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Beschreibung

Wir leben heute in vieler Hinsicht in einer Welt voller Umbrüche, gesellschaftlich, kulturell, politisch, sogar sprachlich. Für die Juden waren solche Zeitenwenden historisch oftmals zweischneidiger Natur – sie konnten Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben, bedeuteten aber vielfach auch Unterdrückung.

Dieser Almanach begibt sich auf eine Spurensuche nach jenen Aspekten, die sich mit radikalem Wandel im jüdischen bzw. israelischen Kontext beschäftigen. In den Beiträgen wird unter anderem die talmudische Herkunft des hebräischen Begriffes für Krise beschrieben sowie der Übergang des Hebräischen von einer heiligen zur säkularen Sprache. Darüber hinaus geht es um die dramatischen Veränderungen innerhalb der ultraorthodoxen Welt, um Umbrüche in der Gedenkkultur nach dem Ende der Zeitzeugenschaft oder den veränderten Umgang mit Humor und Religion nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo in Paris, aber auch um die Entstehung einer queeren Kultur in Israel seit den 1950er Jahren.

Mit Beiträgen von Maya Barzilai, Itamar Ben-Ami, Saverio Campanini, Philipp Lenhard, Till von Rahden, Galili Shahar u. a.

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Seitenzahl: 286

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Cover

Titel

JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

Umbrüche

Neues und Altes aus der jüdischen Welt

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

Impressum

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eBook Jüdischer Verlag Berlin 2023

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-633-77779-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Zu diesem Almanach

Galili Shahar

:

Umbruch, Krise, Geburt

Prolog

I

. Krise, Kritik

II

. Mashber – Eine Eröffnung

III

. Stimmen

IV

. Zusammenkunft

V

. Umkehrung

Nitzan Chelouche

:

Bruch mit der typografischen Tradition: Frank-Rühl-Hebräisch und die Frakturschrift

Jacqueline Hénard

:

Ossip Klarwein, von der Kirche zur Knesset

Iris Rachamimov

:

Wie der Jecke-Akzent in Israels

LGBTQ

-Geschichte ausstarb

Simone Lässig

:

Krise, Überleben und Erneuerung – wie sich das deutschsprachige Judentum im 19. Jahrhundert neu erfand

Zivilisierungsdiskurse und Kontingenzbewältigung

Die transformative Kraft der Kanzelrede

Bewältigung durch Beschämung

Philipp Lenhard

:

Der rote Faden der Geschichte: Amalie Taubels und die judenfeindlichen Ausschreitungen in Prag im Jahr 1848

Till van Rahden

:

Minderheit und Mehrheit: Vom Ideal demokratischer Gleichheit zum Traum nationaler Reinheit

Andrei Corbea-Hoişie

:

Utopie und Illusion. Zum Wesen des »Exzeptionalismus« der deutschsprachig-jüdischen Kultur der Bukowina

Nitzan Lebovic

:

Dreimal Zeitenwende: deutsch-jüdische Denker im langen 20. Jahrhundert

Anja Siegemund

:

Auseinandergelebt? Alte Bündnisse, neue Verortungen und andere Umbrüche in der Erinnerungskultur. (Persönliche) Randbeobachtungen zu den Debatten

Vivianne Berg

:

Erinnerungwerke (Zürich)

Erinnerungseindrücke

Erinnerungskontexte

Erinnerungsmarker

Erinnerungskorrekturen

Erinnerungsschauplätze

Erinnerungswerte

Gideon Botsch

:

»Juden, die Kinderblut trinken«. Antisemitismus in der Pandemie

Denis Charbit

:

Ringen um die Seele des Landes: Umbrüche in der israelischen Geschichte

Michael B. Elm

:

Der israelische Bruderkrieg und die zweite Staatsgründung Israels

Itamar Ben Ami

:

Über die Neuerfindung der jüdischen Ultraorthodoxie in Israel

Ilit Ferber

:

Sprache und Umbrüche, Umbrüche der Sprache: Scholem und Bialik

Scholem

Bialik

Lior Sternfeld

:

Juden im Iran

Esther Orner

:

Mach aus deinem Haus keine Wüste

Saverio Campanini

:

Flavius Mithridates und der unmögliche Abschied vom Selbst

Zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweise

Informationen zum Buch

Zu diesem Almanach

In seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte schrieb Karl Jaspers, dass es ruhige Zeitalter gibt, »in denen zu bestehen scheint, was für immer ist, und die sich selbst als endgültige empfanden. Und es gibt Zeitalter der Wende, in denen Umwälzungen erfolgen, die im äußersten Fall bis in die Tiefe des Menschseins selbst zu dringen scheinen« (1950). Wir leben heute zweifellos in einer Welt voller Umbrüche – sei es in weltpolitischer, gesellschaftlicher, kultureller, technologischer, philosophischer oder sprachlicher Hinsicht. Für Juden waren solche Zeitenwenden in der Vergangenheit oftmals zweischneidiger Natur – sie konnten Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben, bedeuteten aber vielfach auch Unterdrückung. Dieser Almanach begibt sich auf eine Spurensuche nach jenen Aspekten, die sich mit radikalem Wandel im jüdischen und israelischen Kontext beschäftigen, historisch und in der Gegenwart. In seinem Eröffnungsessay beschäftigt sich Galili Shahar ethymologisch mit dem Konzept der Krise in Bezug auf den hebräischen Begriff »Mashber«. Der Umbruch wird dabei nicht nur als ein kritisches Ereignis gesehen, sondern als ein Vorgang der Tradition, als Antwort, betrachtet. Der Sprache, genauer gesagt, den gedruckten Buchstaben, widmet sich auch der Text von Nitzan Chelouche, wenn auch aus einer ganz anderen Perspektive. Sie erzählt die Geschichte von Rafael Frank (1865-1920), Kantor in der jüdischen Gemeinde in Leipzig und Entwerfer der weitverbreiteten Schrift Frank-Rühl-Hebräisch, der einst über die langfristigen negativen Auswirkungen der lateinischen Schriftformen auf hebräische Schriften klagte, die er teilweise auf die in Basel, Köln und Prag entwickelten Schriften zurückführte. Später störten sich die Nazis an diesen Druckbuchstaben, die ihnen nicht deutsch genug schienen. Die gotische Schrift musste aus allen Verlautbarungen der Partei, aus Zeitungen und Schulbüchern entfernt werden, da diese »in Wirklichkeit aus Schwabacher Judenlettern« bestünde.

