Um Leben und Tod - Michael Robotham - E-Book
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Um Leben und Tod E-Book

Michael Robotham

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Beschreibung

Audie Palmer hat zehn Jahre im Gefängnis verbracht wegen eines bewaffneten Raubüberfalls, bei dem vier Menschen starben und sieben Millionen Dollar verschwanden. Jeder glaubt, dass Audie weiß, wo das Geld ist. Deshalb wurde er nicht nur von seinen Mitinsassen bedroht, sondern auch von den Wärtern schikaniert. Und dann bricht Audie aus – nur wenige Stunden vor seiner Entlassung. Spätestens jetzt sind alle hinter ihm her, dabei will Audie nur ein Leben retten, und es ist nicht sein eigenes ...

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Buch

Einen Tag bevor er seine zehnjährige Haftstrafe verbüßt hat, bricht Audie Palmer aus dem Three Rivers Prison aus. Nicht nur die Gefängniswärter und die Polizei bleiben ratlos zurück, auch Mitinsasse Moss Webster kann nicht verstehen, was Audie dazu getrieben hat. Er hatte nie etwas von einem geplanten Ausbruch erwähnt. Und es sah ihm auch nicht ähnlich, denn er war anders als andere Gefangene. Obwohl er ständig von Mitinsassen und Wärtern drangsaliert und geschlagen wurde, ertrug er es wie ein unumgängliches Schicksal, das er nicht abwenden konnte. Alle wollten wissen, was aus den sieben Millionen Dollar geworden ist, die bei dem Raubüberfall auf einen Geldtransporter verschwanden. Audie war in den Überfall verwickelt und der Einzige, der gefasst wurde. Sein Bruder Carl soll sich angeblich mit dem Geld abgesetzt haben. Aber war es wirklich so, wie alle denken? Warum gibt es in dem Fall noch immer so viele Ungereimtheiten? Wer war die Frau, die damals neben dem Geldtransporter im Auto verbrannte? Warum fehlen die Aufnahmen aus der Überwachungskamera im Transporter? Und wieso hat Special Agent Desiree Furness immer noch das Gefühl, dass Audie sich beim Verhör damals mehr als merkwürdig verhalten hat? Irgendwie hat sie ihm das Verbrechen nie ganz zugetraut. Und während Audie auf der Flucht von immer mehr Leuten verfolgt wird, kommt langsam die grausame Wahrheit ans Licht …

Weitere Informationen zu Michael Robothamsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

MICHAEL ROBOTHAM

Um Lebenund Tod

Thriller

Deutschvon Kristian Lutze

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel »Life or Death« bei Sphere,einem Imprint der Little, Brown Book Group, London.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung August 2015Copyright © der Originalausgabe by Bookwrite Pty 2014Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHRedaktion: Alexander GroßUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Mark Owen / Trevillion Images; FinePic®, MünchenNG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-15413-4V005www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Isabella

Das Leben kann erhaben und überwältigend sein –darin liegt seine ganze Tragik.Ohne Schönheit, Liebe und Gefahrwäre es beinahe leicht zu leben.

Albert Camus

Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage.

William Shakespeare

1

Audie Palmer hatte nie schwimmen gelernt. Als er ein kleiner Junge war, hatte sein Vater ihm beim Angeln auf dem Lake Conroe immer erklärt, dass es gefährlich sei, gut schwimmen zu können, weil es einen in trügerischer Sicherheit wiege. Die meisten Leute ertranken, weil sie sich in dem Glauben, sich selbst retten zu können, zum Ufer aufmachten, während die überlebten, die sich an irgendein Wrack klammerten, bis sie geborgen wurden.

»Und genau das machst du«, sagte sein Daddy, »du klebst wie eine Klette.«

»Was ist eine Klette?«, fragte Audie.

Sein Daddy überlegte. »Okay, also, du klammerst dich so fest, wie ein Einarmiger, der gekitzelt wird, sich an eine Klippe klammert.«

»Ich bin kitzelig.«

»Ich weiß.«

Und sein Daddy kitzelte ihn, bis das ganze Boot schwankte, alle Fische in der Nähe in dunkle Löcher geschwommen waren und Audie sich vor Lachen in die Hose machte.

Es wurde eine Art Dauerwitz zwischen ihnen beiden – nicht das Pinkeln, sondern die Beispiele fürs Festhalten.

»Du musst dich festhalten wie ein Tintenfisch an einem Pottwal«, sagte Audie. »Du musst dich festkrallen wie ein verängstigtes Kätzchen an einem Pullover«, erwiderte sein Daddy. »Wie ein Baby, das von Marilyn Monroe gestillt wird.«

Und so ging es weiter …

Irgendwann nach Mitternacht auf einer Schotterstraße erinnert sich Audie voller Wärme an diese Angelausflüge. Er vermisst seinen Daddy immer noch sehr. Der Mond steht voll und schwer am Himmel und malt einen silbernen Pfad über den See. Audie kann das andere Ufer nicht sehen, doch er weiß, dass es eins geben muss. Dort liegt seine Zukunft, auf dieser Seite lauert der Tod.

Autoscheinwerfer biegen um eine Kurve und kommen immer schneller auf ihn zu. Audie wirft sich in einen Graben und wendet das Gesicht zu Boden, damit es das Licht nicht reflektiert. Der Lkw rattert vorbei und wirbelt eine Staubwolke auf, die sich über Audie senkt, bis er den Sand zwischen den Zähnen spüren kann. Er rappelt sich auf Hände und Knie, kriecht durch ein Brombeergestrüpp und zieht die Plastikkanister hinter sich her. Er erwartet, jeden Moment einen gebrüllten Befehl oder das verräterische Klicken eines Projektils zu hören, das in die Kammer geschoben wird.

Als er am Ufer des Sees herauskommt, beschmiert er sein Gesicht und seine Arme mit Schlamm. Die Kanister klappern hohl an seinen Knien. Er hat acht davon mit Kordelstücken und Streifen von zerrissenen Bettlaken zusammengebunden. Die Kanister stammen aus der Gefängniswäscherei, Behälter für Waschmittel und andere Chemikalien, die er ausgekippt hat.

Er zieht die Schuhe aus, knotet sie zusammen und hängt sie sich um den Hals. Er hat sich an dem Stacheldraht die Hände geschnitten, doch sie bluten nicht allzu heftig. Er zerreißt sein Hemd, wickelt die Streifen als Verband um die Hände und zieht die Knoten mit den Zähnen zu.

Weitere Fahrzeuge kommen auf der Straße oben vorbei. Scheinwerfer. Stimmen. Bald werden sie die Hunde bringen. Audie watet ins tiefe Wasser, schlingt die Arme um die Kanister und presst sie an seine Brust. Er beginnt mit den Füßen zu treten, vorsichtig zunächst, um kein lautes Platschen zu erzeugen, bis er weiter vom Ufer entfernt ist.

Anhand der Sterne versucht er, sich zu orientieren, um geradeaus zu schwimmen. Das Choke Canyon Reservoir ist an dieser Stelle dreieinhalb Meilen breit. Ungefähr in der Mitte gibt es eine Insel – wenn er es bis dahin schafft.

Die Minuten und Stunden verstreichen, bis er den Lauf der Zeit nicht mehr spürt. Zweimal kentert sein behelfsmäßiges Floß, und er spürt, dass er zu ertrinken droht, doch jedes Mal umarmt er die Kanister fester und dreht sich wieder an die Oberfläche. Einige der Behälter lösen sich und treiben davon. Einer hat ein Leck. Die Verbände um seine Hände sind schon vor langer Zeit weggeschwemmt worden.

Seine Gedanken streifen von Erinnerung zu Erinnerung – Orte und Menschen, manche hat er gemocht, andere gefürchtet. Er denkt an seine Kindheit, Ball spielen mit seinem Bruder. An ein Mädchen namens Phoebe Carter, die ihm mit vierzehn erlaubt hatte, in der hintersten Reihe des Kinos seine Hand in ihr weißer als weißes Höschen zu schieben. Sie hatten Jurassic Park geguckt, und ein T-Rex hatte gerade einen blutsaugenden Anwalt gefressen, der versucht hatte, sich in einem Dixiklo zu verstecken.

Viel mehr von dem Film weiß Audie nicht mehr, doch Phoebe Carter lebt in seiner Erinnerung weiter. Ihr Vater war ein Boss in der Batterie-Recycling-Fabrik und kutschierte mit einem Mercedes durch West Dallas, während alle anderen Rostlauben fuhren, die nur noch vom Lack zusammengehalten wurden. Mr Carter gefiel es nicht, dass seine Tochter mit Leuten wie Audie Palmer herumhing, doch Phoebe ließ es sich nicht verbieten. Wo sie wohl jetzt ist? Verheiratet. Schwanger. Glücklich. Geschieden mit zwei Jobs. Gefärbte Haare. Fett geworden. Ein Fan von Oprah Winfrey.

Noch ein Erinnerungssplitter – seine Mutter, die am Spülbecken in der Küche steht und beim Abwaschen »Skip to MyLou« singt. Sie erfand immer eigene Strophen über Fliegen in der Buttermilch und Kätzchen in der Wolle. Wenn sein Vater aus der Werkstatt kam, wusch er in derselben Seifenlauge den Dreck und die Schmiere von seinen Händen.

