Die Rivalin - Michael Robotham - E-Book
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Die Rivalin E-Book

Michael Robotham

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Beschreibung

Agatha, Ende dreißig, Aushilfskraft in einem Supermarkt und aus ärmlichen Verhältnissen, weiß genau, wie ihr perfektes Leben aussieht. Es ist das einer anderen: das der attraktiven Meghan, deren Ehemann ein erfolgreicher Fernsehmoderator ist und die sich im Londoner Stadthaus um ihre zwei Kinder kümmert. Meghan, die jeden Tag grußlos an Agatha vorbeiläuft. Und die nichts spürt von ihren begehrlichen Blicken. Dabei verbindet die beiden Frauen mehr, als sie ahnen. Denn sie beide haben dunkle Geheimnisse, in beider Leben lauern Neid und Gewalt. Und als Agatha nicht mehr nur zuschauen will, gerät alles völlig außer Kontrolle ...

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Seitenzahl: 613

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Buch

Agatha und Meghan – zwei Frauen, beide wohnen in London. Und beide erwarten ein Kind. Doch Meghan scheint es auf die Sonnenseite des Lebens geschafft zu haben: Ihr charmanter Ehemann ist ein erfolgreicher Fernsehmoderator, Meghan selbst kümmert sich mit Leidenschaft um ihre beiden Kinder. Dass die neue Schwangerschaft nicht wirklich geplant war, ist höchstens ein nettes Detail für Meghans beliebten Mami-Blog.

So zumindest wirkt die Bilderbuchfamilie aus der Ferne auf Agatha. Denn die Verkäuferin aus ärmlichen Verhältnissen, deren abwesender Verlobter Soldat bei der Marine ist, beobachtet fasziniert jeden von Meghans Schritten. Sie selbst hatte im Leben deutlich weniger Glück, hat mit Missbrauch und Verlust zu kämpfen gehabt. Nun hofft sie, endlich Frieden zu finden. Doch sowohl in Meghans als auch in Agathas Leben tun sich schnell Risse auf. Risse, durch die Dunkelheit, Neid und Gewalt eindringen. Und während Agathas Realität sich zunehmend als gefährliches Gespinst aus Lügen und Illusionen erweist, geraten die Dinge auch für Meghan außer Kontrolle …

Weitere Informationen zu Michael Robothamsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

Michael Robotham

Die Rivalin

Thriller

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Secrets she keeps« bei Sphere, einem Imprint der Little, Brown Book Group, London.
Das Zitat siehe hier stammt aus: Federico García Lorca, Yerma. Aus dem Spanischen von Susanne Lange, in: ders., Die Stücke. In neuer Übersetzung. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007.
Copyright © 2017 by Bookwrite Pty. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Ann-Catherine Geuder Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München nach einem Entwurf von Matt Stanton Umschlagmotiv: shuttestock/carlatayler (Kinderwagen); shutterstock/GuoZhongHua (Hintergrund) Th · Herstellung: han

Für Sara und Mark

Verhöhnt, verhöhnt fühle ich mich, erniedrigt bis zum Letzten, wenn ich sehe, wie der Weizen sprießt, die Quellen ohne Unterlass Wasser geben und die Schafe gebären, ein Lamm nach dem anderen, die Hündinnen ebenso, mir scheint, das ganze Land steht auf und stellt seine zarten, schläfrigen Kreaturen zur Schau, während ich hier zwei Hammerschläge spüre anstatt den Mund eines Kindes.

Federico García Lorca, Yerma

Erster Teil

Agatha

Ich bin nicht die wichtigste Person in dieser Geschichte. Diese Ehre gebührt Meg, die mit Jack verheiratet ist. Sie sind die perfekten Eltern von zwei perfekten Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, blond und blauäugig und süßer als Honigkuchen. Meg ist wieder schwanger, und das freut mich riesig, weil ich auch ein Baby bekomme.

Ich lege die Stirn an die Scheibe und blicke den Bürgersteig hinauf und hinunter, vorbei an dem Gemüsehändler, dem Frisörsalon und der Modeboutique. Meg ist zu spät. Normalerweise hat sie um diese Zeit schon Lucy in der Schule abgesetzt, Lachlan in den Kindergarten gebracht und sich zu ihren Freundinnen in dem Café an der Ecke gesellt. Ihre Müttergruppe trifft sich jeden Freitagvormittag, besetzt einen Tisch im Freien und rangiert die Kinderwagen wie Schwertransporter auf dem Fahrzeugdeck einer Fähre. Ein Skinny Cappuccino, ein Chai Latte, ein Kännchen Kräutertee …

Ein roter Bus hält und verdeckt die Sicht auf Barnes Green gegenüber. Als er weiterfährt, sehe ich Meg am anderen Ende der Straße. Sie hat ihre Stretchjeans und einen weiten Pullover an und trägt ein buntes Dreirad. Wahrscheinlich hat Lachlan darauf bestanden, damit zum Kindergarten zu fahren, was sie aufgehalten hat. Vermutlich ist er auch noch stehen geblieben, um die Enten, die Sportgruppe und die alten Leute anzugucken, die Tai Chi machen und sich so langsam bewegen wie Stop-Motion-Puppen.

Aus diesem Winkel sieht Meg gar nicht schwanger aus. Erst wenn sie sich zur Seite dreht, sieht man die basketballgroße Ausbuchtung, proper und rund. Letzte Woche hab ich gehört, wie sie über geschwollene Knöchel und Rückenschmerzen geklagt hat. Ich weiß, wie sie sich fühlt. Meine zusätzlichen Pfunde machen das Treppensteigen zum Fitnesstraining, und meine Blase hat die Größe einer Walnuss.

Sie blickt nach rechts und nach links, überquert die Straße, entschuldigt sich bei ihren Freundinnen, küsst sie auf beide Wangen und gurrt die Babys an. Alle Babys sind süß, sagen die Leute, und das stimmt vermutlich auch. Ich hab schon in Kinderwagen geguckt, in denen gollumartige Wesen mit hervortretenden Augen und zwei einzelnen Haarsträhnen lagen, und trotzdem immer etwas Liebenswertes entdeckt, weil sie so frisch und unschuldig sind.

Ich soll neue Ware in die Regale in Gang drei stapeln. In diesem Teil des Supermarkts kann man normalerweise problemlos trödeln, weil der Leiter, Mr Patel, ein Problem mit Produkten für weibliche Hygiene hat. Wörter wie »Tampons« oder »Slipeinlagen« kommen ihm nicht über die Lippen – stattdessen spricht er von »Frauenartikeln« oder zeigt einfach auf die Kartons, die ausgepackt werden sollen.

Ich arbeite vier Tage die Woche von frühmorgens bis um drei. Ich fülle die Regale nach und etikettiere die Waren mit Preisschildern. An der Kasse lässt Mr Patel mich nicht arbeiten, weil ich angeblich Sachen kaputt mache. Das ist nur einmal passiert, und es war nicht meine Schuld.

Bei seinem Namen hatte ich einen Pakistaner oder Inder vermutet, doch Mr Patel erwies sich walisischer als ein Gänseblümchen, mit rotem Schopf und einem gestutzten Schnurrbart, der ihn aussehen lässt wie einen – unehelichen, rothaarigen – Sohn von Adolf Hitler.

Mr Patel mag mich nicht besonders und will mich dringend loswerden, seit ich ihm erzählt hab, dass ich schwanger bin.

»Erwarten Sie keinen Mutterschaftsurlaub – Sie sind keine Vollzeitangestellte.«

»Das erwarte ich auch gar nicht.«

»Und Arzttermine legen Sie außerhalb der Arbeitszeit.«

»Klar.«

»Und wenn Sie keine Kartons mehr heben können, müssen Sie aufhören.«

»Ich kann Kartons heben.«

Mr Patel hat zu Hause eine Frau und vier Kinder, doch das bringt ihn noch lange nicht dazu, verständnisvoll mit meiner Schwangerschaft umzugehen. Ich glaube, er mag Frauen nicht besonders. Womit ich nicht meine, dass er schwul ist. Als ich in dem Supermarkt angefangen hab, klebte er an mir wie ein Hautausschlag – fand alle möglichen Vorwände, sich an mir vorbeizudrücken, wenn ich im Lagerraum war oder den Fußboden wischte.

»Uups!«, sagte er und presste seinen Steifen gegen meine Pobacken. »Ich wollte nur mein Rad abstellen.«

Perverser Sack.

Ich lade meinen Wagen wieder voll, nehme den Etikettierer und überprüfe die Einstellung. Letzte Woche hab ich die Dosenpfirsiche mit einem falschen Preis ausgezeichnet, und Mr Patel hat mir acht Pfund vom Lohn abgezogen.

»Was machen Sie?«, bellt eine Stimme. Mr Patel hat sich von hinten angeschlichen.

»Ich fülle die Tampons nach«, stottere ich.

»Sie haben aus dem Fenster gestarrt. Ihre Stirn hat diesen fettigen Abdruck auf der Scheibe hinterlassen.«

»Nein, Mr Patel.«

»Bezahle ich Sie fürs Tagträumen?«

»Nein, Sir.« Ich weise auf das Regal. »Die Tampax Super Plus sind aus – die mit dem Applikator.«

Mr Patel fühlt sich offensichtlich nicht mehr ganz wohl in seiner Haut.

