthal-Vene und schließlich auf der Mittellinie die tiefblaue, im Licht des Mikroskops schimmernde Galen-Vene – anatomische Strukturen, die Neurochirurgen in Ehrfurcht versetzen. All diese Venen leiten große Mengen an venösem Blut aus dem Gehirn ab. Werden sie verletzt, führt dies zum Tod des Patienten. Vor mir sehe ich den körnig-roten Tumor und darunter das Dach des Mittelhirns. Schädige ich diesen Bereich, kann dies zu einem permanenten Koma führen. Zu beiden Seiten liegen die hinteren Hirnarterien, die die für das Sehen zuständigen Hirnregionen versorgen. Weiter vorn, oberhalb des Tumors, befindet sich der dritte Hirnventrikel. Hat man den Tumor entfernt, erscheint er wie eine Tür, die sich zu einem weit entfernten Flur mit weißen Wänden hin öffnet.

Das subtil Poetische, das diesen chirurgischen Bezeichnungen anhaftet, in Kombination mit der herrlichen Optik eines modernen ausbalancierten Mikroskops, machen diesen Eingriff zu einer der wunderbarsten neurochirurgischen Operationen überhaupt – zumindest, wenn alles gut geht. In diesem Fall waren, als ich mich dem Tumor näherte, mehrere Blutgefäße im Weg, die durchtrennt werden mussten. Man muss sehr genau wissen, welche man opfern kann und welche nicht. Ich fühlte mich, als wären mir mein ganzes Wissen und meine gesamte Erfahrung abhandengekommen. Jedes Mal, wenn ich durch ein Blutgefäß schnitt, zitterte ich leicht vor Angst. Allerdings lernt man als Chirurg schon früh in seiner Laufbahn, ein intensives Angstgefühl als normalen Bestandteil der täglichen Arbeit zu begreifen und trotzdem weiterzumachen.

Bis ich an den Tumor herankam, waren bereits anderthalb Stunden verstrichen. Ich entfernte ein winziges Stück, das in das Pathologielabor geschickt wurde, und lehnte mich in meinem OP-Stuhl zurück.

»Tja, jetzt heißt es warten«, sagte ich seufzend zu Mike. Es ist schwer, mitten in einer Operation plötzlich aufhören zu müssen, und so saß ich nervös und angespannt auf meinem Stuhl, wünschte mir sehnlich, mit dem Eingriff fortfahren zu können, und hoffte, der Kollege aus der Pathologie würde den Tumor als gutartig und operabel einstufen, der Patient würde überleben und ich könnte seiner Frau nach der Operation sagen, dass alles gut werden würde.

Nach einer Dreiviertelstunde hielt ich die Zwangspause nicht länger aus, schob meinen Stuhl vom Operationstisch weg und sprang auf, um noch im sterilen OP-Mantel und mit OP-Handschuhen zum nächsten Telefon zu eilen. Ich rief das Pathologielabor an und bat darum, mit dem Pathologen sprechen zu dürfen. Nach kurzem Warten kam er ans Telefon.

»Der Gefrierschnitt!«, rief ich. »Was ist denn jetzt damit?«

»Ah, richtig«, erwiderte der Pathologe, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Ich war in einem anderen Teil des Gebäudes unterwegs.«

»Und was ist es jetzt?«

»Moment, ich sehe es mir gerade an. Ah ja, sieht aus wie ein unkompliziertes gutartiges Pineozytom …«

»Wunderbar! Vielen Dank!«

Ich verzieh ihm sofort und eilte zurück an den Operationstisch, wo schon alle auf mich warteten.

»Dann wollen wir mal wieder!«

Nachdem ich mir nochmals Arme und Hände gewaschen und desinfiziert hatte, nahm ich wieder auf meinemOP-Stuhl Platz, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und machte mich erneut daran, den Tumor zu entfernen. Jeder Hirntumor ist anders. Manche sind hart wie Stein, manche weich wie Wackelpudding. Manche sind ganz trocken, aus anderen hingegen quillt das Blut nur so heraus – gelegentlich so stark, dass Patienten während der Operation verbluten. Manche lassen sich herauslösen wie Erbsen aus der Schote, andere haben das Gehirn und die Blutgefäße des Gehirns bereits fest umwachsen. Die Bildgebung ist in diesem Fall wenig aufschlussreich; wie ein Tumor sich verhalten wird, weiß man erst, wenn man anfängt, ihn zu entfernen. Der Tumor dieses Mannes war, wie Chirurgen es ausdrücken würden, kooperativ und bot eine gute chirurgische Angriffsfläche – mit anderen Worten, er hatte sich nicht am Gehirn festgesetzt. Langsam löste ich ihn heraus und ließ ihn weg vom angrenzenden Gehirn in sich zusammenfallen. Nach drei Stunden sah es so aus, als hätte ich das meiste herausoperiert.

Da Pinealome so selten sind, kam irgendwann einer meiner Kollegen hinzu, um zu sehen, wie die Operation verlief. Vermutlich war er ein wenig neidisch.

Er blickte mir über die Schulter.

»Sieht doch ganz ordentlich aus.«

»Bis jetzt«, erwiderte ich.

»Es geht immer nur dann etwas schief, wenn man nicht damit rechnet«, gab er zurück, während er sich umdrehte, um in seinen eigenen OP-Saal zurückzukehren.

Ich operierte so lange weiter, bis ich den Tumor vollständig entfernt hatte, ohne dabei lebenswichtige angrenzende Gehirnstrukturen zu verletzen. Ich überließ es Mike, den Kopf wieder zu verschließen, und machte mich auf den Weg zur Station. Dort befanden sich zurzeit nur einige wenige Patienten, darunter die junge Mutter, die ich vor einer Woche operiert hatte und die nun gelähmt war. Ich sah sie allein in einem Nebenzimmer liegen. Wenn man sich einem Patienten nähert, dem man einen schweren Schaden zugefügt hat, fühlt es sich an, als würde ein Kraftfeld gegen einen drücken. Es hindert einen daran, die Tür zu öffnen, hinter der der Patient liegt und deren Türklinke sich anfühlt, als wäre sie aus Blei. Es schiebt einen weg vom Bett des Patienten und verhindert jegliches noch so zaghafte Lächeln. Man weiß nicht genau, wie man sich verhalten soll. Der Chirurg ist nun ein Bösewicht und Missetäter oder im besten Fall inkompetent, jedenfalls nicht mehr der allmächtige Held. Es ist wesentlich leichter, eilig an dem Patienten vorbeizugehen, ohne etwas zu sagen.

