Umgeben von Hass und Mitgefühl - Gabriel Berger - E-Book

Umgeben von Hass und Mitgefühl E-Book

Gabriel Berger

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Beschreibung

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1945 bis 1949, wurden im polnischen Niederschlesien neben umgesiedelten Polen auch Juden, Überlebende des Holocaust, gezielt angesiedelt. In der von den Deutschen weitgehend verlassenen Region entstand für kurze Zeit eine jüdische Autonomie mit eigener Selbstverwaltung, eigenen Parteien, eigenen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Strukturen und Jiddisch als Verkehrssprache. Der von Jakob Egit und seinen Mitstreitern konzipierte "jiddische Jischuv" sollte eine Alternative zum zionistischen Projekt der Ansiedlung von Juden in Palästina/Israel werden. Das von der neuen kommunistischen Staatsmacht Polens zunächst unterstützte Projekt war trotz aller Widrigkeiten sehr erfolgreich. Es scheiterte jedoch an der durch pogromartige antisemitische Ausschreitungen ausgelösten panikartigen Flucht von Juden aus Polen, an der stalinistischen Gleichschaltung der Gesellschaft, dem antisemitisch aufgeladenen polnischen Nationalismus sowie an der durch Stalin initiierten antisemitischen Welle im gesamten Ostblock. Die nach der Schoah verbliebenen kläglichen Überreste der Juden in Polen, wurden in mehreren Phasen teils aus dem Land gedrängt, teils brutal verjagt, die letzten 1968. Um die judenfeindlichen Geschehnisse in Polen nach dem Krieg verständlich zu machen, wird in dem Buch auch die antisemitische Stimmung in Vorkriegspolen sowie die widersprüchliche Haltung der polnischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Minderheit während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Tausende polnische Judenretter lebten während des Krieges in ständiger Angst, von ihren polnischen Nachbarn an die deutschen Besatzer verraten zu werden, was sowohl für die versteckten Juden als auch für ihre mitfühlenden Retter meist den sicheren Tod bedeutete. Und viele Polen äußerten nach dem Krieg ihre Dankbarkeit gegenüber den deutschen Besatzern dafür, dass sie in Polen, dessen Bevölkerung vor dem Krieg zu 10% aus Juden bestanden hat, das "jüdische Problem" gelöst haben. Von den über drei Millionen polnischen Juden waren nach der Shoah nur knapp 300.000 am Leben geblieben. Bis auf einige Tausend haben bis 1968 alle Juden Polen verlassen. Das Land war nun weitgehend "Judenrein".

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Seitenzahl: 243

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Impressum

ISBN 978-3-749454-92-1

Satz und Layout: Gabriel Berger

E-Book-Layout: Gabriel Berger

Titelbild-Entwurf: Enrico Olbricht

Umschlag: Goscha Nowak

Lektorat: Regina Szepansky

Übersetzungen aus dem Englischen und Polnischen: Gabriel Berger

© Lichtig Verlag, Berlin 2016

http://www.lichtig-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Niederschlesien nach dem Einmarsch der Roten Armee

Wer war Jakob Egit?

Egits politische Aktivit

ä

t bis zum Zweiten Weltkrieg

Unter sowjetischer Herrschaft

In der Roten Armee

Die Pogrome von Lemberg/Lwów 1941

Das Echo auf die Pogrome von Lemberg/Lwów in der Nachkriegszeit

Polnische Helfer beim Holocaust

Die antisemitische Judenretterin

Egits R

ü

ckkehr nach Polen

Vertretung der Juden im Nachkriegspolen

Wohin geh

ö

ren die polnischen Juden?

Neue Heimat für polnische Juden in Niederschlesien

Deutsche Juden in Niederschlesien nach 1945

Staatlicher Zuspruch f

ü

r einen Jischuv in Niederschlesien

Die Sicherheitslage der Juden in Polen nach dem Krieg

Der Jischuv in Niederschlesien wird Wirklichkeit

Die Vergangenheit ist immer noch lebendig

Absturz vom Gipfel des Erfolges nach dem Pogrom von Kielce

Der Jischuv in Niederschlesien

ü

berlebt

Internationale Würdigung des Jischuv in Niederschlesien

Trainingslager der Hagana in Niederschlesien

Das Ende für den Jischuv in Niederschlesien

Jakob Egit wird zur unerw

ü

nschten Person

Jakob Egit wird zum Staatsfeind erkl

ä

rt

Egits letzte Jahre in Polen und Emigration nach Kanada

Nachwort

Abkürzungen und Namen von Parteien und Organisationen

Quellenverzeichnis

Vorwort

Unmittelbar nach Kriegsende, drei Jahre vor der Gründung des Staates Israel, kam es im nun polnischen Niederschlesien zu einer Renaissance jüdischen Lebens. Das war ein umso größeres Wunder, als von den einst dreieinhalb Millionen Juden Polens nur etwa 300.000 die Schoah überlebt hatten. Zahlreiche Juden, meist Überlebende der Konzentrationslager oder Rückkehrer aus der Sowjetunion, siedelten sich in Niederschlesien an, wo sie unter maßgeblichem Einsatz des Vorsitzenden des Jüdischen Wojewodschaftskomitees Niederschlesiens Jakob Egit eine jüdische Autonomie begründeten, mit Jiddisch1 als Kommunikationssprache, mit jüdischen politischen Parteien, eigenen Produktionsstätten, eigenen kulturellen und sozialen Einrichtungen. Hier wollten die Juden ihre große jahrhundertealte polnisch-jüdische Tradition erhalten und vor dem Untergang bewahren. Es sollte eine Alternative zur jüdischen Ansiedlung in Palästina werden. Doch nach nur wenigen Jahren war diese Erfolgsgeschichte zu Ende.