Der mittlerweile verstorbene George Palmer war ein Bär von einem Mann mit Pranken von der Größe von Baseballhandschuhen und Sommersprossen um die Nase wie ein Schwarm Mücken, der an seinem Gesicht kleben geblieben war. Attraktiv. Todgeweiht. Die Männer in Audies Familie waren alle jung gestorben – meistens bei Grubenunglücken oder Ölbohrunfällen. Einstürzen. Methangasexplosionen. Industrieunfällen. Sein Großvater väterlicherseits war von einem vier Meter langen Stück Bohrrohr erschlagen worden, das durch eine Explosion siebzig Meter durch die Luft geschleudert worden war. Sein Onkel Thomas war zusammen mit achtzehn anderen Männern verschüttet worden. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Leichen zu bergen.

Bis fünfundfünfzig hatte Audies Vater dem Trend getrotzt. Er hatte bei seinem Job auf den Bohrinseln genug Geld gespart, um eine Tankstelle mit zwei Säulen, einer Werkstatt und einer hydraulischen Hebebühne zu kaufen. Er arbeitete zwanzig Jahre lang sechs Tage die Woche und brachte drei Kinder durch die Schule oder hätte es getan, wenn Carl es ernsthaft versucht hätte.

George hatte die tiefste und sanfteste Stimme von allen Männern, die Audie gekannt hatte – wie Kies, der in einem Fass voller Honig gewendet wurde –, aber sein Vater hatte immer weniger zu sagen, während die Jahre vergingen, seine Koteletten weiß und seine Organe vom Krebs zerfressen wurden. Audie war nicht bei seiner Beerdigung. Er war auch nicht da, als sein Vater krank war. Manchmal hat er sich gefragt, ob ein gebrochenes Herz die Ursache gewesen war und nicht lebenslanges Zigarettenrauchen.

Audie sinkt wieder unter Wasser. Es ist warm und bitter und strömt von allen Seiten auf ihn ein, in seinen Mund, seinen Hals und seine Ohren. Er will nach Luft schnappen, doch die Erschöpfung zieht ihn weiter nach unten. Seine Arme und Beine schmerzen, er wird es nicht bis ans andere Ufer schaffen. Hier geht es zu Ende. Er öffnet die Augen und sieht einen weiblichen Engel in einem weißen Gewand, das um den Körper zu flattern scheint, als würde er nicht schwimmen, sondern fliegen. Die Gestalt streckt die Arme aus, um ihn zu umarmen, unter dem durchsichtigen Stoff ist sie nackt. Er kann ihr Parfüm riechen, die Hitze ihres Körpers an seinem spüren, ihre glatte Haut. Er sieht ihre halb offenen Augen, die zu einem Kuss geöffneten Lippen.

Dann verpasst sie ihm eine schallende Ohrfeige und sagt: »Schwimm weiter, Mistkerl.«

Er strampelt sich an die Oberfläche, schnappt nach Luft und klammert sich an die Plastikkanister, bevor sie davontreiben können. Seine Brust bebt, Wasser spritzt aus Mund und Nase. Er hustet, blinzelt, konzentriert sich. Auf der Wasseroberfläche kann er das Spiegelbild von Sternen und die Spitzen toter Bäume sehen, die sich vor dem Mond abzeichnen. Also strampelt er weiter und stellt sich vor, die gespenstische Gestalt im Wasser unter ihm würde ihm folgen wie ein versunkener Mond.

Und irgendwann, Stunden später, berühren seine Füße Felsen, er schleppt sich an Land, bricht auf einem schmalen Sandstrand zusammen und stößt die Kanister von sich. Die Nachtluft ist von einem intensiven, wilden Duft erfüllt und verströmt noch die Hitze des Tages. Dunstschwaden hängen über dem Wasser wie Geister von ertrunkenen Fischern.

Er dreht sich auf den Rücken und betrachtet den Mond, der hinter Wolken verschwindet, die im endlosen Raum zu schweben scheinen, schließt die Augen und spürt das Gewicht des Engels, als er sich rittlings auf ihn hockt. Die weibliche Gestalt beugt sich vor, und er spürt ihren Atem an seiner Wange, ihre Lippen an seinem Ohr, als sie flüstert: »Vergiss dein Versprechen nicht.«

2

Die Sirenen heulen. Moss versucht, in seinen Traum zurückzukehren, doch schwere Stiefel poltern über die Metalltreppen, Fäuste packen die Eisengeländer, Staub zittert auf den Stufen. Es ist zu früh. Normalerweise ist der morgendliche Zählappell erst um acht. Und weshalb die Sirenen? Die Zellentür schwingt mit einem metallischen Scheppern auf.

Moss öffnet stöhnend die Augen. Er hat von seiner Frau Crystal geträumt, und seine Boxershorts beulen sich mit einer Morgenlatte. Ich hab es immer noch drauf, denkt er und weiß auch, was Crystal sagen würde: »Willst du damit was anfangen oder sie dir bloß den ganzen Tag angucken?«

Gefangene werden aus ihren Zellen beordert, kratzen sich am Bauchnabel, greifen sich in den Schritt, wischen sich den Schlaf aus den Augen. Einige treten bereitwillig heraus, andere müssen mit einem geschwungenen Knüppel ermuntert werden. Die Zellen umschließen auf drei Etagen einen rechteckigen Hof, über den Sicherheitsnetze gespannt sind, damit niemand von den Laufgängen geworfen wird oder versucht, sich umzubringen. An der Decke verläuft ein Gewirr von Rohren, die gurgeln und klopfen, als würde in ihnen ein finsteres Wesen hausen.

Moss rappelt sich auf und trottet aus der Zelle. Er steht mit dem Gesicht zur Wand auf dem Gang, grunzt und furzt. Er ist ein großer Mann, in der Mitte ein bisschen schwabbelig, aber mit festen Schultern dank der Liegestütze und Klimmzüge, die er ein Dutzend Mal am Tag macht. Er hat milchschokoladenfarbene Haut und Augen, die für sein Gesicht zu groß wirken und ihn jünger aussehen lassen als achtundvierzig.

Moss blickt nach links. Junebug lehnt mit dem Kopf an der Wand und versucht, im Stehen weiterzuschlafen. Seine Tattoos winden und schlängeln sich um seine Unterarme und auf seiner Brust. Er war früher Meth-abhängig, hat ein schmales Gesicht und einen Schnurrbart mit gezwirbelten Spitzen, die sich halb über seine Wangen strecken.

»Was ist los?«

Junebug öffnet die Augen. »Klingt wie ein Fluchtversuch.«

Moss blickt in die andere Richtung. Auf dem Gang sieht er Dutzende von Gefangenen vor ihren Zellen stehen. Mittlerweile sind alle draußen. Nicht alle. Moss beugt sich nach rechts und versucht, in die Nachbarzelle zu spähen. Die Wärter kommen.

»Hey, Audie, steh auf, Mann«, murmelt er.

Stille.

Auf der oberen Ebene werden Stimmen laut. Es gibt ein Gedränge, bis die Ninja Turtles die Treppe hochstürmen und Schläge verteilen. Moss tritt einen Schritt näher an Audies Zelle. »Wach auf, Mann.«

Nichts.

Er wendet sich an Junebug. Sie sehen sich an, zucken die Achseln.

Moss macht zwei Schritte nach rechts, obwohl er weiß, dass die Wärter ihn beobachten könnten, dreht den Kopf und blickt in die dunkle Zelle. Er kann das in die Wand gedübelte Regal erkennen. Das Waschbecken, die Toilette. Aber weder einen warmen noch einen kalten Körper.

Ein Stockwerk höher ruft ein Wärter: »Alle vollzählig angetreten.«

Von unten ertönt eine zweite Stimme. »Alle vollzählig angetreten.«

Die Helme und Knüppel kommen. Die Insassen drücken ihre Körper an die Wand.

»Hier oben!«, ruft ein Wärter.

Stiefel folgen.

Zwei der Uniformierten durchsuchen Audies Zelle, als könnte er sich irgendwo versteckt haben – unter einem Kissen oder hinter dem Deostift. Moss wendet den Kopf und sieht den stellvertretenden Gefängnisdirektor Grayson keuchend und schwitzend die oberste Stufe erklimmen. Er ist fett wie ein Schwein, seine Wampe hängt über seinen glänzenden Ledergürtel, und Speckrollen versuchen seinen Kragen zu glätten.

Grayson erreicht Audies Zelle. Er blickt hinein, atmet durch und macht ein schmatzendes Geräusch. Er hakt seinen Schlagstock vom Gürtel, schlägt damit in seine offene Hand und wendet sich Moss zu.

»Wo ist Palmer?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

Der Stock trifft Moss in den Kniekehlen, sodass er zu Boden sinkt wie ein gefällter Baum. Grayson steht über ihm.

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Moss zögert, versucht sich zu erinnern. Das Ende des Stocks wird direkt unterhalb der Rippen in seine rechte Seite gestoßen. Die Welt vor seinen Augen schwillt kurz an und wieder ab.

»Beim Essen«, stöhnt er.

»Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß nicht.«

Ein Schimmer scheint von Graysons Gesicht aufzusteigen. »Alles verriegeln. Ich will, dass er gefunden wird.«

»Was ist mit dem Frühstück?«, fragt einer der Beamten.

»Das kann warten.«

Moss wird in seine Zelle geschleift. Die Türen werden geschlossen. Die nächsten zwei Stunden liegt er auf seiner Pritsche und lauscht dem Beben und Ächzen des Gebäudes. Jetzt sind sie in der Werkstatt. Vorher waren sie in der Wäscherei.

Er hört, wie Junebug in der Nachbarzelle an die Wand klopft.

