Putins "russische Welt" - Gabriel Berger - E-Book

Putins "russische Welt" E-Book

Gabriel Berger

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Beschreibung

Die meisten der vorliegenden Texte sind von mir unter dem Eindruck der russisch-ukrainischen Konfliktes und des am 24.02. 2022 erfolgten Überfalls Russlands auf die Ukraine verfasst worden. Einige der Texte sind als Beiträge zur Veröffentlichung in Zeitschriften entstanden, andere sind Äußerungen in Internet-Diskussionen, und zwar sowohl mit Putin-Gegnern, als auch mit "Putin-Verstehern". Diskussionen mit Letzteren sind von mir bewusst geführt worden, um im verbalen Konflikt mit Widersachern meine Argumente zu schärfen und zu präzisieren. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist, obwohl ich mir keine Illusionen mache, Freunde oder wohlwollende Bejaher der aggressiven Politik Putins von ihrem Irrtum überzeugen zu können. Denn die Wurzel ihres Irrtums ist der von Putins Propaganda geschürte Glaube, Russland müsse sich der Aggression seitens des Westens erwehren, dessen williges Werkzeug die Ukraine sei.

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Seitenzahl: 120

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

1. Einleitende Worte

2. Putins Propaganda

2.1. Grundbegriffe

2.2. Impressionen über Staatsmedien Russlands, Polens und der Ukraine

2.3. Ivan Iljin, Putins geistiger Mentor

2.4. Ist Putin ein Faschist?

2.5. Ein Versuch, Putins Gedanken zu lesen

2.6. Putin ist ein konservativer Nationalist

2.7. Putin verstehen?

2.8. Putins Visionen

2.9. Tag der Befreiung?

2.10. Am 30. Tag des Krieges in der Ukraine

3. Putins „militärische Spezialoperation“

3.1. Putins Fehlkalkulation

3.2. Putins Geisterfahrt

3.3. Russische Verleumdungskampagne gegen den jüdischen Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenski

3.4. „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“

3.5. Für Putin-Fans

3.6. Ukraine und Finnland

4. Russophbie und Russophilie

4.1. Sind die Deutschen „russophob“?

4.2. Ein konservative Putinversteher

4.3. Antirussischer Rassismus?

4.4. Hass gegen Russen ist mir fremd

5. Putins Ziele

5.1. Russisches Ziel: Einflusssphäre bis Portugal

5.2. Russischer Phantomschmerz

5.3. Russische Kolonialgeschichte

5.4. Heim ins Reich

6. Sind die Ukrainer Nazis?

6.1. Was meint Putin, wenn er von ukrainischen Nazis spricht?

6.2. Gab es 2014 in der Ukraine einen faschistischen Putsch?

6.3. Einige Worte zum Kult Banderas in der Ukraine

6.4. Selbstkritik von Völkern

7. Russland und der Westen

7.1. Mitschuld des Westens am Ukraine-Krieg?

7.2. Nato und Russland

7.3. Wem gehört die Krim?

7.4. Russlands Säbelrasseln führt zur NATO-Erweiterung

7.5. Zweckbündnis des Westens mit der Sowjetunion gegen Hitler

7.6. Neutrale Ukraine?

7.7. Was tun mit den requirierten Vermögen von russischen Oligarchen?

8. Die Irrtümer des Westens

8.1. Wandel durch Handel

8.2. Wie sich Deutschland freiwillig finnlandisierte

8.3. Ukraine und Energie

9. Putins Krieg betrifft uns alle

9.1. Die guten Zeiten sind vorbei

9.2. Warum ich zur „Hochform auflaufe“

10. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen

1. Einleitende Worte

«Der Krieg hat so viele unerträgliche Prüfungen mit sich gebracht, so viel Leid und Tränen, dass es unmöglich ist, zu vergessen. Und es gibt keine Vergebung und keine Rechtfertigung für diejenigen, die erneut aggressive Pläne schmieden. »

