Bis du stirbst - Michael Robotham - E-Book
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Bis du stirbst E-Book

Michael Robotham

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Beschreibung

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort, und jetzt lässt ihn der Alptraum nicht mehr los ...

Sami Macbeth hat das Leben übel mitgespielt. Gerade erst musste er eine dreijährige Gefängnisstrafe absitzen für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Frisch entlassen will er ein neues Leben beginnen. Doch dann muss er feststellen, dass seine Schwester verschwunden ist, und kurze Zeit später wird er in einen Anschlag auf die Londoner U-Bahn verwickelt. Er braucht dringend Hilfe, die er bei dem ehemaligen Polizisten Vincent Ruiz sucht. Und Ruiz macht schon bald einige interessante Entdeckungen ...

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Seitenzahl: 426

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Buch

Sami Macbeth hat gerade eine dreijährige Gefängnisstrafe verbüßt für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und im Besitz einiger Dinge, die er eigentlich nicht hätte haben dürfen. Das Einzige, was Samis Moral aufrechterhielt, war der Gedanke an seine Schwester und seine Freundin. Nach seiner Entlassung will er auch zuerst diese beiden wiedersehen. Doch nur knapp entgeht er einer dubiosen Gruppe von Männern, die ihm gleich vor den Toren des Gefängnisses auflauern. Und dann kann er seine Schwester nicht finden. Ist sie etwa in Gefahr? Sami sucht erst einmal Unterschlupf bei seiner Freundin. Als er sich auf die Suche nach seiner Schwester macht, wird er allerdings in einen Raub verwickelt – ausgerechnet die Asservatenkammer des Strafgerichtshofes in London ist betroffen – und dann sogar in eine Bombenexplosion in der Londoner U-Bahn. Wieder einmal zur falschen Zeit am falschen Ort ist Sami nun erneut auf der Flucht. Eigentlich wollte er sein normales Leben, das er vor der Zeit im Gefängnis geführt hat, wieder aufnehmen, doch der Albtraum scheint kein Ende zu nehmen. Er braucht dringend Hilfe. Und hier kommt Vincent Ruiz ins Spiel, der raubeinige ehemalige Detective Inspector der Londoner Polizei …

Weitere Informationen zu Michael Robothamsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

Michael Robotham

Bisdu stirbst

Thriller

Deutschvon Sigrun Zühlke

Die englische Originalausgabe erschien 2008unter dem Titel »Bombproof«bei Sphere in Australien und Neuseeland.Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juni 2013Copyright © der Originalausgabe 2008 by Michael RobothamCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: plainpicture / Millennium / Davies MarcusGestaltung der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, MünchenMotiv der Umschlaginnenseiten: plainpicture / Millennium / Davies MarcusNG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-06302-3www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Dieses Buch ist für meinen Vater

Ein ganz schlechter Tag

Some days are diamonds. Some days are stones. John Denver hatte das gesungen, bevor sein Flugzeug in die Monterey Bay stürzte. Es war kein Diamonds-Tag für ihn gewesen.

Sami Macbeths Tag bestand bis jetzt nur aus Stolpersteinen. Als er aus der U-Bahn-Station Oxford Circus heraustritt, blinzelt er ins Sonnenlicht und muss so heftig husten, dass es sich anfühlt, als wolle sein Schließmuskel durch die Lunge hochkommen. Seine Kleider sind zerrissen und voller Blutflecken. Sein Gesicht ist schweißbedeckt. Seine Haut mit Staub überzogen.

Sami duckt sich unter dem Absperrband hindurch. Leute weichen ihm aus und starren ihn an wie ein Gespenst.

Sechseinhalb Pfund TATP – übelstes Teufelszeug – haben gerade ein klaffendes Loch in einen voll besetzten Waggon der Central Line gesprengt, das Dach abgeschält, als ob ein Riese eine Dose Pfirsiche geöffnet hätte.