»Hey, Moss!«

»Was?«

»Glaubst du, er ist rausgekommen?«

Moss antwortet nicht.

»Warum sollte er in seiner letzten Nacht so was Bescheuertes machen?«

Moss schweigt weiter.

»Ich hab immer gesagt, der Kerl ist verrückt.«

Die Wärter kommen zurück. Junebug legt sich wieder auf seine Pritsche. Moss lauscht und spürt, wie sein Schließmuskel arbeitet. Vor seiner Zelle bleiben die Stiefel stehen.

»Aufstehen! An die Rückwand! Beine gespreizt!«

Drei Mann betreten die Zelle. Moss’ Hände werden mit Handschellen gefesselt und mit einer Kette um seine Taille gesichert, eine zweite Kette wird um seine Füße gelegt, sodass er nur schlurfen kann. Ihm bleibt keine Zeit, seine offene Hose zuzuknöpfen, sodass er sie mit einer Hand festhalten muss. Die Gefangenen in ihren Zellen johlen und brüllen ihm alles Mögliche zu. Moss geht durch die Sonnenstrahlen und sieht mehrere Polizeiwagen vor dem Haupttor stehen. In ihren glänzenden Karossen spiegelt sich glitzernd das Licht.

Im Verwaltungstrakt befiehlt man ihm, in einem Zimmer Platz zu nehmen. Die Wärter links und rechts von ihm sagen nichts. Er wendet den Kopf und betrachtet ihr Profil, hohe Schirmmütze, Sonnenbrille, braunes Hemd mit dunkelbraunen Schulterstücken. Aus einem Besprechungszimmer dringen Stimmen. Hin und wieder erhebt sich eine über die anderen. Schuld wird zugewiesen.

Essen kommt. Moss spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht und ihm das Wasser im Mund zusammenläuft. Eine weitere Stunde verstreicht. Leute gehen. Schließlich ist Moss an der Reihe. Mit kleinen Trippelschritten und gesenktem Blick schlurft er in das Zimmer. Direktor Sparkes trägt einen dunklen Anzug, der vom Sitzen schon zerknittert aussieht. Er ist ein großer Mann mit silberner Mähne und einer langen schmalen Nase, und er geht, als würde er ein Buch auf dem Kopf balancieren. Er macht den Beamten ein Zeichen zurückzutreten, und sie beziehen Posten links und rechts der Tür.

An einer Wand steht ein Tisch voll mit einem halb gegessenen Büfett, frittierte Krebse, Spareribs, Brathähnchen, Kartoffelbrei und Salat. Die Maiskolben haben schwarze Grillabdrücke und sind mit glänzender Butter überzogen. Der Direktor nimmt ein Rippchen, lutscht das Fleisch vom Knochen und wischt sich die Hände mit einem Erfrischungstuch ab.

»Wie heißen Sie, mein Sohn?«

»Moss Jeremiah Webster.«

»Was für ein Name ist das denn? Moss?«

»Na ja, auf der Geburtsurkunde wusste meine Mama wohl nicht, wie man Moses schreibt, Sir.«

Einer der Wärter lacht. Der Direktor kneift sich in die Nasenwurzel.

»Haben Sie Hunger, Mr Webster? Nehmen Sie sich einen Teller.«

Moss blickt mit knurrendem Magen auf das Festmahl. »Werden Sie mich hinrichten, Sir?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»So ein Essen könnte gut eine Henkersmahlzeit sein.«

Der Direktor lacht. »Niemand wird Sie hinrichten … nicht an einem Freitag.«

Das findet Moss nicht komisch. Er hat sich nicht gerührt.

»Nehmen Sie sich einen Teller. Packen Sie ihn ordentlich voll.«

Es ist womöglich vergiftet. Der Direktor isst es auch. Vielleicht weiß er, welche Stücke er nehmen muss. Verdammt! Das ist mir egal!

Moss schlurft ans Büfett und belädt einen Plastikteller mit Spareribs, Krebsscheren und Kartoffelbrei und packt noch einen Maiskolben obendrauf. Er isst über den Teller gebeugt mit beiden Händen, Flüssigkeit verschmiert seine Wangen und tropft von seinem Kinn. Auch Direktor Sparkes nimmt noch ein Rippchen und setzt sich ihm mit vage angewiderter Miene gegenüber.

»Erpressung, Betrug, Drogenhandel – man hat sie mit Marihuana im Wert von zwei Millionen Dollar erwischt.«

»Es war bloß Gras.«

»Dann haben Sie im Gefängnis einen Mann erschlagen. Hatte er es verdient?«

»Das hab ich damals gedacht.«

»Und heute?«

»Würde ich vieles anders machen.«

»Wie lange sind Sie schon drin?«

»Fünfzehn Jahre.«

Moss hat zu schnell gegessen. Ein Stück Fleisch sitzt ihm quer im Hals. Als er sich auf die Brust schlägt, klappern seine Handschellen. Der Direktor bietet ihm etwas zu trinken an. Aus Angst, man könnte sie ihm wieder abnehmen, trinkt Moss die ganze Dose leer, wischt sich den Mund ab, rülpst und isst weiter.

Direktor Sparkes hat den Knochen abgelutscht. Er beugt sich vor und pflanzt ihn in Moss’ Kartoffelbrei, wo er aufrecht stehen bleibt, wie ein Flaggenmast.

»Fangen wir ganz vorne an. Sie sind mit Audie Palmer befreundet, ist das zutreffend?«

»Ich kenne ihn.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend beim Essen.«

»Sie haben neben ihm gesessen.«

»Ja, Sir.«

»Worüber hat er geredet?«

»Das Übliche.«

Der Direktor wartet, sein Blick bleibt ausdruckslos. Moss spürt, wie die Butter von dem gegrillten Mais sich wie ein Film über seine Zunge legt.

»Kakerlaken.«

»Was?«

»Wir haben darüber geredet, wie man Kakerlaken loswird. Audie hat mir erklärt, ich soll AmerFresh-Zahnpasta in die Mauerritzen schmieren. Kakerlaken mögen keine Zahnpasta. Fragen Sie mich nicht, warum, aber so ist es.«

»Kakerlaken.«

Moss spricht mit dem Mund voller Kartoffelbrei. »Ich hab mal eine Geschichte von einer Frau gehört, der eine Kakerlake ins Ohr gekrabbelt ist, während sie geschlafen hat. Die hatte Babys, die sich bis ins Gehirn der Frau gegraben haben. Eines Tages hat man sie tot aufgefunden, und aus ihrer Nase krochen Kakerlaken. Wir führen einen Krieg gegen sie. Es gibt Idioten, die einem sagen, man soll Rasierschaum nehmen, doch mit dem Dreck kommt man nicht durch die Nacht. AmerFresh ist am besten.«

Direktor Sparkes starrt ihn an. »In meinem Gefängnis gibt es kein Schädlingsproblem.«

»Ich weiß nicht, ob die Kakerlaken das schon mitgekriegt haben, Sir.«

»Wir lassen zwei Mal im Jahr alles ausräuchern.«

Moss kennt die Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen. Die Wärter erscheinen und befehlen den Gefangenen, sich auf ihre Pritschen zu legen, während in ihren Zellen eine toxisch riechende Chemikalie versprüht wird, von der allen übel wird, die jedoch keinen Effekt auf die Kakerlaken hat.

»Was ist nach dem Essen passiert?«, fragt Sparkes.

»Ich bin zurück in meine Zelle gegangen.«

»Haben Sie Palmer gesehen?«

»Er hat gelesen.«

»Gelesen?«

»Ein Buch«, sagt Moss für den Fall, dass weitere Erklärungen erforderlich sind.

»Was für ein Buch?«

»Ein dickes ohne Bilder.«

Sparkes kann an der Situation nichts komisch finden. »Wussten Sie, dass Palmer heute entlassen werden sollte?«

»Ja, Sir.«

»Warum bricht jemand in der Nacht vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis aus?«

Moss wischt sich das Fett von den Lippen. »Ich hab keinen Schimmer.«

»Irgendeine Ahnung müssen Sie doch haben. Der Mann hat zehn Jahre gesessen. Einen Tag länger, und er wäre ein freier Mann, doch stattdessen bricht er aus. Damit ist er ein entflohener Häftling. Man wird ihn vor Gericht stellen und verurteilen. Und beim nächsten Mal könnte er leicht lebenslänglich kassieren. Also, warum macht er das?«

Moss weiß nicht, was er sagen soll.

»Haben Sie mich gehört, mein Sohn?«

»Ja, Sir.«

»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie Audie Palmer nicht nahestanden. Das brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen. Das hier ist nicht mein erstes Rodeo, also behandeln Sie mich nicht, als wäre ich noch grün hinter den Ohren.«

»Viele Typen kannten ihn.«

»Sie haben – wie lange? – sieben Jahre die Zelle neben Palmer bewohnt. Er muss Ihnen doch irgendwas gesagt haben.«

Moss stößt die Magensäure auf. Er hat zu schnell gegessen.

Der Direktor redet immer noch. »Meine Aufgabe ist es, Gefangene inhaftiert zu halten, bis die Bundesregierung ihre Entlassung genehmigt. Mr Palmers Entlassung war für heute vorgesehen, doch er hat beschlossen, früher zu gehen. Wieso?«

Moss hebt und senkt seine Schultern.