»Na, dann holen Sie welche aus dem Lager.« Er weicht ein paar Schritte zurück. »In Gang zwei hat irgendjemand gekleckert. Wischen Sie das auf.«

»Ja, Mr Patel.«

»Danach können Sie nach Hause gehen.«

»Aber ich arbeite bis drei.«

»Devyani wird für Sie einspringen. Sie kann die Trittleiter hochsteigen.«

Damit meint er, dass sie nicht schwanger ist, keine Höhenangst hat und ihn sein »Fahrrad abstellen« lässt, ohne ihm feministisch zu kommen. Ich sollte ihm mit einer Klage wegen sexueller Belästigung drohen, doch ich mag diesen Job. Er gibt mir einen Vorwand, in Barnes und näher bei Meg zu sein.

Im Lagerraum hinter dem Supermarkt fülle ich einen Eimer mit Seifenwasser und suche mir einen Schwammwischer raus, der noch nicht bis auf den Metallrahmen runter ist. Gang zwei ist näher an den Kassen, deshalb hab ich gute Sicht auf das Café und die Tische draußen. Die Babys von Megs Freundinnen werden in Kinderwagen und Buggys geschnallt. Meg macht eine letzte Bemerkung, lacht und wirft ihr Haar nach hinten. Beinahe unbewusst schüttele ich auch meines. Es funktioniert nicht. Das ist das Problem mit Locken – sie fallen nicht, sie hüpfen.

Megs Frisör hat mich gewarnt, dass ich nicht den gleichen Schnitt tragen könnte wie sie, doch ich wollte nicht auf ihn hören.

Meg steht vor dem Café und schreibt jemandem eine SMS. Vermutlich Jack. Sie besprechen bestimmt, was es zum Abendessen gibt, oder machen Pläne fürs Wochenende. Ich mag Megs Schwangerschaftsjeans – mit elastischem Bund. Ich frage mich, wo sie sie gekauft hat.

Auch wenn ich Meg fast jeden Tag sehe, hab ich erst einmal mit ihr gesprochen. Sie hat mich gefragt, ob wir noch Bran Flakes haben, aber die waren ausverkauft. Ich wünschte, ich hätte Ja sagen können. Ich wünschte, ich hätte durch die Plastikschwingtür ins Lager eilen und mit einer Packung Bran Flakes nur für sie zurückkommen können.

Das war Anfang April. Ich hab damals schon vermutet, dass sie schwanger ist. Vierzehn Tage später hat sie einen Schwangerschaftstest aus dem Gang für pharmazeutische Produkte mitgenommen, und mein Verdacht hat sich bestätigt.

Jetzt sind wir beide im dritten Trimester und in vier Wochen fällig.

Meg ist mein Vorbild geworden, weil bei ihr Ehe und Mutterschaft so leicht wirken. Erstens ist sie wirklich schön. Ich wette, sie hätte auch problemlos Model werden können – nicht der magersüchtige Laufstegtyp oder das umwerfende Wow-Girl von Seite drei, sondern das gesunde, natürliche Mädchen von nebenan, das für Waschmittel oder Hausratversicherungen wirbt und immer über Blumenwiesen läuft oder an einem Strand entlang in Begleitung eines Labradors.

Ich bin nichts von alldem. Ich bin weder besonders hübsch noch besonders interessant. »Ungefährlich« ist wahrscheinlich der treffende Ausdruck. Ich bin die weniger attraktive Freundin, die alle hübschen Mädchen brauchen, weil ich mich nicht in ihr Rampenlicht dränge und mit dem zufrieden bin, was übrigbleibt (Essen und Jungs).

Es ist eine der traurigen Wahrheiten des Einzelhandels, dass die Leute Regalauffüller nicht wahrnehmen. Ich bin wie ein Stadtstreicher, der in einem Hauseingang schläft, oder ein Bettler, der ein Schild hochhält – unsichtbar. Hin und wieder stellt mir jemand eine Frage, doch sie sehen mich nicht an, wenn ich antworte. Wenn es in dem Supermarkt eine Bombendrohung geben würde und alle außer mir evakuiert worden wären, und die Polizei würde fragen: »Haben Sie noch jemanden im Laden gesehen?«, würden die Leute antworten: »Nein.«

»Auch keine Regalauffüller?«

»Was?«

»Jemand, der die Regale auffüllt.«

»Den hab ich nicht bemerkt.«

»Es war eine Frau.«

»Wirklich?«

Das bin ich – unsichtbar, unbedeutend, eine Regalauffüllerin.

Ich blicke nach draußen. Meg geht auf den Supermarkt zu. Die automatischen Türen öffnen sich. Sie nimmt einen Einkaufskorb und schlendert durch Gang Nummer eins – Obst und Gemüse. Am Ende wird sie durch den nächsten Gang zurück- und auf mich zukommen. Ich folge ihrem Weg und sehe sie kurz, als sie an den Nudeln und den Dosentomaten vorbeiläuft.

Dann biegt sie in meinen Gang ein. Ich schiebe den Eimer zur Seite, trete einen Schritt zurück und frage mich, ob ich mich lässig an meinen Wischschwamm lehnen oder ihn wie ein Holzgewehr schultern sollte.

»Vorsicht, der Boden ist nass.« Ich höre mich an, als würde ich mit einer Zweijährigen reden.

Meine Stimme überrascht sie. Sie murmelt ein Dankeschön und gleitet an mir vorbei, sodass unsere Bäuche sich beinahe berühren.

»Wann ist es bei Ihnen so weit?«, frage ich.

Meg bleibt stehen und dreht sich um. »Anfang Dezember.« Sie bemerkt, dass ich ebenfalls schwanger bin. »Und bei Ihnen?«

»Auch Anfang Dezember.«

»Welches Datum?«, fragt sie.

»Fünfter Dezember.«

»Ein Junge oder ein Mädchen?«

»Keine Ahnung. Und bei Ihnen?«

»Ein Junge.«

Sie trägt immer noch Lachlans Dreirad. »Sie haben schon eins«, sage ich.

»Zwei«, erwidert sie.

»Wow!«

Ich starre sie an. Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden. Ich gucke auf meine Füße, den Eimer, die Kondensmilch und das Pulver für Instant-Vanillesauce. Ich sollte noch etwas sagen, aber ich kann nicht mehr denken.

Megs Korb ist schwer. »Na dann, alles Gute.«

»Ihnen auch«, sage ich.

Dann ist sie weg und auf dem Weg zur Kasse. Plötzlich fallen mir all die Dinge ein, die ich hätte sagen können. Ich hätte sie fragen können, wo sie das Baby bekommt. Was für eine Art von Geburt? Ich hätte eine Bemerkung über ihre Stretchjeans machen und sie fragen können, wo sie sie gekauft hat.

Meg hat sich an der Kasse angestellt und blättert durch eine Klatschzeitschrift, bis sie dran ist. Die neue Vogue ist noch nicht erschienen, also begnügt sie sich mit Tattler und einer Ausgabe von Private Eye.

Mr Patel fängt an, ihre Waren einzuscannen: Eier, Milch, Kartoffeln, Mayonnaise, Rucola, Parmesan. Der Inhalt des Einkaufskorbes eines Menschen sagt eine Menge über ihn aus; die Vegetarier, Veganer, Alkoholiker, Schokoholiker, Weight Watchers, Fünf-Tage-Normalesser-zwei-Tage-Faster, Katzenliebhaber, Hundebesitzer, Kiffer, Magenleidenden, Laktoseintoleranten und die Leute mit Schuppen, Diabetes, Vitaminmangel, Verstopfung oder eingewachsenen Fußnägeln.

Daher weiß ich so viel über Meg. Ich weiß, dass sie eine vom Glauben abgefallene Vegetarierin ist, die wieder angefangen hat, rotes Fleisch zu essen, seit sie schwanger ist, höchstwahrscheinlich wegen des Eisens. Sie mag Tomatensaucen, frische Pasta, Hüttenkäse, dunkle Schokolade und diese Mürbekekse in Dosen.

Jetzt hab ich mit ihr gesprochen. Wir haben eine Verbindung hergestellt. Wir werden Freundinnen werden, Meg und ich, und ich werde genauso sein wie sie. Ich werde mir ein reizendes Zuhause erschaffen und meinen Mann glücklich machen. Wir werden zusammen Yogakurse machen, Rezepte austauschen und uns jeden Freitagmorgen mit unserer Müttergruppe zum Kaffee treffen.

Meghan

Ein weiterer Freitag. Ich zähle sie runter, streiche sie im Kalender aus und mache Kerben in die Wand. Diese Schwangerschaft kommt mir länger vor als die anderen beiden. Beinahe scheint es, als würde mein Körper dagegen rebellieren und zu wissen verlangen, warum er nicht gefragt wurde.

Gestern Nacht dachte ich, ich hätte einen Herzinfarkt, aber es war nur Sodbrennen. Chicken Madras war ein großer Fehler. Ich habe eine ganze Flasche Gaviscon getrunken, das nach flüssiger Kreide schmeckt, und musste danach rülpsen wie ein Fernfahrer. Wenn das Baby rauskommt, sieht es wahrscheinlich aus wie Andy Warhol.

Jetzt muss ich pinkeln. Ich hätte im Café gehen sollen, aber da musste ich noch nicht. Meine Beckenbodenmuskeln leisten Schwerstarbeit, wie ich so durch den Park haste und jedes Mal fluche, wenn Lachlans Dreirad gegen meine Schienbeine stößt.

Bitte nicht pinkeln. Bitte nicht pinkeln.