Zu dieser Zeit bricht in Berlin ein heute weitgehend vergessener Architekt auf, um nach Palästina zu emigrieren. Seine Spuren allerdings finden sich an vielen Orten. Es handelt sich um Ossip Klarwein, der in Deutschland evangelische Kirchen gebaut und in Israel die Knesset entworfen hat. Jacqueline Hénard zeichnet seinen Lebensweg nach, der wie das Schicksal seiner gesamten Generation von existenziellen Erschütterungen geprägt war. Zu den deutschen Emigranten gehörten damals auch Pioniere, die später die israelische LGBTQ-Geschichte formen werden. Iris Rachamimov erzählt von dem beispiellosen Kampf der Rina Nathan (1923-1979), die als Mann eingewandert war und sich im jungen Staat Israel die erste geschlechtsangleichende Operation erstritten hat.

Es gibt mehrere historische Daten, die als Wendepunkte der jüdischen Geschichte gelten. Dazu gehört die Schwellenzeit um 1800, als sich die Ständegesellschaft auflöste und die Moderne langsam Gestalt annahm. Für die Juden des deutschsprachigen Europas eröffnete diese Entwicklung gänzlich neuartige Möglichkeiten, für das rabbinische Judentum hingegen evozierten sie eine existenzielle Bedrohung. In ihrem Beitrag konzentriert sich Simone Lässig auf die Frage, welche Strategien die Juden des deutschen Sprachraums seinerzeit zur Bewältigung dieser Umbrüche entwickelt haben, und stellt dabei das Judentum der Schwellenzeit als Ressource von Resilienz und als Experimentierfeld kultureller Innovation vor.

Vielversprechend schien die Märzrevolution 1848, als europäische Völker um nationale Unabhängigkeit, gegen Tyrannei und politische Rechte kämpften. Die jüdischen Erwartungen in das transformative Potenzial des Völkerfrühlings – das dann aber doch nicht eingelöst werden konnte – waren hoch. Klarsicht bewies die Prager Bürgersfrau Amalie Taubels, die dem bürgerlichen Engagement für die Juden nicht traute. Philipp Lenhard verschafft uns Einblicke in ihren von tiefer Skepsis geprägten Briefwechsel mit ihrer Schwester.

Dass Juden im Allgemeinen als Minderheit gelten, die sich von der Mehrheit unterscheidet, ist zunächst einmal eine einfache Rechnung. Darauf bezugnehmend, dient der Begriff der Minderheit etwa als Paradigma, um die jüdische Geschichte in größere Erzählungen der europäischen Geschichte zu integrieren. In seinem Beitrag erläutert Till van Rahden, wie dabei in Vergessenheit geriet, dass das Begriffspaar sich erst in der Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hat, als sich die Ideen der Demokratie und des homogenen Nationalstaats durchsetzten.

Als weitgehend einmalig ist der »Topos Bukowina« in die Geschichtsschreibung eingegangen, auch weil Juden dort zeitweise den Löwenanteil der Bevölkerung gestellt hatten. Das Gebiet, auf dem einst fünf Ethnien friedlich zusammenlebten und das so oft wie kein anderes den »Besitzer« gewechselt hat, galt nicht nur als Inbegriff der Völkervielfalt in der einstigen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, sondern stand auch gleichzeitig für die Blütezeit jüdischen Lebens in seiner Hauptstadt Czernowitz. Andrei Corbea-Hoișie geht auf die vielen Umbrüche in der Bukowina ein, die heute in der Ukraine liegt und auch der erste Wirkungsort Paul Celans war.

Wie andere seiner intellektuellen Zeitgenossen, sah Celan später aber weniger im Raum als in der Zeit den Schlüssel zu ihren individuellen und kollektiven Erfahrungen. Anstelle räumlicher Kategorien wie Grenzen, Territorium oder nationale Herkunft verstanden sie wesentliche und temporale Begriffe wie menschliche Endlichkeit, Zeitgenossenschaft, Geburt oder Leben als Antwort auf die dramatischen Umbrüche. In seinem Beitrag konzentriert sich Nitzan Lebovic auf die Rezeption »dreier Wendungen«, die das 20. Jahrhundert prägten – die frühe Zeitenwende der Modernität; die Zeitenwende des Holocaust, und schließlich die jüngste Zeitenwende der 2000er Jahre oder das Zeitalter des Anthropozäns.

Mit der Frage, wie in Deutschland heute an die Schoa erinnert werden soll und welche Herausforderungen damit verbunden sind, beschäftigt sich Anja Siegemund angesichts der neuesten Umbrüche in der deutschen Erinnerungskultur. Dabei geht es nicht nur um das Ende der Zeitzeugenschaft, sondern auch um politische Debatten. In ihrem sehr persönlichen Essay zeichnet sie die Linien einer sich immer mehr zuspitzenden Frontenlage nach, fragt nach alten und neuen Bündnissen und warnt vor einem Kampf ums Zentrum der Erinnerung.

Vivianne Berg wirft in diesem Kontext einen Blick auf die Schweiz, wo man sich in der Öffentlichkeit erst relativ spät, in den 1990er Jahren, zu den Schattenseiten im Umgang mit der eigenen Geschichte bekannte. Seither allerdings haben Publikationen, Ausstellungen und Stadtrundgänge auf für Schweizer Verhältnisse dramatische Weise verdeutlicht, dass man nicht frei von Makel ist.