Es war schrecklich da unten. Chaos. Im einen Augenblick noch stand Sami an den Türen, und im nächsten lag er auf dem Rücken, mit Armen und Beinen zappelnd wie ein umgedrehter Käfer. Papier flog durch die Luft, Glas regnete auf ihn herab, und der Zug erbebte und hielt an.

Einen Moment lang wurde es ruhig und vollkommen dunkel. Dann begann das Schreien.

Menschen waren verletzt. Starben. Gott weiß wie viele. Wer hatte im anderen Wagen neben Dessie gesessen? Ein Kerl in einem Jesus-T-Shirt, eingeschlafen, sein Kopf nickte wie bei einem Wackeldackel. Daneben ein Anzugmensch mit Aktentasche. Ein Mädchen hatte auch noch dagestanden, an der Tür, mit einer kurzen Jacke. Das weiße Kabel ihrer Ohrstöpsel hing unter ihren langen Haaren heraus.

Sami blickt die Oxford Street hinauf und hinunter. Der Verkehr steht still. Busse, Lieferwagen, PKWs und Taxis – nichts geht mehr. Jemand gibt ihm eine Flasche Wasser. Er kippt sie sich über den Kopf. Ruß rinnt in seinen Mund, und es knirscht zwischen seinen Zähnen.

Als er zwischen zwei Lastwagen hindurch über die Straße geht, vergisst er, die Füße zu heben, und stolpert über den Bordstein. Der Fahrer ruft ihm etwas zu. Sami antwortet nicht. Er biegt in die Argyll Street ein und geht über die Great Marlborough, weicht Fußgängern aus. Er geht schnell.

Die Leute sehen sich an. Schockiert. Ratlos. Sami hört Fetzen ihrer Gespräche. »… Terroristen …«, »… eine Bombe …«, »… U-Bahn …«

Sie haben Angst. Sami hat auch Angst. Dessie hat sich gerade direkt ins verdammte Himmelreich gebombt. Er wird keinen großen Sarg brauchen – eine Y-förmige Kiste, damit seine Beine und seine Eier noch reinpassen.

Der Rucksack schlägt gegen Samis Rücken. Den sollte er fallen lassen und wegrennen. Das Risiko eingehen. Aber was würde Murphy dann mit Nadia machen?

Welche Ansage ist am Bahnsteig immer zu hören? »Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Melden Sie jedes verdächtige Verhalten unverzüglich einem Mitarbeiter der Bahn«.

Sami sollte Murphy anrufen. Die ganze Sache erklären. Doch was sollte er ihm sagen? »Hey, Mr Murphy, auf dem Nachhauseweg ist uns was Komisches passiert. Wir haben aus Versehen einen Zug in die Luft gejagt, und Dessie hat den Kopf und noch ein bisschen mehr dabei verloren …«

Sami hat kein Handy. Dessie hatte das nicht gewollt. Jetzt bemerkt er jemanden, der eine SMS schickt. Der Kerl ist unrasiert, trägt tief sitzende Levis, die seine Arschritze sehen lassen.

Sami fragt, ob er das Handy kurz ausleihen dürfe. Der Kerl starrt ihn an. »Warst du da unten, Mann? Respekt.« Er gibt Sami das Handy. »Nimm. Ich komm sowieso nicht durch.«

Sami tippt eine Nummer. Nichts geschieht.

»Zu viele Gespräche. Alle wollen jetzt telefonieren«, sagt der Arschritzentyp. »Das Netz ist überlastet.«

Sami gibt ihm das Handy zurück und geht weiter, überquert an der nächsten Kreuzung die Straße. Er entdeckt ein schwarzes Taxi. Öffnet die Tür. Rutscht auf den Rücksitz. Lässt den Rucksack zwischen seinen Füßen auf den Boden fallen.

»Soll das ein Witz sein, mein Freund?«, fragt der Fahrer. Er zeigt auf die Straße vor ihnen. »Ich hab mich in vierzig verdammten Minuten keinen Zentimeter bewegt.«

Sami sieht sich im Rückspiegel. Sein Gesicht ist mit dunklem Ruß verschmiert, abgesehen von zwei weißen Linien, eine auf seiner Nasenspitze und die andere ein Rinnsal aus Schweiß, das über den Wangenknochen am Hals hinunterläuft. Wie Kriegsbemalung. Er kommt aus einer Schlacht.