»Wagen Sie eine Hypothese.«

»Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet, Sir.«

»Sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Sie wollen wissen, was ich davon halte? Ich würde sagen, um so was zu machen, muss Audie Palmer dümmer sein als Scheiße auf einem Keks.« Moss verstummt und betrachtet die ungegessenen Reste auf seinem Teller.

Direktor Sparkes zieht ein Foto aus der Jackentasche und legt es auf den Tisch. Es ist ein Bild von Audie Palmer mit seinem Hundeblick und dem fransigen Pony, gesund wie ein Glas Milch.

»Was wissen Sie über den Überfall auf den gepanzerten Geldtransporter in Dreyfus County?«

»Nur, was ich gelesen habe.«

»Audie Palmer muss ihn doch erwähnt haben.«

»Nein, Sir.«

»Und Sie haben nicht gefragt?«

»Klar, hab ich gefragt. Jeder hat gefragt. Jeder Wärter. Jeder Wichser. Jeder Besucher. Verwandte. Freunde. Jeder Mistkerl in diesem Laden wollte wissen, was mit dem Geld passiert ist.«

Moss musste nicht lügen. Es gab niemanden, der die Geschichte von dem Raubüberfall nicht kannte – nicht nur wegen des fehlenden Geldes, sondern auch, weil an dem Tag vier Menschen gestorben waren. Ein Täter konnte entkommen. Einer wurde gefasst.

»Und was hat Audie gesagt?«

»Kein verdammtes Wort.«

Direktor Sparkes bläst die Backen auf wie einen Ballon und atmet langsam wieder aus. »Haben Sie dem Jungen deshalb zur Flucht verholfen? Hat er Ihnen was von dem Geld versprochen?«

»Ich hab niemandem zur Flucht geholfen.«

»Willst du mich verarschen, mein Sohn?«

»Nein, Sir.«

»Ich soll also glauben, dass Ihr bester Freund aus dem Gefängnis geflohen ist, ohne Ihnen ein Wort zu sagen?«

Moss nickt, seine Blicke suchen den leeren Raum über dem Kopf des Direktors.

»Hatte Audie Palmer eine Freundin?«

»Er hat manchmal im Schlaf über ein Mädchen geredet, aber ich glaube, sie war schon lange weg.«

»Verwandte?«

»Er hat eine Mutter und eine Schwester.«

»Wir haben alle eine Mutter.«

»Sie schreibt ihm jede Woche.«

»Sonst noch jemand?«

Moss zuckt mit den Schultern. Er gibt nichts preis, was der Direktor nicht auch in Audies Akte nachlesen könnte. Beide Männer wissen, dass bei dieser Befragung nicht viel herauskommen wird.

Sparkes erhebt sich und beginnt, auf und ab zu gehen, seine Schuhe quietschen auf dem Linoleum. Moss muss den Kopf von links nach rechts drehen, um ihn im Blick zu behalten.

»Ich möchte, dass Sie mir gut zuhören, Mr Webster. Nach Ihrer Ankunft hier hatten Sie Probleme mit der Disziplin, aber das waren nur Marotten, die Sie inzwischen ausgebügelt haben. Sie haben sich Privilegien erworben, hart erarbeitet. Deswegen weiß ich, dass Sie ein schlechtes Gewissen haben, und deshalb werden Sie mir erzählen, wo er verdammt noch mal hin ist.«

Moss starrt ihn mit leerem Blick an.

Der Direktor bleibt stehen und stemmt beide Hände auf den Tisch. »Erklären Sie mir mal was, Mr Webster. Dieser Code des Schweigens, der an einem Ort wie diesem unter Leuten wie Ihnen herrscht, was glauben Sie damit zu erreichen? Sie leben wie die Tiere, Sie denken wie die Tiere, Sie benehmen sich wie die Tiere. Gerissen. Gewalttätig. Sie bilden Banden. Welchen Sinn hat dieser Code?«

»Es ist das Zweite, was uns verbindet«, sagt Moss und ermahnt sich noch im selben Moment, den Mund zu halten.

»Und was ist das Erste?«

»Leute wie Sie zu hassen.«

Der Direktor kippt den Tisch um, sodass Teller und Speisen klappernd zu Boden fallen. Sauce und Kartoffelbrei fließen an der Wand herunter. Die Wärter haben auf ihr Zeichen gewartet. Moss wird hochgerissen und durch die Tür gestoßen. Er muss hastig trippeln, um nicht zu stolpern. Halb tragen sie ihn zwei Treppenabsätze hinunter und durch ein halbes Dutzend Türen, die von der anderen Seite aufgeschlossen werden. Er kehrt nicht in seine Zelle zurück. Sie bringen ihn in die Spezialverwahrung. Einzelhaft. Das Loch.

Ein weiterer Schlüssel wird ins Schloss geschoben. Die Tür quietscht kaum. Zwei neue Wärter übernehmen ihn. Man befiehlt Moss, sich auszuziehen. Schuhe, Hose, Hemd.

»Warum bist du hier drinnen, Arschloch?«

Moss antwortet nicht.

»Er hat bei einem Ausbruch geholfen«, sagt der andere Wärter.

»Das habe ich nicht getan, Sir.«

Der erste Wärter zeigt auf Moss’ Ehering. »Abnehmen.«

Moss sieht ihn blinzelnd an. »Die Bestimmungen sagen, dass ich ihn anbehalten darf.«

»Abziehen, oder ich brech dir die Finger.«

»Das ist alles, was ich habe.« Moss ballt die Faust.

Der Wärter schlägt ihn zwei Mal mit dem Schlagstock. Hilfe wird gerufen. Sie drücken Moss zu Boden und prügeln weiter auf ihn ein; die Schläge klingen eigenartig gedämpft, und auf seinem feuchten, langsam anschwellenden Gesicht liegt ein Ausdruck von Verwunderung. Er sackt zusammen, stöhnt und spuckt Blut, als ein Stiefel sein Gesicht auf den Boden drückt, wo er Schichten von Politur und Schweiß riechen kann. Ihm dreht sich der Magen um, doch die Rippchen mit Kartoffelbrei bleiben drinnen.

Nachdem es vorbei ist, werfen sie ihn in einen kleinen Käfig aus geflochtenem Stahlnetz. Reglos auf dem Betonboden liegend, macht Moss ein gurgelndes Geräusch, wischt sich Blut von der Nase und reibt es zwischen seinen Fingerkuppen, wo es sich anfühlt wie Öl. Er fragt sich, welche Lektion er lernen soll.

Er denkt an Audie Palmer und die vermissten sieben Millionen. Er hofft, dass Audie sich das Geld geholt hat. Er hofft, dass er für den Rest seines Lebens Piña Coladas in Cancún oder Cocktails in Monte Carlo schlürft. Zeig’s den Schweinen! Die beste Rache ist gut zu leben.

3

Kurz vor der Dämmerung wirken die Sterne heller, und Audie kann einzelne Sternbilder ausmachen. Einige kennt er mit Namen: Orion, Kassiopeia und Ursa Major. Andere sind so weit entfernt, dass sie das Licht von vor Millionen Jahren bringen, als ob die Vergangenheit durch Raum und Zeit greifen würde, um die Gegenwart zu beleuchten.

Es gibt Menschen, die glauben, dass ihr Los in den Sternen geschrieben steht, und wenn das stimmt, muss Audie unter einem schlechten Stern geboren sein. Er selbst glaubt nicht an Schicksal, Bestimmung oder Karma. Genauso wenig wie er daran glaubt, dass es für alles einen Grund gibt oder dass das Glück eines Menschen sich im Laufe eines Lebens verbraucht, wenn es hier und da auf einen niederfällt wie aus einer vorüberziehenden Regenwolke. Tief im Herzen hat er stets gewusst, dass der Tod ihn jeden Moment finden konnte und dass es im Leben immer nur darum ging, den nächsten Schritt richtig zu setzen.

Er knotet den Wäschebeutel auf und nimmt die Kleidung zum Wechseln heraus: Jeans und ein langärmeliges Hemd, die er einem der Wärter gestohlen hat, der einen Sportbeutel in seinem nicht abgeschlossenen Wagen hatte liegen lassen. Er streift die Socken über und schnürt die nassen Schuhe.

Nachdem er seine Gefängniskluft vergraben hat, wartet er, bis am östlichen Horizont ein orangefarbener Streifen auftaucht, und marschiert los. Ein Bach plätschert über ein Kiesbett und mündet in das Reservoir. Am Boden hält sich Morgendunst, und im flachen Wasser stehen zwei Reiher wie Zierfiguren in einem Vorgarten. Die Schlammbänke sind von kleinen Löchern übersät, die die nistenden Schwalben hinterlassen haben, die, fast ohne die Wasseroberfläche zu berühren, hin und her huschen. Audie geht an dem Bach entlang bis zu einem staubigen Feldweg und einer einspurigen Brücke. Dann folgt er dem Weg, lauscht auf Fahrzeuge und hält nach Staubwolken Ausschau.

Über einer Reihe verkümmerter Bäume geht rot schimmernd die Sonne auf. Vier Stunden später ist Wasser nur noch eine ferne Erinnerung, und die glühende Kugel brennt wie ein Schweißbrenner in seinem Nacken. Staub bedeckt jede Falte und Furche in seiner Haut, und er ist allein auf der Straße.