Im Jahre 2010 erfuhr ich, dass Lala Süsskind, von 2008 bis 2012 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, 1946 in der polnischen Stadt Reichenbach/ Dzierżoniów2in Niederschlesien mit dem Mädchennamen Rubin geboren wurde und ein Jahr später mit ihren Eltern in den amerikanischen Sektor Berlins gekommen ist. Die Entscheidung der Eltern von Lala Süsskind, so kurz nach dem Krieg nach Deutschland, das für den Massenmord an Juden verantwortlich war, zu ziehen, veranlasste mich, die Hintergründe des Lebens von Juden in Nachkriegspolen und deren Flucht aus ihrer Heimat genauer zu erforschen.

Mein Interesse für diese Problematik war umso größer, als ich selbst 1948 mit meinen jüdischen Eltern im Alter von vier Jahren von Belgien in die inzwischen polnische Stadt Wrocław/ Breslau in Niederschlesien, gezogen bin3. Von da an gehörten wir in Wrocław zu der jüdischen Gemeinschaft Niederschlesiens. Ich besuchte einen jüdischen Kindergarten und danach die erste religionsfreie Schule der Stadt, deren Schüler vorwiegend jüdische Kinder waren. Auch die meisten Lehrer der Schule waren Juden. Mein Vater, der nach Polen gekommen war, um sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen, arbeitete in einem Staatsbetrieb und engagierte sich in der kommunistischen Partei PZPR4. In der Freizeit bewegten sich meine Eltern fast ausschließlich im Kreis jüdischer Freunde und Bekannten, die wie sie nicht religiös waren. Ihre Kommunikationssprache war Jiddisch. An Wochenenden traf man sich zu Vorträgen, Konzerten, Theateraufführungen und geselligen Abenden im jüdischen Klub von Wrocław.

Als Kind konnte ich nicht wahrnehmen, dass 1949, kurz nach unserer Ankunft in Polen, das hoffnungsvolle Experiment, in Niederschlesien eine jüdische Autonomie zu errichten, der stalinistischen Gleichschaltung zum Opfer gefallen war. Wie die ganze polnische Gesellschaft gerieten auch die Juden unter die strenge Kontrolle der kommunistischen Partei und des Staates.

Das 1956 eingeleitete „Tauwetter“ brachte in Polen eine politische und kulturelle Liberalisierung, weckte aber zugleich den alten Ungeist der Judenfeindschaft. Die meisten meiner jüdischen Klassenkameraden wanderten 1956 bis 1957 mit ihren Eltern nach Israel aus. Sie gehörten zu den etwa 50.000 Juden, die damals Polen verließen. Unter dem Druck des erstarkten Antisemitismus verließ auch mein Vater mit der Familie das Land. Er entschied sich, nicht nach Israel, sondern nach Deutschland zu ziehen. Doch im Gegensatz zu den Eltern von Lala Süsskind wählte er die DDR als unsere neue Heimat, wo er sein Engagement für den Sozialismus fortsetzen konnte.

Die große Bedeutung der niederschlesischen Kleinstadt Dzierżoniów/ Reichenbach für die Gemeinschaft der polnischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete sich mir erst viele Jahrzehnte später. Als eines der Ergebnisse meiner Recherchen erfuhr ich darüber hinaus, dass Dzierżoniów/Reichenbach eine faszinierende Geschichte hatte. Bis 1945 teilte die Stadt das Schicksal der Provinz Schlesien, die bis zum Siebenjährigen Krieg (1756–1763) zu Österreich und danach zu Preußen gehörte. Die Stadtchronik verzeichnet aber zwei Ereignisse von europäischer Tragweite. Im Jahr 1790 kamen Repräsentanten aus Böhmen, Österreich, Preußen, Holland und Polen nach Reichenbach, um über den Österreichisch-Türkischen Krieg zu verhandeln. Und am 27. Juni 1813 wurde die „Konvention von Reichenbach“ unterzeichnet, mit der ein antinapoleonisches Bündnis zwischen Russland, Preußen und Österreich vereinbart wurde. Danach war es um Reichenbach still. Doch die Industrialisierung und die Emanzipation der Juden führten im 19. Jahrhundert zu deren Zuzug. Jüdische Kaufleute und Textilfabrikanten verhalfen der Stadt zu beachtlichem Wohlstand. Die reich verzierte, liebevoll renovierte Synagoge zeugt heute noch von dem einst blühenden deutsch-jüdischen Leben in Reichenbach.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die bis dahin dort beheimateten Deutschen Niederschlesien weitgehend verlassen hatten, wurde Reichenbach zu einem Zentrum jüdischer Wiedergeburt in Polen, mit zeitweise mehrheitlich jüdischen Bewohnern. Hier hatte bereits im Mai 1945 die Ansiedlung polnischer Juden in Niederschlesien begonnen. Schon bald wurde die Synagoge viel zu klein für die nach Dzierżoniów/Reichenbach5 ziehenden Juden. Aus vorwiegend polnischen Quellen, darunter „Virtuelles Schtetl“6 und „Stiftung Beitejnu Chai“7, erfuhr ich Details über die große jüdische Nachkriegsvergangenheit der Stadt Dzierżoniów und ganz Niederschlesiens, und ich stieß auf den Namen des Spiritus Rektor dieser Entwicklung, Jakob Egit.