Eine Turngruppe hat eine Ecke des Parks übernommen. An anderer Stelle stehen Personal Trainer neben ihren Kunden und feuern sie an, Liegestützen oder Sit-ups zu machen. Vielleicht sollte ich einen von ihnen engagieren, wenn alles vorbei ist. Jack hat angefangen, Bemerkungen über meinen Umfang zu machen. Er weiß, dass ich diesmal dicker bin, weil ich die Babypfunde nach Lachlans Geburt noch nicht wieder losgeworden war.

Man sollte mir keine Schuldgefühle machen. Schwangere Frauen sollten Schokolade essen, praktische Pyjamas tragen und Sex im Dunkeln haben dürfen. Nicht dass es davon dieser Tage allzu viel geben würde. Jack hat mich seit Wochen nicht angerührt. Ich glaube, er hat eine seltsame Aversion dagegen, mit einer Frau zu schlafen, die sein Kind in sich trägt; er sieht mich als eine Art jungfräuliche Madonnengestalt, die nicht befleckt werden darf.

»Es ist nicht, weil du fett bist«, hat er neulich abends gesagt.

»Ich bin nicht fett, ich bin schwanger.«

»Natürlich, das meinte ich auch.«

Ich habe ihn Arschloch genannt. Er hat Meghan zu mir gesagt. Das macht er, wenn wir uns streiten. Ich hasse die lange Form meines Namens. Meg mag ich, weil es mich an Muskatnuss erinnert – ein exotisches Gewürz, um das Männer und ganze Länder Kriege geführt haben.

Jack und ich führen eher Scharmützel als Schlachten. Wir sind wie Diplomaten im Kalten Krieg, die sich mit Nettigkeiten bedenken, während sie heimlich Munitionslager bilden. Wann geht Paaren der Gesprächsstoff aus, frage ich mich. Wann lässt die Leidenschaft nach? Wann werden die Unterhaltungen geistlos und öde? Wann schaffen es die iPhones auf den Abendbrottisch? Wann gehen Müttergruppen dazu über, statt über Babys zu reden, über Männer zu lästern? Wann wird es zum Liebesbeweis, einen Mann stubenrein abzurichten? Wann wird die Kluft zwischen dem Traummann jeder Frau und der Traumfrau jedes Mannes eine Reise von einem Pol zum anderen?

Oh, das ist gut. Ich sollte es für meinen Blog notieren.

Nein, geht nicht. Als wir geheiratet haben, habe ich Jack versprochen, keine von diesen Ehefrauen zu werden, die versuchen würde, ihn zu etwas zu machen, was er nicht ist. Ich habe mich in ihn verliebt, »wie gesehen« und geliefert, von der Stange, kein individueller Zuschnitt nötig. Ich bin glücklich mit meiner Entscheidung und weigere mich, Zeit damit zu verschwenden, über alternative Leben nachzudenken.

Unsere Ehe ist gar nicht so schlecht. Sie ist eine wahre Partnerschaft, eine Begegnung verwandter Geister und Seelen. Nur von Nahem sind die Risse erkennbar, wie bei einer zierlichen Vase, die nach einem Bruch wieder zusammengeklebt wurde. Offenbar fällt es niemandem auf, aber ich hätschele diese Vase in meinen Gedanken, hoffe, dass sie das Wasser noch hält, und sage mir, dass das Geholper in der Lebensmitte wie diese Rüttelschwellen ist, die uns dazu bringen, das Tempo zu drosseln und den Duft der Rosen zu riechen.

Jack und ich hatten kein weiteres Kind vorgesehen. Das ist unser »Uups«-Baby, ein Zufallsprodukt, ungeplant, aber nicht ungewollt – jedenfalls von mir nicht. Wir hatten uns für den vierzigsten Geburtstag eines Freundes ein rares freies Wochenende genommen. Meine Mutter hatte angeboten, auf Lucy und Lachlan aufzupassen. Jack und ich haben zu viel getrunken. Haben getanzt. Sind danach ins Bett gefallen. Haben am Morgen miteinander geschlafen. Jack hatte die Kondome vergessen. Wir haben es riskiert. Warum auch nicht, wenn man bedenkt, wie oft wir einen Quickie riskiert hatten, nur um mittendrin unterbrochen zu werden von »Mummy, ich hab Durst« oder »Mummy, ich kann Bunny nicht finden« oder »Mummy, ich hab ins Bett gemacht«.

Meine anderen Schwangerschaften waren sorgfältig geplant gewesen wie militärische Feldzüge, aber diese war buchstäblich ein Schuss im Dunkeln.

»Wenn es ein Mädchen wird, sollten wir sie Roulette nennen«, sagte Jack, als der Schock abgeebbt war.

»Wir nennen sie nicht Roulette.«

»Okay.«

Diese Witze folgten auf die Diskussionen und Vorwürfe, die mittlerweile aufgehört haben, aber vermutlich wieder hochkommen, wenn Jack wütend oder gestresst ist.

Er ist Sportreporter für einen Kabelsender und macht im Winter Live-Schaltungen von der Premier League und eine Zusammenfassung der Partien nach Spielschluss mit allen Toren und Schützen. Im Sommer berichtet er von diversen anderen Sportereignissen, darunter die Tour de France, aber nie Wimbledon oder die US Open. Er ist ein aufsteigender Star, das bedeutet wichtigere Spiele, mehr Zeit auf dem Bildschirm und einen größeren Bekanntheitsgrad.

Jack liebt es, wiedererkannt zu werden. Normalerweise sind es Menschen, die vage meinen, ihn schon mal irgendwo getroffen zu haben. »Sind Sie nicht irgendjemand?«, fragen sie, wenn sie unser Gespräch unterbrechen, Jack umschwärmen und mich ignorieren. Ich gucke auf ihre Hinterköpfe und möchte sagen: »Bin ich unsichtbar oder was?« Stattdessen lächele ich und lasse ihnen ihren Moment.

Hinterher entschuldigt sich Jack jedes Mal. Ich finde es gut, dass er ehrgeizig und erfolgreich ist, aber manchmal wünschte ich, dass er auch uns mehr von »Jack, dem Kumpel« zeigen würde statt uns immer die gestresste Version zu präsentieren, die spät nach Hause kommt und früh wieder losmuss.

»Vielleicht, wenn du wieder arbeiten würdest«, hat er gestern Abend gesagt, was ein weiterer wunder Punkt ist. Jack missfällt es, dass ich »keinen Job habe«. Seine Worte, nicht meine.

»Wer würde sich dann um die Kinder kümmern?«, fragte ich.

»Andere Frauen arbeiten auch.«

»Sie haben Kindermädchen oder Au-pairs.«

»Lucy ist in der Schule und Lachlan im Kindergarten.«

»Halbe Tage.«

»Und jetzt bist du wieder schwanger.«

Unsere Diskussionen konzentrieren sich immer auf das gleiche alte Terrain, und wir werfen Granaten aus unseren jeweiligen Schützengräben. »Ich habe meinen Blog«, sagte ich.

»Und wofür soll der gut sein?«

»Im letzten Monat hab ich zweihundert Pfund verdient.«

»Einhundertachtundsechzig«, erwiderte er. »Ich mache die Abrechnungen.«

»Und was ist mit all den Sachen, die ich kostenlos geschickt kriege? Kleidung. Babynahrung. Windeln. Dieser neue Kinderwagen ist ein Spitzenmodell.«

»Wir würden gar keinen Kinderwagen brauchen, wenn du nicht schon wieder schwanger wärst.«

Ich verdrehte die Augen und versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Wenn ich wieder arbeiten würde, würde mein Gehalt komplett für Kinderbetreuungskosten draufgehen. Und im Gegensatz zu dir, Jack, stemple ich nicht ein und aus. Wann bist du zum letzten Mal aufgestanden, weil deine Kinder einen Albtraum hatten oder einen Wasserträger brauchten?«

»Du hast recht«, sagte er sarkastisch. »Das liegt daran, dass ich morgens aufstehe und arbeiten gehe, damit ich dieses wunderbare Haus und unsere zwei Wagen und die ganzen Klamotten in deinem Kleiderschrank bezahlen kann … und die Ferienkurse der Schule, das Fitnesscenter …«

Ich hätte die Klappe halten sollen.

Jack macht meinen Blog klein, aber ich habe mehr als sechstausend Follower, und im letzten Monat hat eine Elternzeitschrift Mucky Kids zu einem der fünf besten Mama-Blogs in Großbritannien erklärt. Das hätte ich Jack um die Ohren hauen sollen, aber da war er schon duschen gegangen. Als er wieder nach unten kam, trug er nichts außer seinem kurzen Bademantel, über den ich immer lachen muss. Nachdem er sich entschuldigt hatte, bot er an, meine Füße zu reiben. Ich zog eine Augenbraue hoch und fragte: »Woran willst du sie denn reiben?«

Wir begnügten uns mit einer Tasse Tee, diskutierten über die Anstellung eines Kindermädchens und arbeiteten das immer gleiche Für und Wider ab. Theoretisch finde ich die Idee großartig – mehr Zeit für mich, mehr Schlaf und mehr Energie für Sex –, aber dann stelle ich mir ein strammes polnisches Mädchen vor, das sich bückt, um die Geschirrspülmaschine einzuräumen, oder nur mit einem locker gebundenen Handtuch bekleidet aus dem Bad kommt. Bin ich paranoid? Vielleicht. Klug? Unbedingt.

Ich habe Jack bei der Olympiade in Peking kennengelernt. Ich hatte einen Job im Medienzentrum, wo ich für die Betreuung der akkreditierten Journalisten zuständig war. Jack arbeitete für Eurosport. Er war damals noch relativ neu und unerfahren, arbeitete sich gerade erst ein und beobachtete, wie alles funktionierte.