Ich betrat das Zimmer der Patientin und setzte mich neben sie auf einen Stuhl.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich kleinlaut.

Sie sah mich an, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, zeigte dann wortlos mit ihrem guten linken Arm auf den gelähmten rechten Arm, hob ihn an und ließ ihn leblos auf das Bett fallen.

»Ich habe es schon erlebt, dass so etwas nach einer Operation vorkommt, und die Patienten haben sich trotzdem wieder erholt, auch wenn es Monate gedauert hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie größtenteils wieder gesund werden«, sagte ich.

»Vor der Operation habe ich Ihnen vertraut«, erwiderte sie. »Warum sollte ich Ihnen jetzt vertrauen?«

Darauf wusste ich keine Antwort und starrte unbehaglich auf meine Füße.

»Aber ich glaube Ihnen«, sagte sie nach einer Weile, wenn auch vielleicht nur aus Mitleid.

Ich ging zurück zu den Operationssälen. Der Patient mit dem Zirbeldrüsentumor war vom OP-Tisch in ein Bett umgelagert worden und bereits aus der Narkose aufgewacht. Er lag mit dem Kopf auf einem Kissen und sah ganz verschlafen aus, während eine der Krankenschwestern ihm das Blut und den Knochenstaub von der Operation aus den Haaren wusch. Die Anästhesisten und OP-Kräfte lachten und unterhielten sich, während sie damit beschäftigt waren, die vielen Schläuche und Kabel umzuhängen, die an ihm befestigt waren, bevor er auf die Intensivstation verlegt werden konnte. Wäre er nicht so gut aufgewacht, hätten sie ihre Arbeit schweigend verrichtet. Die OP-Schwestern säuberten die Instrumente auf den Instrumententischen und stopften die benutzten Abdecktücher, Kabel und Schläuche in Abfallsäcke aus Plastik. Eine der Stationshilfskräfte wischte bereits das Blut vom Boden, um den Raum für den nächsten Eingriff vorzubereiten.

»Es geht ihm gut«, rief mir Mike quer durch den OP fröhlich zu.

Ich machte mich auf die Suche nach der Frau des Patienten. Sie wartete im Gang außerhalb der Intensivstation. Ihr Gesicht war starr vor Angst und Hoffnung, während sie verfolgte, wie ich auf sie zuging.

»Die Operation ist genau so verlaufen, wie wir es uns erhofft haben«, erklärte ich mit förmlicher, sachlicher Stimme, den abgeklärten, genialen Hirnchirurgen mimend. Doch dann konnte ich nicht anders: Ich ging auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schulter – und als sie ihre Hände auf meine legte, wir uns in die Augen blickten, ich ihre Tränen sah und einen Moment lang gegen meine eigenen Tränen ankämpfen musste, erlaubte ich mir einen kurzen, stillen Moment des Jubels.

»Ich glaube, es wird alles gut werden«, sagte ich.

2

ANEURYSMA

das, -s: eine krankhafte Aussackung der Gefäßwand eines Blutgefäßes, üblicherweise einer Schlagader

Die Neurochirurgie befasst sich mit der chirurgischen Behandlung von Patienten, die an Krankheiten und Verletzungen des Gehirns und der Wirbelsäule leiden. Dabei handelt es sich um relativ selten auftretende Probleme, weshalb es im Vergleich zu anderen medizinischen Fachrichtungen nur wenige Neurochirurgen und neurochirurgische Abteilungen gibt. Als Medizinstudent habe ich keinem einzigen neurochirurgischen Eingriff beigewohnt. In dem Krankenhaus, in dem ich meine klinische Ausbildung ableistete, durften wir den neurochirurgischen Operationssaal nicht betreten – das Fach galt als zu spezialisiert und geheimnisumwoben für unwissende Studenten. Einmal, als ich den zentralen Gang desOP-Trakts entlangging, erhaschte ich einen kurzen Blick durch das runde Fenster in der Tür zum neurochirurgischen Operationssaal und sah eine anästhesierte nackte Frau mit kahl rasiertem Kopf kerzengerade auf einem speziellenOP-Tisch sitzen. Hinter ihr stand ein älterer und extrem hochgewachsener Neurochirurg, dessen Gesicht hinter einem Mundschutz verborgen und an dessen Kopf eine komplizierte Stirnlampe befestigt war. Mit seinen riesigen Händen bepinselte er ihren kahlen Schädel mit einer dunkelbraunen antiseptischen Jodlösung. Es sah aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm.

Überraschenderweise fand ich mich drei Jahre später in genau diesem neurochirurgischen Operationssaal wieder und durfte dem jüngeren der beiden Chefärzte der Klinik dabei zusehen, wie er eine Frau operierte, die an einem rupturierten zerebralen Aneurysma litt. Zu jenem Zeitpunkt war ich zwar erst seit anderthalb Jahren als Arzt approbiert, aber bereits desillusioniert und ernüchtert beim Gedanken daran, eine medizinische Laufbahn einzuschlagen. Ich war damals als Assistenzarzt auf der Intensivstation meines Lehrkrankenhauses tätig. Eine der Anästhesistinnen, die auf der Intensivstation arbeitete, hatte den Eindruck, ich langweilte mich, und daher vorgeschlagen, ich solle in denOPmitkommen und ihr dabei helfen, eine Patientin für einen neurochirurgischen Eingriff vorzubereiten.