Die im Jahre 2004 gegründete Stiftung Beitejnu Chai hat sich zur Aufgabe gemacht, die Synagoge von Dzierżoniów zu restaurieren und sie zum interkulturellen und interreligiösen Begegnungszentrum zu machen. Ich nahm zu Rafael Blau, dem aus Israel stammenden Gründer und Leiter der Stiftung, Kontakt auf und suchte ihn 2012 in Dzierżoniów auf. Die inzwischen weitgehend restaurierte Synagoge ist nicht nur ein Kleinod der idyllischen Kleinstadt, sondern ihr reiches Kulturangebot wurde auch von den Einwohnern wohlwollend angenommen und wird von vielen mitgestaltet oder mitorganisiert. Von Rafael Blau erhielt ich eine Kopie der vergriffenen Memoiren von Jakob Egit, die 1991 in Kanada unter dem Titel „Grand Illusion“8 erschienen sind. Darin beschrieb Egit seine unmittelbar nach dem Krieg zunächst außerordentlich erfolgreichen Bemühungen um ein jüdisches Leben im polnischen Niederschlesien.

Die Nachkriegsgeschichte der Ansiedlung polnischer Juden im einst deutschen Niederschlesien ist weitgehend dem Vergessen anheimgefallen. Dabei bot sie nach der Schoah eine hoffnungsvolle und, wie es eine Zeitlang schien, durchaus realistische Chance, auf der Grundlage jahrhundertealter polnisch-jüdischer Tradition, jüdisches Leben wieder aufzubauen und zu etablieren.

Der Plan, im nun polnischen Niederschlesien Juden anzusiedeln, ist im Zeitraum von 1945 bis 1949 unter maßgeblichem Einsatz des aus dem ehemaligen Ostpolen9 stammenden demobilisierten Sowjetsoldaten Jakob Egit realisiert worden. Dabei spielte die Kleinstadt Dzierżoniów, die vor dem Krieg Reichenbach hieß und nach dem Krieg von polnischen Juden kurze Zeit Rychbach genannt wurde, eine zentrale Rolle.

Das von der neuen kommunistischen Staatsmacht Polens unterstützte Projekt einer weitgehenden kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Autonomie von Juden in Niederschlesien war zunächst sehr erfolgreich. Sie stieß weltweit in jüdischen Kreisen auf eine vorwiegend positive Resonanz. Es sollte den Juden, die seit über 800 Jahren in Polen ansässig waren10, eine Alternative zur Emigration nach Palästina, seit 1948 nach Israel, bieten. Das Projekt scheiterte aber an der durch pogromartige antisemitische Ausschreitungen ausgelösten panikartigen Flucht von Juden aus Polen, an der kommunistischen Gleichschaltung, dem antisemitisch aufgeladenen Nationalismus der polnischen Gesellschaft sowie an der durch Stalin initiierten antisemitischen Welle im gesamten sozialistischen Ostblock.

Über den realen Sozialismus ist inzwischen Gras gewachsen, über die polnisch-jüdische Vergangenheit ein Gestrüpp, in dem ich mich auf die Suche nach Spuren der einst im Aufblühen begriffenen niederschlesischen Gemeinschaft polnischer Juden begeben habe.

Der Versuch, auf ehemals deutschem Boden ein eigenständiges jüdisches Leben wieder aufzubauen, sollte auch eine partielle Entschädigung für den von den Deutschen organisierten und mit äußerster Grausamkeit und Präzision vollzogenen Massenmord an Juden sein. Er verdient es, ins historische Gedächtnis zurückgeholt zu werden.

Die Ereignisse in Niederschlesien im Zeitraum von 1945 bis 1949 sind aber nur eine Facette des Gesamtbildes der Lage, mit der die wenigen Juden, die das Glück hatten, den Holocaust zu überleben, unmittelbar nach Kriegsende in Polen konfrontiert wurden. Vorherrschend war nicht Mitleid mit den Opfern, sondern ein von Habgier, Neid und religiösem Antisemitismus getriebener Hass seitens der polnischen Bürger. Weitgehend vergessen war nach dem Rückzug der Deutschen die christlich motivierte Nächstenliebe zahlreicher Polen, die während des Krieges nach vorsichtigen Schätzungen etwa fünfzig- bis siebzigtausend Juden das Leben gerettet haben.