Wladimir Putin, 09.05.2021

Diese Worte hat Wladimir Putin natürlich nicht im Kontext des von ihm am 24.02.2022 inszenierten Angriffs auf die Ukraine formuliert. Vielmehr bezogen sich die aus Anlass des Jahrestages des Sieges über die Wehrmacht am 09.08.2021 von Putin gesprochenen Worte auf die immensen Leiden des Russischen Volkes und der anderen Völker der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Die derzeit durch ihn selbst verursachten Leiden des ukrainischen Volkes werden von ihm allerdings ausgeblendet, weil er seine „militärische Spezialoperation“ für absolut berechtigt, also auch für gerecht hält. Der neu entbrannte Ost-West-Konflikt wurzelt nicht zuletzt in den zwischen dem Westen und Russland diametral unterschiedlichen Auffassungen zu den Moralbegriffen. Obwohl es oft den Anschein hat, als sei Russland ein europäisches Land, mit einer ohne Frage zum Teil europäischen Tradition, trennen den Westen und Russland in der heutigen Konstellation Welten.

Die meisten der vorliegenden Texte sind von mir unter dem Eindruck der russisch-ukrainischen Konfliktes und des am 24.02. 2022 erfolgten Überfalls Russlands auf die Ukraine verfasst worden. Einige der Texte sind als Beiträge zur Veröffentlichung in Zeitschriften entstanden, andere sind Äußerungen in Internet-Diskussionen, und zwar sowohl mit Putin-Gegnern, als auch mit „Putin-Verstehern“. Diskussionen mit Letzteren sind von mir bewusst geführt worden, um im verbalen Konflikt mit Widersachern meine Argumente zu schärfen und zu präzisieren. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist, obwohl ich mir keine Illusionen mache, Freunde oder wohlwollende Bejaher der aggressiven Politik Putins von ihrem Irrtum überzeugen zu können. Denn die Wurzel ihres Irrtums ist der von Putins Propaganda geschürte Glaube, Russland müsse sich der Aggression seitens des Westens erwehren, dessen williges Werkzeug die Ukraine sei. Es handle sich deshalb bei dem von Putin als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Krieg Russlands gegen die Ukraine in Wirklichkeit um einen Krieg des Westens oder genauer gesagt der USA, gegen Russland, also von Seiten Russlands um einen Verteidigungskrieg gegen die vom Westen geplante Vernichtung und territoriale Zerstückelung Russlands. Die Westeuropäer seien dabei nicht mehr als Vasallen und Willensvollstrecker der USA, weshalb sie von Russland zurecht nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe angesehen würden. Es ist das spiegelverkehrte, manichäische schwarz-weiße Weltbild ihres Mentors Putin, in dem in der Tradition der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, der größte Feind die westliche Liberale Demokratie ist. Kein Wunder, wenn unter anderen so viele Ostdeutsche, ehemalige DDR-Bürger, heute Putin-Anhänger sind, gleichgültig ob sie sich heute als Linke oder als Rechte verorten, weil sie, konditioniert durch jahrzehntelange kommunistische Propaganda und das Leben in der Diktatur, sowie die durch den Nationalsozialismus geprägte Gedankenwelt ihrer Eltern, kein Gespür für den Wert der Freiheit haben, auch wenn sie am Ausgang der DDR gegen sie rebelliert haben. Freiheit im westlichen Verständnis wird von ihnen meist als ein wertloser, manipulativer Begriff zur Wahrung der Interessen des Großkapitals gesehen.

Obwohl manche von ihnen selbst unter dem Leben in der Diktatur gelitten haben, können oder wollen sie sich nicht in die Gefühlslage der Ukrainer versetzen, die ihre Freiheit vor dem neuen russischen Totalitarismus verteidigen. Es ist nicht überraschend, dass sowohl Anhänger linker, als auch rechter Ideologien heute zu den Anhängern Putins zählen. Sie betrachten sich als Humanisten und als Friedensliebhaber, weil diese Begriffe durch die russische Propaganda ins Absurde umdefiniert wurden, und sich Putin und seine Anhänger als Verteidiger der durch die westliche Dekadenz bedrohten, christlich begründeten höheren Moral darstellen, was interessanterweise sowohl bei national-konservativen Rechten, als auch bei ehemaligen Parteigängern der kommunistischen Diktatur, die sich als Linke verorten, Anklang findet.