Nach Mittag erklimmt er eine Anhöhe, um sich zu orientieren. Es sieht aus, als würde er eine tote Welt durchqueren, die irgendeine uralte Zivilisation hinterlassen hat. Die Bäume drängen sich an dem alten Wasserlauf wie eine Herde Tiere, und die Hitze schimmert über der Ebene, die von Motorradspuren und wilden Fußwegen durchzogen ist. Seine Khakihose hängt tief im Schritt, große Schweißflecken zeichnen seine Achselhöhlen. Zwei Mal muss er sich vor vorbeifahrenden Lastern verstecken, über Schiefer und lose Steine in Böschungen rutschen oder sich hinter Gestrüpp oder einem Felsen verbergen. Schließlich macht er auf einem flachen Felsstück eine Pause und erinnert sich daran, wie sein Daddy ihn durch den Garten gejagt hat, nachdem er ihn dabei erwischt hatte, wie er das Geld für den Milchmann von den Stufen vor den Häusern der Nachbarn gestohlen hatte.

»Wer hat dich dazu angestiftet?«, wollte er wissen und verdrehte Audie das Ohr.

»Niemand.«

»Sag mir die Wahrheit, sonst bestraf ich dich noch härter.«

Audie schwieg. Er nahm seine Strafe hin wie ein Mann, rieb über die Schwielen auf seinen Schenkeln und sah die Enttäuschung in den Augen seines Daddys. Sein älterer Bruder Carl beobachtete sie aus dem Haus.

»Das hast du gut gemacht«, sagte er hinterher, »aber du hättest das Geld verstecken sollen.«

Audie klettert die Böschung empor und geht weiter die Straße hinunter. Am Nachmittag kreuzt er eine vierspurige asphaltierte Straße und folgt ihr in einigem Abstand. Jedes Mal, wenn Autos vorbeikommen, versteckt er sich. Nach einer weiteren Meile stößt er auf eine Schotterstraße, die einen Bogen nach Norden beschreibt. Am Ende der von Schlaglöchern übersäten Straße kann er Pumpen und Tanks für die Bohrspülung erkennen. Vor dem Himmel zeichnen sich Umrisse eines Turms ab, auf dessen Spitze eine Flamme brennt, die die Luft schimmern lässt. Nachts muss er meilenweit zu sehen sein, über einer Ministadt aus Lichtern thronend wie über einer neuen Kolonie auf einem entfernten Planeten.

Weil Audie den Bohrturm betrachtet, bemerkt er den alten Mann nicht, der ihn beobachtet. Untersetzt und braun, in einem Overall und mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Er steht neben einem weiß gestrichenen Schlagbaum, der an einem Ende mit einem Gewicht beschwert ist. Daneben gibt es einen Unterstand mit drei Wänden und einem Dach. Unter einem einsamen Baum parkt ein Dodge-Pick-up.

Der alte Mann hat ein pockennarbiges Gesicht, eine flache Stirn und weit auseinanderstehende Augen. In seiner Armbeuge liegt eine Schrotflinte.

Audie versucht zu lächeln. Die verkrustete Staubschicht auf seinem Gesicht bröckelt.

»Howdy!«

Der alte Mann nickt unsicher.

»Hab mich gefragt, ob Sie vielleicht ein bisschen Wasser für mich übrig haben«, sagt Audie. »Ich bin völlig ausgedörrt.«

Der Mann legt die Schrotflinte auf seine Schulter, nimmt den Deckel von einem Wasserfass neben dem Unterstand und zeigt auf eine Metallkelle, die an einem Nagel hängt. Audie tunkt sie in das Wasser und inhaliert den ersten Schluck förmlich, sodass das Wasser durch die Nase wieder herausläuft. Er hustet und trinkt einen weiteren Schluck. Das Wasser ist kühler, als er gedacht hätte.

Der alte Mann zieht eine zerknitterte Zigarettenpackung aus der Tasche seines Overalls, zündet sich eine an und atmet den Rauch tief ein, als wollte er jeden Rest frischer Luft in seiner Lunge ersetzen.

»Was machen Sie hier draußen?«

»Hab mich mit meiner Freundin gestritten. Die dumme Kuh ist weggefahren und hat mich hier sitzen lassen. Ich dachte, sie würde vielleicht zurückkommen – aber nichts da.«

»Vielleicht sollten Sie sie nicht beschimpfen, wenn Sie wollen, dass sie zurückkommt.«

»Vielleicht«, sagt Audie und gießt sich eine Kelle Wasser über den Kopf.

»Wo hat sie Sie denn sitzen lassen?«

»Wir haben gezeltet.«

»Am Ufer des Reservoirs.«

»Ja.«

»Das ist fünfzehn Meilen entfernt.«

»Und ich bin jede Einzelne davon gelaufen.«

Ein Öllaster rattert über die Schotterstraße. Der alte Mann stützt sich auf das beschwerte Ende des Balkens, und der Schlagbaum hebt sich. Er winkt dem Fahrer zu, und der Lkw fährt weiter. Eine Staubwolke senkt sich herab.

»Was machen Sie hier?«, fragt Audie.

»Ich bewache die Anlage.«

»Was denn genau?«

»Es ist eine Ölbohrung. Jede Menge teures Gerät.«

Audie streckt die Hand aus und stellt sich mit seinem zweiten Vornamen vor. Spencer, weil die Polizei den vielleicht nicht veröffentlicht hat. Mehr will der alte Mann nicht wissen. Sie geben sich die Hand.

»Ich bin Ernesto Rodriguez. Die Leute nennen mich Ernie, das klingt nicht so nach Bohnenfresser.« Er lacht. Ein weiterer Lkw naht.

»Meinen Sie, einer der Fahrer würde mich vielleicht mitnehmen?«, fragt Audie.

»Wohin wollen Sie denn?«

»Irgendwohin, wo ich den Bus oder den Zug nehmen kann.«

»Was ist mit dem Mädchen?«

»Ich glaube nicht, dass sie zurückkommt.«

»Wo wohnen Sie?«

»Ich bin in Dallas aufgewachsen, war aber zuletzt eine Weile im Westen.«

»Was haben Sie da gemacht?«

»Alles Mögliche.«

»Sie wollen also irgendwohin und machen alles Mögliche.«

»Ja, so ungefähr.«

Ernie blickt über die von Schluchten und Felsen vernarbte Ebene. Neben dem Schlagbaum beginnt ein Zaun, der bis zum Rand der Erde zu reichen scheint.

»Bis Freer kann ich Sie mitnehmen«, sagt er, »aber ich mache erst in gut einer Stunde Feierabend.«

»Sehr nett.«

Audie setzt sich in den Schatten, zieht die Schuhe aus und tastet vorsichtig über die Blasen an seinen Füßen und die Schnittwunden an seinen Händen. Weitere Tanklaster passieren das Tor, verlassen das Gelände vollgeladen, kehren leer zurück.

Ernie redet gern. »Bis zur Rente war ich Koch«, erzählt er. »Jetzt verdiene ich das Doppelte, wegen des Booms.«

»Welcher Boom?«

»Öl und Gas, eine große Neuigkeit. Schon mal was vom Eagle Ford Shale gehört?«

Audie schüttelt den Kopf.

»Es ist eine Formation aus Sedimentgestein, das direkt unter dem Süden und Osten von Texas verläuft und voller Meeresfossilien von irgendeinem Ozean aus grauer Vorzeit ist. Sie müssen es bloß ausgraben.«

Bei Ernie hört sich das ganz leicht an.

Kurz vor Anbruch der Dämmerung kommt ein Pick-up-Truck aus der anderen Richtung, der Nachtwächter. Ernie übergibt ihm den Schlüssel zu dem Vorhängeschloss für den Schlagbaum. Audie wartet in dem Dodge. Er fragt sich, worüber die beiden Männer reden, und bemüht sich, nicht panisch zu werden. Schließlich setzt Ernie sich ans Steuer. Die Fenster sind offen. Er senkt den Kopf, um sich eine Zigarette anzuzünden, während er das Lenkrad mit den Ellbogen festhält. Gegen den Luftzug anbrüllend, erzählt er Audie, dass er mit seiner Tochter und seinem Enkel zusammenwohnt. Sie haben ein Haus am Stadtrand von Pleasanton, was er wie »Pledenten« ausspricht.

Im Westen hat ein Dschungel aus Wolken die Sonne verschluckt, bevor sie endgültig hinter dem Horizont verschwindet. Es ist, als würde man zusehen, wie sich eine Flamme durch feuchtes Zeitungspapier brennt. Audie legt den Arm auf den Fensterrahmen und hält Ausschau nach Streifenwagen oder Straßensperren. Mittlerweile sollte er einigermaßen sicher sein, doch er weiß nicht, wie lange sie nach ihm suchen werden.

»Wo hatten Sie denn vor, die Nacht zu verbringen?«, fragt Ernie.

»Hab ich noch nicht entschieden.«

»In Pleasanton gibt es mehrere Motels, aber ich hab noch in keinem übernachtet. War nie nötig. Haben Sie Bargeld?«

Audie nickt.

»Sie sollten Ihr Mädchen anrufen – sagen, dass es Ihnen leidtut.«

»Die ist längst weg.«

Ernie trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. »Ich kann Ihnen nur eine Pritsche in der Scheune anbieten, aber das ist billiger als ein Hotel, und meine Tochter ist eine wirklich gute Köchin.«

Audie gibt ein paar ablehnende Laute von sich, obwohl er schon weiß, dass er es nicht riskieren kann, in einem Hotel zu übernachten, weil man ihn dort nach einem Ausweis fragen wird. Und mittlerweile wird die Polizei sein Foto verbreitet haben.