Um die Lage der Juden in Polen nach 1945 zu verstehen, muss man auch die den Juden geltende Feindschaft vor dem Krieg kennen sowie die Gleichgültigkeit und Mittäterschaft großer Teile der polnischen Gesellschaft angesichts des von den Deutschen in aller Offenheit inszenierten Mordes am jüdischen Volk beleuchten. Ein erheblicher Teil dieser Publikation widmet sich deshalb der Beschreibung der Atmosphäre und der Geschehnisse in Polen in der Vorkriegszeit und während des Krieges. Dabei wird den Äußerungen der in Vorkriegspolen bekannten Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka breiter Raum eingeräumt. Trotz ihrer konservativen, katholisch-nationalistischen und antisemitischen Gesinnung engagierte sie sich persönlich für die Rettung der Juden, unter Bedrohung ihres eigenen Lebens. Deshalb ist sie in ihren anklagenden Schriften eine besonders glaubwürdige Zeugin der moralischen Verrohung von Teilen der polnischen Bevölkerung während der deutschen Besatzung. Die Judenpogrome in Polen in den ersten Nachkriegsjahren waren eine Fortsetzung der in der Kriegszeit von zahlreichen Polen an jüdischen Bürgern begangenen Verbrechen. Sie waren ein Echo des von den Deutschen organisierten und mit grausamer Präzision realisierten Holocaust.

Der Widerhall der in dieser Publikation beschriebenen Übergriffe auf Juden in Polen des vergangenen Jahrhunderts ist in der polnischen Gesellschaft bis heute zu vernehmen. Dazu hat sich der polnische Philosoph Adam Chmielewski kürzlich geäußert:

„Die gegenwärtigen Formen des polnischen Antisemitismus kann man […] nur vor dem Hintergrund seiner früheren Formen sowie seiner Folgen in der Vergangenheit und in der Gegenwart verstehen.“11

Niederschlesien nach dem Einmarsch der Roten Armee

Anfang 1945 hatte die Rote Armee die Wehrmacht von den östlichen Territorien des Deutschen Reiches weitgehend vertrieben und sie hinter die Oder gedrängt. Sie näherte sich dem Ursprungsort und der Endstation des Krieges, der deutschen Hauptstadt Berlin. In dem erbitterten Kampf, den die Naziführung bis zum Endsieg oder zur totalen Niederlage zu führen entschlossen war, wurde die niederschlesische Metropole Breslau zur Festung erklärt. Im Zentrum der Stadt wurden Häuser gesprengt und abgerissen, deren Schutt beseitigt. Die so entstandene riesige Brache sollte als eine Start- und Landebahn für Flugzeuge dienen. Das war der letzte verzweifelte Versuch, den unvermeidlichen Untergang des Dritten Reiches abzuwenden. Breslau wurde bis zum 9. Mai 1945, über den Tag der allgemeinen Kapitulation hinaus, von der Wehrmacht und den Zivilisten des „Volkssturms“ heftig verteidigt.

Schon Monate und Wochen vorher flohen aus den Regionen Königsberg, Ostpreußen, Pommern und Schlesien Millionen deutsche Zivilisten in Panik vor der Sowjetarmee.12 Aufgeschreckt von Berichten und Gerüchten über Gräuel sowjetischer Soldaten versuchten sie, sich in weiter westlich gelegene Gebiete Deutschlands in Sicherheit zu bringen. Gemäß den Vereinbarungen der Anti-Hitler-Koalition in Teheran (1943) und Jalta (1945) wurden, im Sinne sowjetischer territorialer Ansprüche, die Grenzen des Deutschen Reiches Richtung Westen verschoben. Königsberg fiel der Sowjetunion zu, die sich außerdem den östlichen Teil Polens aneignete und ihn an die litauische, die weißrussische und die ukrainische Sowjetrepublik angliederte. Als Ausgleich wurde Polen im Norden und im Westen um ehemals deutsche Gebiete erweitert. Noch lebten in Niederschlesien Deutsche, die es nicht geschafft hatten zu fliehen oder hartnäckig ihren Besitz verteidigen wollten. Doch Mitte 1945 war das Gebiet weitgehend von Deutschen verlassen. In die von sowjetischen Truppen besetzten Territorien drangen Polen ein, die nun das Land, die Wohnhäuser, Landgüter und Industrieanlagen für sich beanspruchten. Neben den Polen tauchten aber auf dem Gebiet Niederschlesiens ganz unerwartet Juden auf. Es waren Todgeweihte und Todgeglaubte, die durch den raschen Vormarsch sowjetischer Truppen das Glück hatten, in den von den SS-Bewachern in Panik verlassenen Konzentrationslagern zu überleben.

So gehörten bereits im Mai 1945 ehemalige jüdische Häftlinge, die aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen und seinen Außenlagern von sowjetischen Truppen befreit wurden, zu den ersten Siedlern in den durch Flucht und Vertreibung von den Deutschen nach und nach verlassenen Gebieten Niederschlesiens. Unter den etwa 15.000 befreiten Menschen, waren 5.000 bis 6.000 polnische Juden.13 Die meisten von ihnen sahen keinen Sinn in einer Rückkehr in ihre eigenen polnischen Heimatorte und wollten Polen so schnell wie möglich verlassen. Doch etwa 1200 beschlossen, sich in der von ihren deutschen Bewohnern inzwischen weitgehend verlassenen niederschlesischen Kleinstadt Reichenbach niederzulassen. Hinzu kamen bald Menschen, die in Verstecken überlebt hatten. Neben polnischen kamen auch deutsche Juden und schließlich Rückkehrer aus der Sowjetunion, die sich dort vor dem nationalsozialistischen Massenmord im deutsch besetzten Polen hatten retten können. Ein Jahr später lebten bereits über 12.000 Juden in Reichenbach.14 Für die jüdischen Überlebenden, die sich in Niederschlesien niederließen, wurde Jakob Egit, von 1945 bis 1948 Vorsitzender des Wojewodschaftskomitees15polnischer Juden in Niederschlesien, zu einem der wichtigsten Inspiratoren und Organisatoren des jüdischen Lebens in dieser Region.