Der Fahrer hört Radio.

»Was ist passiert?«, fragt Sami.

»Eine Bombe«, sagt der Fahrer. »Da könnten noch mehr sein.«

»Mehr was?«

»Selbstmordattentäter.« Der Fahrer sieht ihn an. »Sie müssen da unten gewesen sein. Sie sehen aus wie der verdammte Al Jolson.«

»Wer ist das?«

»Sie haben noch nie vom verdammten Al Jolson gehört?«

»Nein.«

»Das war ein Weißer, der sein Gesicht schwarz bemalt und wie ein Nigger gesungen hat.«

»Warum?«

»Weiß der Geier.«

Der Fahrer hat seine Tür offen stehen. Er steckt sich eine Zigarette an, der Rauch wird sofort verweht.

»Haben Sie ein Telefon«?, fragt Sami.

»Ja.«

»Könnte ich das leihen«?

»Wird Ihnen nicht viel nützen. Die haben das Netz lahmgelegt, oder das ganze Teil ist zusammengebrochen. Die halbe Welt versucht gerade, zu Hause anzurufen.«

»Warum sollten sie das Netz lahmlegen?«

»Um zu verhindern, dass die noch mehr Bomben zünden. So machen das die Turbanträger doch – sie nehmen Handys. Eine Nummer wählen und bumms. Keine Ahnung, was das soll. Leben und leben lassen, sag ich immer. Wir sollten einen Deal mit den Terroristen machen – wir marschieren nicht mehr in ihre verdammten Länder ein, und sie hören auf, uns in die Luft zu jagen.«

»Vielleicht waren es gar keine Terroristen«, gibt Sami zu bedenken.

»Aber natürlich waren es die verdammten Terroristen«, antwortet der Fahrer.

»Sie bluten doch nicht etwa, oder? Ich will kein verdammtes Blut auf meinen Sitzen.«

»Ich glaube nicht.«

»Sie sind voll mit dem schwarzen Scheiß. Vielleicht sollten Sie doch besser aussteigen.«

»Kann ich nicht einfach nur hier sitzen?«

»Sieht mein Taxi vielleicht aus wie ein verdammtes Rucksackhotel?«

Sami steigt aus. Schwingt sich den Rucksack über eine Schulter. Lässt den Kopf hängen und geht weiter.

Als er aus der Rupert Street in die Shaftesbury Avenue einbiegt, rennt er fast einen großen, fetten Bullen um, der an der Ecke steht und den Verkehr regelt. Wirklich fett, weit über zwei Zentner. Seine Weste, die über und über mit Polizeispielzeugen behängt ist, lässt ihn noch fetter aussehen.

Sami entschuldigt sich. Der Bulle befiehlt ihm, langsamer zu gehen und zu gucken, wo er hintritt. Dann bemerkt er Samis Klamotten und den Rucksack.

»Was trägst du da mit dir herum, Junge?«

»Nichts.«

»Sieht für nichts aber ziemlich schwer aus.«

»Dreckige Wäsche.«

»Zeig mal.«

»Da ist ein Zahlenschloss dran.«

»Schließt du deine Schmutzwäsche immer ein?«

»Es laufen ’ne Menge Perverse rum«, sagt Sami. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«

Der Bulle greift schon nach dem Funkgerät an seinem Arm.

Er befiehlt Sami, den Rucksack abzusetzen und langsam rückwärtszugehen.

Samis Eingeweide lassen ihn im Stich. Seine Haare sind voller Glassplitter. Seine Kleider total verdreckt. Er kann das hier jetzt nicht brauchen. Nicht heute. Nicht nach allem, was er durchgemacht hat. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein zwinkert der Verschluss einer Kamera, und er sieht ein Dutzend Jahre Gefängnis vor sich. Der Verschluss zwinkert wieder, und dieses Mal sieht er seine Schwester Nadia auf dem Bild, wie sie auf einem Bett liegt, ihr Kleid klebt an ihrem Körper, eine Cracknutte für Tony Murphy.