Die Operation war ganz anders als alle Eingriffe, die ich bis dahin gesehen hatte. Es gab weder lange, blutige Einschnitte noch wurde mit großen, glitschigen Körperteilen hantiert. Diese Operation wurde unter einem Operationsmikroskop durchgeführt, durch eine kleine Öffnung seitlich am Kopf der Frau, wobei lediglich feine mikroskopische Instrumente zum Einsatz kamen, mit denen die Blutgefäße im Gehirn der Patientin berührt wurden.

Aneurysmen sind kleine, ballonartige Ausbuchtungen der Hirnschlagadern, die lebensgefährliche Blutungen im Gehirn verursachen können und dies auch häufig tun. Ziel der Operation ist es, eine mikroskopisch kleine, mit einer Federung ausgestattete Metallklammer, auch Clip genannt, um den Hals des Aneurysmas zu legen – und zwar nur wenige Millimeter darüber –, um zu verhindern, dass das Aneurysma rupturiert. Dabei besteht die sehr ernste Gefahr, dass der Operateur, der mehrere Zentimeter tief mitten im Kopf des Patienten, in einem schmalen Bereich unterhalb des Gehirns arbeitet, das Aneurysma versehentlich zum Platzen bringt, während er es von dem umliegenden Gehirn und den Blutgefäßen freipräpariert und es mit einem Clip zu verschließen versucht. Aneurysmen haben dünne, fragile Wände, auf die durch das arterielle Blut ein hoher Druck ausgeübt wird. Manchmal ist die Wand so dünn, dass man die wogenden dunkelroten Blutwirbel innerhalb des Aneurysmas sehen kann, die unter der Vergrößerung des Operationsmikroskops riesig und unheimlich wirken. Wenn der Operateur das Aneurysma zum Platzen bringt, bevor er es abklemmen kann, wird der Patient normalerweise sterben oder zumindest einen schweren Schlaganfall erleiden – ein Schicksal, das weitaus schlimmer sein kann als der Tod.

Das OP-Personal arbeitete schweigend. Es wurde nicht wie sonst üblich geplappert oder gescherzt. Die operative Versorgung von Aneurysmen wird häufig mit dem Entschärfen von Bomben verglichen, auch wenn dafür eine andere Art von Mut erforderlich ist, da in diesem Fall nicht das Leben des Operateurs, sondern das des Patienten auf dem Spiel steht. Die Operation, bei der ich zusah, glich eher einer blutigen Hetzjagd als einer ruhigen und routinemäßig durchgeführten technischen Übung. Das Objekt, das gejagt wurde, war ein gefährliches Aneurysma; die Jagd bestand darin, dass der Chirurg sich vorsichtig unterhalb des Gehirns in Richtung des Aneurysmas vorpirschte, das tief im Inneren des Gehirns saß, wobei er darauf achtete, es nicht zu verletzen; und der Höhepunkt war erreicht, als der Chirurg das Aneurysma einfing, festhielt, es mit einem glitzernden Titanclip mit Federmechanismus vernichtete und auf diese Weise das Leben der Patientin rettete. Doch nicht nur der Jagdaspekt faszinierte mich, sondern auch die Tatsache, dass der Eingriff im Gehirn stattfand, der geheimnisvollen Trägersubstanz aller Gedanken und Gefühle, von allem, was im menschlichen Leben wichtig ist – ein Mysterium, so schien es mir, so groß wie die Sterne in der Nacht und das Universum um uns herum. Die Operation war elegant, heikel, riskant und voller Tiefsinn. Gab es etwas Schöneres, als Neurochirurg zu sein? Ich hatte das seltsame Gefühl, dass ich genau das schon immer hatte tun wollen, auch wenn es mir erst in diesem Moment klar geworden war. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Die Operation verlief gut. Das Aneurysma wurde erfolgreich abgeklemmt, ohne dass es dabei zu einem lebensgefährlichen Schlaganfall oder zu einer katastrophalen Blutung kam, und die Atmosphäre im OP war auf einmal fröhlich und entspannt. An diesem Abend kehrte ich nach Hause zurück und eröffnete meiner Frau, ich würde Hirnchirurg werden. Sie wirkte etwas überrascht, da ich zuvor so unschlüssig gewesen war, welche Fachrichtung ich einschlagen sollte, doch meine Entscheidung schien ihr einzuleuchten. Keiner von uns hätte zu jenem Zeitpunkt ahnen können, dass meine obsessive Leidenschaft für die Neurochirurgie, die langen Arbeitszeiten und die Selbstgefälligkeit, die meine Arbeit in mir auslöste, fünfundzwanzig Jahre später zum Ende unserer Ehe führen würden.

*

Dreißig Jahre und mehrere Hundert Aneurysmaoperationen später, zum zweiten Mal verheiratet und nur wenige Jahre vom Ruhestand entfernt, fuhr ich an einem Montagmorgen mit dem Fahrrad zur Arbeit, wo mich die Versorgung eines Aneurysmas erwartete. Eine Hitzewelle war gerade zu Ende gegangen, und schwere graue Regenwolken hingen über Südlondon. Nachts hatte es in Strömen gegossen. Es herrschte wenig Verkehr – fast die ganze Stadt schien über die Sommerferien verreist zu sein. Die Rinnsteine vor dem Eingang des Krankenhauses liefen über, sodass die vorbeifahrenden roten Busse Wasserkaskaden über den Gehweg spritzten und die wenigen Mitarbeiter, die zu Fuß zur Arbeit kamen, zur Seite springen mussten, wenn die Busse vorbeirasten.