2. Putins Propaganda

2.1. Grundbegriffe

Russische Welt (russisch Русский мир – Russki Mir) bezeichnet eine hypothetische internationale, transkontinentale Gemeinschaft, die durch die Verbundenheit mit Russland und die Loyalität zur russischen Kultur vereint ist. (Wikipedia)

Eurasismus oder Eurasiertum (russisch евразийство Ewrasijstwo) ist eine in den 1920er Jahren von russischen Emigranten formulierte geopolitische Ideologie. Der Eurasismus behauptet, dass ein von Russland dominierter, zwischen Europa und Asien befindlicher „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe. (Wikipedia)

„Der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. (Wladimir Putin, 2005)

Diktatur ist ein Staatssystem, in dem die Herrscher das unbeschränkte Recht zu lügen haben. Je dreister und unwahrscheinlicher die Lüge, um so sattelfester die Diktatur. Es wird nicht gelogen, damit jemand an die Lügen glaubt, sondern damit Angst verbreitet wird, den Lügen zu widersprechen. Eine Diktatur bricht zusammen, wenn die Mehrheit der Menschen die Angst verliert, offen die Wahrheit zu sagen. Das geschah z.B. im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ und in der DDR im Jahr 1989. (Gabriel Berger, 2022)

2.2. Impressionen über Staatsmedien Russlands, Polens und der Ukraine

Noch vor Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24.02.2022 habe ich die Gelegenheit gehabt, mir über eine Satellitenantenne russische, ukrainische und polnische Sendungen anzusehen, in den Kanälen Rossija24, Ukraina24 und TVP. Da ich perfekt polnisch und einigermaßen russisch spreche und verstehe, erlaube ich mir ein Urteil zu der Qualität der drei jeweils offiziellen Staatssender. Und da fällt mein Urteil eindeutig zuungunsten des polnischen Senders TVP aus. Er kommt selbst im Vergleich mit dem russischen Sender schlecht weg. Denn, was man da in den politischen Sendungen zu sehen bekommt, ist unverhüllte Propaganda der Regierungspartei PIS. Mit Meinungen von Politikern der Oppositionspartien setzt man sich nie auseinander, sie werden nur auf primitivste Weise lächerlich gemacht.

Da präsentiert sich der russische Staatssender Rossija24 erheblich moderner und professioneller. In politischen Talk-Runden des Starmoderators Solowjow, die ohne Frage inszeniert sind, prallen unterschiedliche Meinungen der Experten aufeinander. Es wird der Eindruck einer Pluralität von Meinungen erzeugt. Der Meinungsaustausch wird oft bis zum heftigen Streit gesteigert, der eine besondere Dynamik erhält, weil die Protagonisten der „Auseinandersetzung“, alle meist ältere Männer, in einem Kreis um einen Tisch stehen. Die Regie ist perfekt und nur für kritische Zuschauer durchsichtig. Für die Masse der Zuschauer ist die Inszenierung, bei welcher der nicht anwesende Putin immer als der Held und ein um die Probleme des Landes und aller russischer Menschen besorgter Landesvater erscheint, ohne Frage überzeugend.

Den mit Abstand besten Eindruck machten auf mich die Talk-Sendungen des ukrainischen Staatssenders Ukraina24. Da wurde niemand vor der Kritik geschont, einschließlich des Präsidenten Selenski. Man kann sich dagegen eine Kritik an Putin in russischen Medien nicht vorstellen. Er ist in Russland ein Heiliger, während Selinski in der Ukraine nur ein Mensch ist, im guten Sinne der Römischen Republik primus inter pares, der Erste unter Gleichen.