Der schwarze Polizist packt Samis Arm. Der reagiert instinktiv. Rammt seinen Kopf in den Bauch des Bullen, hört, wie Luft pfeifend aus dessen Mund und Nase entweicht. Jetzt stürmt er los, rempelt Fußgänger an, springt über einen angeleinten Hund, bricht durch eine Warteschlange, überrennt einen Mann, der ein Tablett mit Sandwichs trägt.

Die U-Bahn ist geschlossen. Die Treppen wie leer gefegt. Bahnpolizei an den Stufen. Auf der anderen Straßenseite, zwischen Krankenwagen und Feuerwehrautos, stehen noch mehr Polizisten, sie halten die Menschenmenge zurück. Neugierige. Gaffer.

Sami prallt gegen einen Cafétisch, wobei er eine Weinflasche umkippt und eine Frau, die gerade beim Essen ist, umreißt. Ein Kellner beschimpft ihn. Er rennt weiter. Den Rucksack über einer Schulter. Der klatscht gegen seinen Rücken. Er sollte stehen bleiben und die Gurte fester ziehen, den Hüftgurt schließen, das Gewicht besser verteilen, aber er hat zu viel Angst, um stehen zu bleiben.

Lauf. Das sagen ihm alle seine Sinne. Lauf einfach. Weg von hier. Versuch, einen ruhigeren Ort zu finden. Den Rucksack zu verstecken. Einen Moment auszuruhen, um nachdenken zu können.

Er duckt sich in eine Gasse, lehnt sich mit dem Rücken an eine Wand. Der Rucksack hält ihn aufrecht. Er horcht. Sirenen. Stecken im Verkehr fest. Wer versucht, vor denen wegzurennen, verliert garantiert. Sie werden ihn einkreisen und auf Verstärkung warten.

Sami muss von der Bildfläche verschwinden. Abtauchen. Er hat jetzt Geld – den Vorrat aus dem Tresor. Aber zuerst muss er aus dem West End herauskommen … raus aus London.

Auf der anderen Seite des Platzes ist eine Kirche. Darin kann er sich verstecken. Den Rucksack in eine dunkle Ecke stellen. Ein Gebet sprechen. Das ist ein guter Plan.

Er kommt aus der Gasse und sieht sich drei Polizisten gegenüber. Einer von ihnen hat eine Waffe und beugt sich vor, die Waffe in beiden Händen, als wüsste er, wie man damit umgeht.

»Keine Bewegung!«, schreit er. »Lass die Tasche fallen.«

Sami guckt hinter sich, dann nach vorn. Reckt die Faust hoch, den Daumen aufgerichtet. Leer, aber das wissen die nicht.

»Ich hab eine verdammte Bombe«, schreit er und erkennt seine eigene Stimme nicht wieder. »Bleibt mir vom Leib, oder ich puste hier alles weg.«

Die Bullen werfen sich zu Boden. Sami rennt an ihnen vorbei. Der mit der Waffe versucht, auf die Ellbogen gestützt im Liegen zu zielen. Sami bleibt in Bewegung und schlägt Haken.

Eine Bombe. Er hat ihnen gesagt, er hätte eine Bombe. Was für eine erstklassige Scheiße hat er da gebaut. Was für ein Witz! Sami hat nicht einfach nur Pech; er ist ein richtiger Pechvogel, ein Unglücksrabe, eine Einmann-Abrisstruppe. Und er hat sich selbst in Teufels Küche gebracht.

Vor drei Tagen erst ist er aus dem Knast entlassen worden und hatte sich geschworen, dass er nie wieder dorthin zurückkehren würde. Vor sechsunddreißig Stunden hat er Kate Tierney gevögelt, die Frau seiner feuchten Träume, in einer Suite im Savoy, und dachte, sein Leben würde besser. Jetzt schleppt er einen Rucksack mit sich herum durchs Londoner West End, der ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen könnte, und hat sich gerade zum meistgesuchten Mann Englands gemacht.