Inzwischen behandle ich Aneurysmen nur noch selten mittels Clipping. All die Fähigkeiten, die ich mir langsam und mühevoll angeeignet habe, um Aneurysmen zu operieren, sind inzwischen durch den technischen Fortschritt überholt. Statt einer offenen Operation werden nun durch eine Nadel in der Leiste des Patienten ein Katheter und ein Draht in die Oberschenkelarterie eingeführt und dann weiter bis zu dem Aneurysma vorgeschoben. Dieses Verfahren, das nicht mehr von einem Neurochirurgen, sondern von einem Radiologen durchgeführt wird, bezeichnet man als Coiling. Das Aneurysma wird dabei nicht von außen abgeklemmt, sondern von innen ausgestopft, was für Patienten zweifellos eine deutlich angenehmere Erfahrung ist, als eine Operation über sich ergehen zu lassen. Auch wenn die Neurochirurgie nicht mehr das ist, was sie einmal war, ist der Verlust des Neurochirurgen für die Patienten ein Gewinn. Meine Arbeit dreht sich inzwischen hauptsächlich um Gehirntumoren – Tumoren mit Bezeichnungen wie Gliom, Meningeom oder Neurinom, die Nachsilbe »-om« stammt von dem altgriechischen Wort für Tumor, der erste Teil des Worts ist jeweils der Name der Zellart, aus der sich der Tumor mutmaßlich entwickelt hat. Gelegentlich kann ein Aneurysma nicht mittels Coiling behandelt werden, daher kommt es dann und wann vor, dass ich morgens zur Arbeit fahre und an mir jenen Zustand der kontrollierten Angst und Erregung feststelle, den ich aus der Vergangenheit so gut kenne.

Jeder Morgen beginnt bei uns mit einer Besprechung – eine Gepflogenheit, die ich vor zwanzig Jahren eingeführt habe. Darauf gebracht hat mich die TV-Serie Polizeirevier Hill Street, in der der charismatische Revierchef den Polizeibeamten jeden Morgen markige Predigten und Anweisungen mit auf den Weg gibt, bevor sie sich in ihre Polizeiautos setzen und mit heulenden Sirenen durch die Straßen der Stadt rasen. Damals war die Regierung gerade dazu übergegangen, die langen Arbeitszeiten der Nachwuchsärzte zu reduzieren. Es hieß, die Ärzte seien übermüdet und überarbeitet, wodurch das Leben der Patienten gefährdet sei. Allerdings wurden die Assistenzärzte nun, da sie nachts länger schlafen konnten, nicht sicherer und effizienter, sondern vielmehr unzufriedener und unzuverlässiger, was vermutlich damit zusammenhing, dass sie jetzt im Schichtdienst arbeiteten, dadurch teilweise an Verantwortung einbüßten und ihnen das Zusammengehörigkeitsgefühl abhandenkam, das mit den früher üblichen langen Arbeitszeiten einherging. Ich hoffte, durch die morgendlichen Zusammenkünfte, bei denen wir die Neuzugänge besprachen, die Assistenzärzte schulten und auch die Behandlung der Patienten planten, wenigstens etwas von dem verlorenen Korpsgeist wiederherzustellen.

Die Besprechungen sind äußerst beliebt. Sie sind nicht zu vergleichen mit den öden und humorlosen Meetings der Krankenhausverwaltung, in denen es darum geht, die neuesten Zielvorgaben im Auge zu behalten und aktuelle klinische Behandlungspfade zu diskutieren. Unsere neurochirurgische Frühbesprechung verläuft ganz anders: Jeden Morgen pünktlich um acht versammeln wir uns in dem dunklen und fensterlosen Röntgen-Vorführraum und schreien und diskutieren und lachen, während wir die Hirnscans unserer armen Patienten betrachten und auf ihre Kosten makabre Witze reißen. Dabei sitzen wir, ein kleines Grüppchen von etwa einem Dutzend Fachärzten und Assistenzärzten, in einem Halbkreis, was aussieht, als würden wir uns auf der Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise befinden.

Uns gegenüber befinden sich Unmengen von Computermonitoren und eine weiße Wand, auf die die Hirnscans projiziert werden, in Schwarz-weiß und um ein Vielfaches vergrößert. Sie stammen von den Patienten, die in den vergangenen vierundzwanzig Stunden als Notfälle eingeliefert wurden. Einige von ihnen haben möglicherweise schlimme Blutungen oder schwere Kopfverletzungen erlitten oder es wurde ein Hirntumor bei ihnen diagnostiziert. Und so sitzen wir gesund und munter und mit Spaß bei der Arbeit da und betrachten mit süffisanter Belustigung und erhabener Abgeklärtheit diese abstrakten Bilder menschlichen Leids und Unglücks, in der Hoffnung, auf interessante Fälle zu stoßen, die man operieren kann. Die Ärzte in Weiterbildung stellen die Fälle vor, sie liefern uns die sogenannte Anamnese – Geschichten von plötzlichen Katastrophen und schrecklichen Tragödien, die sich jeden Tag, Jahr ein, Jahr aus, wiederholen, als würde das menschliche Leid nie enden.

Mein Stammplatz ist hinten in der Ecke. Die Jungassistenten sitzen stets in der ersten Reihe und die in der Facharztausbildung schon etwas fortgeschritteneren Ärzte und Oberärzte eine Reihe dahinter. Ich erkundigte mich, welcher der Assistenzärzte Bereitschaftsdienst gehabt hatte.

»Ein Vertretungsarzt«, antwortete einer der angehenden Fachärzte, »er ist schon abgehauen.«

»Am Freitag hatten über einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden fünf Ärzte den Bereitschaftspiepser«, erklärte einer meiner Kollegen.

»Wie bitte? Fünf Ärzte? Und die haben dann alle vier Komma zwei Stunden eine Übergabe der Notfallpatienten gemacht, oder wie? Das ist ja das reinste Chaos …«

»Gibt es irgendeinen Fall, der vorgestellt werden muss?«, wollte ich wissen. Einer der Jungassistenten stand von seinem Stuhl auf und setzte sich an den Computer vorn im Raum.

»Eine zweiunddreißigjährige Frau«, erläuterte er knapp. »Sie wird heute operiert. Sie hatte Kopfschmerzen, deshalb wurde eine Computertomografie durchgeführt.« Während er sprach, erschien das zugehörige Schnittbild an der Wand.

Ich sah zu den anderen Jungassistenten hinüber, konnte mich aber peinlicherweise an keinen ihrer Namen erinnern. Vor fünfundzwanzig Jahren, als ich gerade Oberarzt geworden war, gab es auf der Station lediglich zwei Assistenzärzte, inzwischen sind es acht. Während ich früher jeden Einzelnen von ihnen gekannt und ein persönliches Interesse an seinem beruflichen Fortkommen entwickelt habe, kommen und gehen sie heutzutage genauso schnell wie die Patienten. Ich bat eine Assistenzärztin im ersten Ausbildungsjahr, das Bild an der Wand vor uns zu beschreiben, und entschuldigte mich gleichzeitig dafür, dass ich ihren Namen nicht wusste.