Wer war Jakob Egit?

Der aus dem ostpolnischem Galizien stammende Jakob Egit war einer der Initiatoren des Plans, in dem ehemals deutschen Niederschlesien einen jiddischenJischuv16 zu kreieren, mit Jiddisch als Kommunikationssprache, mit jüdischen Kultur- und Bildungsinstitutionen, eigenen Produktionsstätten, eigenen politischen Organisationen und eigener jüdischer Selbstverwaltung. Sein ehrgeiziges Projekt des jiddischenJischuv in Niederschlesien sollte eine Alternative zum zionistischen Projekt der Ansiedlung von Juden in Palästina werden. Im polnischen Niederschlesien sollten die Juden die Möglichkeit haben, als Juden zu leben, ohne ihre Jahrhunderte alte Verwurzelung in ihrer polnischen Heimat zu verlieren. Zunächst unterstützt von den neuen, kommunistisch orientierten Machthabern wurde Egits Traum für kurze Zeit Wirklichkeit.

Jakob Egit wurde 1908 in Borysław am Fuße der Karpaten, in der Nähe von Lwów/Lemberg17 geboren. Er war das jüngste von sechs Kindern. Borysław war ein Stetl mit 9.319 Einwohnern im Jahre 1880, von denen 7.494 Juden waren.18 Damals war Galizien ein Teil Österreich-Ungarns. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel es an Polen. Noch im November 1918 kämpften Polen und Ukrainer gegeneinander um die Kontrolle über Ostgalizien. Dabei bezichtigte jede Seite die Juden der Unterstützung der anderen Seite. In Lwów/Lembergbrachen Pogrome aus, die mal von den Polen, mal von den Ukrainern angezettelt wurden. 70 Juden verloren ihr Leben, über 300 wurden verwundet.19 Während des Polnisch-Sowjetischen Krieges 1920 wurden über 17.000 in der polnischen Armee dienende jüdische Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten im Lager Jabłonna bei Warschau eingesperrt, weil sie pauschal bezichtigt wurden, Bolschewiken und damit Feinde Polens zu sein.20 In Pińsk erschoss ein polnischer Offizier 43 Juden, ohne dafür gerichtlich belangt zu werden. In Płock wurde Rabbi Shapiro durch ein Militärgericht zum Tode verurteilt. Der Vorwurf lautete, er sei ein Spion und gebe durch seine in Hebräisch gehaltenen Gebete Informationen an die Feinde weiter.21Die Losung „Entjudung des polnischen Staates“ wurde populär.22 Jakob Egit erinnert sich an Szenen, die er 1920 als Kind selbst gesehen hat. Ein Mob sei in Häuser eingedrungen und hätte wahllos jüdische Bewohner angegriffen. Ein alter Mann mit grauem Bart sei an zwei Pferde angebunden und über den Boden geschleift worden, wobei die Zuschauer vor Freude lachten.23

Die Gegend um die Kleinstadt Borysław war eine Zeitlang weltweit bekannt. In der ansonsten armen, von der Landwirtschaft lebenden Region wurde Mitte des 19. Jahrhunderts Erdöl entdeckt. Die Erdölförderung machte um die Jahrhundertwende die Stadt reich. Im Jahre 1909 stammten aus der Umgebung von Borysław immerhin 5 %24 des weltweit geförderten Erdöls. Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs rasch, von 16.000 im Jahre 1921 auf 45.000 im Jahre 1939. Durch die Zuwanderung von Erdölarbeitern sank der Anteil an Juden von 80 % Ende des 19. Jahrhunderts auf etwa 30 %.25

Jakob Egits Vater war zunächst Leiter einer Transportfirma. Nach dem Ersten Weltkrieg eröffnete er einen Tabakladen. Er war streng religiös, besuchte jeden Morgen und jeden Abend die Shul26. Am Freitagabend und am Sonnabendmorgen ging er mit den Kindern in die Synagoge.

Jakob war ein kränkliches Kind, weshalb er nicht die öffentliche Schule beenden konnte. Die religiöse und weltliche Bildung sowie die jiddische und polnische Sprache wurden ihm von einem Hauslehrer vermittelt. Außerdem las er sehr viel, war Stammgast in der Stadtbibliothek. Autodidaktisch eignete er sich ein breites Wissen an.

Mit sechzehn Jahren begann er, sich am Wohnort politisch zu engagieren. Er trat der marxistisch-zionistischen Partei Poale Zion/ Linke27 bei und organisierte Abendkurse für jüdische Arbeiter. Bald wurde er wegen seiner Redegewandtheit und seines mutigen Engagements für die Rechte der Armen in der Region bekannt und geschätzt.