Anfang 2020 breitete sich weltweit das neuartige SARS-Cov-2-Virus aus. Und so kam es, wie es das schon immer im Umfeld von Krankheiten gab, auch im 21. Jahrhundert zur Verbreitung von Verschwörungsmythen, die sich gegen Juden richten. In seinem Essay zeichnet Gideon Botsch nach, wie dabei antisemitische Codes und Bilder reproduziert wurden, die im Zeitalter der sozialen Medien eine präzedenzlose Reichweite entwickelten.

Ortswechsel nach Israel. Im Januar 2023 war dort, ausgelöst durch eine geplante »Justizreform«, eine breite Bürgerbewegung entstanden, deren Ausmaß sowohl Befürworter wie Gegner überraschte. Die Demonstranten sahen sich als Wegbereiter einer neuen Ära, und viele glaubten, dass es niemals in der Geschichte des Landes etwas Vergleichbares gegeben habe. Ohne diese Einzigartigkeit in Frage stellen zu wollen, verweist Denis Charbit in seinem Essay auf die Kontinuität der Protestbewegungen hin und versucht, die Ereignisse in die bewegte politische Geschichte des Landes einzuordnen. Michael Elm wirft einen soziologischen Blick auf die weitgehend säkulare Protestbewegung, die versucht – bei offenem Ausgang – sich die eigene Heimat neu anzueignen.

Die jüngsten Entwicklungen haben auch zu einer neuen Sichtbarkeit der Ultraorthodoxie in Israel geführt. Mit diesem »charedischen Momentum« befasst sich Itamar Ben Ami in seinem Beitrag. Er beschreibt dabei die Transformation, die die Ultraorthodoxie in Israel erfahren hat, nachdem das streng religiöse Millieu in Europa fast vollständig ausgelöscht worden war.

Bis heute hat sich im ultraorthodoxen Milieu Jiddisch als Umgangssprache gehalten. Das Hebräische gilt dort nach wie vor als die heilige Sprache der Schrift und des Gebets. Die Wiederbelebung der gesprochenen hebräischen Sprache durch die zionistische Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, kann ebenfalls durch den Begriff Umbruch charakterisiert werden, argumentiert Ilit Ferber in ihrem Beitrag. Sie erinnert daran, wie drei der wichtigsten jüdischen Denker dieser Zeit – Gershom Scholem, Franz Rosenzweig und Chaim Nachman Bialik – in ihren Texten die Realisierbarkeit des Zionismus und seine Wechselwirkung mit der Säkularisierung der hebräischen Sprache sehen. Diese Zähmung des heiligen Hebräisch offenbart eine der tiefsten Einsichten über die Zionisten zu dieser Zeit: Sie zogen die politischen und kulturellen Dimensionen der Sprache ihrer einzigartigen religiösen Natur vor.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte einen beispiellosen Wandel für die Juden im Iran. Innerhalb dieser Zeitspanne rückten sie erst vom Rand der iranischen Gesellschaft in den Mittelpunkt des nationalen Aufbauprojekts unter dem Schah, bis sie nach der Revolution von 1979 wieder marginalisiert wurden. In seinem Essay untersucht Lior Sternfeld die jüdischen Reaktionen auf die Umwälzungen im iranischen Kontext.

Ohne direkt das Erlebte zu erwähnen, schreibt die Literatin Esther Orner über das jüdische Weiter- und Überleben. In ihrer Kurzgeschichte geht es um die fundamentale Herausforderung, nach der Schoa überhaupt weiter existieren zu können. Und der Schlussaufsatz widmet sich dem versuchten und letztlich gescheiterten Wandel von Flavius Mithridates, eines zum Christentum übergetretenen Juden. Saverio Campanini schreibt über den unmöglichen Abschied vom Selbst. Die Abbildungen beziehen sich auf die Protestbewegung 2023 in Israel.

Gisela Dachs Jerusalem/Tel Aviv

Galili Shahar

Umbruch, Krise, Geburt

Prolog

Umbrüche – Strukturelle Transformationen, paradigmatische Verschiebungen und Wandlungen werden als Bruch wahrgenommen – als Unterbrechung, als Trennung, nämlich als Krise. Es handelt sich hierbei um wesentliche Begriffe, die in der Regel gebraucht werden, um bedeutende historische, politische, kulturelle/soziale sowie technologische Wandlungen zu definieren. Umbruch impliziert einen Wendepunkt und kann auf das Auftreten einer neuen Ordnung der Dinge hinweisen. Diese Aspekte kommen in dem hebräischen Wort mashber zum Ausdruck, das sowohl als Bezeichnung für Krise als auch für den Geburtsvorgang, die Entbindung eines Neugeborenen, dient. Mashber ist in seinem talmudischen Kontext nicht frei von gewissen eschatologischen Implikationen, während es mit dem weiblichen Körper, mit Geschlechtsumkehrungen, Leid, Schmerz und Wunden sowie mit Stimmen der Freude und der Klage in Verbindung gebracht wird. Dieser Essay bietet eine kurze Einführung in das Konzept der Krise in Bezug auf den hebräischen Begriff und stellt die sinnlichen Auswirkungen des Umbruchs, seine materiellen/maternalen Aspekte und seine vokalen Texturen vor und soll ein Vorschlag sein, Umbruch nicht nur als ein kritisches Ereignis, sondern als einen Vorgang der Tradition – als eine Antwort zu betrachten.

