Umschaltspiel - Michael Cox - E-Book

Umschaltspiel E-Book

Michael Cox

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Beschreibung

Der Fußball, heißt es, schreibt die unglaublichsten Geschichten. Höchste Zeit also für eine unglaublich gute Geschichte des Fußballs. Michael Cox erzählt sie ab dem Jahr 1992, als die Änderung der Rückpassregel und die Einführung der Champions League den Sport veränderten und einen weiteren Professionalisierungsschub auslösten.

Cox zeichnet nach, wie die großen europäischen Fußballländer mit ihren Clubs und Nationalmannschaften jeweils eine Zeit lang dominierten, bis die Konkurrenz ihren Erfolgscode knackte und die Evolution weiter vorantrieb. José Mourinhos abgezockte Abwehrmaschinen, Pep Guardiolas Kurzpass-Tiki-Taka, das Gegenpressing und Umschaltspiel von Jürgen Klopp – Cox porträtiert die prägenden Figuren dieser knapp drei Jahrzehnte und erklärt ihre taktischen Neuerungen. Und er erinnert an legendäre Spiele, etwa an den Moment, als der portugiesische Nationaltorwart Ricardo im EM-Viertelfinale 2004 plötzlich seine Handschuhe auszog, den letzten Elfmeter der Engländer hielt und den entscheidenden selbst verwandelte.

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Michael Cox

Umschaltspiel

Die Evolution des modernen europäischen Fußballs

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1 Voetbal . (1992-96)

1 Individuum oder Kollektiv?

2 Raum

3 Von hinten herausspielen

Umschaltmoment: Niederlande

Italien

2 Calcio . (1996-2000)

4 Flexibilität

5 Der dritte Angreifer

6 Catenaccio

Umschaltmoment: Italien

Frankreich

3 Foot . (2000-04)

7 Tempo

8 Der Zehner

9 Der Wasserträger

Umschaltmoment: Frankreich

Portugal

4 Futebol . (2004-08)

10 Struktur

11 Der erste Anlaufhafen

12 Sturm über die Flügel

Umschaltmoment: Portugal

Spanien

5 Fútbol . (2008-12)

13 Tiki-Taka

14 Falsche Neunen und Argentinier

15 El Clásico

Umschaltmoment: Spanien

Deutschland

6 Fußball . (2012-16)

16 Vertikalität

17 Gegenpressing

18 Neuerfindung

Umschaltmoment: Deutschland

England

7 Football . (2016-20)

19 Der Mixer

Nachwort

Dank

Ausgewählte Literatur

Namenregister

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1

Voetbal

(1992-96)

1

Individuum oder Kollektiv?

Als im Sommer 1992 die fußballerische Moderne anbrach, beherrschte der niederländische Stil den europäischen Fußball. Unter der Leitung von Johan Cruyff, der die Schule des Voetbal totaal wie kein anderer verkörperte, hatte der FC Barcelona gerade den Europapokal der Landesmeister gewonnen, und Ajax Amsterdam hatte im Pokal der Pokalsieger triumphiert. Obendrein hatte Ajax in der niederländischen Liga starke Konkurrenz: Der Meistertitel war an PSV Eindhoven gegangen, den Pokal hatte Feyenoord Rotterdam geholt.

Bei der EM1992 gelang es Holland zwar nicht, den vier Jahre früher errungenen Europameistertitel zu verteidigen, aber Oranje spielte bei der ansonsten bedrückend defensiven Endrunde einen mitreißenden, schön anzusehenden Offensivfußball. Auch der herausragende Spieler Europas kam aus den Niederlanden – der Goldene Ball ging an Marco van Basten, und sein Angriffspartner in der Nationalmannschaft, Dennis Bergkamp, belegte bei der Wahl den dritten Platz.

Die Niederlande verdankten ihre fußballerische Vormachtstellung jedoch nicht bestimmten Mannschaften oder einzelnen Spielern, sondern einer eigenen Vorstellung vom Spiel, und die niederländischen Mannschaften – oder die von niederländischen Trainern wie Cruyff betreuten Mannschaften – warben derart erfolgreich für diese Philosophie, dass die klassische niederländische Interpretation des Spiels allgemein als Ausgangspunkt des modernen Fußballs gilt.

Als der »totale Fußball« das Spiel in den siebziger Jahren revolutionierte, wurde der neue Stil oft als Ausdruck der Amsterdamer Lebensart dargestellt. Die niederländische Hauptstadt war ein Zentrum der gesellschaftlichen Toleranz, ein Mekka für Hippies aus ganz Europa, und die Amsterdamer Mentalität schien sich auch im Fußball niederzuschlagen, der in dieser Stadt und darüber hinaus gespielt wurde. Die Spieler von Ajax und der Elftal waren auf dem Platz anscheinend nicht an eine bestimmte Position gebunden und durften offenbar nach Lust über das Feld schweifen, um frei von taktischen Fesseln einen mitreißenden, attraktiven Fußball darzubieten.