Die Ukraine war auch vor dem Krieg beileibe kein ideales Land. Korruption, Vetternwirtschaft Oligarchen, eine veraltete, marode Industrie und Infrastruktur waren und sind nur einige der Klötze am Bein der Ukraine. Aber der Fernsehsender Ukraina24, in dem übrigens sehr oft neben Ukrainisch auch Russisch gesprochen wird, vermittelt den Eindruck eines demokratischen, republikanischen Geistes, im Gegensatz zu dem der Ukraine von Putin und den russischen Medien unterstellten Faschismus und noch extremer, des Nationalsozialismus. Es ist wahr was der ukrainische Präsident Volodymir Selenski sinngemäß gesagt hat: Alles was Russland der Ukraine unterstellt, trifft in Wirklichkeit auf Russland zu.

Russland ist ein Land, dessen übersteigerte nationalistische Ideologie, Verfolgung Andersdenkender, zur Schau gestellter Militarismus, martialische Massenrituale, gleichgeschaltete Medien, nationalistische Geschichtsklitterung in Medien und Schulen, Diktatur und Führerkult weitgehend einem historischen Vorbild gleichen: dem europäischen Faschismus der dreißiger Jahre.

2.3. Ivan Iljin, Putins geistiger Mentor

Auf Initiative Putins ist im heutigen Russland der nationalkonservative antibolschewistische russische Philosoph Ivan Iljin (1883-1954), der seit 1922 in Westeuropa im Exil lebte, richtungweisend, ähnlich wie es in der sowjetischen Zeit Lenin gewesen ist. Iljins Texte gehören zur Pflichtliteratur in Bildungsinstitutionen, im Militär und in Verwaltungen Russlands.

Nachfolgend ausgewählte Ausschnitte aus „Ivan Iljin, Putins Philosoph des russischen Faschismus“1 von Timothy Snyder, 2018, (korrigierte automatische Übersetzung aus dem Englischen)

Was Iljin am meisten zu beunruhigen schien, war, dass Italiener und nicht Russen den Faschismus erfunden hatten: „Warum haben die Italiener Erfolg gehabt, wo wir gescheitert sind?“ Als er 1927 über die Zukunft des russischen Faschismus schrieb, versuchte er, den russischen Vorrang zu etablieren, indem er den weißen Widerstand gegen die Bolschewiki als die Vorgeschichte der faschistischen Bewegung als Ganzes betrachtete. Die Weiße Bewegung sei auch „tiefer und breiter“ gewesen als der Faschismus, weil sie eine Verbindung zur Religion und das Bedürfnis nach Totalität bewahrt habe. Iljin verkündete „meinen weißen Brüdern, den Faschisten“, dass eine Minderheit die Macht in Russland übernehmen müsse. Die Zeit würde kommen. Der „Weiße Geist“ sei ewig. (…)

Sobald er davon überzeugt war, dass die Juden sowohl für den Kapitalismus als auch für den Kommunismus verantwortlich waren, konnte Hitler den letzten Schritt tun und schlussfolgern, wie er es in Mein Kampf tat, dass Juden die Quelle aller Ideen waren, die das deutsche Volk bedrohten. In dieser wichtigen Hinsicht war Hitler tatsächlich ein Schüler der russischen weißen Bewegung. Iljin, der wichtigste weiße Ideologe, wollte, dass die Welt erfährt, dass Hitler Recht hatte. (…) Iljin zufolge hatten die Nazis Recht, jüdische Geschäfte zu boykottieren und Juden als Kollektiv für die Übel verantwortlich zu machen, die Deutschland befallen hatten. Vor allem wollte Iljin Russen und andere Europäer davon überzeugen, dass Hitler Recht hatte, Juden als Agenten des Bolschewismus zu behandeln. Diese „jüdisch-bolschewistische“ Idee war, wie Iljin meinte, die ideologische Verbindung zwischen den Weißen und den Nazis.