Und das kam so.

Vor drei Tagen

1

An seinem letzten Morgen im Knast wachte Sami Macbeth früh auf, putzte sich die Zähne, faltete seine Decken ordentlich zusammen und setzte sich wartend auf das Bett.

Er hat sich gesagt, dass er alles, was er machte, zum letzten Mal machte. Es war das letzte Mal, dass er in einen Metalltopf pinkelte; das letzte Mal, dass man ihn einer Leibesvisitation unterzog oder dass er entlaust wurde. Oder dass er zum morgendlichen Chor von Fürzen, Rülpsern, Fluchen und Husten erwachte.

Weil er nicht stillsitzen kann, zählt er sich durch hundert Liegestütze, wobei er durch die Nase atmet. Er steht auf und blickt in den Rasierspiegel, ist nicht mehr überrascht, als er sich mit kurz geschorenen Haaren sieht. Die wachsen schnell nach. Er hat zugenommen. Das meiste sind wahrscheinlich Muskeln, aber er ist nicht wie die Knackis, die jeden wachen Moment damit verbringen, Gewichte zu heben und sich vor dem Spiegel zu dehnen. Wen wollen die damit beeindrucken?

Mit zwei raschen Schritten springt Sami gegen die Wand, setzt seinen Fuß in Brusthöhe auf und schlägt einen kompletten Salto, bevor er wieder auf den Füßen landet. Das macht er noch einmal … und noch einmal.

Eine Stimme von unten unterbricht ihn.

»Hör auf mit dem Scheiß, Arschloch, ich versuch hier zu schlafen.«

»Bin fast fertig«, sagt Sami.

»Noch einmal, und ich bring deine gesamte Familie um.«

Samis Zelle liegt im ersten Stock, Nummer 47. Flügel D. Sie ist 2,50 breit und 3 Meter lang, mit Backsteinwänden und Zementfußboden. Das einzige Fenster, hoch oben in der Wand, hat winzige Glasquadrate, von denen ein paar fehlen oder zerbrochen sind. Als er hier ankam, Mitte Februar, pfiff der Wind durch die Löcher, und die Zelle war eiskalt. Irgendwann hat er die Ritzen mit Klopapier ausgestopft, das er zu einer Masse zerkaut und wie Kitt in die Löcher geklemmt hat.

Er muss sich um einen weiteren Winter keine Sorgen mehr machen. Heute Mittag ist er hier raus. Nicht vollkommen frei, aber so gut wie. Bewährung ist eine tolle Sache.

Sami gähnt und reibt sich die Augen. Er hat nicht gut geschlafen. Gestern ist ein Neuer gekommen, und sie haben ihn in die Nachbarzelle gesteckt. Der Junge versuchte, locker zu wirken und den Taffen zu mimen, aber seine Augen waren so groß wie Untertassen, und er sah die Leute von der Seite an wie ein Vogel im Käfig.

Die Häftlinge nannten ihn Baby Ray, und er hat die ganze Nacht damit verbracht, Sami vollzuquatschen – zu viel Angst, um einzuschlafen. Das Zittern der ersten Nacht. Hat jeder. Er hat Sami erzählt, dass er nicht lange bleiben würde, nur für kurze Zeit, nur eine Nacht. Am nächsten Tag hätte er eine Kautionsverhandlung, und sein alter Herr würde zahlen, wie viel auch immer nötig wäre, um ihn rauszukriegen.

»Dein alter Herr muss tiefe Taschen haben«, hat Sami gesagt.

»Ich bin sein einziger Sohn.«

Baby Ray hatte eine Engelszunge, eine scharfe Zunge, eine Zunge für jede Furche. Er erzählte von den Mädchen, die er gevögelt hat, den Kämpfen, die er gewonnen hat, den Deals, die er gemacht hat. Es störte Sami nicht. Er würde in seiner letzten Nacht sowieso nicht schlafen. Er würde die Stunden zählen.