»Dann ist das also abgemacht«, verkündet Ernie und will das Radio anschalten. »Möchten Sie Musik hören?«

»Nein«, sagt Audie zu hastig. »Lassen Sie uns einfach reden.«

»Auch gut.«

Ein paar Meilen südlich von Pleasanton hält der Truck vor einem schmucklosen Haus neben einem Schuppen und einer Reihe verkümmerter Pappeln. Der Motor wird unbeholfen abgewürgt, und ein Hund kommt durch den staubigen Garten und schnuppert an Audies Schuhen.

Ernie steigt aus, stapft die Stufen zur Haustür hinauf und verkündet laut, dass er wieder zu Hause ist.

»Wir haben Besuch zum Abendessen, Rosie.«

Am Ende eines Flurs schimmert ein Licht aus der Küche, wo eine Frau am Herd steht. Sie hat breite Hüften, ein rundes hübsches Gesicht und milchig braune Haut; ihre länglichen schmalen Augen sehen eher indianisch als mexikanisch aus. Sie trägt ein Kleid mit einem verblichenen Muster, ihre Füße sind nackt.

Sie sieht Audie und dann wieder ihren Vater an. »Wieso erzählst du mir das?«

»Er wird was essen wollen, und du bist fürs Kochen zuständig.«

Sie wendet sich wieder dem Herd zu, wo Fleisch in einer Bratpfanne zischt. »Ja, ich bin fürs Kochen zuständig.«

Der alte Mann grinst Audie an. »Am besten waschen Sie sich. Ich such ein paar saubere Klamotten raus. Ihre Sachen kann Rosie später waschen.« Er wendet sich an seine Tochter. »Wo bewahrst du Davids alte Sachen auf?«

»In der Kiste unter meinem Bett.«

»Meinst du, wir finden was für den Burschen?«

»Mach, was du willst.«

Audie bekommt die Dusche gezeigt und einen Satz sauberer Kleidung ausgehändigt. Er steht unter dem warmen Strahl, bis seine Haut rosa wird, und genießt jede Minute. Tagträumt. Im Gefängnis war das Duschen limitiert. Reguliert. Und gefährlich. Und hinterher hat er sich nie sauberer gefühlt.

Bekleidet mit den Sachen eines Fremden streicht er sich mit den Fingern durchs Haar und geht zurück durch den Flur, als er einen Fernseher hört. Ein Reporter spricht über einen entflohenen Häftling. Vorsichtig späht Audie durch die offene Tür und sieht den Bildschirm.

Audie Spencer Palmer hatte seine zehnjährige Haftstrafe wegen des Überfalls auf einen gepanzerten Geldtransporter in Dreyfus County, bei dem vier Menschen starben, fast abgesessen. Die Behörden vermuten, dass er die beiden Außenzäune mit Hilfe von aus der Gefängniswäscherei gestohlenen Bettlaken überwunden hat, nachdem er die Alarmanlage mit einem Kaugummipapier kurzgeschlossen hatte …

Auf einem Teppich vor dem Fernseher sitzt ein Junge und spielt mit einem Karton voller Spielzeugsoldaten. Er blickt zu Audie und dem Fernseher hoch. Auf dem Bildschirm zeigt inzwischen eine junge Frau auf eine Wetterkarte.

Audie geht in die Hocke. »Howdy.«

Der Junge nickt.

»Wie heißt du?«

»Billy.«

»Was spielst du, Billy?«

»Soldaten.«

»Und wer gewinnt?«

»Ich.«

Audie lacht, was Billy nicht versteht. Rosie ruft aus der Küche. Das Abendessen ist fertig.

»Hast du Hunger, Billy?«

Er nickt.

»Dann beeilen wir uns besser, sonst ist vielleicht nichts mehr übrig.«

Rosie mustert den Tisch mit einem letzten prüfenden Blick und streift Audies Schulter, als sie ihm Teller und Besteck aufdeckt. Sie setzt sich und bedeutet Billy, das Tischgebet zu sprechen. Der Junge murmelt die Worte und sagt zum Schluss laut und deutlich Amen. Teller werden herumgereicht, Essen wird aufgespießt und verzehrt. Ernie stellt Fragen, bis Rosie ihm sagt, er solle »still sein und den Mann essen lassen«.

Hin und wieder sieht sie Audie verstohlen an. Sie hat sich vor dem Essen umgezogen und trägt jetzt ein neueres, engeres Kleid.

Nach dem Essen ziehen sich die Männer auf die Veranda zurück, während Rosie den Tisch abräumt, das Geschirr spült und abtrocknet, die Bänke abwischt und Sandwiches für den nächsten Tag schmiert. Audie hört, wie Billy das Alphabet übt.

Ernie raucht eine Zigarette und legt die Füße auf das Geländer der Veranda.

»Was haben Sie jetzt vor?«

»Ich habe Verwandte in Houston.«

»Wollen Sie sie anrufen?«

»Ich bin vor etwa zehn Jahren in den Westen gegangen. Der Kontakt ist abgerissen.«

»Ist heutzutage schwer, den Kontakt zu jemandem abreißen zu lassen – da müssen Sie sich richtig angestrengt haben.«

»Hab ich wohl.«

Rosie hat in der Tür gestanden und zugehört. Ernie gähnt, streckt seine Arme und Beine und erklärt, dass er sich in die Falle legen wolle. Er zeigt Audie die Schlafbaracke in der Scheune und wünscht ihm eine gute Nacht. Audie bleibt noch einen Moment draußen stehen und betrachtet die Sterne. Er will sich gerade abwenden, als er Rosie bemerkt, die neben einem Regenwassertank im Schatten steht.

»Wer sind Sie wirklich?«, fragt sie vorwurfsvoll.

»Ein Fremder, der Ihre Freundlichkeit zu schätzen weiß.«

»Wenn Sie uns ausrauben wollen, wir haben kein Geld.«

»Ich brauch bloß einen Platz zum Schlafen.«

»Sie haben Daddy einen Haufen Lügen erzählt, von wegen, Ihre Freundin wäre abgehauen. Sie sind jetzt drei Stunden hier und haben noch nicht gefragt, ob Sie mal telefonieren können. Warum sind Sie wirklich hier?«

»Ich versuche, ein Versprechen zu halten, das ich jemandem gegeben habe.«

Rosie schnaubt verächtlich. Sie steht reglos halb im Schatten.

»Wem gehören diese Kleider?«, fragt Audie.

»Meinem Mann.«

»Wo ist er?«

»Er hat eine gefunden, die ihm besser gefiel.«

»Das tut mir leid.«

»Wieso? Das ist doch nicht Ihre Schuld.« Sie blickt an Audie vorbei in die Dunkelheit. »Er hat gesagt, ich wäre fett geworden. Er wollte mich nicht mehr anfassen.«

»Ich finde Sie sehr schön.«

Sie nimmt Audies Hand und legt sie auf ihre Brust. Er kann spüren, wie ihr Herz schlägt. Dann hebt sie den Kopf und drängt ihre Lippen an seine. Der Kuss ist hart und hungrig, beinahe verzweifelt. Er kann ihre Verletzung schmecken.

Audie löst sich von ihr, hält sie eine Armlänge auf Abstand und blickt ihr in die Augen. Dann küsst er sie auf die Stirn.

»Gute Nacht, Rosie.«

4

Das Gefängnis versuchte jeden Tag, Audie Palmer zu töten. Wach oder im Schlaf. Beim Essen. Beim Duschen. Bei der Runde auf dem Gefängnishof. Zu jeder Jahreszeit, sengend heiß im Sommer, eiskalt im Winter, kaum etwas dazwischen, versuchte das Gefängnis, Audie Palmer zu töten, doch irgendwie überlebte er.

Es schien so, als würde Audie in einem Paralleluniversum leben; was man ihm auch antat, egal wie schlimm, sein Verhalten blieb unverändert. Moss hatte Filme gesehen, in denen Menschen aus dem Himmel oder der Hölle zurückkehrten, weil irgendetwas in ihrem Leben unerledigt geblieben war. Er fragte sich, ob Audie wegen einer Panne in der teuflischen Buchhaltung oder einer Verwechslung zurückgeschickt worden war. In dem Fall konnte ein Mann das Leben hinter Gittern vielleicht sogar wertschätzen, weil er schon viel Schlimmeres gesehen hatte.

Als Moss Audie zum ersten Mal sah, lief der junge Mann mit den anderen Neuankömmlingen die Rampe hinauf. Die Rampe war so lang wie ein Football-Feld, mit Zellen auf beiden Seiten, ein höhlenartiger Ort mit gewachsten Fußböden und summenden Neonleuchten an der Decke. Die Alteingesessenen in den Zellen musterten johlend und pfeifend das Frischfleisch. Dann gingen alle Türen gleichzeitig auf, und die Männer drängten heraus, was nur einmal am Tag geschah und sich anfühlte wie die Rushhour in der U-Bahn. Gefangene beglichen Rechnungen, gaben Bestellungen auf, nahmen Schmuggelware entgegen oder suchten nach Opfern. Es war ein guter Zeitpunkt, blutige Wunden zuzufügen und damit davonzukommen.

Es dauerte nicht lange, bis irgendjemand Audie entdeckte. Normalerweise wäre er schon eine Neuigkeit gewesen, weil er jung war und gut aussah, doch die Leute waren mehr an dem Geld interessiert. Es gab sieben Millionen Gründe, sich mit Audie anzufreunden oder ihn grün und blau zu prügeln.