I. Krise, Kritik

In der westlichen Tradition wird die Diskussion über die Krise häufig mit dem Konzept der Kritik in Verbindung gebracht. Die Verwandtschaft dieser beiden Begriffe, »Kritik« und »Krise« fußt in dem griechischen Verb κρίνω (krī́nō), eine Bezeichnung für eine Trennung, Spaltung, einen Bruch als eine Bedingung für Urteilsvermögen, kritisches Denken und für Entscheidungen. Die Hauptströmungen der westlichen Philosophie sind in der Transformierung der Erfahrung von krī́nō in einer metaphysischen Konstruktion einer (Selbst-)Kritik verankert, in der nicht nur die ursprünglichen Bedingungen des Denkens, sondern auch der epistemologische Zustand der Subjektivität reflektiert werden. Der westlichen Subjektivität liegt die Krise zugrunde. Der Bruch, die Trennung von Subjekt und Objekt, erzeugt die Bedingung für das Darüber-Nachdenken, das Reflektieren, das Beobachten und das Anschauen. Krise ermöglicht die Kritik. In diesem Zusammenhang erinnern wir uns an cogito, ein philosophisches Subjekt, das sein eigenes Sein nicht nur im Zweifel reflektiert, sondern aufgrund einer radikalen Trennung von sich selbst (der materiellen Welt, dem Körper). Die Verbindung von Krise und Kritik lässt sich in der Philosophie der Aufklärung und später im deutschen Idealismus finden. Den Anfangspunkt könnte man in Immanuel Kants kritischem Unternehmen, im Besonderen mit dem Konzept der Kritik an sich, ausmachen. Während sie einen systematischen Versuch der konzeptuellen Analyse der Möglichkeiten/Fähigkeiten der Vernunft (in ihren kognitiven, ethischen/praktischen und ästhetischen Implikationen) darstellt, reflektiert die Kritik darüber hinaus Lücken, Spannungen, Trennungen/Teilungen und Widersprüche in den Bereichen der Vernunft selbst. Die doppelte Implikation von Kritik und Krise findet in Kants Auseinandersetzung mit dem Begriff des Urteils1 ihren Widerhall und kann bei Fichte, Schelling und Hölderlin ausgemacht werden. In den deutschen Schulen wurden die Konzepte der und die Begriffe für Krise mit den Ereignissen der Revolution in Paris, dem Zeitalter des Terrors und den kontinentalen Kriegen, der Niederlage bei Jena und Napoleons Besatzung assoziiert. Das deutsche Denken, so kritisch oder dialektisch, ja sogar tragisch es sein mag,2 ist ein Denken der Krise. Die frühen Schriften Nietzsches, sein Versuch einer »Selbstkritik« in Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, könnten diese Auffassung von Krise als Bedingung von kritischem Denken attestieren, jedoch auch als einen Bruch in der Existenz und als eine Erfahrung des Schocks, der Einsamkeit und Krankheit. Trotz seiner Bemühungen, die metaphysischen Vorhaben der westlichen Philosophie zu überwinden, indem er logos über die »kritischen« Rahmen der deutschen Schulen hinaus rekonstruiert, findet man in Martin Heideggers Schriften Spuren von Krise, Rissen und Untergang, welche (teilweise stumm oder in Form von »Verleugnung«) mit den historischen Ereignissen der 1940er Jahre verbunden sind.

Ein Umbruch ist, um diesem Gedankengang zu folgen, ein Ereignis einer Krise, eine radikale Veränderung/Wandlung, die selbst als Reflexion dient, als Einsicht. Die Umbrüche, die wir heute erfahren, den Klimawandel, globale Pandemien, den Zusammenbruch liberaler Demokratien, der Anstieg rechter Regime und die Kriegsgeschehen in Europa fordern, während sie mit den vertrauten Vorstellungen von Krise verbunden sind, zu anderen Formen des Denkens, der Aufmerksamkeit und der Ver-Antwortung, auf. Sie fordern eine Resonanz.3 Fest steht: Um heutzutage nach dem Umbruch zu fragen, benötigt es die Kenntnisnahme des Zustands des Planeten, der ökologischen Katastrophen, der Bürgerkriege und Pandemien in ihren post-kolonialen, spätkapitalistischen Rahmenbedingungen. Man ist dazu aufgefordert, die neuen Formen von Krieg, Arbeit, Migration, Religion, Familie, Geschlecht und Liebe zu reflektieren. Die Auseinandersetzung mit und die Diskussion der Krise ist ein schweres Unterfangen. Wo soll man beginnen? Allein der Begriff Krise zieht schon als Erstes unsere Aufmerksamkeit auf sich. Indem wir uns mit dem Umbruch in Bezug auf die gegenwärtigen Zustände der Krise beschäftigen, treten wir zunächst einen Schritt zurück, um die Tradition dessen zu verhandeln. Wir fragen nach der Verbindung beider Begriffe (Krise und Tradition). Doch zunächst müssen wir nach dem Begriff der Tradition selbst fragen, welcher nicht nur für einen Wissenskorpus, Gepflogenheiten/Regeln/Gewohnheiten und Erbe steht, sondern sich zuerst einmal auf die Weitergabe, nämlich die Überlieferung (lateinisch traditio), bezieht. Tradition ist, wie Dinge weitergegeben werden. Im Deutschen – Überlieferung, im Hebräischen – masoret, im Arabischen (und Neupersisch) – taqlīd.4 Tradition ist ein Geben, ein »Geschenk«.5