Egits politische Aktivität bis zum Zweiten Weltkrieg

Ende der 1920er Jahre machte sich die weltweite Wirtschaftskrise auch in Polen stark bemerkbar. Ausbeutung der Arbeiter, Armut und Leid griffen um sich. Die jüdischen Proletarier litten doppelt: Als Arbeiter wurden sie ausgebeutet und gegenüber Besitzenden benachteiligt, als Juden von Antisemiten terrorisiert. Handwerkerbetriebe und kleine Läden, eine Domäne der Juden, mussten in der Krise massenhaft schließen. Ihre Inhaber und deren Familien versanken im Elend und versuchten, sich als Hausierer oder Bettler über Wasser zu halten. Pogrome waren an der Tagesordnung und betrafen alle sozialen Schichten. Die Notlage der Juden und die Unfähigkeit offizieller polnischer und jüdischer Körperschaften, sie zu verbessern, machten Jakob Egit betroffen. Zudem erschien ihm die Situation in Polen während der Weltwirtschaftskrise so hoffnungslos, dass er beschloss, nach Palästina auszuwandern. Doch sein Gesuch um die Alija28 bei der Jewish Agency for Palestine29 wurde abgelehnt. Grund war seine Mitgliedschaft in der Partei Poale Zion/Linke. Denn die für die Auswahl der Einwanderer nach Palästina verantwortliche Jewish Agency war nicht daran interessiert, in Palästina die sozialistische oder kommunistische Ideologie zu fördern.

Die Lage der zahlenmäßig starken jüdischen Unterschicht in Polen war tragisch. Für die meisten Juden waren die Tore nach Palästina verschlossen, denn um Konflikte mit der arabischen Bevölkerung zu vermeiden, begrenzten die über Palästina herrschenden Briten die jüdische Einwanderung stark. Zudem fehlte Jakob Egit, wie vielen jungen Juden im Vorkriegspolen, der Glaube, dass Großbritannien das Mandat über Palästina aufgeben und das Versprechen der Balfour Declaration30 einlösen würde, eine jüdische Heimstatt einzurichten. Egit widmete sich deshalb der für ihn greifbaren Aufgabe, die Lage der armen jüdischen Bevölkerung in Polen zu verbessern. Den radikalen Linken boten die kollektivistischen Experimente in der Sowjetunion ein Vorbild für die angestrebten gesellschaftlichen Zustände. Jüdischen Linken erschien die Sowjetunion umso attraktiver, als dort Juden in exponierten Positionen der Partei und des Staates zu finden waren und bereits seit 1918 öffentliche Kampagnen gegen den Antisemitismus stattfanden.31 Symptomatisch hierfür war das berühmt gewordene Interview für die amerikanische Jewish Telegraphic Agency, in dem Stalin 1931 in scharfer Form Partei gegen den Antisemitismus ergriff:

„Der National- und Rassenchauvinismus ist ein Überrest der menschenfeindlichen Sitten aus der Periode des Kannibalismus. Der Antisemitismus als extreme Form des Rassenchauvinismus ist ein gefährliches Überbleibsel des Kannibalismus. Der Antisemitismus dient den Ausbeutern als Blitzableiter, um die Revolte der Arbeiter gegen den Kapitalismus abzuwehren. Der Antisemitismus ist eine Gefahr für die Werktätigen, denn er ist ein Irrweg, der sie vom rechten Wege abbringt. Deshalb sind die Kommunisten als konsequente Internationalisten unversöhnliche Feinde des Antisemitismus. In der UdSSR wird der Antisemitismus als eine der Sowjetordnung zutiefst feindliche Erscheinung vom Gesetz aufs strengste verfolgt. Aktive Antisemiten werden nach den Gesetzen der UdSSR mit dem Tode bestraft.“32

1930 verließ Jakob Egit die Partei Poale Zion/Linke, weil sie sich als eine reine Arbeiterpartei verstand, die in ihrem Kampf gegen Diskriminierung und für politische und soziale Rechte die verarmten Massen jüdischer Arbeiter vertrat, sich aber nicht für die Interessen jüdischer Kleinunternehmer und Ladenbesitzer einsetzte, die im marxistischen Verständnis als „Kleinbürger“ und „Kapitalisten“ galten. Mit einer Gruppe Gleichgesinnter gründete er ein Jahr später in Lwów die Allgemeine Jüdische Arbeiterpartei33 (AJAP), deren Generalsekretär er wurde. Ende November 1931 wurde die neue Partei offiziell in Polen registriert.

Das Zentralkomitee der AJAP veröffentliche ein Manifest an alle jüdischen Arbeiter, Besitzer kleiner Läden, Handwerker usw., in dem die Ziele der neuen Partei erläutert wurden. Darin wird auf die prekäre Lage der jüdischen Unterschicht angesichts der Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der antisemitischen Benachteiligung von Juden bei der Arbeitssuche in staatlichen Institutionen und Fabriken hingewiesen. Viele beschäftigungslose Juden hätten kein Anrecht auf eine Arbeitslosenunterstützung und die Gründung von Kleinunternehmen sei durch die horrenden Steuern fast unmöglich. In dem Manifest werden die Hauptziele der Partei genannt: "Ziel der neugegründeten AJAP ist deshalb der Kampf für die Verbesserung der Lage jüdischer Arbeiter und verarmter jüdischer Volksmassen, für gleichen Status jüdischer und nichtjüdischer Arbeiter, für die Beseitigung der Diskriminierung bei der Beschäftigung, gegen den Antisemitismus und den Boykott jüdischer Unternehmen, für die Gründung von staatlich unterstützten jüdischen Schulen für jüdische Kinder.“34

Das Manifest betonte des Weiteren, dass die AJAP eine jüdische Organisation für alle Arbeiter, Handwerker, Kleinunternehmer sowie die arbeitende Intelligenz sei und für alle, die sich dem Kampf für ökonomische, soziale und politische Gerechtigkeit und Freiheit anschließen wollen.