In Peking waren wir beide zu beschäftigt, um uns wirklich zu bemerken, aber nach dem Ende der Spiele lud die gastgebende Sendeanstalt zu einer Party für alle assoziierten Medien. Ich kannte mittlerweile eine Menge Journalisten, von denen einige ziemlich berühmt und die meisten ziemlich langweilig waren, weil sie immer nur über den Job redeten. Jack schien anders zu sein. Er war lustig. Cool. Sexy. Ich mochte alles an ihm, inklusive seines Namens. »Jack« wie ein allerweltsmäßiger Tom, Dick oder Harry. Außerdem hatte er ein tolles Lächeln und eine Filmstarfrisur. Ich beobachtete ihn von der anderen Seite des Raumes und machte den Fehler, binnen sechzig Sekunden unsere gesamte Beziehung zu planen. Ich sah uns in London heiraten, Flitterwochen auf Barbados und mindestens vier Kinder, einen Hund, eine Katze und ein Haus in Richmond.

Die Party näherte sich ihrem Ende. Ich legte mir einen schlauen Satz zurecht, mit dem ich ihn ansprechen wollte, und bahnte mir einen Weg durch die Menge. Aber bevor ich Jack erreicht hatte, umgarnte ihn schon eine Reporterin von Sky Italia. Viel Haar, üppige Figur, das Gesicht nah an seinem, um sich schreiend zu verständigen. Zwanzig Minuten später sah ich ihn mit der Italienerin abziehen und fühlte mich unwillkürlich betrogen. Ich fand ein Dutzend Gründe, warum ich Jack nicht mochte. Er war großspurig. Er färbte sich die Haarspitzen. Er hatte gebleichte Zähne. Ich sagte mir, dass er nicht mein Typ war, weil ich nicht auf gut aussehende Männer stehe. Das war möglicherweise keine bewusste Entscheidung. Gut aussehende Männer interessieren sich in der Regel nicht für mich.

Es dauerte zwei Jahre, bis wir uns wiedertrafen. Das Internationale Olympische Komitee gab einen Empfang für die Delegierten, die sich zur Inspektion der Sportstätten für die Spiele 2012 in London aufhielten. Ich sah Jack im Hotelfoyer mit einer Frau streiten. Er war lebhaft und in irgendeinem Punkt unerbittlich. Sie weinte. Später sah ich ihn allein an der Bar sitzen, Gratisdrinks trinken und Kanapees von den Tabletts der Kellner fischen.

Ich drängte mich bis zu ihm durch, sagte Hallo und lächelte.

Wir plauderten, lachten, tranken. Ich bemühte mich, mich nicht zu sehr zu bemühen.

»Ich brauch frische Luft«, sagte Jack und wäre fast von seinem Barhocker gefallen. »Lust auf einen Spaziergang?«

»Klar doch.«

Es war schön, an der frischen Luft zu sein, im Gleichschritt zu gehen und sich aneinander zu lehnen. Er kannte ein Café in Covent Garden, das bis spät geöffnet hatte. Wir redeten, bis wir rausgeworfen wurden. Jack brachte mich bis vor meine Haustür.

»Würdest du mit mir ausgehen?«

»Für ein Date?«

»Ist das okay?«

»Sicher.«

»Wie wär’s mit Frühstück?«

»Es ist halb drei Uhr nachts.«

»Dann Brunch.«

»Heute, meinst du?«

»Ja.«

»Wir könnten Mittag essen gehen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann.«

»Du klingst bedürftig.«

»Bin ich auch.«

»Warum hast du dich mit dieser Frau gestritten, mit der ich dich vorhin gesehen hab?«

»Sie hat sich von mir getrennt.«

»Warum?«

»Sie sagt, ich wäre zu ehrgeizig.«

»Stimmt das?«

»Ja.«

»Das ist alles?«

»Außerdem hat sie mir vorgeworfen, ihre Fische umgebracht zu haben.«

»Ihre Fische?«

»Sie hat tropische Zierfische. Ich sollte auf sie aufpassen und hab aus Versehen die Wasserheizung abgeschaltet.«

»Als du mit ihr zusammengewohnt hast?«

»Wir haben eigentlich nicht richtig zusammengewohnt. Ich hatte eine Schublade in ihrem Kleiderschrank. Darin hat sie meine Eier aufbewahrt.«

»Sie hat geweint.«

»Sie ist eine gute Schauspielerin.«

»Hast du sie geliebt?«

»Nein. Bist du immer so?«

»Wie?«

»Inquisitorisch.«

»Es interessiert mich.«

Er lachte.

Unser erstes richtiges Date war ein Lunch in Covent Garden, da wir beide in der Nähe arbeiteten. Er führte mich in die Brasserie Blanc in der Opera Terrace aus. Hinterher sahen wir den Jongleuren, Akrobaten, Straßensängern und lebenden Statuen zu. Es machte Spaß, mit Jack zusammen zu sein. Er war neugierig, aufmerksam und sehr unterhaltsam.

Am nächsten Abend gingen wir wieder aus und teilten uns ein Taxi nach Hause. Es war schon nach Mitternacht. Wir mussten am nächsten Tag beide arbeiten. Jack fragte nicht, ob er mit hochkommen könnte, doch ich fasste seine Hand und führte ihn die Treppe hinauf.

Ich verliebte mich. Irrsinnig. Innig. Hoffnungslos. Das sollte jedem mindestens einmal passieren – auch wenn die Liebe nie hoffnungslos sein sollte. Ich vergötterte alles an Jack – sein Lächeln, sein Lachen, sein Aussehen, seine Art zu küssen. Er war wie eine unerschöpfliche Packung Schokokekse. Ich wusste, ich aß zu viele und mir würde schlecht werden, doch ich tat es trotzdem.

Wir heirateten. Jacks Karriere führte weiter nach oben, trat dann für eine Weile auf der Stelle und kommt jetzt gerade wieder in Fahrt. Ich lehnte eine Beförderung ab, für die ich nach New York hätte gehen müssen. Lucy wurde geboren, zwei Jahre später Lachlan. Meine Eltern halfen uns, das Haus in Barnes zu kaufen. Ich wollte weiter in den Süden ziehen, um eine kleinere Hypothek zu haben. Jack wollte die Postleitzahl und den Lebensstil.

Da sind wir also – die perfekte Familie –, mit einem »Uups«-Baby unterwegs, während die Zweifel und Konflikte des mittleren Alters an die Oberfläche treten. Ich liebe meine Kinder. Ich liebe meinen Mann. Trotzdem muss ich manchmal in meiner Erinnerung kramen, um Momente zu finden, die mich richtig glücklich machen.

Der Mann, in den ich mich verliebt habe – der Mann, der zuerst gesagt hat, dass er mich liebt –, hat sich verändert. Der unbekümmerte, lockere Jack hat sich in einen reizbaren Mann verwandelt, dessen Gefühle so fest in Stacheldraht gewickelt sind, dass ich keine Hoffnung mehr hege, sie freizulegen. Ich konzentriere mich nicht auf seine Fehler, führe im Kopf keine Liste seiner Unzulänglichkeiten oder wäge ab, ob ich ihn noch liebe. Ich wünschte nur, er wäre nicht so auf sich selbst oder die Frage fixiert, warum unsere Familie nicht mehr so ist wie die Familien auf dem Disney Channel, wo alle glücklich, gesund und witzig sind und im Garten die Einhörner warten.

Agatha

Meine Schicht ist zu Ende. Ich ziehe mich im Lagerraum um, rolle meinen Kittel samt Namensschild zusammen und schiebe ihn hinter die Dosen mit Feta in Olivenöl. Mr Patel erwartet, dass die Angestellten ihre Arbeitskleidung mit nach Hause nehmen, aber ich mache nicht die Wäsche für ihn.

Ich werfe meinen Wintermantel über, schlüpfe aus der Hintertür und drücke mich an den Mülltonnen und weggeworfenen Kartons vorbei. Ich schlage meine Kapuze hoch und stelle mir vor, dass ich aussehe wie Meryl Streep in Die Geliebte des französischen Leutnants. Sie war eine von einem französischen Schiffsoffizier verlassene Hure, die ihr Leben damit zubrachte, aufs Meer zu starren und auf seine Rückkehr zu warten. Mein Seemann kommt zu mir nach Hause, und ich schenke ihm ein Baby.

Am Ostrand von Putney Common erwische ich einen Doppeldecker der Linie 22, der über die Lower Richmond Road nach Putney Bridge fährt. In der ersten Zeit meiner Schwangerschaft waren die Leute sich nicht sicher, ob sie mir gratulieren oder mir eine Mitgliedschaft in einem Fitnessclub schenken sollten, doch jetzt bekomme ich selbst in vollen Bussen und U-Bahnen einen Platz angeboten. Ich liebe es, schwanger zu sein, das Baby in mir zu spüren, wie es strampelt, Schluckauf hat. Es ist, als wäre man nie mehr allein.

Ich hab immer jemanden, der bei mir ist und meinen Geschichten lauscht.

Mir gegenüber sitzt ein Geschäftsmann in Anzug und Krawatte. Er ist Mitte vierzig, und sein Haar hat die Farbe von Pilzsuppe. Sein Blick wandert über meinen Babybauch, und er lächelt, weil er mich attraktiv findet. Fruchtbar. Ist das nicht ein gutes Wort? Frucht-bar.