Baby Ray muss entweder zum Frühstück gegangen sein oder noch schlafen. Samis Magen knurrt. Normalerweise ist das die einzige Mahlzeit, die er nicht versäumt. Das Frühstück kann keiner vermasseln. Man macht Rührei, man grillt Würstchen, man wärmt Bohnen auf; niemand kann ein Frühstück vermasseln.

Heute geht er nicht hin. Er will nicht, dass irgendetwas schiefgeht. Kein Gedrängel in der Essensschlange, keine Schlägereien, keine Schikanen, nichts, was ihm eine Anklage einbringen kann oder einen Widerruf seiner Bewährung. Stattdessen sitzt er auf seinem Bett, starrt die Wand an und denkt an Nadia.

Nadia ist seine Schwester. Sie ist neunzehn. Wunderschön.

Sie sehen nicht aus wie Geschwister. Nadia hat langes braunes Haar, braune Augen und goldbraune Haut. Sie ist halb Algerierin. Sami auch, aber er hat die blauen Augen seines Vaters geerbt und dessen dunkelblondes Haar.

Nadia war erst siebzehn, als Sami eingebuchtet wurde. Sie ging noch zur Schule. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin und geht zweimal die Woche abends ins College. Sie hat eine Wohnung gemietet und fährt ihr eigenes Auto – einen von diesen Smarts, die aussehen, als gehörten sie zum Happy Meal.

Sami hat sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Er ist erst vor zwei Wochen aus dem Leicester-Knast hierher nach The Scrubs zurückgeschickt worden, das war eine weite Reise für Nadia, sogar mit einem Berechtigungsschein für die Eisenbahn.

Jemand hatte sie gefahren, um ihn zu besuchen. Wartete draußen. Ihr Freund. Sie wollte Sami seinen Namen nicht nennen. Er hatte einen Sportwagen und fuhr mit offenem Verdeck, was ihre Haare durcheinandergebracht hatte.

Als alle zum Frühstück gegangen sind, verlässt Sami seine Zelle, um seine letzte Telefonkarte zu benutzen. Er ruft Nadia an. Sie geht nicht dran. Schon seit drei Tagen nicht. Sie weiß, dass er heute rauskommt.

Er geht zurück in seine Zelle. Sitzt. Wartet. Beobachtet die Uhr.

Die Zeit hat für ihn eine besondere Bedeutung. Er hat sie genau erkundet und die Kunst erlernt, sich ihr Verstreichen vorzustellen. Zwei Jahre, acht Monate und dreiundzwanzig Tage lang ist er zum Experten dafür geworden, wie viel eine Minute von einer Stunde wegnimmt und wie viel eine Stunde von einem Tag wegnimmt. Wie schnell ein Fingernagel wächst. Wie lange sein Pony braucht, um seine Augen zu bedecken.

Er hat zwei Geburtstage verpasst, zwei Weihnachten, zweimal Neujahr und zahllose Gelegenheiten für bedeutungslose One-Night-Stands mit ledigen Londoner Mädchen, die eine Schwäche für Gitarristen haben. Das wird er aufholen müssen.

Um 11:30 Uhr bringt Mr Dean, der Oberbulle des D-Flügels, ihm seine Sachen in einem Kopfkissenbezug.

Mr Dean wartet, dass er sich seine Jeans anzieht, ein Hemd, eine lederne Bomberjacke und Turnschuhe. Sami muss seine Gefängnisausstattung zurückgeben, die Mr Dean auf einer Liste abhakt. Danach geht er vor dem Wärter her zum Aufnahmezentrum, seine persönlichen Besitztümer im Arm. Das sind nicht viele: eine Armbanduhr, ein Transistorradio, drei Fotografien – zwei von Nadia –, ein Bündel Briefe, ein Handy mit leerer Batterie und eine Plastiktüte, die zweiunddreißig Pfund und fünfundsiebzig Pence enthält. Sami muss das Geld zählen und an drei Stellen dafür unterschreiben. Während er den Flur und die Metalltreppe hinuntergeht, rufen ihm ein paar andere Insassen etwas hinterher.