Der Zweite Weltkrieg war kein „Urteil über den Bolschewismus“, wie es sich Iljin 1941 vorgestellt hatte. Stattdessen war die Rote Armee 1945 triumphal aus ihm hervorgegangen, die sowjetischen Grenzen waren nach Westen ausgedehnt worden, und ein neues äußeres Imperium mit der Sowjetunion nachgebildeten Regimen war im Osten Europas errichtet worden. Nach langer Zeit seit der bolschewistischen Machtübernahme wurde es in den 1940er Jahren unmöglich, sich vorzustellen, dass Mitglieder der weißen Emigration eines Tages in Russland an die Macht zurückkehren würden, wie Iljin es in den 1920er Jahren geglaubt hatte. (…) Was stattdessen gebraucht wurde, war eine Blaupause für ein postsowjetisches Russland, als Vorlage für die Zukunft. Iljin machte sich daran, eine Reihe von Verfassungsvorschlägen sowie eine kürzere Reihe politischer Essays zu verfassen. Mit der Veröffentlichung der letzteren unter dem Titel Unsere Aufgaben (Nashi Zadachi), begann im postsowjetischen Russland Iljins intellektuelle Wiederbelebung. Iljins Nachkriegsempfehlungen hatten eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den faschistischen Systemen der Vorkriegszeit und stimmen mit den metaphysischen und ethischen Legitimationen des Faschismus überein, die in Iljins Hauptwerken enthalten sind. Der „nationale Diktator“, prognostizierte Iljin, würde irgendwoher aus einem imaginären Bereich jenseits der Geschichte entspringen. Dieser Anführer (Gosudar‘) müsse wie Mussolini „ausreichend männlich“ sein. (…) „Von dem starken Mann kommt die Macht ganz von selbst“, erklärte Iljin. Die Menschen würden sich vor „dem lebendigen Haupt Russlands“ verbeugen. Der Führer „stählt sich im gerechten und männlichen Dienst“.

In Iljins Konzept ist dieser Führer persönlich und vollständig für jeden Aspekt des politischen Lebens verantwortlich, als Regierungschef, oberster Gesetzgeber, oberster Richter und Befehlshaber des Militärs. Seine Exekutivgewalt würde unbegrenzt sein. Jede „politische Auswahl“ sollte „auf formal undemokratischer Basis“ erfolgen. Demokratische Wahlen institutionalisierten den bösen Begriff der Individualität. „Das Prinzip der Demokratie“, schrieb Iljin, „war das unverantwortliche menschliche Atom.“ Das Auszählen von Stimmen sei ein Irrweg und solle „das mechanische und arithmetische Verständnis der Politik“ legitimieren. Daraus folgte: „Wir müssen das blinde Vertrauen in die Zahl der Stimmen und ihre politische Bedeutung ablehnen.“ Eine öffentliche Abstimmung mit unterschriebenen Stimmzetteln würde es den Russen ermöglichen, ihre Individualität aufzugeben. Wahlen würden somit ein Ritual der Unterwerfung der Russen unter ihren Führer sein.

Das Problem des Vorkriegsfaschismus sei laut Iljin der Einparteienstaat gewesen. Das sei eine Partei zu viel gewesen. Russland solle stattdessen ein Null-Parteien-Staat werden, in dem keine Partei den Staat kontrollieren oder irgendeinen Einfluss auf den Lauf der Dinge ausüben könne. Denn eine Partei repräsentiere nur ein Segment der Gesellschaft, und eine Segmentierung gelte es zu vermeiden. Parteien könnten existieren, aber nur als Sammelbecken für die Ehrgeizigen oder als Elemente des Rituals der Unterwürfigkeit bei Wahlen. (Mitgliedern von Putins Partei wurde der Artikel, der diesen Punkt hervorhebt, 2014 zugeschickt.) Dasselbe gelte für die Zivilgesellschaft: Sie solle nur zum Schein existieren. Russen sollten Hobbys und dergleichen nachgehen dürfen, aber nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Struktur, die alle gesellschaftlichen Organisationen einschließt. Der Mittelstand müsse in dieser Struktur die Basis bilden, das Gewicht des gesamten Systems tragen. Seine Mitglieder seien die Produzenten und Konsumenten von Fakten und Gefühlen in einem System, dessen Ziel es ist, Faktizität und Sinnlichkeit zu überwinden.