Mr Businessman checkt meinen Rockstar-Ausschnitt. Ich frage mich, ob ich ihn verführen könnte. Manche Männer stehen darauf, mit schwangeren Frauen zu schlafen. Ich könnte ihn mit nach Hause nehmen, fesseln und sagen: »Lass dich fallen.« Das würde ich natürlich nie tun, aber Hayden ist seit sechs Monaten weg, und ein Mädchen hat auch Bedürfnisse.

Mein Matrosenjunge ist Kommunikationstechniker bei der Royal Navy, obwohl ich nicht so genau weiß, was das bedeutet. Es hat irgendwas mit Computern und Spionage zu tun und Berichten an ranghöhere Offiziere – was ziemlich wichtig klang, als Hayden versucht hat, es mir zu erklären. Im Moment ist er auf der HMS Sutherland und jagt irgendwo im Indischen Ozean Piraten. Es ist ein achtmonatiger Einsatz, er kommt erst Weihnachten nach Hause.

Wir haben uns letztes Jahr Silvester in Soho kennengelernt, in einem Nachtclub. Heiß und laut mit überteuerten Drinks und Stroboskoplicht. Ich wäre schon weit vor Mitternacht am liebsten nach Hause gegangen. Die meisten Typen waren betrunken und musterten die Teenager-Mädchen in ihren nichts bedeckenden Kleidchen und Fuck-me-Highheels. Die Nutten heutzutage tun mir leid – wie fallen sie überhaupt noch auf?

Hin und wieder brachte irgendeiner der Typen den Mut auf, ein Mädchen zum Tanzen aufzufordern, nur um mit einem Kopfschütteln oder einem Verziehen der geschminkten Lippen abgewiesen zu werden. Ich war anders. Ich sagte Hallo. Ich zeigte Interesse. Ich ließ es zu, dass Hayden sich an mich drängte und mir ins Ohr brüllte. Wir küssten uns. Er packte meinen Arsch. Er vermutete, dass er gelandet war.

Ich war wahrscheinlich die älteste Frau in dem Pub, hatte aber verdammt viel mehr Klasse als die anderen. Zugegeben, die Schwerkraft ist nicht ganz spurlos an meinem Hintern vorübergegangen, doch ich hab ein hübsches Gesicht, wenn ich mich vernünftig schminke, und mit den richtigen Kleidern kann ich meinen muffinförmigen Oberkörper kaschieren. Am wichtigsten aber ist, ich hab tolle Brüste. Mit elf oder zwölf hab ich das erste Mal bemerkt, wie Leute meinen Busen anstarrten – Jungen, Männer, Lehrer, Freunde der Familie. Anfangs hab ich sie ignoriert – meine Brüste, meine ich. Dann hab ich versucht, sie wegzuhungern oder zu verstecken, aber sie ließen sich nicht wegquetschen oder flachdrücken.

Hayden ist ein Brüstetyp. Das hab ich gleich gemerkt, als er mich (oder sie) zum ersten Mal angestarrt hat. Männer sind so vorhersehbar. Ich konnte sehen, wie er sich fragte, ob sie echt sind. Darauf kannst du wetten, Freundchen!

Zunächst dachte ich, er könnte vielleicht ein bisschen jung für mich sein. Er hatte noch Pickel am Kinn und sah ein bisschen mager aus, aber er hatte wunderbar dichtes, welliges Haar, was an einem Jungen immer irgendwie eine Verschwendung ist.

Ich ließ mich von ihm nach Hause bringen, und er vögelte mich wie ein Mann, der dachte, dass er vielleicht die nächsten acht Monate keine Gelegenheit mehr bekäme, was wahrscheinlich stimmte, obwohl ich nicht weiß, was Matrosen auf ihrem Landurlaub so treiben.

Wie viele meiner Freunde hatte er es am liebsten, wenn ich oben war, damit meine Brüste über seinem Gesicht hingen, während ich mich stöhnend aufbäumte. Hinterher wusch ich mich im Bad und erwartete eigentlich, dass Hayden sich anziehen und gehen würde. Stattdessen schlüpfte er tiefer unter die Decke und schlang die Arme um mich.

Am Morgen war er immer noch da. Ich machte ihm Frühstück. Danach gingen wir wieder ins Bett. Wir aßen zu Mittag und gingen wieder ins Bett. Das war mehr oder weniger das Drehbuch der folgenden zwei Wochen. Irgendwann wagten wir uns nach draußen, und er behandelte mich wie seine Freundin. Auf unserem ersten richtigen Date ist er mit mir ins National Maritime Museum in Greenwich gefahren. Wir haben den River Bus vom Bankside Pier genommen, und Hayden hat mir die Sehenswürdigkeiten auf dem Weg gezeigt, zum Beispiel die HMS Belfast, ein Museumsschiff in der Nähe der Tower Bridge. Hayden kannte seine komplette Geschichte – dass es im Zweiten Weltkrieg von einer deutschen Mine beschädigt worden war und später an der Landung in der Normandie teilgenommen hatte.

Im Maritime Museum erzählte er mir von Lord Nelson und seinen Schlachten gegen Napoleon.

Ein Gemälde fiel mir besonders ins Auge. Es hieß Tahiti Revisited und zeigte eine Insel im Südpazifik mit felsigen Gipfeln, sattgrünen Wäldern, Palmen und üppigen Frauen, die in einem Fluss badeten. Als ich die Szene betrachtete, konnte ich förmlich den warmen Sand zwischen meinen Zehen spüren, die Frangipaniblüten riechen und fühlen, wie das Salzwasser auf meiner Haut trocknete.

»Bist du schon mal in Tahiti gewesen?«, fragte ich Hayden.

»Noch nicht«, antwortete er, »aber eines Tages werde ich dorthin fahren.«

»Nimmst du mich mit?«

Er lachte und sagte, ich hätte schon auf dem River Bus seekrank ausgesehen.

Bei einem anderen Date sind wir zum Imperial War Museum in Südlondon gefahren, und ich hab gelernt, dass im Zweiten Weltkrieg mehr als fünfzigtausend britische Soldaten ertrunken sind. Da bekam ich Angst um Hayden, doch er meinte, das letzte britische Kriegsschiff, das auf See verloren wurde, sei die HMS Coventry im Falklandkrieg gewesen, da war Hayden noch nicht mal geboren.

Wir hatten drei Monate zusammen, bevor Hayden sich wieder auf seinem Schiff melden musste. Ich weiß, das kommt einem nicht lang vor, aber ich hab mich in dieser Zeit wie verheiratet gefühlt, als wäre ich Teil von etwas, das größer war als wir beide. Ich weiß, dass er mich liebt. Das hat er mir gesagt. Und auch wenn er neun Jahre jünger ist als ich, ist er alt genug, eine Familie zu gründen. Wir sind gut zusammen. Ich bringe ihn zum Lachen, und der Sex ist toll.

Hayden weiß nicht, dass ich schwanger bin. Der dumme Junge denkt, wir hätten uns getrennt, bevor er aufgebrochen ist. Er hat mich dabei erwischt, wie ich seine E-Mails und SMS durchgesehen hab, und vollkommen überreagiert und behauptet, ich wäre paranoid. Wir warfen uns Dinge an den Kopf, die wir jetzt bestimmt beide bereuen. Hayden ist aus meiner Wohnung gestürmt und erst nach Mitternacht zurückgekommen. Betrunken. Ich hab so getan, als würde ich schlafen. Er nestelte an seinen Klamotten rum, zog seine Jeans aus und fiel auf den Arsch. Ich hab gespürt, dass er noch wütend war.

Am Morgen hab ich ihn ausschlafen lassen und Eier und Bacon zum Frühstück gekauft. Ich hab ihm eine Nachricht hinterlassen. In Liebe. Kuss. Als ich zurückkam, war er schon weg. Meine Nachricht lag zerknüllt auf dem Boden.

Ich hab versucht, ihn anzurufen. Er ist nicht rangegangen. Ich bin zur Bushaltestelle und zum Bahnhof gelaufen, doch ich wusste, dass er schon weg war. Ich hab Nachrichten hinterlassen, erklärt, dass es mir leidtut, und ihn angefleht, mich anzurufen, doch er hat auf keine meiner E-Mails oder SMS reagiert und sich auf Facebook mit mir »entfreundet«.

Hayden kapiert nicht, dass ich versucht habe, uns beide zu beschützen. Denn ich weiß, da draußen gibt es eine Menge Frauen, die mit Vergnügen den Freund oder Ehemann einer anderen stehlen würden. Zum Beispiel seine Ex, Bronte Flynn, eine richtige Schlampe, berüchtigt dafür, »die Britney zu machen« (keinen Slip zu tragen). Ich weiß, dass Hayden sie immer noch auf Facebook und Instagram verfolgt und ihre schmutzigen Selfies kommentiert. Wegen ihr hab ich mir sein Handy angesehen – aus Liebe, nicht aus Eifersucht.

Jedenfalls erwarten wir jetzt ein Baby, und ich will ihm die Neuigkeit nicht in einer E-Mail sagen, sondern von Angesicht zu Angesicht. Was natürlich nicht geht, wenn er nicht mit mir reden will. Marineangehörige im Einsatz auf See dürfen pro Woche zwanzig Minuten per Satellit nach Hause telefonieren, aber dafür muss Hayden mich als seine Freundin anmelden und der Navy meine Nummer nennen.