In der modernen Philosophie jedoch wurde Tradition verstanden, ihre Formen der Weitergabe, der Akt der Überlieferung an sich, als sich in der Krise befinden. Traditionen wurden und werden in den neuen westlichen philosophischen Strömungen oft als »antiquiert« (oder zumindest als vormodern), »religiös«, »patriarchal« bezeichnet, mit orthodoxen Einrichtungen assoziiert, und sie werden mit konservativen Weltanschauungen und nichtkritischen Modi wie »Glauben« und »Vorurteilen« in Verbindung gebracht. Es ist nicht ungewöhnlich, diese Einstellungen in den Schulen des kritischen Denkens der Gegenwart vorzufinden, die Tradition als ein Relikt, ein Überbleibsel, eine Verzierung verstehen. Während sie mit dem Bestreben nach dem »Neuen«, mit Fortschritt und Freiheit verbunden war, verstand sich die Moderne selbst als einen Abbruch/eine Unterbrechung der Tradition als solche. Diese Einstellung charakterisierte auch die Haupttendenzen des modernen jüdischen Denkens seit der Haskala. In den jüdischen Schulen der Aufklärung bedeutete Umbruch Krise, einen Bruch innerhalb der Welt der Tradition sowie die Emanzipation von den orthodoxen Formen des Lebens und Denkens. Jedoch rangen auch Denker wie Moses Mendelssohn und Salomon Maimon damit, Motive der hebräischen Tradition innerhalb des kritischen Rahmens der deutschen Aufklärung beizubehalten. Modernistische deutsch-jüdische Denker, die auch dem Erbe der Gegen-Aufklärung, der (Neo) Romantik und des Expressionismus folgten, setzten Traditionen nicht nur als Ausdruck vergangener Formen, Fossile und Relikte ein, sondern auch als Substanz von radikalem, futuristischem Potenzial. Franz Rosenzweigs Konstruktion der jüdischen liturgischen Tradition, Martin Bubers Adaptionen der chassidischen Erzählungen, Gershom Scholems Rehabilitation der jüdischen Mystik, Walter Benjamins Konzeption der talmudischen Legenden und Else Lasker-Schülers expressionistische Wiederbelebung biblischer Figuren gehören zu diesem Ansatz. Ihre Gemeinsamkeit bestand in der kritischen, wenn auch performativen (ironischen, verspielten) Art des Verhandelns der Traditionen in Zuständen der Krise. In diesen Fällen war der Umbruch, die Reflexion der Krise, von der Wiederaneignung der Traditionen abhängig. Die ethische Wende in Emmanuel Levinas' Philosophie und die späten Schriften Derridas – die Vorstellung des Gebens in der biblischen Szene der Opferung Isaaks reflektierend, scheinen bei diesem Gedankengang, in dem Krise und Tradition miteinander verbunden sind, mitzuwirken.

Diese wichtigen Versuche sollten ausführlicher betrachtet werden. Jedoch geht es bei unserer gegenwärtigen Betrachtung um etwas anderes: die Darstellung einer kleineren Version von Krise, auf dem hebräischen Begriff mashber basierend, hauptsächlich dem talmudischen Midrasch und der Bibelexegese entsprechend. In diesem Fall impliziert die Krise nicht nur eine ontologische Trennung oder einen epistemischen Bruch, sondern bezieht sich auf Widersprüche und hermeneutische Dispute der rabbinischen Schulen des Midrasch untereinander. Die Krise ist ein Ereignis der Interpretation, eine Eröffnung der Tradition selbst als eine Form des Lernens. Die Betrachtung von mashber als eine »hebräische Version« von Krise impliziert jedoch nicht, dass es sich um ein exklusiv jüdisches Konzept handelt. Sie sollte eher als ein Einbruch verstanden werden, die eine lokale Resonanz von krī́nō bietet. In ihrer hebräischen Version ist Krise mit Geburt, einem Akt der Entbindung, verbunden.

Mashber lässt zwar das Konzept von masoret, Tradition (Überlieferung), anklingen, jedoch basiert es auf der Hingabe eines weiblichen Körpers.6 Insofern dient die hebräische Form von mashber als eine Echokammer des metaphysischen Konzepts von krī́nō (Krise und Kritik), während es einen Wendepunkt, eine Umkehrung seiner Hauptbegriffe anbietet, die mit dem materiellen/maternalen Körper assoziiert sind.

II. Mashber – Eine Eröffnung

Das Wort mashber wird mehrfach in der hebräischen Bibel erwähnt. Zum Beispiel im Buch der Könige:

יוֹם־צָרָ֧הוְתוֹכֵחָ֛הוּנְאָצָ֖ההַיּ֣וֹםהַזֶּ֑הכִּ֣יבָ֤אוּבָנִים֙עַד־מַשְׁבֵּ֔רוְכֹ֥חַאַ֖יִןלְלֵדָֽה

Das ist ein Tag der Not, des Scheltens und des Lästerns; die Kinder sind gekommen an die Geburt doch ist keine Kraft da, zu gebären (KönigeII, 19:3).

Luther übersetzte mashber als »Geburt« (Leopold Zunz übersetzte »Muttermund«), der Vorgang des Gebärens wird mit »ein[em] Tag der Not«, mit Krise, Kraftlosigkeit und Zerbrechlichkeit assoziiert. Dieser biblische Vers wird im Buch Jesaja rezitiert, wobei er prophetische Bedeutungen enthält. Schlomo Jitzchaki (Raschi) liest diesen Vers im 12. Jahrhundert folgendermaßen:

עתצרההדומהלאשההיושבתעלהמשברואיןכחלולדלצאת

Ein Tag der Mühen ähnlich einer Frau, die auf dem Geburtsstuhl sitzt, und das Neugeborene hat keine Kraft herauszukommen.

Während Raschi gemäß dem Talmud mashber als Stuhl, einen Sitz für eine gebärende Frau liest, interpretiert David Kimchi (Radak) im 13. Jahrhundert mashber als das Öffnen des Muttermundes, ein unter Schmerzen zugeführter Schnitt im Körper der Frau.