»Alzheimer!«, rief einer der vorlauteren Assistenzärzte von hinten durch den dunklen Raum.

Die Assistenzärztin erklärte, sie heiße Emily. »Es handelt sich um eine CT-Angiografie des Gehirns«, sagte sie dann.

»Ja, das sehen wir. Aber was ist darauf zu erkennen?«

Es entstand ein peinliches Schweigen.

Nach einer Weile erbarmte ich mich ihrer. Ich ging nach vorn an die Wand und zeigte auf das CT-Bild. Ich erklärte, dass die Arterien, die zum Gehirn führten, vergleichbar mit den Ästen eines Baumes seien und immer dünner würden, je weiter sie sich verästelten. Ich zeigte auf eine kleine Ausbuchtung – eine tödliche Beere, die an einer der Hirnarterien aufsaß, und sah Emily fragend an.

»Ist das ein Aneurysma?«, fragte sie.

»Ein Aneurysma der rechten mittleren Gehirnschlagader«, präzisierte ich. Ich erläuterte, dass die Kopfschmerzen der Frau im Grunde recht leicht gewesen seien und dass das Aneurysma inzidentell, das heißt nur durch Zufall entdeckt worden sei. Es hatte nichts mit ihren Kopfschmerzen zu tun.

»Wer macht als Nächstes Prüfung?«, fragte ich dann, drehte mich um und ließ meinen Blick über die Reihe der angehenden Fachärzte schweifen, die gemäß den gesetzlichen Regelungen in Großbritannien am Ende ihrer Weiterbildung alle eine staatliche Facharztprüfung im Fach Neurochirurgie ablegen müssen. Sozusagen als Vorbereitung darauf versuche ich, sie regelmäßig in die Mangel zu nehmen.

»Es handelt sich um ein nicht rupturiertes, sieben Millimeter großes Aneurysma«, meldete sich Fiona – die erfahrenste unter den Ärzten in Weiterbildung – zu Wort. »Somit liegt laut der kooperativen Aneurysmastudie das Risiko einer Ruptur bei null Komma null fünf Prozent pro Jahr.«

»Und falls es doch platzt?«

»Falls es doch platzt, sterben fünfzehn Prozent der Leute sofort, weitere dreißig Prozent innerhalb der folgenden Wochen, normalerweise an einer Nachblutung. Zudem darf man nicht vergessen, dass das kumulative Risiko einer Aneurysmaruptur vier Prozent pro Jahr beträgt.«

»Sehr gut, Sie kennen die Zahlen. Aber wie gehen wir jetzt weiter vor? Was sollen wir tun?«

»Die Kollegen von der Radiologie fragen, ob sie es coilen können.«

»Das habe ich bereits getan. Sie sagen Nein.«

Die interventionellen Radiologen – die Röntgenfachärzte, die inzwischen die Behandlung der meisten Aneurysmen übernommen haben – hatten mir erklärt, dass das Aneurysma die falsche Form habe und deshalb operativ per Clipping ausgeschaltet werden müsste, falls man es denn behandeln würde.

»Sie könnten operieren.«

»Ja, das könnte ich. Aber sollte ich das auch?«

»Das weiß ich nicht.«

Sie hatte recht mit ihrer Einschätzung. Ich wusste es ebenso wenig. Wenn wir nichts unternähmen, konnte es sein, dass die Patientin irgendwann eine Hirnblutung erleiden würde, die vermutlich einen schweren Schlaganfall bewirken würde oder sogar zum Tod führen könnte. Genauso gut konnte es sein, dass sie Jahre später an etwas ganz anderem sterben würde, ohne dass das Aneurysma je geplatzt wäre. Im Moment hatte sie keinerlei Beschwerden; die Kopfschmerzen, derentwegen die Bildgebung erfolgt war, standen in keinem Zusammenhang mit dem Aneurysma und waren auch bereits besser geworden. Das Aneurysma war rein zufällig entdeckt worden. Würde ich operieren, könnte ich einen Schlaganfall auslösen und sie dauerhaft schädigen – das Risiko dafür betrug etwa vier bis fünf Prozent. Damit war das akute Operationsrisiko in etwa gleich hoch wie das Lebenszeitrisiko, falls wir nichts unternähmen. Allerdings müsste sie in diesem Fall mit dem Wissen weiterleben, dass in ihrem Gehirn ein Aneurysma saß, das sie jederzeit umbringen konnte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.

»Es mit ihr besprechen?«

Vor einigen Wochen war die Frau zum ersten Mal in meiner ambulanten Sprechstunde gewesen. Ihr Hausarzt, der auch den Hirnscan angeordnet hatte, hatte sie an mich verwiesen, in seinem Überweisungsschein stand jedoch lediglich, dass sie zweiunddreißig Jahre alt war und an einem nicht ruptierten Aneurysma litt. Sie kam allein, schick gekleidet und mit hochgeschobener Sonnenbrille auf dem Kopf, die ihre langen dunklen Haare zurückhielt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben meinem Schreibtisch und stellte ihre Designertasche auf dem Boden des tristen Sprechzimmers ab. Ängstlich sah sie mich an.

Ich entschuldigte mich, dass ich sie hatte warten lassen, und zögerte dann kurz, bevor ich weitersprach. Ich wollte das Gespräch nicht mit Fragen nach ihrer familiären Situation oder über sie selbst beginnen – denn das würde sich anhören, als rechnete ich damit, dass sie bald sterben würde. Stattdessen erkundigte ich mich nach ihren Kopfschmerzen.