In der vergangenen Woche hab ich mit dem Sozialbüro der Royal Navy gesprochen und ihnen gesagt, dass ich schwanger bin. Eine nette Frau hat sich die Details notiert. Sie klang sehr verständnisvoll. Jetzt werden sie dafür sorgen, dass Hayden mich anruft. Der Kapitän wird ihm den direkten Befehl geben. Deswegen bin ich jetzt jeden Abend zu Hause und warte neben dem Telefon.

Meghan

Mein Vater wird fünfundsechzig und geht diesen Monat nach zweiundvierzig Jahren bei ein und demselben Finanzinstitut in Rente.

Heute Abend ist sein Geburtstagsessen, und Jack ist zu spät. Er hat versprochen, um halb sechs zu Hause zu sein, und es ist schon nach sechs. Ich werde ihn nicht anrufen, weil er mir vorwerfen würde zu nörgeln.

Endlich kommt er und schiebt es auf den Verkehr. Wir streiten uns flüsternd im Wagen, während Lucy und Lachlan angeschnallt in ihren Kindersitzen den Soundtrack von Die Eiskönigin hören.

Jack beschleunigt vor einer gelben Ampel.

»Du fährst zu schnell.«

»Du hast gesagt, wir wären zu spät.«

»Und deshalb willst du uns jetzt umbringen?«

»Sei doch nicht albern.«

»Du hättest früher losfahren sollen.«

»Du hast recht. Ich hätte schon mittags nach Hause kommen sollen. Wir hätten uns gemeinsam die Nägel lackieren können.«

»Arschloch!«

Es rutscht mir einfach so raus. Lucys Kopf schnellt nach oben. Jack sieht mich mit einem Blick an, der sagt: »Also wirklich, vor den Kindern.«

»Du hast ein böses Wort gesagt«, protestiert Lucy.

»Nein, hab ich nicht. Ich hab gesagt, Barsch gekocht. Vielleicht gibt’s das zum Abendessen.«

Sie verzieht das Gesicht.

»Ich mag kein Barsch gekocht. Es ist igitt«, sagt Lachlan, der mehr schreit als spricht.

»Du hast es doch noch nie probiert.«

»Igitt, igitt, igitt, Barsch gekocht«, singt er noch lauter als zuvor.

»Okay, dann essen wir was anderes«, sage ich.

Wir fahren schweigend im Schritttempo Richtung Cheswick Bridge. Ich denke an all die Mahlzeiten, die Jack ruiniert hat, weil er zu spät gekommen ist. Es macht mich rasend, dass er das, was ich tue, lächerlich findet und kleinredet. Um sieben kommen wir bei meinen Eltern an. Die Kinder rennen ins Haus.

»Manchmal kannst du so ein Mistkerl sein«, sage ich und nehme die Salate, während Jack das Reisebettchen trägt.

Meine Schwester kommt heraus, um uns zu helfen. Grace ist sechs Jahre jünger als ich, glücklich single, aber immer in Begleitung eines attraktiven erfolgreichen Mannes, der den Boden verehrt, über den sie wandelt, selbst wenn sie dabei auf ihm – dem Mann – herumtrampelt.

»Wie geht’s Daddy?«, frage ich.

»Er hält Hof.« Wir umarmen uns. »Er hat den Grill angeschmissen. Es gibt also wieder verkohlte Würstchen und Fleischspieße.«

Grace und ich sehen nicht direkt aus wie Schwestern. Ich bin hübscher, aber sie hat mehr Persönlichkeit, habe ich Leute sagen hören, was ich mit vierzehn für ein Kompliment gehalten habe. Heute weiß ich es besser.

Jack stellt das Reisebettchen in einem Gästezimmer auf, bevor er sich zu den Männern im Garten gesellt, die um den Grill stehen – dem großen Gleichmacher von Legenden, wo jeder Mann König sein kann, wenn er die Zange hält. Seine ersten beiden Biere sind binnen Minuten geleert. Er holt sich ein drittes. Wann habe ich angefangen mitzuzählen?

Mum braucht Hilfe in der Küche. Wir geben Dressing zu den Salaten und Butter zu den Kartoffeln. Grace spielt mit Lucy und Lachlan und hält sie bis zum Abendessen bei Laune. Sie sagt, dass sie Kinder liebt, doch ich habe den Verdacht, dass das nur für die Kinder anderer Leute gilt, die man zurückgeben kann, wenn sie wütend, übermüdet oder launisch sind.

Ich höre Gelächter von draußen. Jack hat alle mit einer seiner Anekdoten zum Lachen gebracht. Sie lieben ihn. Er ist der Mittelpunkt, Herz und Seele jeder Party – der Fernsehstar, der reichlich Klatsch über Transfers und Neuverpflichtungen zu erzählen weiß. Viele Typen kennen sich mit Fußball aus, aber Jack hat bei dem Thema trotzdem immer das letzte Wort, weil sie glauben, dass er wegen seiner Interviews mit Spielern und Trainern mehr Einblick hat.

»Mit dem hast du Glück gehabt«, sagt meine Mutter.

»Verzeihung?«

»Mit Jack.«

Ich nicke lächelnd und blicke immer noch in den Garten, wo die Flammen auf dem Grill hochlodern.

»Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen soll«, sagt meine Mutter. Sie meint Daddys Ruhestand.

»Er hat Pläne.«

»Golf und Gartenarbeit? Das langweilt ihn nach einem Monat zu Tode.«

»Ihr könntet immer noch reisen.«

»Er will immer wieder zurück an Orte, an denen wir schon einmal waren. Für ihn sind es Pilgerfahrten.«

Sie erinnert mich daran, wie sie in dem Hotel übernachtet haben, in dem sie ihre Flitterwochen verbracht hatten. Um drei Uhr morgens wurden sie von einem Russen geweckt, der mit Geldscheinen wedelte und Sex verlangte.

»Der Laden war mittlerweile ein Bordell.«

»Klingt wie ein Abenteuer«, sage ich.

»Für diese Sorte Abenteuer bin ich zu alt.«

Als das Fleisch hinreichend verkohlt ist, setzen wir uns zum Essen an den Tisch. Lucy und Lachlan haben ihren eigenen kleinen Tisch, aber am Ende setze ich mich zu ihnen, um Lucy gut zuzureden, ein paar Happen zu essen, und Lachlan davon abzuhalten, seine Wurst in Ketchup zu ertränken.

Es gibt Reden und Trinksprüche. Daddy wird rührselig und bekommt eine belegte Stimme, als er darüber spricht, wie viel ihm seine Familie bedeutet. Jack macht weiter witzige Bemerkungen und erntet auch seine Lacher, aber es ist weder der Ort noch die Zeit dafür.

Um zehn Uhr tragen wir jeder ein schlafendes Kind ins Auto und verabschieden uns. Ich fahre. Jack döst. Als wir zu Hause sind, wecke ich ihn, und wir tragen die Kinder in ihre Betten. Es ist noch nicht einmal elf, und ich bin völlig erschöpft.

Jack möchte einen Schlummertrunk.

»Hattest du nicht schon genug?«, frage ich und will die Worte zurücknehmen, sobald sie über meine Lippen sind.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts.«

»Ich hab dich gehört.«

»Tut mir leid. Ich hab es nicht so gemeint.«

»Doch, hast du.«

»Lass uns nicht streiten. Ich bin müde.«

»Du bist immer müde.«

Zu müde für Sex, meint er.

»Ich wollte die ganze Woche Sex haben, aber da hattest du kein Interesse«, erwidere ich, was nicht stimmt.

»Kann man es mir verdenken?«, fragt Jack.

»Was soll das heißen?«

Er antwortet nicht, doch ich weiß, er meint, dass er mich im Moment nicht attraktiv findet und kein weiteres Kind wollte. Zwei reichen – ein Junge und ein Mädchen, alles abgedeckt.

»Ich hab es nicht mit Absicht gemacht«, sage ich. »Es war ein Unfall.«

»Und du hast entschieden, es zu behalten.«

»Wir waren uns einig.«

»Nein, du hast entschieden.«

»Wirklich? Erzählst du das deinen Kumpels im Pub – dass du so unter der Fuchtel stehst, dass ich dich zwinge, Kinder zu haben?«

Jack packt sein Glas fester und schließt die Augen, als würde er bis zehn zählen. Er nimmt seinen Drink mit in den Garten, wo er sich eine Zigarette aus der Packung anzündet, die er auf dem hohen Regal neben der Küchenuhr aufbewahrt. Er weiß, dass ich es hasse, wenn er raucht. Er weiß auch, dass ich mich nicht beschweren werde.

So sind unsere Streite. Wir werfen nicht mit Tellern. Wir schießen aus dem Hinterhalt. Auf wunde Punkte, Schwächen und Peinlichkeiten des anderen, die wir im Laufe unserer Ehe zu finden gelernt haben.

Irgendwann haben wir mal beschlossen, nie wütend aufeinander einzuschlafen. Ich weiß nicht, wann das anders geworden ist. Ich sage mir immer wieder, dass alles gut wird, wenn das Baby erst geboren ist. Ich werde mehr Energie haben. Seine Zweifel werden verfliegen. Wir werden wieder glücklich sein.

Agatha

Manchmal kommt es mir vor, als würde meine Vergangenheit in mir ticken wie eine Phantomuhr, die mir sagt, welche Daten beachtet und welche Sünden gebüßt werden müssen. Heute ist ein solches Datum – der zwölfte November –, eine Art Jahrestag, deshalb fahre ich unter einem trüben grauen Himmel in einem National-Express-Bus, der auf der Innenspur der Autobahn klebt, nach Norden.