Der hebräische Autor Eliezer Ben-Jehuda folgt diesen beiden Interpretationen in seinem Wörterbuch und liest mashber als »Mund«, als das Öffnen des Muttermundes sowie als Geburtsstuhl. Im Hebräischen bezieht sich mashber nicht allein auf einen abstrakten, metaphysischen Zustand von Krise, dient nicht nur als Bezeichnung für eschatologisches Geschehen, sondern auch als Zeichen für den physischen Bruch des weiblichen Körpers, die Wunde der Geburt. In Mischna Arachin lesen wir:

הָאִשָּׁהשֶׁהִיאיוֹצְאָהלֵהָרֵגאֵיןמַמְתִּינִיןלָהּעַדשֶׁתֵּלֵד. יָשְׁבָהעַלהַמַּשְׁבֵּר, מַמְתִּינִיןלָהּעַדשֶׁתֵּלֵד

Im Falle einer schwangeren Frau, die zum Tode verurteilt wurde, wartet das Gericht nicht bis zur Geburt mit der Hinrichtung. Vielmehr wird sie umgehend getötet. Jedoch im Falle einer Frau, die in Wehen auf dem Gebärstuhl sitzt, wird das Gericht mit der Hinrichtung warten, bis sie entbindet.7

Die Mischna bezieht sich auf eine Frau, die auf mashber, auf einem Gebärstuhl sitzt, jedoch in einem bestimmten halachischen Kontext, in dem der Fall einer zum Tode verurteilten Frau diskutiert wird. Es heißt dort, dass wenn die Frau bereits auf ihrem Stuhl sitzt, bereit ist zu gebären, die Hinrichtung bis zum Tag der Geburt verschoben werden soll. Mashber ist die Vorausschau, die Erwartung der Geburt, die Vision eines neuen Lebens, assoziiert mit Urteil und Todesstrafe. In diesem halachischen Kontext drückt mashber die Ambiguitäten des Seins aus, dargestellt anhand einer Frau, einer gebärenden Mutter, die selbst zum Tode verurteilt wurde. Das Konzept des Urteils, das in der Krise verwurzelt ist, in dem vorläufigen Schnitt (Urteil) der Subjektivität, erhält in der talmudischen Version von mashber eine radikale Interpretation. Der Akt des Urteils, der Strafe, trägt in sich den Schnitt des mütterlichen Körpers.

Die talmudische Version von mashber, die sich auf den weiblichen Körper der Geburt bezieht, ermöglicht uns eine Einsicht in Bezug auf Körper und Geschlecht des Umbruchs, die das metaphysische – abstrakte, körperlose Konzept von Krise untergräbt. Das Reflektieren über die Bedingungen von Krisen in diesen talmudischen Kontexten ruft die Realitäten, die Körper, die Singularitäten und Textualitäten dieses Begriffes hervor.

Wir sind uns gewiss der allegorischen Implikationen bewusst, die sich in den jüdischen Traditionen auf den weiblichen Körper beziehen. Es handelt sich um eine bestimmte rabbinische (männliche, patriarchalische) hermeneutische Tradition, in der sich an das Weibliche als göttliche Manifestation (Schechina) und als kollektives Organ einer Exilnation (Knesset Israel) gewandt wird. Dennoch, mashber impliziert in seinem talmudischen Kontext nicht nur »die maskuline Übernahme« des Stuhls einer femininen Geburt, indem der mütterliche Akt des Gebärens zu einer hermeneutischen Übung des patriarchalischen Korpus wird. Mashber kann eher als eine Erfahrung einer Öffnung, Trennung und Verbindung verstanden werden, in der die Geschlechter selbst in die Transformation geführt werden.

III. Stimmen

Mashber, die hebräische/aramäische Version von Krise, steht im Midrasch mit Stimmen in Verbindung – Laute des Schmerzes und der Freude, mit Seufzern der Klage und des Atems. Es ist die Stimme einer gebärenden Frau – stöhnend, schreiend, die zu einem der initialen Gesänge des hebräischen Gebets wird. Ihre Stimme hallt sowohl in den Lauten der Klage als auch in Ausrufen der Hoffnung wider. Sowohl Leben als auch Tod werden im Moment der Krise zum Ausdruck gebracht. Aus dem Zohar erinnern wir uns an den Midrasch über die ersten Stimmen, die in der Welt nicht verloren sind.8 Zunächst wird von den Stimmen der Tora und den Stimmen der Gebete, die zum Himmel aufsteigen, erzählt. Doch befindet sich unter den Stimmen, die auf der Erde zurückbleiben, jedoch nicht verenden, die Stimme einer auf ihrem Gebärstuhl (mashber) sitzenden Frau (kol chaiah, wörtlich: die Stimme eines Lebewesens/eines Tieres). Ihre Stimme ist neben der Stimme eines sterbenden Mannes zu hören, während dessen Seele den Körper verlässt, sowie der Laut einer sich häutenden Schlange. Diese Stimmen wandern in der Luft umher, bis sie in die Schluchten des Staubes eintreten, die unter der Erde versteckt sind. Sobald eine menschliche Stimme auf der Welt zu hören ist, steigen diese versteckten Stimmen als ihr Echo wieder in der Luft empor. Mashber, die Öffnung (des Mundes) ist Ursprung einer ersten Stimme: Noch kein Wort, noch kein korrekter Name, aber ein Schrei, das Schreien einer Mutter, ein Ausdruck (vor allen Wörtern) des Seins. Diese Stimme wird zu einer (irdischen, empfänglichen) Resonanz und dient als Echokammer für die menschliche Sprache.

In ihrem talmudischen (und kabbalistischen) Zusammenhang sind die Laute von mashber auch die Laute des Gebets und des Studierens. Diese Stimmen sind bei den Zusammenkünften der Gelehrten zu hören, wo der Geburtsstuhl auch die Bank des Lernens ist. Die vokalen Texturen des Midrasch, erinnert man sich an Eichah Rabbah, sind die von weinenden, seufzenden Frauen. Die Besprechung von Krise in Bezug auf ihre hebräischen Begriffe reformiert die grundlegende Idee des Studiums vollkommen, indem die Stimme einer Frau, der Klageruf, als initiale Bedingung dafür dient, Zerstörung und (messianische) Hoffnung zu reflektieren.9