In Wahrheit war das niederländische System vollkommen durchorganisiert: Die Spieler tauschten die Positionen ausschließlich vertikal; wenn sich ein Verteidiger in den Angriff einschaltete, musste sich ein Mittelfeldspieler oder ein Stürmer in diesem Streifen des Spielfelds zurückfallen lassen, um ihn abzusichern. Während die Spieler also theoretisch Bewegungsfreiheit hatten, hatten sie in der Praxis ständig über die Pflichten nachzudenken, die sich aus den variierenden Positionen ihrer Mitspieler ergaben. In einer Zeit, in der die Stürmer in anderen europäischen Ländern oft von taktischen Zwängen befreit waren, hatten die Angreifer von Ajax Amsterdam und der Elftal stets ihre Funktion im taktischen Schema im Hinterkopf. Arrigo Sacchi, dessen AC Mailand Ende der achtziger Jahre den Europapokal beherrschte, beschrieb es treffend: »Es hat in Wahrheit nur eine taktische Revolution stattgefunden, und zwar als sich der Fußball von einem individuellen zu einem kollektiven Spiel wandelte. Das geschah bei Ajax.« Seit damals tobt im niederländischen Fußball eine philosophische Debatte: Soll der Fußball entsprechend der stereotypischen Vorstellung von der niederländischen Kultur individualistisch sein, oder soll er systematisch sein wie in der Interpretation der klassischen Vertreter des »totalen Fußballs«?

Mitte der Neunziger kamen diese beiden Positionen in der Rivalität zwischen Johan Cruyff, dem Aushängeschild des Voetbal totaal und Trainer des FC Barcelona, und Ajax-Coach Louis van Gaal zum Ausdruck, der einen eher prosaischen Weg zum Erfolg suchte. Beide Trainer waren Verfechter des klassischen Ajax-Modells, was Ballbesitz und die technische Ausbildung der Spieler anbelangte, aber während Cruyff davon überzeugt war, dass man den Stars die Möglichkeit geben musste, sich auf dem Feld frei zu entfalten, predigte van Gaal den Vorrang des Kollektivs. »Van Gaal arbeitet noch strukturierter als Cruyff«, beobachtete ihr gemeinsamer Mentor Rinus Michels, der in den siebziger Jahren das legendäre Ajax-Team und die holländische Nationalmannschaft betreut hatte. »In van Gaals System ist weniger Spielraum für Positionswechsel und die spontane Nutzung von Möglichkeiten. Der Spielaufbau wird bis ins kleinste Detail perfektioniert.«

Die niederländische Interpretation von Führung ist ein bisschen komplex. Die Niederländer sind stolz auf ihre Offenheit und ihre Diskussionskultur, was, übertragen auf das Fußballfeld, bedeutet, dass die Spieler manchmal ein Mitspracherecht in Fragen haben, die anderswo dem Trainer vorbehalten bleiben. Beispielsweise sorgte Cruyff im Jahr 1973 mit seiner Entscheidung für Aufsehen, von Ajax Amsterdam zum FC Barcelona zu wechseln. Bei Ajax wurde der Mannschaftskapitän nicht vom Verein bestimmt, sondern von den Spielern gewählt, und Cruyff war zutiefst gekränkt, als seine Mitspieler ihn abwählten. In Anbetracht des gewaltigen Einflusses, den Cruyffs Ankunft auf das Spiel von Barça haben sollte, stellte dies eine umwälzende Entscheidung dar, die aus der Anwendung klassischer niederländischer Prinzipien resultierte.

Niederländische Spieler sind daran gewöhnt, Einfluss auf die taktischen Entscheidungen des Trainers zu nehmen. Louis van Gaal erklärte das Ajax-System so: »Wir bringen den Spielern bei, das Spiel zu lesen, wir bringen ihnen bei, wie Trainer zu denken […]. Trainer und Spieler diskutieren und kommunizieren miteinander. Hat der Trainer der Gegenseite eine gute Taktik gewählt, so sehen sich die Spieler auf dem Feld an, wie die gegnerische Mannschaft vorgeht, und finden eine Antwort.« Während die Spieler in vielen anderen Ländern instinktiv die Anweisungen des Trainers befolgen, gibt es in einer niederländischen Mannschaft unter Umständen elf unterschiedliche Meinungen über die beste Taktik, was teilweise erklärt, warum es in der holländischen Nationalmannschaft bei Turnieren regelmäßig zu Streitereien kommt: Die Spieler werden stets ermutigt, ihre Meinung zur Taktik zu sagen. Das führt zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten, und einig werden sich die Spieler der Elftal am ehesten, wenn es darum geht, den Trainer zu stürzen.

Michels, der Vater des »totalen Fußballs«, entwickelte ein »Konfliktmodell« und förderte abweichende Meinungen, indem er in der Kabine Diskussionen zwischen den Spielern provozierte. »Ich wandte manchmal bewusst eine Konfrontationsstrategie an«, gestand er nach dem Ende seiner Trainerkarriere. »Ich wollte ein Spannungsfeld erzeugen, um den Teamgeist zu fördern.« Michels räumte vor allem ein, dass er stets die »Schlüsselspieler« provozierte, und wenn der berühmteste Trainer eines Landes offen zugibt, dass er Streit zwischen seinen besten Spielern schürte, kann es kaum überraschen, dass spätere Spielergenerationen der Meinung waren, Streitlust sei durchaus begrüßenswert.