Ich drücke meine Stirn an die Fensterscheibe, sehe die Autos und Laster, die uns mit spritzenden Reifen und hin und her flappenden Scheibenwischern überholen. Der Regen scheint mir besonders passend. In meinen Kindheitserinnerungen gibt es keine endlosen Sommer, keine langen Dämmerungen und im Gras zirpende Grillen. Das Leeds meiner Jugend ist für immer grau, kalt und nieselig.

Das Haus meiner Familie gibt es nicht mehr, es wurde mit Bulldozern plattgemacht, um Platz für einen Discounter zu schaffen. Meine Mutter hat stattdessen ein kleines Reihenhaus gekauft, nicht weit von unserem alten Zuhause entfernt. Mit dem Geld, das mein Stiefvater ihr hinterlassen hat. Er ist auf dem Golfplatz gestorben, nachdem er einen Ball im Teich versenkt hatte – an einem Herzinfarkt. Wer hätte gedacht, dass er ein Herz besaß? Meine Mutter hat angerufen, um mir die Nachricht mitzuteilen, und mich gefragt, ob ich zur Beerdigung kommen würde, doch ich hab ihr erklärt, dass ich mich lieber von Weitem freuen wollte.

Heute werde ich meine Mutter nicht antreffen. Sie »überwintert« in Spanien, wie sie es gern nennt, was bedeutet, dass sie sich neben einem Swimmingpool in Marbella grillen lässt wie ein Hähnchen, Sangria trinkt und unflätige Bemerkung über die Einheimischen macht. Sie ist nicht reich, sie ist nur rassistisch.

Vom Busbahnhof Leeds gehe ich zu einem Blumenladen, in dem ich mir drei kleine Sträuße mit Schleierkraut und Grün binden lasse. Die Floristin wickelt sie in Papiertuch und packt sie in eine glänzende Pappschachtel, die ich in meiner Schultertasche verstaue. Anschließend kaufe ich mir ein Sandwich und etwas zu trinken, bevor ich mit einem Minicab von der A65 aus die Kirkstall Road hinunterfahre, über den River Aire hinweg. In der Nähe von Brodlea Hill steige ich aus und überquere die Straße, klettere über einen Zaunübertritt und folge einem matschigen Pfad durch den Wald.

Ich kenne die Namen der meisten Bäume, Sträucher und Vögel, dank Nicky, meinem Exmann. Er dachte, ich würde nicht zuhören, wenn er mir Sachen zeigte, doch ich hab seinen Geschichten immer gern zugehört und gestaunt, wie viel er wusste.

Kennengelernt hab ich Nicky einen Monat nach meinem dreißigsten Geburtstag – als ich gerade dachte, dass mir die Zeit ausging, Mr Right oder Mr Wrong oder überhaupt irgendeinen »Mister« kennenzulernen. Die meisten meiner Freundinnen waren mittlerweile verheiratet oder verlobt oder in langjährigen Beziehungen. Manche waren schon zum zweiten oder dritten Mal schwanger, weil sie eine große Familie oder mehr Sozialhilfe wollten oder einfach nicht geplant hatten.

Ich lebte in London und war bei einer Zeitagentur angestellt, in deren Auftrag ich kurzfristige Vertretungen für Sekretärinnen übernahm, meistens Frauen im Mutterschutz. Ich hatte ein Einzimmerapartment über einem Kebabladen in Camden, in dem es nach der Sperrstunde Döner-Kebabs und Schlägereien gab.

Es war Halloween. Horden von Hexen, Kobolden und Gespenstern klopften an meine Tür und hielten mir ihre Säcke und Körbe hin. Nachdem ich eine weitere Spende für die Zukunft britischer Zahnärzte geleistet hatte, ertappte ich mich dabei, wie ich barfuß in der Küche stand und mich fühlte wie ein Milchkarton, den man zu lange im Kühlschrank gelassen hat.

Mein Laptop stand aufgeklappt auf dem Küchentisch, auf beiden Seiten lagen Stapel getippter Seiten. Seit drei Monaten transkribierte ich Bänder für einen Schriftsteller namens Nicholas David Fyfle, der Biografien über berühmte Militärs und Kriegshistorien verfasste. Er schickte mir die Bänder per Kurier, und ich schickte ihm die Abschriften zurück. Unser einziger anderer Kontakt bestand in den lustigen Bemerkungen, die er an den Rand schrieb, wenn er wollte, dass ich bestimmte Passagen noch einmal neu abtippte.

Ich fragte mich, ob er mit mir flirtete. Ich fragte mich, wie er aussah. Ich stellte mir einen stillen, gequälten Künstler vor, der in seiner Mansarde wunderschöne Prosa erschuf, oder einen trinkfesten Kriegskorrespondenten mit wirrem Haar, der ein Leben am Rande des Abgrunds lebte. Ich kannte ihn nur durch seine Anmerkungen und seine Stimme auf den Bändern, die sanft und freundlich klang, mit einem leichten Stottern bei bestimmten Silben und einem nervösen Lachen, wenn er den roten Faden verloren hatte.

Ich traf eine Entscheidung. Anstatt ihm die Transkripte zuzuschicken, würde ich an die Tür seines Hauses in Highgate klopfen und sie persönlich übergeben. Nicky wirkte überrascht, aber auch erfreut. Er bat mich herein und machte Tee. Er war nicht so attraktiv, wie ich gehofft hatte, aber er hatte ein nettes Gesicht und einen schlanken Körper, der aussah, als würde er noch in seine Kleider hineinwachsen.

Ich fragte ihn nach seinen Büchern. Er zeigte mir seine Bibliothek. »Lesen Sie?«

»Als Kind hab ich viel gelesen«, sagte ich. »Heute tue ich mich schwer damit, etwas auszuwählen.«

»Was für Geschichten mögen Sie denn?«

»Ich mag Happy Ends.«

»Die mögen wir alle«, erwiderte er lachend.

Ich schlug vor, dass ich die Bänder bei ihm zu Hause transkribieren könnte, um die Kurierkosten zu sparen und das Verfahren zu beschleunigen. Ich kam jeden Morgen um neun, arbeitete in seinem Esszimmer und machte hin und wieder eine Pause, um uns Tee zu kochen oder Essen in der Mikrowelle aufzuwärmen. Es brauchte wochenlanges Flirten, bis er mich küsste. Er war noch Jungfrau, glaube ich. Zärtlich und rücksichtsvoll, aufmerksam, aber nicht besonders geschickt. Ich wollte, dass er stöhnte oder schrie, wenn wir uns liebten, doch er blieb immer still.

Wenn er mit seinen Freunden zusammen war, benahm er sich wie ein typischer Mann, der gerne ein Pint trank und Pferdewetten abschloss, aber mit mir war er anders. Er machte mit mir lange Spaziergänge auf dem Land, wo wir Burgruinen erkundeten und Waldvögel beobachteten. Auf einer unserer »Expeditionen« machte Nicky mir einen Antrag, und ich sagte Ja.

»Wann werde ich deine Eltern kennenlernen?«, fragte er.

»Gar nicht.«

»Aber sie kommen doch zur Hochzeit, oder?«

»Nein.«

»Es sind deine Eltern.«

»Mir egal. Wir haben genügend andere Gäste.«

Auch nach unserer Hochzeit versuchte Nicky immer wieder, eine Versöhnung zwischen mir und meiner Familie in die Wege zu leiten.

»Du kannst nicht einfach aufhören, mit ihnen zu sprechen«, sagte er. Aber ich konnte und tat es. Es war wie in jeder Beziehung – wenn beide Parteien sich keine Mühe mehr geben, verwelkt sie und geht ein.

Der Boden fällt sanft ab, als ich einem von Pfützen übersäten Reiterpfad folge. Hin und wieder sehe ich mich um, doch niemand folgt mir. Mein Schwangerschaftsbauch ist unter meinem Mantel verborgen, doch ich spüre das Gewicht meines Babys in den Hüftgelenken und den Druck auf mein Becken. Unbeholfen erklimme ich eine Böschung und klammere mich dabei an Sprösslingen fest. Zweige und welkes Laub knacken unter meinen Schuhen. Ich erreiche eine Senke und springe mit der Anmut eines hüpfenden Nilpferds auf die andere Seite.

Die Sonne ist kräftiger geworden, und mir ist jetzt nicht mehr so kalt, ich schwitze in meinem Mantel. Einem Zickzackpfad folgend erreiche ich eine Baumgruppe neben einem verfallenen Bauernhaus. Ich höre, wie das Wasser in das tiefe Becken am Fuß des Stauwehrs weiter hügelabwärts fällt.

Ich knie auf dem feuchten Grund und rupfe Reben und Unkraut mit Erdbrocken aus dem Boden, bis ich drei Steinpyramiden freigelegt habe, die in gleichen Abständen um die Lichtung verteilt sind. Dann ziehe ich meinen Mantel aus, breite ihn wie eine Picknickdecke auf den Boden und lehne mich mit dem Rücken an die verfallene Mauer des Bauernhauses.

Ich hab diesen Platz schon lange bevor ich Nicky kannte entdeckt. Ich muss elf oder zwölf gewesen sein, als ich auf dem Treidelpfad geradelt bin, vorbei an Kirkstall Abbey und der Schmiede Richtung Horsforth. Ich strampelte in meinem Baumwollkleid und Sandalen vor mich hin, und ich erinnere mich, wie ich den Kanalbooten zuwinkte, die durch die Schleuse gesteuert wurden. Als ich um eine Ecke bog, sah ich die Reste eines Schornsteins, der zwischen den Bäumen kaum auszumachen war. Ich musste mich durch Brombeeren und Efeu kämpfen, bis ich auf das verfallene Bauernhaus stieß, das beinahe verzaubert wirkte, wie ein Märchenschloss, das in einen tausendjährigen Schlaf versetzt worden war.