Die Partei wuchs schnell. In den ersten vier Monaten ihrer Existenz wurden Gruppen in dreißig Städten gegründet. Anfang 1933 hatte sie 2.000 Mitglieder, Anfang 1934 bereits 5.000 Mitglieder in 100 Städten. Die meisten Mitglieder kamen aus den linken jüdischen Parteien Bund35, Poale Zion und der Jugendorganisation Hashomer Hatzair36. In zahlreichen Städten mobilisierte die AJAP verarmte Juden, die kein Geld aufbringen konnten, ihre Miete zu zahlen und sich gegen die Zwangsräumung ihrer Wohnungen nicht wehren konnten. Die Partei organisierte auch Streiks von jüdischen Arbeitern gegen Ausbeutung, insbesondere von Textilarbeitern in Kosóv und von Industriearbeitern in der Region von Lwów. Obwohl die Partei legal war, wurden ihre Aktivitäten vom Staat streng überwacht.

1932 wurde Egit zusammen mit anderen Teilnehmern einer Friedenskonferenz in Lwów verhaftet. Nach einigen Tagen waren alle wieder auf freiem Fuß. Doch die Partei AJAP wurde nun systematisch beobachtet. Ausgaben der auf Jiddisch erschienenen Parteizeitschrift „Unser Weg“ wurden immer wieder beschlagnahmt. Im Oktober 1934 wurde die AJAP schließlich verboten. In ihrer Untergrundarbeit widmete sie sich besonders dem Kampf gegen die nationalsozialistische Gefahr aus Deutschland. Der Einfluss der nationalsozialistischen Rassenideologie, die in Deutschland zur Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Bürger führte, wurde in Polen immer stärker spürbar.

1935 leitete Egit eine Kampagne zur Befreiung politischer Häftlinge in Polen, von denen nach Aussagen Egits „ein hoher Prozentsatz“ Juden waren. An der Kampagne beteiligte sich eine Einheitsfront aller linken Parteien in Ostpolen, einschließlich der sozialdemokratischen Partei PPS37. Das Bündnis repräsentierte die wichtigsten in Galizien lebenden ethnischen Gruppen: Polen, Ukrainer und Juden. In der damals in Polen noch relativ liberalen Atmosphäre erreichte die Kampagne schließlich ihr Ziel. 1936 wurde eine Amnestie verkündet, tausende politische Gefangene waren frei. Ein Hilfskomitee übernahm die soziale Betreuung der freigelassenen Häftlinge.

In der Zeit von Juni 1935 bis 1937 kam es an etwa 100 Orten Polens, darunter auch in Lwów, zu judenfeindlichen Gewaltaktionen. Mehr als zehn Menschen wurden getötet und über 2.000 verwundet. Es war kein Zufall, dass die Welle offener Feindseligkeit erst begann, nachdem der als Vaterfigur und einer der Schöpfer des 1918 wieder entstandenen polnischen Staates verehrte Marschall Jósef Piłsudski im Mai 1935 gestorben war. Im Gegensatz zu den nach ihm regierenden Mitgliedern extrem nationalistischer Parteien war Piłsudski Anhänger eines multiethnischen Staates, in dem die Minderheitenrechte von Juden, Deutschen, Ukrainern, Weißrussen und Litauern, die gemeinsam etwa 30 % der Bevölkerung Polens ausmachten, geschützt sein sollten. Sein Ziel war eine begrenzte kulturelle Autonomie der einzelnen Minderheiten, darunter auch der Juden. Nicht zuletzt deshalb wurde der diktatorisch regierende Piłsudski von polnischen Juden, sofern sie sich nicht als Linke verstanden, unterstützt und von vielen verehrt. Sofort nach seinem Tod überboten sich die regierenden bürgerlichen Parteien wechselseitig mit judenfeindlichen Gesetzesvorlagen, deren Ziel es sein sollte, die Juden zur Massenemigration zu bewegen, nach Palästina oder sonst wohin.

Die allgemeine Armut in Polen, besonders auf dem Land, wurde damals im öffentlichen Diskurs hauptsächlich auf das rasche Wachstum der Bevölkerung zurückgeführt: von 27 Millionen im Jahr 1921 auf 34 Millionen im Jahr 193738. Außerdem wurde der angeblich schädliche Einfluss der im Handel überproportional vertretenen Juden auf die Wirtschaft Polens angeprangert. In nationalistischen Kreisen entstand die Idee, Platz für die ethnischen Polen zu schaffen und zugleich die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, indem man die dreieinhalb Millionen Juden zur Emigration zwang. Ähnliche Ideen zur Emigration der in Polen auf dem gleichen Gebiet lebenden etwa fünf Millionen Ukrainer gab es dagegen nicht.39 Im Januar 1936 erklärte der polnische Außenminister Józef Beck im Sejm, die Regierung sei sich darüber einig, dass ein erheblicher Teil der Juden aus Polen emigrieren müsse. Die Pläne der Regierung wurden von der Mehrheit ethnischer Polen unterstützt, die sich so mehr Arbeitsplätze für ihre Bevölkerungsgruppe versprachen.40 Als Zielländer der Emigration, zu der die Juden ausdrücklich gezwungen werden sollten, nannte Beck an erster Stelle Palästina, aber auch afrikanische oder südamerikanische Kolonien. Die französische Idee, die Emigration der von den Nazis bedrängten deutschen Juden41, aber auch der polnischen Juden42, als Kolonisten nach Madagaskar43 zu unterstützen, wurde in Polen aufgegriffen und öffentlich diskutiert.44 Polnische Vertreter forderten im Völkerbund45 für Polen Kolonien, um in diese die Juden aussiedeln zu können.46