Binnen weniger Stunden nach seiner Ankunft hatte sein Name im Flurfunk die Runde gemacht. Er hätte sich vor Angst in die Hose scheißen oder darum betteln sollen, ins Loch gesperrt zu werden, doch stattdessen drehte er seelenruhig seine Runden auf dem Hof, wo schon Tausende Männer vor ihm Millionen Schritte gemacht hatten. Audie war kein Gangster, kein Mafioso und kein Killer. Er tat auch gar nicht erst so, und das sollte immer sein Problem bleiben. Er hatte keinen Stammbaum. Keinen Schutz. Um in einer Strafanstalt zu überleben, muss ein Mann Allianzen schmieden, sich einer Bande anschließen oder einen Beschützer finden. Er kann es sich nicht leisten, hübsch, weich oder reich zu sein.

Das alles beobachtete Moss aus der Distanz, neugierig, aber ohne eigene Aktien in dem Spiel. Die meisten Neuen versuchten gleich am Anfang, ein Zeichen zu setzen, ihr Revier zu markieren, die Raubtiere abzuschrecken. Freundlichkeit, Mitgefühl, Güte wurden als Schwäche betrachtet. Man warf sein Essen eher in den Müll, als es sich von irgendjemandem nehmen zu lassen. Man bot nie seinen Platz in der Schlange an.

Der Dice Man versuchte es als Erster. Er schlug Audie vor, ihm selbstgebrannten Knastschnaps zu besorgen. Audie lehnte höflich ab. Der Dice Man probierte einen neuen Ansatz. Er kippte Audies Essenstablett um, als jener an seinem Tisch vorbeikam. Audie blickte auf die Pfütze aus Kartoffelbrei mit Sauce und Hühnchen. Dann hob er den Blick zu dem Dice Man. Einige der Häftlinge lachten. Der Dice Man schien fünfzehn Zentimeter größer zu werden. Audie sagte kein Wort. Er ging in die Hocke, wischte das verschüttete Essen zusammen und häufte es wieder auf sein Tablett.

Die Leute rutschten auf den Bänken zusammen, um ein wenig Platz zu machen. Alle schienen auf etwas zu warten, wie Reisende in einem stehen gebliebenen Zug. Ohne irgendjemanden zu beachten, hockte Audie immer noch am Boden und wischte sein Essen auf. Es war, als bewohnte er einen Ort, den er selbst geschaffen hatte, jenseits dessen, was andere Menschen dachten, einen Raum, den ein Geringerer höchstens in seinen Träumen betreten konnte.

Der Dice Man blickte auf seine Schuhe, auf die ein Klecks Sauce getropft war.

»Leck das ab«, sagte er.

Audie seufzte müde. »Ich weiß, was du tust.«

»Was denn?«

»Du willst mich provozieren, entweder gegen dich zu kämpfen oder mich gleich zu ergeben, aber ich will nicht mit dir kämpfen. Ich kenne nicht mal deinen Namen. Du hast etwas angefangen und denkst jetzt, du kannst nicht mehr zurück, doch das kannst du. Niemand wird deswegen schlechter von dir denken. Niemand lacht.« Audie stand auf. Er hatte noch immer das Tablett in der Hand. »Findet irgendjemand von euch, dass dieser Mann komisch ist?«, rief er.

Er stellte diese Frage so aufrichtig, dass Moss sah, wie einige ernsthaft darüber nachdachten. Der Dice Man blickte sich um, als wäre er in der Zeile verrutscht. Dann holte er zum Schlag aus, weil das seine übliche Rückzugsstrategie war. Aber Audie schmetterte blitzschnell sein Tablett gegen den Kopf des Dice Man, worauf dieser sich natürlich erst recht provoziert fühlte. Brüllend wollte er sich auf Audie stürzen, doch der war schneller. Er rammte die Kante des Tabletts mit solcher Wucht gegen den Hals des Dice Man, dass der auf die Knie sank und sich nach Luft ringend auf dem Boden zusammenrollte. Die Wärter kamen und brachten ihn auf die Krankenstation des Gefängnisses.

Moss dachte, dass Audie offensichtlich eine Todessehnsucht hatte, doch dem war nicht so. Das Gefängnis ist voller Menschen, die glauben, die Welt jenseits ihrer Vorstellung würde nicht existieren. Sie können sich ein Leben außerhalb dieser Mauern nicht vorstellen, also erschaffen sie sich ihre eigene Welt. Drinnen ist ein Mann nichts. Er ist ein Sandkorn unter dem Schuh eines anderen, ein Floh an einem Hund, ein Pickel am Arsch eines Fettwanstes. Der größte Fehler, den ein Mann im Gefängnis machen kann, ist zu glauben, er sei irgendwer.

Jeden Morgen begann es aufs Neue. Am ersten Tag musste Audie bestimmt ein Dutzend Männer abgewehrt haben, und am zweiten waren es zwölf weitere. Bis zum Einschluss war er so übel verprügelt worden, dass er nicht kauen konnte und seine Augen beide aussahen wie violette Pflaumen.

Am vierten Tag hatte der Dice Man von der Krankenstation wissen lassen, dass er Audie Palmer tot sehen wollte. Seine Bande traf die Vorkehrungen. An jenem Abend trug Moss sein Essenstablett zu dem Tisch, an dem Audie alleine saß.

»Darf ich mich setzen?«

»Dies ist ein freies Land«, murmelte Audie.

»Das ist es nicht«, erwiderte Moss. »Nicht, wenn man schon so lange im Gefängnis ist wie ich.«

Die beiden Männer aßen schweigend, bevor Moss sagte, was zu sagen er gekommen war: »Die werden dich morgen früh umbringen. Vielleicht solltest du Grayson bitten, dich ins Loch zu stecken.«

Audie hob den Blick und sah über Moss’ Kopf hinweg, als würde er etwas lesen, das in der Luft geschrieben stand, und sagte dann: »Das kann ich nicht machen.«

Moss dachte, Audie wäre entweder naiv oder dämlich mutig, oder vielleicht wollte er auch sterben. Es ging nicht um das vermisste Geld. Niemand kann im Gefängnis sieben Millionen Dollar ausgeben – nicht mit der übelsten Drogensucht oder dem ausgeprägtesten Schutzbedürfnis. Und es ging auch nicht um Kleinigkeiten wie Schokoriegel oder ein extra Stück Seife. Wenn man im Gefängnis einen Fehler machte, war man tot. Wenn man jemanden falsch ansah, war man tot. Wenn man sich beim Essen an den falschen Tisch setzte, war man tot. Wenn man auf der falschen Seite des Ganges oder Hofes ging oder beim Essen zu laut schmatzte, war man tot. Kleinkram. Blödheit. Pech. Aber immer tödlich.

Es gab Regeln, nach denen man lebte, doch das durfte man nicht mit Kameradschaft verwechseln. Eingekerkert lebten die Menschen zwar eng aufeinander, doch das brachte sie nicht zusammen, es einte sie nicht.

Am nächsten Morgen um halb acht gingen die Türen auf, und die Rampe füllte sich. Die Truppen des Dice Man warteten. Man hatte einen Neuankömmling mit dem Job betraut, er hatte eine Fiberglasscherbe im Ärmel versteckt. Die anderen waren als Wachposten verteilt und sollten ihm hinterher helfen, die Waffe loszuwerden. Der Frischling würde gründlich ausgeweidet werden.

Moss wollte nichts damit zu tun haben, doch irgendetwas an Audie faszinierte ihn. Jeder andere hätte sich ergeben, einen Kotau gemacht oder darum gebettelt, in Einzelhaft verlegt zu werden. Jeder andere hätte ein Laken um die Gitterstäbe geschlungen. Audie war entweder der dümmste oder der tapferste Hundesohn in der Geschichte. Was sah er in der Welt, was alle anderen nicht sahen?

Die Gefangenen waren aus ihren Zellen geströmt und taten beschäftigt, aber die meisten warteten bloß. Audie kam nicht. Vielleicht hatte er seinen eigenen Ausweg genommen, dachte Moss, doch dann dröhnten aus Audies Zelle plötzlich der Riff und die wummernde Basslinie von »Eye of theTiger«.

Im nächsten Moment tänzelte Audie in Boxershorts, langen Socken und mit Schuhcreme geschwärzten Turnschuhen aus seiner Zelle. Über die Hände hatte er sich mit Klopapierrollen ausgestopfte Socken gestreift und verteilte mit diesen behelfsmäßigen Boxhandschuhen Schattenhiebe. Mit seinem grün und blau angeschwollenen Gesicht sah er aus wie Rocky Balboa, der aus seiner Ecke kam, um in der fünfzehnten Runde gegen Apollo Creed zu kämpfen.

Der Junge mit der Scherbe wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Audie tanzte, duckte sich, wich imaginären Schlägen aus und boxte mit seinen albernen Handschuhen in die Luft, bis etwas Seltsames geschah. Die Männer fingen an zu lachen. Die Männer fingen an zu klatschen. Die Männer fingen an zu singen. Als der Song zu Ende war, trugen sie Audie auf ihren Schultern, als hätte er gerade den Weltmeistertitel im Schwergewicht gewonnen.

Das ist der Tag, an den Moss sich erinnert, wenn er an Audie Palmer denkt – wie er aus seiner Zelle getänzelt kam, Phantomhiebe verteilte und Gespenstern auswich. Es war nicht der Anfang von irgendwas und auch nicht das Ende, doch Audie hatte einen Weg gefunden zu überleben.