Sie erzählte mir davon und erwähnte auch, dass sie bereits besser geworden seien. Im Rückblick schienen sie tatsächlich harmlos gewesen zu sein. Wenn Kopfschmerzen eine ernste Ursache haben, wird das normalerweise an der Art der Schmerzen deutlich. Die Untersuchung, die ihr Hausarzt angeordnet hatte – vielleicht in der Hoffnung, dass ein unauffälliger Befund ihre Sorgen zerstreuen würde –, hatte ein völlig neues Problem aufgeworfen und dafür gesorgt, dass die Frau nun ganz verzweifelt vor Angst war. Sie hatte – was unvermeidlich war – im Internet recherchiert und dachte jetzt, sie hätte eine Zeitbombe im Kopf, die jederzeit explodieren könnte. Hinzu kam, dass sie mehrere Wochen auf einen Termin bei mir hatte warten müssen.

Auf dem Computer, der auf dem Schreibtisch vor uns stand, zeigte ich ihr das Angiogramm. Ich erklärte ihr, dass das Aneurysma sehr klein sei und vielleicht nie platzen würde. Lediglich die großen seien gefährlich und müssten behandelt werden. Ich informierte sie darüber, dass die Operationsrisiken vermutlich in etwa gleich hoch seien wie das Risiko, dass sie infolge einer Aneurysmaruptur einen Schlaganfall erleiden würde.

»Aber muss man denn operieren?«, wollte sie wissen.

Ich erklärte ihr, dass die einzig mögliche Behandlungsoption tatsächlich ein operativer Eingriff sei. Die Frage sei nun, ob man operieren solle oder nicht.

»Was sind denn die Risiken der Operation?« Als ich ihr erklärte, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sterben oder durch die Operation eine Behinderung davontragen würde, liege bei vier bis fünf Prozent, fing sie an zu weinen.

»Und wenn ich mich gegen die Operation entscheide?«, fragte sie unter Tränen.

»Nun ja, es ist gut möglich, dass Sie irgendwann an Altersschwäche sterben, ohne dass das Aneurysma je geplatzt wäre.«

»Sie gelten als einer der besten Neurochirurgen Großbritanniens«, erwiderte sie mit der naiven Zuversicht, mit der besorgte Patienten ihre Angst zu lindern versuchen.

»Das stimmt zwar nicht, aber ich bin natürlich sehr erfahren. Allerdings kann ich nicht mehr tun, als Ihnen zu versprechen, mein Bestes zu geben. Das soll nicht heißen, dass ich nicht die volle Verantwortung dafür übernehme, was mit Ihnen geschieht. Aber ich kann Ihnen die Entscheidung, ob Sie sich operieren lassen wollen oder nicht, nun mal nicht abnehmen. Glauben Sie mir, wenn ich wüsste, was in diesem Fall das Beste wäre, würde ich es Ihnen sagen.«

»Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?«

Ich zögerte, doch Tatsache war, dass ich mit einundsechzig Jahren mein Mindesthaltbarkeitsdatum bereits deutlich überschritten und den Großteil meines Lebens bereits gelebt hatte. Zudem brachte der Altersunterschied zwischen uns mit sich, dass ich weniger Lebensjahre vor mir hatte und damit auch ein viel geringeres Lebenszeitrisiko, dass das Aneurysma platzen würde. Das relative Operationsrisiko wäre in meinem Fall entsprechend höher.

»Ich würde das Aneurysma nicht behandeln lassen«, sagte ich, »auch wenn es mir schwerfallen würde, nicht daran zu denken.«

»Ich möchte die Operation machen lassen«, erwiderte sie nach einer kurzen Pause. »Ich will nicht mit diesem Ding in meinem Kopf leben«, erklärte sie, mit einer entschiedenen Geste auf ihren Kopf zeigend.

»Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Besprechen Sie das alles in Ruhe zu Hause mit Ihrer Familie.«

»Nein, ich habe mich bereits entschieden.«

Eine Weile lang sagte ich nichts. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir wirklich zugehört hatte, als ich versucht hatte, ihr die Risiken der Operation zu erklären. Doch ich bezweifelte, dass es sinnvoll wäre, nochmals alles mit ihr durchzukauen, daher beendeten wir das Gespräch und machten uns auf den langen Weg zum Büro meiner Sekretärin, um einen Termin für die OP zu vereinbaren.

An einem Sonntagabend drei Wochen später trottete ich ins Krankenhaus, um – wie üblich – bei ihr und den anderen Patienten vorbeizuschauen, die ich am nächsten Tag operieren würde. Nur widerwillig hatte ich mich auf den Weg gemacht, gereizt und nervös, nachdem bereits der Großteil des Tages von dem Gedanken überschattet worden war, der Frau gegenübertreten und mich ihrer Angst stellen zu müssen.

Jeden Sonntagabend setze ich mich auf mein Fahrrad und fahre voller düsterer Vorahnungen zum Krankenhaus. Auslöser dieses Gefühls ist, so vermute ich, lediglich der Wechsel von zu Hause zum Arbeitsplatz; wie schwierig die Eingriffe sind, die mich erwarten, scheint keine zu Rolle spielen. Diese abendliche Visite ist ein Ritual, das ich schon seit vielen Jahren pflege, ohne mich so recht daran gewöhnen zu können. Es gelingt mir einfach nicht, die Vorahnung und Sorge abzuschütteln, die mich jeden Sonntagnachmittag befällt, wenn ich durch die ruhigen Seitenstraßen Londons radle. Sobald ich dann aber die Patienten gesehen und mit ihnen gesprochen habe, sobald ich ihnen erklärt habe, was sie am nächsten Tag erwartet, verschwindet meine Furcht und ich kehre einigermaßen vergnügt und bereit für die am nächsten Tag anstehenden Operationen nach Hause zurück.

Ich fand die Patientin in einem der überfüllten Mehrbettzimmer auf der Frauenstation vor. Eigentlich hatte ich gehofft, auch ihren Mann anzutreffen, um mit ihnen gemeinsam sprechen zu können, doch wie sie mir erklärte, war er bereits nach Hause gegangen, um nach den Kindern zu sehen. Ein paar Minuten lang unterhielten wir uns über die Operation. Die Entscheidung war bereits gefallen, daher hielt ich es nicht für nötig, noch einmal die Risiken zu betonen, wie ich es während der ambulanten Sprechstunde getan hatte, wenngleich ich sie erwähnen musste, als ich ihr die komplizierte Einverständniserklärung zum Unterschreiben vorlegte.