Voller Neid blickten viele polnische Nationalisten nach Deutschland und drängten danach, die Juden in Polen nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Nürnberger Rassengesetze47 auszugrenzen. „Die ganze Welt schaut gebannt auf den Kampf der germanischen Kultur gegen die semitische Seuche“48, las man in der katholischen Zeitschrift „Przegląd Katolicki“49 im Februar 1939. Und in der Zeitschrift „Przewodnik Katolicki“50 wurden die Polen aufgerufen, dem deutschen Beispiel zu folgen und Bücher jüdischer Autoren sowie jüdische religiöse Bücher zu verbrennen.51 Noch deutlicher unterstützten die radikalen Nationalisten des ONR52 die deutsche Lösung der „Judenfrage“. In der ONR-Zeitschrift „Kuźnica“ erschien 1938 der folgende Text: „Gegenwärtig haben die Deutschen begonnen, in ihrem Land das Judentum endgültig zu beseitigen. […] Wann werden wir dieses Problem endlich auf männliche, ernsthafte Weise in Angriff nehmen.“53

Als Basis des „Polentums“ wurde im öffentlichen Diskurs der Katholizismus betrachtet, womit alle Minderheiten, neben der jüdischen auch die deutsche, ukrainische und weißrussische, per definitionem als „unpolnisch“ stigmatisiert wurden.

Symptomatisch für die Haltung aller polnischen Regierungen nach dem Tod Piłsudskis im Mai 1935 bis zum deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 war die berühmt gewordene Äußerung des Premiers Felicjan Sławoj Składkowski 1936 im Sejm54: „Ökonomischer Kampf – natürlich, aber kein Leid zufügen.“55 Damit rief er ausdrücklich zum Wirtschaftskrieg gegen die Juden auf. In derselben Rede verurteilte er aber entschieden alle Akte physischer Gewalt seitens rechtsnationaler Extremisten. Dieser Linie schloss sich der Primas der katholischen Kirche Kardinal August Hlond an, der die Polen aufrief, nicht bei Juden zu kaufen, sie wirtschaftlich zu boykottieren, ihnen aber keine körperliche Gewalt anzutun.56 Die ansonsten antisemitische katholische Kirche verurteilte zwar die brutalen Überfälle auf Juden, bezeichnete aber das Verhalten der Juden als Ursache für die Übergriffe.57 Lediglich Teile der Sozialdemokratie (PPS) und die illegalen Kommunisten schlossen sich, neben den jüdischen Parteien, dem antisemitischen Chor nicht an.

1936 kehrte Egit aus Lwów in seine Heimatstadt Borysław zurück. Doch schon im nächsten Jahr wurde er unter dem Vorwurf staatsfeindlicher Aktivitäten für die inzwischen verbotene AJAP verhaftet. Er verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft. In seiner Selbstverteidigung vor Gericht beharrte er darauf, dass seine Tätigkeit antifaschistisch und gegen Hitler gerichtet sei. Das überzeugte das Gericht und er wurde aus der Haft entlassen. Im gleichen Jahr heiratete Jakob Egit die junge Lehrerin Wita Brajer. 1937 wurde ihr ältester Sohn Richard geboren.

Unter sowjetischer Herrschaft

Noch im Jahre 1939 erhob der Vizesenatspräsident Bogusław Miedziński die Forderung, von den etwa dreieinhalb Millionen damals in Polen lebenden Juden hätten alle, bis auf höchstens fünfzigtausend, das Land zu verlassen. Verschiedene Vorschläge zur Realisierung dieser Forderung wurden auf Veranlassung des regierenden nationalistischen Lagers der Nationalen Einheit (OZN)58bereits seit 1936 im Völkerbund diskutiert.59Im Jahre 1939 war in der polnischen Regierung auch das Projekt einer Verordnung zur Entfernung „nichtarischer“ Mitarbeiter aus allen staatlichen Institutionen im Gespräch.60 Doch den Regierenden blieb keine Zeit, diese vom deutschen Nationalsozialismus inspirierten radikalen Ansätze zur Lösung der „Judenfrage“ umzusetzen, denn am 1. September 1939 überfiel das nationalsozialistische Deutschland Polen.

Auch Borysław wurde bombardiert. Wenige Tage nach Kriegsbeginn überrannten die Deutschen die Stadt. Gemäß dem Hitler-Stalin-Abkommen wurde aber Ostpolen, einschließlich Lwów und dem nahe gelegenen Borysław, sowjetisch besetzt. Die Deutschen verließen nach nur drei Tagen Borysław und ihnen folgte auf dem Fuß die Sowjetarmee.

Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung empfing die Sowjetsoldaten mit Begeisterung, ganz besonders in Lwów. Denn in den wenigen Tagen, in denen die Deutschen das Sagen hatten, terrorisierten sie die Juden und zogen sie zu entwürdigenden Zwangsarbeiten ein. Zudem waren die in Deutschland 1935 eingeführten Nü