Natürlich wollten die Leute nach wie vor wissen, was mit dem Geld war, sogar die Wärter, die in denselben schmutzigen Armensiedlungen aufgewachsen waren wie die Männer, die sie bewachten, was sie empfänglich für Schmiergelder und Schmuggeleien machte. Einige der weiblichen Strafvollzugsbeamten schlugen Audie vor, im Gegenzug für sexuelle Gefälligkeiten Geld auf ihr Konto zu überweisen. Es waren Frauen, die ihr eigenes Körpergewicht in Hamburgern verspeisen konnten, mit den Jahren hinter Gittern jedoch immer begehrenswerter erschienen.

Audie lehnte ihre Angebote ab. Nicht ein einziges Mal in zehn Jahren erwähnte er den Raubüberfall oder das Geld. Er machte niemandem etwas vor oder irgendwelche Versprechungen. Er vermittelte vielmehr ein Gefühl von Ruhe und Gelassenheit wie ein Mann, der alle überflüssigen Gefühle aus seinem Leben verbannt hatte, alle Sehnsucht und jede Geduld für das Unwesentliche. Er war wie Yoda, Buddha und der Gladiator in einem.

5

Ein Sonnenstrahl fällt auf Audies Auge, und er versucht, ihn wegzuschnippen wie ein Insekt. Das Licht kehrt zurück, und er hört ein Kichern. Billy hat einen kleinen Spiegel in der Hand, mit dem er die Sonne durch das offene Scheunentor lenkt.

»Ich kann dich sehen«, sagt Audie.

Billy duckt sich und kichert noch einmal. Er trägt zerschlissene Shorts und ein T-Shirt, das ihm zu groß ist.

»Wie spät ist es?«, fragt Audie.

»Nach dem Frühstück.«

»Musst du nicht in der Schule sein?«

»Heute ist Samstag.«

Stimmt, denkt Audie und rappelt sich auf die Hände und Knie. Irgendwann in der Nacht ist er von der Pritsche gerollt und hat es sich auf dem Boden bequem gemacht, der sich vertrauter anfühlte als die Matratze.

»Bist du aus dem Bett gefallen?«

»Sieht so aus.«

»Ich bin früher auch immer aus dem Bett gefallen, aber jetzt nicht mehr. Ma sagt, dass ich dem entwachst bin.«

Audie tritt auf den sonnigen Hof und wäscht sich an einer Wasserpumpe das Gesicht. Bei seiner Ankunft gestern Abend war es dunkel. Jetzt sieht er eine Gruppe ungestrichener Häuser, verrostete Autos und Ersatzteile, einen Wassertrog, eine Windmühle und einen Holzstapel an einer bröckelnden Steinmauer. Ein kleiner schwarzer Junge fährt auf einem Fahrrad, das zu groß für ihn ist; er sitzt auf der Stange, um an die Pedale zu kommen, und kurvt zwischen einer Schar flatternder Hühner hin und her.

»Das ist mein Freund Clayton«, sagt Billy. »Er ist schwarz.«

»Das sehe ich.«

»Ich habe nicht viele schwarze Freunde, aber Clayton ist in Ordnung. Er ist klein, aber er kann schneller rennen als ein Fahrrad, außer wenn man bergab fährt.«

Audie zieht den Gürtel der Hose fester, damit sie nicht rutscht. Auf der Veranda eines Nachbarhauses bemerkt er einen dünnen Mann in einem karierten Hemd und einer schwarzen Lederweste, der ihn beobachtet. Audie winkt. Der Mann winkt nicht zurück.

Rosie taucht auf. »Das Frühstück ist auf dem Herd.«

»Wo ist Ernie?«

»Bei der Arbeit.«

»Er fängt früh an.«

»Und hört spät auf.«

Audie setzt sich an den Tisch und isst. Tortillas. Eier. Speck. Dazu Kaffee. Auf einem Regal über dem Ofen stehen Gläser mit Mehl, getrockneten Bohnen und Reis. Durch das Fenster kann er Rosie beobachten, die im Garten Wäsche aufhängt. Hier kann er nicht bleiben. Diese Leute waren freundlich zu ihm, doch er will nicht, dass sie seinetwegen Ärger bekommen. Seine einzige Hoffnung, am Leben zu bleiben, besteht darin, dem Plan zu folgen und sich so lange wie möglich zu verstecken.

Als Rosie wieder hereinkommt, fragt er sie nach einer Mitfahrgelegenheit in die Stadt.

»Ich kann Sie heute Mittag hinbringen«, sagt sie und spült seinen leeren Teller ab. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Wohin wollen Sie?«

»Nach Houston.«

»Ich kann Sie an der Greyhound Station in San Antonio absetzen.«

»Ist das nicht ein großer Umweg für Sie?«

Sie antwortet nicht. Audie zieht Geld aus der Tasche. »Ich möchte Ihnen etwas für die Unterkunft bezahlen.«

»Behalten Sie Ihr Geld.«

»Es ist sauber.«

»Wenn Sie das sagen.«

Bis nach San Antonio sind es achtunddreißig Meilen in nördlicher Richtung auf der Interstate 37. Rosie hat einen japanischen Kleinwagen mit kaputtem Auspuff und ohne Klimaanlage. Sie fahren mit offenem Fenster und laut aufgedrehtem Radio.

Zur vollen Stunde liest ein Nachrichtensprecher die Schlagzeilen vor und erwähnt auch einen Gefängnisausbruch. Audie fängt an zu reden, bemüht, ganz natürlich zu klingen. Rosie unterbricht ihn und macht das Radio noch lauter.

»Sind Sie das?«

»Ich habe nicht vor, irgendjemandem wehzutun.«

»Gut zu wissen.«

»Sie können mich auch gleich hier absetzen, wenn Sie Angst haben.«

Sie antwortet nicht, fährt aber weiter.

»Was haben Sie getan?«, fragt sie.

»Die sagen, ich hätte einen gepanzerten Geldtransporter überfallen.«

»Und, haben Sie?«

»Das scheint jetzt auch keine Rolle mehr zu spielen.«

Sie sieht ihn verstohlen von der Seite an. »Entweder Sie haben es getan oder nicht.«

»Manchmal wird einem für etwas die Schuld gegeben, was man nicht getan hat, und dann wieder kommt man mit etwas davon, das man gemacht hat. Vielleicht gleicht sich das am Ende aus.«

Rosie wechselt die Spur und hält Ausschau nach der Ausfahrt. »Ich bin keine große moralische Autorität, weil ich nicht mehr zur Kirche gehe, aber wenn Sie etwas Verkehrtes getan haben, sollten Sie nicht davor weglaufen.«

»Ich laufe nicht weg«, sagt Audie. »Ich laufe direkt darauf zu.«

Und sie glaubt ihm.

Als sie vor dem Busbahnhof hält, blickt Rosie an Audie vorbei auf die Reihe von wartenden Bussen zu fernen Städten.

»Wenn Sie erwischt werden, erwähnen Sie nicht, was wir für Sie getan haben«, sagt sie.

»Ich werde nicht erwischt.«

6

Special Agent Desiree Furness geht durch das Großraumbüro zum Zimmer ihres Chefs. Wenn jemand von seinem Computerbildschirm aufblickte, würde er nur ihren Kopf oberhalb der Schreibtischkante sehen und möglicherweise denken, dass ein Kind gekommen war, um einen Elternteil zu besuchen oder für einen wohltätigen Zweck Kekse zu verkaufen.

Desiree hat sich den größten Teil ihres Lebens angestrengt, größer zu werden, wenn schon nicht körperlich, dann zumindest emotional, gesellschaftlich und beruflich. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide klein, und bei ihrem einzigen Kind war ihre Genetik voll zum Tragen gekommen. Laut Führerschein maß Desiree einen Meter fünfundfünfzig, doch in Wahrheit musste sie hochhackige Schuhe tragen, um derart luftige Höhen zu erreichen. Diese High Heels trug sie denn auch in ihrer College-Zeit und hätte sich damit beinahe verkrüppelt, weil sie ernst genommen werden und mit Basketballspielern ausgehen wollte. Das war eine weitere grausame Laune des Schicksals: Sie fühlte sich zu großen Männern hingezogen, oder vielleicht hegte sie einen angeborenen Wunsch, hoch aufgeschossene Nachkommen zu haben, damit ihre Kinder ein besseres genetisches Blatt bekamen. Auch jetzt im Alter von dreißig Jahren wurde sie in Bars und Restaurants noch nach ihrem Ausweis gefragt. Die meisten Frauen hätten das schmeichelhaft gefunden, doch für Desiree war es eine andauernde Erniedrigung.

Als sie heranwuchs, sagten ihre Eltern Sachen wie »Gute Dinge kommen in kleinen Päckchen« oder »Die Menschen wissen die kleinen Dinge im Leben zu schätzen«. Aber derlei wie gut auch immer gemeinte Sinnsprüche waren für eine Jugendliche, die ihre Kleider immer noch in der Kinderabteilung kaufen musste, nur schwer zu ertragen. Auf dem College, wo sie Kriminologie studiert hatte, war es schmerzhaft peinlich gewesen, an der FBI-Akademie regelrecht demütigend. Aber Desiree hatte ihrer eigenen Statur getrotzt und sie Lügen gestraft; in Quantico hatte sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen und sich als durchtrainierter, intelligenter und entschlossener erwiesen als die anderen Rekruten. Ihr Fluch war ihr Ansporn gewesen, ihre Größe hatte sie nach Höherem streben lassen.

Sie klopft an Eric Warners Tür und wartet darauf, hereingerufen zu werden.