IV. Zusammenkunft

Die hebräische Version von Krise, wie sie in ihrem talmudischen Zusammenhang diskutiert wurde, reflektiert die Ambiguitäten des Seins: die Dialektik von Leben und Tod, Trennung und Zusammengehörigkeit, Leid und Erlösung. Was jedoch implizieren diese Interpretationen/Interventionen im Sinne des westlichen Denkens? Die talmudischen Versionen von mashber schlagen weder einen »alternativen« Modus des Denkens vor, noch bieten sie eine »ethische Wende« (oder ein moralisches, pädagogisches Beispiel) oder einen Akt der Contra-Tradition an.10 Wie krī́nō, so wird auch mashber mit Bruch, Trennung und dem Akt des Urteilens assoziiert. Die talmudische Version von Krise scheint jedoch dem abstrakten, konzeptuellen und metaphysischen (phallogozentrischen) Plan der neuen Philosophie zu untergraben oder ihm standzuhalten, während sie mit den Gaben des weiblichen Körpers zusammenhängt.11 Die Diskussion über Krise – nicht ohne den hebräischen Korpus – kann auf Vorgänge und Formen von Tradition hinweisen, die nicht von der patriarchalischen Ordnung beansprucht werden, sondern eher von ihren Geschlechtern verwirrt werden.12Mashber impliziert Transfigurationen und bis zu einem gewissen Grad deutet es auf eine Zusammenkunft von weiblichen und männlichen Figuren (Mütter, Propheten, Priester und Gelehrte, Neugeborene) hin und auf eine Ansammlung von Stimmen (Weinen, Freude, Gebet, Klage). Es lädt uns dazu ein, unsere Tradition in ihren »kritischen« Momenten zu reflektieren, während es mit vieldeutigen Textualitäten, semantischen Fragmenten, sinnlichen Ausdrücken und seltsamen Stimmen verbunden ist.

V. Umkehrung

Die Diskussion von mashber in hebräischen/aramäischen Texten bezieht sich auf feminine Verkörperungen. Der »Muttermund« wird in diesen Zusammenhängen zum Mund von talmudischen Gesprächen. Der Midrasch scheint den Geburtsstuhl »zu übernehmen«, während er über Halacha und Prophezeiungen für den Tag des Jüngsten Gerichts spricht. Diese Akte der Interpretation sind nichtsdestotrotz mit Verwirrungen, ungelösten Spannungen und Aufhebungen assoziiert, die mit dem verweiblichten Körper eines Schnitts, einer Öffnung (einer Wunde) zusammenhängen. Um Hélène Cixous' Worten zu folgen, trägt dieser Körper das Potenzial eines »Gesichts der Medusa« mit sich, das mit den femininen Organen des Horrors und der Unterwürfigkeit assoziiert wird.13 Während große konzeptuelle Zusammenhänge gestört werden und in den metaphysischen Plan westlicher Philosophie eindringen, infizieren diese monströsen, blutenden Organe den Diskurs der Subjektivität mit Gerüchen, Flecken, Schreien und entsetzlichem Gelächter.14

Die Diskussion von mashber als Öffnung, als Schnitt im mütterlichen Körper, bezeichnet etwas, das wir »Muttersprache« der Tradition nennen könnten. Die Geburt hingegen, das Geben, das eine Antwort einfordert, bleibt auch als fremdes Wort im Reich der Sprache zurück. Etwas lässt sich nicht übersetzen (zwischen Aramäisch, Hebräisch und den westlichen Sprachen), weigert sich, von Interpretationen beansprucht zu werden, entflieht den konzeptuellen Anforderungen der Domestizierung, widersteht auch der Wissenschaft. Mashber ist eine dünne Stimme, noch kein Wort, ein Ächzen, noch nicht einmal ein Zeichen, aber ein Seufzer.

Sobald wir dazu übergehen, Umbrüche in ihren gegenwärtigen Kontexten und planetarischen Folgerungen zu diskutieren, werden wir uns an diese (materiellen/maternalen) Bedingungen der Krise erinnern. Strukturelle Transformationen, Umweltveränderungen sowie paradigmatische Verschiebungen finden in diesen schmerzvollen Texturen der Sprache ihr Echo, ihre Antwort.

Aus dem Englischen von Michal Bondy

1Zu den Implikationen der Urteilskraft in seinem »kritischen« Unterfangen und ihre Funktion im konzeptuellen Bereich der Erkenntnis und der emotionalen Sphäre der ästhetischen Erfahrung vgl. Kants Einleitung zur dritten Kritik: Immanuel Kant, »Einleitung,« Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. ‌M. 2009, S. 486-519.

2Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt a. ‌M. 1961.

3Vgl. Hartmut Rosas Reflexion über die Krise, die mit Formen von Entfremdung und falschen Versuchen der Aufhebung und der Instrumentalisierung der Natur assoziiert werden: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

4Der Begriff »Tradition« hat im Arabischen und Persischen unterschiedliche Implikationen, taqlid bezieht sich nicht nur auf den Korpus theologischen Wissens, sondern auch auf das Lernen desselben. Der theologische Korpus und das angemessene Verhalten im Islam werden als Sunnah bezeichnet, äquivalent zum hebräischen Begriff Halacha.

5Ein Geschenk ist Geben. Jedoch ist das, das im »Namen des Vaters« gegeben wird, nicht nur Leben, sondern Tod. Vgl.: Jacques Derrida, »Whom to Give To«, The Gift of Death and Literature in Secret, trans. David Wills, Chicago 2008, S. 56-59; S. 79-81.

6Über den Begriff mashber und seine talmudischen und kabbalistischen Bedeutungen, siehe auch: Ruth Kara-Ivanov Kaniel, Human Throes: Birth in Kabbalah and Psychoanalysis, Jerusalem 2018, S. 102f., S. 135-138.

7Mischna, Arachin, a, 4.

8Zohar, 3, 168b-169a.

9Vgl. Scholems Übersetzungen der hebräischen Klagelieder und seine Interpretation ihrer poetischen und metaphysischen Aspekte: Gershom Scholem, »Über die Klage und das Klagelied«, Tagebücher (Vol. II: 1917-1923), Frankfurt a. ‌M. 2000, S. 128-133.