»Hey, Sparkles, wenn du rauskommst, lass dich für mich flachlegen.«

»Sauf dir einen an«, schreit jemand anders.

Drei Minuten nach zwölf tritt Sami durch die schmale Tür in den viel größeren Toren des Wormwood-Scrubs-Gefängnisses nach draußen. Es hat geregnet, aber der Schauer ist vorüber. In den Senken stehen Pfützen und spiegeln den blauen Himmel. Blauer jetzt, wo er draußen ist. Er hebt den Kopf und blinzelt in den Himmel. Atmet tief durch. Das ganze Gerede, von wegen dass Freiheit süß ist – es hat seinen Grund.

Er geht weiter über das Kopfsteinpflaster, weg von den Toren. Keine Spur von Nadia. Vielleicht hat sie sich verspätet. Londoner Verkehr. Auf der anderen Straßenseite, an einer Bushaltestelle, parkt ein Auto, ein großer Allrad-Lexus mit so dunkel gefärbten Fenstern, wie es gerade noch legal ist.

Als Sami daran vorbeigeht, gleitet ein Fenster herunter.

»Bist du Sami Macbeth?«, fragt eine Quietschstimme aus einem Kopf, so rund und glatt, dass es aussieht, als müsste er am Ende einer Schnur wippen. Das könnte die Stimme erklären, denkt Sami.

Im Auto sitzen noch drei andere Kerle, alle in dunklen Anzügen, als würden sie für einen Guy-Ritchie-Film vorsprechen. Das sind keine Freunde von Nadia, und sie sind auch nicht vom hiesigen Taxiunternehmen.

»Bist du verflucht noch mal taub?«, fragt der Kerl mit dem Luftballonkopf.

Sami kratzt seine Wange. Versucht, ruhig zu bleiben. »Was wollt ihr von Macbeth?«

»Bist du das oder nicht?«

»Nein, Kumpel«, sagt Sami und schwingt sich seine Tasche über die Schulter. »Macbeth hat’s heute Morgen versaut. Hat sich mit einem Typen gestritten und ihm eine Tasse Tee ins Gesicht geschüttet. Sie haben ihn drinbehalten.«

»Wie lange?«

Sami zeigt über die Schulter nach hinten. »Klopft doch an und fragt. Vielleicht sagen sie’s euch.«

Dann macht er einen kleinen Hüpfer und geht weg, wobei er sich ermahnt, nicht zurückzuschauen. Was wollen diese Kerle von ihm? Wo ist Nadia?

Weiter die Straße herunter findet er eine Bushaltestelle. Setzt sich hin. Wartet noch ein Weilchen.

Ein Bus hält. Das Poster an der Seite zeigt eine Frau in einem Bikini auf einem Liegestuhl. Goldene Haut. Helle Augen. Sami ist so damit beschäftigt, das Mädchen anzusehen, dass er vergisst einzusteigen. Der Bus fährt ab.

Er wartet. Noch ein Bus hält. Der Fahrer sieht ihn nicht an.

»Wo wollen Sie hin?«

»U-Bahn«.

»Welche?«

»Die nächste.«

»Zwei Mäuse.«

Sami nimmt einen Fensterplatz. Sieht auf die Sportplätze. Nadia musste wohl arbeiten. Bestimmt hat sie einen Zettel in der Wohnung hinterlassen. Sie feiern dann später. Werden ein Curry bestellen. Eine DVD gucken.

Seit ihre Mutter gestorben ist, haben Sami und Nadia aufeinander aufgepasst. Und sogar vorher hat er Nadia immer beschützt, wenn einer der geilen Freunde seines Vaters sich an sie heranmachen wollte.