»Ich hoffe, Sie werden morgen einigermaßen ausgeschlafen sein«, sagte ich dann. »Ich verspreche Ihnen, dass ich es sein werde, was in Anbetracht der Umstände wichtiger ist.« Sie lächelte über meinen Scherz – einen Scherz, den ich bei all meinen Patienten mache, wenn ich sie am Abend vor der Operation besuche. Sie wusste wahrscheinlich bereits, dass das Letzte, was man im Krankenhaus bekam, Frieden, Ruhe oder Erholung war, besonders, wenn einem am nächsten Morgen ein Eingriff am Gehirn bevorstand.

Danach suchte ich die beiden anderen Patienten auf, bei denen ein chirurgischer Eingriff geplant war, und ging noch einmal die Einzelheiten der Operation mit ihnen durch. Anschließend unterschrieben sie die Einverständniserklärung und betonten währenddessen beide noch einmal, wie sehr sie mir vertrauten. Angst mag ja ansteckend sein, Zuversicht jedoch ebenfalls, und während ich zum Parkplatz des Krankenhauses ging, spürte ich, wie das Vertrauen meiner Patienten mir Auftrieb gab. Ich fühlte mich wie der Kapitän eines Schiffs – alles war tipptopp und in bester Ordnung, klar Schiff zum Gefecht, bereit für den Operationsplan am nächsten Morgen. Mit diesen nautischen Bildern im Kopf verließ ich gut gelaunt das Krankenhaus und fuhr nach Hause.

Nach der morgendlichen Besprechung ging ich hinüber in den Anästhesieraum, wo die Patientin auf einem fahrbaren Krankenbett lag und darauf wartete, in Narkose versetzt zu werden.

»Guten Morgen«, sagte ich und versuchte, fröhlich zu klingen. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Ja«, antwortete sie ruhig. »Ich habe tief und fest geschlafen.«

»Es wird alles gut werden«, sagte ich. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Erneut fragte ich mich, ob sie sich tatsächlich darüber im Klaren war, welchen Risiken sie sich gleich aussetzen würde. Vielleicht war sie sehr tapfer, vielleicht auch einfach naiv, oder sie hatte nicht richtig verstanden, was ich ihr erklärt hatte.

Ich ging in den Umkleideraum und schlüpfte in die OP-Bekleidung. Einer meiner Kollegen war ebenfalls dabei, sich umzuziehen, und ich fragte ihn, was bei ihm heute auf dem Programm stand.

»Bloß ein paar Rücken-OPs«, sagte er. »Du hast das Aneurysma, stimmt’s?«

»Ja«, erwiderte ich und seufzte dann: »Das Problem bei nicht rupturierten Aneurysmen ist: Wenn die Patienten aufwachen und danach lebenslang behindert sind, kann man nur sich selbst die Schuld geben. Vor der OP ging es ihnen schließlich noch einwandfrei. Bei geplatzten Aneurysmen kann man sich immerhin damit trösten, dass sie oft schon von der ersten Blutung einen Schaden davongetragen haben.«

»Das stimmt. Aber dafür sind die nicht rupturierten meistens einfacher zu clippen.«

Als ich den Operationssaal betrat, war Jeff, der mir zugewiesene Assistent, bereits dabei, die Frau auf dem Operationstisch zu positionieren. Meine Abteilung ist insofern ungewöhnlich, als darin amerikanische Chirurgen arbeiten, die vom neurochirurgischen Ausbildungsprogramm in Seattle kommen und jeweils ein Jahr bei uns zur Weiterbildung verbringen. Jeff war einer dieser Chirurgen, und wie die meisten der amerikanischen Assistenten war er hervorragend. Als Nächstes klemmte er ihren Kopf an den OP-Tisch – dabei werden drei spitze »Dorne«, die mit einer Halterung verbunden sind, durch die Kopfhaut in den Schädel gedrückt, um den Kopf des Patienten zu fixieren.

Ich hatte ihr versprochen, dass wir so wenig Haare wie möglich wegrasieren würden, und so machte sich Jeff daran, das Haar über ihrer Stirn abzurasieren. Es gibt keinen Beleg dafür, dass die komplette Kopfrasur, die wir früher vorgenommen haben und die die Patienten wie Sträflinge aussehen ließ, sich in irgendeiner Weise auf die Infektionsraten ausgewirkt hatte – die angebliche Begründung, weshalb wir sie überhaupt durchführten. Ich vermute, dass der eigentliche – wenn auch unbewusste – Grund darin bestand, dass es den Chirurgen durch die Entmenschlichung der Patienten leichterfiel zu operieren.

Nachdem die minimale Kopfrasur erfolgt ist, gehen wir hinüber zu dem OP-Waschbecken, waschen uns die Hände und kehren dann angetan mit Handschuhen, Mundschutz und OP-Kittel zurück an den Operationstisch und beginnen mit der Operation. Die ersten zehn Minuten verbringen wir damit, den Kopf der Patientin mit Desinfektionsmittel zu bestreichen, sie mit sterilen Tüchern abzudecken, sodass ich lediglich den zu operierenden Bereich sehen kann, sowie damit, gemeinsam mit der OP-Pflegekraft die chirurgischen Geräte und Instrumente bereitzulegen.

»Messer«, sage ich zu Irwin, dem Operationspfleger. »Ich fange jetzt an«, rufe ich der Anästhesistin am anderen Ende des Tisches zu, und dann legen wir los.

Nachdem wir eine halbe Stunde lang mit druckluftbetriebenen Bohrern und Fräsen hantiert haben, ist der Schädel der Frau eröffnet und wir haben die Knochenvorsprünge auf der Innenseite ihres Schädels, die ins OP-Feld hineinragen und Zugriff und Sicht verschlechtern, mit einer Fräse entfernt.