Viel später führte ich Nicky hierher, und er verliebte sich ebenfalls in das Haus. Ich sagte, wir sollten das Land kaufen und das Haus wieder aufbauen; er würde dort schreiben können, und wir würden viele Kinder haben. Nicky lachte und meinte, »immer langsam mit den jungen Pferden«, doch ich versuchte damals schon, schwanger zu werden.

Ungeschützter Sex war, als würde man alle achtundzwanzig Tage ein Rubbellos kaufen, in der Hoffnung auf einen Gewinn. Ich gewann nichts. Wir besuchten Ärzte und Fruchtbarkeitskliniken und alternative Heiler. Ich probierte es mit Hormonspritzen, Vitaminen, Medikamenten, Akupunktur, Hypnose, chinesischen Kräutern und besonderer Ernährung. Der nächste folgerichtige Schritt war künstliche Befruchtung. Wir probierten es vier Mal, gaben all unser Erspartes aus, und jeder Fehlschlag war, als würde uns noch einmal das Herz gebrochen. Aus einer hoffnungsvollen Ehe war eine der Verzweiflung geworden.

Nicky wollte es nicht noch mal versuchen, tat es aber für mich. Als wir die Würfel ein letztes Mal warfen, klammerte sich ein Embryo an meine Gebärmutter wie eine Klette an einer Felsküste. Nicky nannte es unser »Wunderbaby«. Ich machte mir täglich Sorgen, weil ich nicht an Wunder glaubte.

Wochen vergingen. Monate. Ich wurde dicker. Wir wagten es, Namen auszusuchen (Chloe für ein Mädchen und Jacob für einen Jungen). Es war in der zweiunddreißigsten Woche, als ich spürte, dass das Baby sich nicht mehr bewegte. Ich fuhr direkt ins Krankenhaus. Eine der Hebammen schloss mich an eine Maschine an und konnte keinen Herzschlag feststellen. Sie sagte, wahrscheinlich wäre das Baby bloß eigenartig verrutscht, doch ich wusste, dass irgendwas nicht stimmte. Ein Arzt kam. Er machte eine weitere Ultraschalluntersuchung und konnte weder Blutfluss noch Herzschlag feststellen.

Ich hätte ein totes Baby in mir, sagte er. Kein Leben, sondern eine Leiche.

Nicky und ich weinten stundenlang, trauerten gemeinsam. Später wurde dann die Geburt eingeleitet. Ich machte die Wehen und das Pressen durch, doch es gab keinen Babyschrei, keine Freude. Man gab mir ein Bündel, und ich starrte in die Augen eines reglosen, kalten kleinen Mädchens, das nicht lange genug gelebt hatte, um einen Atemzug zu machen oder in ihren Namen hineinzuwachsen.

Hierher haben wir ihren winzigen Leichnam gebracht, Nicky und ich, haben Chloe neben dem verfallenen Bauernhaus oberhalb des Wehrs begraben, an unserem speziellen Ort. Wir haben versprochen, jedes Jahr an Chloes Geburtstag hierher zurückzukommen – der ist heute –, aber Nicky brachte es nie über sich. Wir müssten uns »nach vorn bewegen«, erklärte er mir, einen Ausdruck, den ich nie verstanden hab. Die Erde dreht sich. Zeit vergeht. Selbst wenn wir still stehen, bewegen wir uns nach vorn.

Unsere Ehe hat die Nachwirkungen nicht überlebt. Binnen eines Jahres waren wir getrennt – meine Schuld, nicht seine. Meine Liebe für ein Kind wird immer größer sein als meine Liebe für einen Erwachsenen. Weil es eine einzigartige Liebe ist. Sie gründet nicht auf körperlicher Anziehung oder geteilten Erfahrungen. Die Liebe für ein Kind ist bedingungslos, unermesslich und unerschütterlich.

Unsere Scheidung verlief glatt und sauber. Sechs Jahre, mit einem Federstrich beendet. Nicky ist aus London weggezogen. Zuletzt hab ich gehört, dass er mit einer geschiedenen Lehrerin und ihren zwei Jungen im Teenageralter in Newcastle zusammenlebt – eine Instantfamilie, nur Wasser zugeben und umrühren.

Ich packe das Roastbeefsandwich und die Limo aus, esse langsam und fange die Krümel in meiner gewölbten Hand auf. Ein Rotkehlchen hüpft zwischen den dürren Ästen eines Strauches hin und her, landet auf Chloes Steinhaufen und wendet den Kopf von links nach rechts. Ich werfe die Krümel ins Gras. Das Rotkehlchen springt auf den Boden, pickt an meiner Gabe und legt hin und wieder den Kopf zur Seite, um mich anzusehen.

Heute ist Chloes Geburtstag, aber ich trauere um all meine Babys – die, die ich verloren habe, und die, die ich nicht retten konnte. Ich trauere um sie, weil irgendjemand die Verantwortung übernehmen muss.

Bevor ich die Lichtung verlasse, öffne ich meinen Rucksack und hole die Blumenkränze heraus, möglichst ohne die Blütenblätter zu zerdrücken, lege auf jeden Steinhaufen einen und spreche dabei laut ihre Namen aus.

»Ich bekomme noch ein Baby«, erzähle ich ihnen. »Aber das bedeutet nicht, dass ich euch deshalb weniger lieben werde.«

Meghan

Ich habe das Babyzimmer gestrichen und Bordüren an die Wand geklebt. In Sachen Inneneinrichtung bin ich nicht besonders wagemutig. Ich gebe meinen Eltern die Schuld, weil es ihrer Meinung nach verkehrt war, Kindern die Freiheit des Ausdrucks zu erlauben. Bäume mussten grün sein, Rosen rot.

Außerdem versuche ich, nebenbei noch Lachlan im Blick zu halten, der schon Handabdrücke auf der Tür hinterlassen und den Pinsel in die falsche Farbdose gesteckt hat. Das ist alles gutes Material für meinen Blog, denke ich, als ich seine Hände in dem Becken in der Waschküche sauber mache.

Lachlan ist nicht direkt begeistert darüber, dass ich noch ein Baby bekomme. Es geht nicht um geschwisterliche Rivalität oder darum, nicht mehr der Jüngste zu sein. Er möchte jemanden in seinem Alter, mit dem er spielen kann – entweder das oder einen kleinen Hund.

»Warum kann das Baby nicht vier sein wie ich?«

»Weil es nicht in meinen Bauch passen würde«, erkläre ich.

»Kannst du es nicht schrumpfen?«

»Nein.«

»Du könntest größer werden.«

»Ich glaube, Mummy ist schon groß genug.«

»Daddy sagt, du bist fett.«

»Er will mich nur necken.« Arschloch!

Apropos Jack, er hat vorhin angerufen und gesagt, er würde heute Abend nach Hause kommen, statt den Zug nach Manchester zu nehmen. Er klang gut gelaunt. Seit Monaten redet er von einer neuen Sendung – einer wöchentlichen Talkrunde, in der prominente Stars wichtige Sportthemen diskutieren. Jack möchte sie moderieren. Er hat ein Konzept geschrieben, wartet jedoch noch auf den richtigen Zeitpunkt, um es den »Mächtigen« zu präsentieren.

»Sieh zu, dass du wach bleibst«, sagte er.

»Warum?«

»Ich hab Neuigkeiten.«

Ich beschließe, etwas Besonderes zum Essen zu kochen – Steak, neue Kartoffeln und Endiviensalat. Typisch französisch. Ich entkorke sogar eine Flasche Rotwein, um ihn atmen zu lassen. Seit ich schwanger bin, bin ich ein bisschen faul in Küchendingen geworden. Im ersten Trimester konnte ich nicht mal an Essen denken.

Ich gehe nach oben und dusche. Dabei erhasche ich im Spiegel einen Blick auf mich. Ich stelle mich seitlich davor und betrachte meinen Hintern, meine Brüste, ohne auf die Dehnungsstreifen zu achten. Als ich mich vorbeuge, bemerke ich an meiner linken Schläfe ein eigenartig gelocktes Haar. Ich betrachte es genauer.

Oh mein Gott, ich habe ein graues Haar! Ich zupfe die fremde Strähne mit einer Pinzette aus und untersuche sie genauer in der Hoffnung, dass es sich um Farbe handelt. Nein, sie ist definitiv grau. Eine weitere Erniedrigung. Ich überlege mir einen Blog-Eintrag.

Ich habe heute ein graues Haar entdeckt und bin ein bisschen ausgeflippt. Dieses spezielle Haar war eigentlich farblos und an der Spitze ein wenig drahtig. Bisher war ich ja immer ein bisschen selbstgefällig, weil sich bei mir (noch) keine Spur von Silber ausmachen ließ, während andere Frauen, die ich kenne, zupfen und färben, seit sie einundzwanzig sind.

Nun werden die Verheerungen des Alters sichtbar. Was kommt als Nächstes? Falten? Krampfadern? Menopause? Ich weigere mich, in Panik zu verfallen. Ich habe Freundinnen in meinem Alter, die in kompletter Leugnung leben, sich schlichtweg weigern über ihren vierzigsten Geburtstag nachzudenken und allen sagen: »Hier gibt es nichts zu sehen! Geht weiter!«