Sie wollte mit sechzehn mit der Schule aufhören, Sami hat dafür gesorgt, dass sie weitermachte. Er hat Botenjobs übernommen, einen Lieferwagen gefahren. Nachts Gigs gespielt. Er ist nicht im Geld geschwommen, hatte aber genug, um die Wölfe fernzuhalten.

Sami hatte sich oft gefragt, was das Sprichwort wohl bedeutete. Welche Art Wolf damit gemeint war – der aus den Märchen, wie in »Rotkäppchen«, oder bei den drei kleinen Schweinchen oder eher die menschliche Variante?

Sie waren nicht immer eine glückliche Familie. Sami und Nadia bekamen sich oft fürchterlich in die Haare. So ist das mit Nadia. Sie ist kein Unschuldsengel. Dauernd macht sie Schwierigkeiten. Schule schwänzen. Sich als Minderjährige betrinken. Sich schon mit fünfzehn in Nachtclubs schleichen.

Nadia hatte außerdem ein paar dunkle Tage. Das lag in der Familie. Ein Vertrauenslehrer wollte sie zu einem Psycho-was-auch-immer schicken, aber Sami hat das nicht zugelassen. Außerdem hat er sich mit dem Sozialamt anlegen müssen, damit sie bei ihm wohnen konnte. Er war vor Gericht gegangen. Hatte gewonnen. Hat’s nicht raushängen lassen. Man darf denen keine Vorwände liefern.

Lange Zeit wusste Nadia gar nicht, dass sie schön war. Die Kerle hätten alles getan, um sie zu kriegen, aber das war ihr egal. Später merkte sie es dann.

Sie ließ ein paar Model-Fotos machen, als sie siebzehn war, professionelle Hochglanzbilder, mit Weichzeichner um die Ränder. Sie zeigte ihre Mappe bei ein paar Agenturen herum, doch die meinten nur, sie hätte nicht den Look, den sie suchten, den magersüchtigen Lass-mich-nicht-an-den-Kühlschrank-Heroin-Tussen-Look.

Sie hatte etwas. Die Fotografen wussten das. Einer von den Agenten wusste es. Nadia hatte diesen verletzlichen, große Augen, volle Lippen, Gerade-gevögelt-worden-Look, den Regisseure so lieben. Regisseure von Pornofilmen.

Süße, aber nicht ganz so unschuldige Nadia.

Sami rettete sie vor den Wölfen.

Dafür sind große Brüder schließlich da.

2

Vincent Ruiz’ schlimmster Albtraum beinhaltet immer einen orangefarbenen Kinderschlitten und einen eisbedeckten See mit einem Loch in der Mitte. Ein Kind wird herausgezogen, blaue Lippen, blaue Haut. Er ist schuld.

In seinem zweitschlimmsten Traum tritt ein Mann mit dem Namen Ray Garza auf wie der Geist vergangener Weihnachtsfeste und führt Ruiz sein Scheitern in der Vergangenheit vor Augen.

Garzas Gesicht ist scharf geschnitten, mit einer Narbe quer über dem Hals, wo mal jemand versucht hat, ihm die Kehle aufzuschlitzen, aber nicht tief genug geschnitten hatte. Hoffentlich war derjenige erfolgreicher dabei gewesen, sich die eigene Kehle durchzuschneiden, denn wahrscheinlich möchte man schnell sterben, wenn man Ray Garza in die Quere gekommen ist.

Garza ist jetzt ein Stützpfeiler der Gesellschaft, ein Mitglied des Establishments, zu reich, um es noch beziffern zu können. Er wird zum Dinner in die Downing Street eingeladen, bekommt Medaillen von Ihrer Majestät und wird in der Zeitung als Philanthrop und Kunstmäzen erwähnt.

Dennoch, jedes Mal, wenn Ruiz ein Foto von ihm auf irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung sieht oder auf irgendeiner Filmpremiere, erinnert er sich an Jane Lanfranchi. Das war vor zweiundzwanzig Jahren. Sie war erst sechzehn. Eine Möchtegern-Schönheitskönigin.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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