»Lichter weg, und ich brauche Mikroskop und Operationsstuhl!«, rufe ich, sowohl vor Aufregung als auch aus der Notwendigkeit heraus, mir angesichts des Klapperns, Summens und Zischens der zahlreichen Apparate und Geräte im OP Gehör zu verschaffen.

Moderne binokulare Operationsmikroskope sind wundervolle Objekte, und wie jeder gute Handwerker, der seine Werkzeuge liebt, bin ich dem Mikroskop, das ich benutze, äußerst zugetan. Es kostet über hunderttausend Pfund und ist, obwohl es eine Vierteltonne wiegt, perfekt ausbalanciert. Ist es einmal positioniert, beugt es sich über den Kopf des Patienten wie ein neugieriger, nachdenklicher Kran. Der Binokularkopf, durch den hindurch ich in das Gehirn des Patienten blicke, schwebt so leicht wie eine Feder auf seinem ausbalancierten Schwebearm vor mir, ich muss die Steuerung bloß leicht antippen, um ihn zu bewegen. Es vergrößert nicht nur, sondern leuchtet auch aus – dank einer strahlenden Xenon-Lichtquelle, die so hell wie Sonnenlicht ist.

Den Rücken vor Anstrengung gekrümmt, schieben zwei der OP-Pflegekräfte langsam das schwere Mikroskop an den Tisch heran, während ich auf den OP-Stuhl klettere – ein speziell verstellbarer Stuhl mit Armlehnen –, der dahinter steht. Dieser Augenblick erfüllt mich nach wie vor mit Ehrfurcht. Die naive Begeisterung, mit der ich vor dreißig Jahren bei meiner ersten Aneurysmaoperation zugesehen habe, ist mir noch nicht abhandengekommen. Ich fühle mich wie ein mittelalterlicher Ritter, der auf sein Pferd steigt und losreitet, um einem mythischen Ungeheuer nachzujagen. Und der Blick durch das Mikroskop in das Gehirn des Patienten hat tatsächlich etwas Magisches – er ist klarer, schärfer und großartiger als die Welt da draußen, die Welt der eintönigen Krankenhausflure und medizinischen Ausschüsse, der Klinikverwaltung, des Papierkrams und der Vorschriften. Die unglaublich teure Optik des Mikroskops erzeugt einen Eindruck außergewöhnlicher Tiefe und Klarheit, der durch meine Nervosität noch intensiver und geheimnisvoller erscheint. Es ist ein äußerst privater Anblick, und obwohl mein OP-Team dabei ist und über einen an das Mikroskop angeschlossenen Monitor die Operation verfolgt, obwohl mein Assistent direkt neben mir steht und durch einen Seiteneinblick hindurchblickt, und trotz all der Poster in den Krankenhausfluren, die verkünden, wie wichtig Teamwork und Kommunikation seien, ist dies für mich nach wie vor ein Einzelkampf.

»Na gut, Jeff, dann wollen wir mal. Und ich brauche einen Hirnspatel«, fügte ich, zu Irwin gewandt, hinzu.

Ich wähle einen der Spatel – ein dünner, flexibler, flacher Stahlstab mit abgerundeter Kante wie bei einem Eisstiel – und platziere ihn unter dem Stirnlappen der Frau. Dann fange ich an, das Gehirn vorsichtig, Millimeter für Millimeter, weg von der Schädelbasis nach oben zu ziehen (der korrekte chirurgische Ausdruck dafür lautet Elevation), wodurch ein schmaler Zwischenraum entsteht, an dem entlang ich mich nun bis zu dem Aneurysma vorarbeiten kann. Nach so vielen Jahren des Operierens unter dem Mikroskop ist es eine Erweiterung meines eigenen Körpers geworden. Wenn ich es benutze, fühlt es sich an, als würde ich tatsächlich durch das Mikroskop hindurch in den Kopf des Patienten klettern, und die Spitzen meiner mikrochirurgischen Instrumente kommen mir vor wie meine eigenen Fingerspitzen.

Ich mache Jeff auf die Hauptschlagader aufmerksam und bitte Irwin um die Mikroschere. Vorsichtig durchschneide ich den hauchzarten Schleier der Arachnoidea, der Spinnengewebshaut um die große Arterie, die eine ganze Hirnhälfte am Leben hält.

»Das ist ja ein Wahnsinnsanblick!«, ruft Jeff aus. Und er hat recht, denn wir haben das Glück, an einem Aneurysma zu operieren, bevor es zu einer verhängnisvollen Ruptur gekommen ist, und so liegt die Anatomie des Gehirns sauber und vollkommen vor uns.

»Ich brauche noch einen Spatel«, sage ich.

Nun mit zwei Spateln ausgerüstet, beginne ich damit, Stirn- und Schläfenlappen auseinanderzudrücken. Diese werden von einer feinen Hirnhautschicht zusammengehalten, die nach dem griechischen Wort für Spinne Arachnoidea genannt wird, da sie aussieht, als wäre sie aus feinsten Spinnennetzfäden gewebt. Durch die Fäden der Spinnengewebshaut zirkuliert so klar wie flüssiges Kristall die Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (im Ärztejargon als CSF bekannt), die im Licht des Mikroskops wie Silber leuchtet und glänzt. Durch die Flüssigkeit hindurch kann ich die glatte gelbe Oberfläche des eigentlichen Gehirns erkennen. Sie ist mit feinen roten Blutgefäßen – den Arteriolen – überzogen, die wunderschöne Verästelungen bilden – wie die Nebenflüsse eines großen Flusses vom Weltall aus gesehen. Glitzernde dunkelviolette Venen verlaufen zwischen den beiden Hirnlappen nach unten in Richtung der mittleren Hirnschlagader und bis zu der Stelle, an der ich schließlich das Aneurysma finden werde.

»Wahnsinn«, entfährt es Jeff erneut.

»Früher hat man gesagt, CSF ist ›klar wie Gin‹, wenn sie kein Blut enthielt oder keine Infektion vorlag«, erkläre ich Jeff. »Aber vermutlich darf man heutzutage nur noch alkoholfreie Beschreibungen verwenden.«