10Vgl. Levinas' bedeutende Unternehmungen, eine ethische Wende in der westlichen Philosophie anzubieten, eine Neuorientierung der Frage in Bezug auf Alterität. Siehe: Emmanuel Levinas, Totality and Infinity, trans. Alphonso Lingis, Pittsburg 2007, S. 33-81; vgl. auch Kapitel »Time and the Other«, in The Levinas Reader, trans. Richard A. Cohen, Oxford 1992, S. 37-58. Levinas' Lesungen des Talmuds sind natürlich eine weitere Quelle dieser Unternehmungen der Reorientierung in der Geschichte der Philosophie: Levinas, Nine Talmudic Readings, trans. Annette Aronowicz, Bloomington and Indianapolis 1990.

11Hélène Cixous and Catherine Clément, The Newly Born Woman, trans. Betsy Wang. Minneapolis 1986.

12Zur Verwirrung der Geschlechter, zur Männlichkeitskritik und zur Analyse der gegen-patriarchalischen Gebote in den jüdischen talmudischen Traditionen, siehe: Daniel Boyarin, Unheroic conduct: the rise of heterosexuality and the invention of the Jewish man, Berkeley 1997; Daniel Boyarin, The Talmud – A Personal Take. Selected Essays, Tübingen 2017. Zu Implikationen von Geschlecht im Diskurs der Kabbalah, siehe: Elliot R. Wolfson, Circle in the Square. Studies in the Use of Gender in Kabbalistic Symbolism, New York 1995; Daniel Abrams, »A Light of Her Own: Minor Kabbalistic Traditions on the Ontology of the Divine Feminine«, Kabbalah: Journal for the Study of Jewish Mystical Texts 15 (2006): S. 7-29; Jay Michaelson, »Kabbalah and Queer Theology«, Theology & Sexuality 18:1 (2012), S. 42-59.

13Hélène Cixous, »The Laugh of the Medusa,« trans. Keith Cohen & Paula Cohen, Signs 1, 4 (1976): S. 875-893; Luce Irigaray, Je, Tu, Nous: Toward a Culture of Difference, trans. Alison Martin, London: Routledge, 1993.

14Cixous and Clément, The Newly Born Woman, S. 32-40.

Nitzan Chelouche

Bruch mit der typografischen Tradition: Frank-Rühl-Hebräisch und die Frakturschrift

Schriften nehmen eine wichtige Rolle in der Entwicklung von kultureller Identität ein. Ihre Gestaltung spiegelt soziale, technische, sprachliche und künstlerische Tendenzen ebenso wie geschichtliche Traditionen. In einer guten Schrift verbinden sich im Wesentlichen »visueller Sinn und historischer Sinn«.1 Seit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert erfuhr das Verständnis von visuellem und historischem Sinn eine radikale Wendung. So ahmte die Schriftart in Gutenbergs Bibel die damals verwendeten Buchstabenformen nach. Im 15. Jahrhundert waren gotische Formen in Handschrift und Druck allgemein üblich. Damals ergaben sie einen visuellen Sinn. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich der Buchdruck weiter, ebenso wie der Schriftentwurf in Theorie und Praxis. Wichtig waren Ausgewogenheit und Proportionen in jedem einzelnen Buchstaben sowie im Zusammenspiel aller Buchstaben in einer Schrift. Manche Schriften wurden für Buchseiten und lange Texte konzipiert, andere dagegen als dekorative Alphabete für Plakate oder Werbung.

Mit dem 20. Jahrhundert kamen neue, radikale Ideen für Schrifttypen auf. Schriftsetzer ließen sich von geometrischen Formen inspirieren. Serifenlose Schriften galten nicht länger als ungewöhnlich, sondern etablierten sich. Eine vom Bauhaus propagierte universelle Ästhetik galt als angemessen – visueller Sinn setzte sich gegen historischen Sinn durch. In Deutschland trat die Spannung zwischen Tradition und Innovation besonders in zwei Bereichen zutage: auf der einen Seite das zeitgemäße hebräische Schriftdesign, auf der anderen die Ablehnung und Aneignung typografischer Stilformen durch die NSDAP.

Rafael Frank (1865-1920), Kantor in der jüdischen Gemeinde in Leipzig und Entwerfer der weitverbreiteten Schrift Frank-Rühl-Hebräisch, klagte über die langfristigen negativen Auswirkungen der lateinischen Schriftformen auf hebräische Schriften, die er teilweise auf die in Basel, Köln und Prag entwickelten Schriften zurückführte. Neben ihren scharfen An- und Abstrichen liegt ein auffälliger Unterschied auf der Betonung der horizontalen Striche, wodurch die Lettern rechteckig und nicht quadratisch erschienen, entworfen im Verhältnis 5:4. In Franks Sicht ist »die Scheidung zwischen Dicke und Dünne auf die Spitze getrieben«. Einen Versuch des Verbandes jüdischer Lehrer in Deutschland, diese Mängel auszugleichen, brandmarkte er als »Gipfel der Geschmacklosigkeit und Stillosigkeit«. In einer modernen hebräischen Schrift sollte sich seiner Meinung nach »die Einfachheit der Antiqua mit der Gefälligkeit der Fraktur« entfalten.2 Eine schlichte, gut lesbare Schrift, in der die traditionelle Ästhetik einfließt.

Die »Fraktur«, auf die Frank sich bezieht, wird gerne als Sammelbezeichnung für gebrochene oder »gotische« Schriften verwendet. Sie reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück und entwickelten sich aus den gotischen Minuskelschriften wie Textura und Textualis3. Weitere Untergruppen der gebrochenen Schrift bilden die Schwabacher, Textura, Rotunda und Fraktur. Jede Untergruppe ist einzigartig, doch bestimmte Eigenschaften sind allen gemeinsam: kräftige vertikale Striche; eher eckige als gerundete Bögen; nur geringe Unterschiede zwischen Ober- und Unterlängen.

Im Jahr 1910 war Franks Vorstellung von einer zeitgemäßen