Diese Neigung zum Verfechten der eigenen Meinung führt dazu, dass niederländische Spieler auf Außenstehende oft arrogant wirken, und das ist eine weitere Vorstellung, die mit der Stadt Amsterdam verbunden wird. Cruyff bezeichnete die ursprünglichen Vertreter des Voetbal totaal in der Ajax-Mannschaft der siebziger Jahre als »Amsterdamer von Natur«, und seine Landsleute werden unmittelbar verstehen, was er damit meint. Ruud Krol, der beste Verteidiger der Mannschaft, erklärte es so: »Unsere Art zu spielen war typisch für Amsterdam – arrogant, aber eigentlich nicht wirklich arrogant, dieses großspurige Auftreten und die Art, die Gegenseite herunterzumachen und zu zeigen, dass wir besser waren als sie.« Dennis Bergkamp hingegen erklärt, in den Niederlanden sei es »verpönt, eingebildet zu sein«, und beschreibt den für sein ungeheures Selbstbewusstsein berüchtigten Cruyff als »nicht arrogant – das ist einfach die niederländische Art, die Amsterdamer Art«.

Van Gaal war vielleicht noch arroganter als Cruyff und wurde allgemein als »starrsinnig« bezeichnet. Nach seiner Ernennung zum Cheftrainer von Ajax verkündete er vor dem versammelten Vorstand: »Ich gratuliere Ihnen zur Ernennung des besten Trainers der Welt«, und in seiner ersten Pressekonferenz präsentierte Vorstandschef Ton Harmsen ihn mit folgenden Worten: »Louis ist verdammt arrogant, und hier mögen wir arrogante Leute.« Van Gaal stellte ebenfalls eine Verbindung zwischen der Spielkultur von Ajax und der Kultur der Stadt her: »Das Ajax-Modell hat etwas mit unserer Mentalität zu tun, mit der Arroganz der Hauptstadt und der Disziplin der kleinen Niederlande.« Alle Amsterdamer räumen ihren kollektiven Hochmut bereitwillig ein, aber kein Amsterdamer scheint sich persönlich für hochmütig zu halten. Das trägt zur Verwirrung bei.

Van Gaals langjähriger Rivale Johan Cruyff war nicht ohne Grund arrogant: Er war einer der besten Fußballer der siebziger Jahre und zweifellos der größte niederländische Fußballer aller Zeiten. Seine Karriere war mit Erfolgen gespickt: Er wurde dreimal mit dem Goldenen Ball ausgezeichnet und gewann mit Ajax Amsterdam dreimal in Folge den Europapokal. Er errang mit Ajax sechs holländische Meistertitel und anschließend mit Barcelona die spanische Meisterschaft. Nachdem er eine Weile in den Vereinigten Staaten gespielt hatte, kehrte er in seine Heimat zurück und gewann mit Ajax zwei weitere Meistertitel. Als er 1983 keinen neuen Vertrag in Amsterdam erhielt, rächte er sich mit einem Wechsel zum Erzrivalen Feyenoord Rotterdam, wo er noch einen Meistertitel gewann und zu Hollands Fußballer des Jahres gewählt wurde, bevor er seinen Rücktritt bekannt gab. Cruyff machte, was er wollte, und bekam, was er wollte. Er feierte große Erfolge – und erklärte, der Erfolg sei weniger wichtig als der Stil. Er verkörperte den »totalen Fußball«, was ihm einen sehr eigentümlichen Status verlieh: Er war der einzige wirkliche Individualist in einer Mannschaft, die ihre Stärke aus der Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv bezog. 1985, nur ein Jahr nach dem Ende seiner Spielerkarriere, wurde er zur Freude der Fans Trainer von Ajax und gewann zwei Jahre später mit der Mannschaft den Europapokal der Pokalsieger. Nach diesen Erfolgen wurde er 1988 erneut mit offenen Armen in Barcelona aufgenommen, wo er im Jahr 1989 erneut den Europapokal der Pokalsieger gewann. Unter seiner Führung holte Barça zum ersten Mal überhaupt den Landesmeister-Cup und gewann erstmals in der Geschichte des Vereins vier spanische Meistertitel in Serie. Aus einem legendären Spieler war ein legendärer Trainer geworden.

Louis van Gaal wehte ein sehr viel rauerer Wind entgegen, als er im Jahr 1991 den Trainerposten bei Ajax Amsterdam übernahm, nachdem mehrere seiner Vorgänger die Hoffnungen des Vereins enttäuscht hatten. Die Fans waren unglücklich über die Wahl. Viele hatten auf Cruyffs Rückkehr gehofft, und in den ersten Spielen, in denen van Gaal auf der Bank saß, skandierten die Fans den Namen seines berühmten Vorgängers. De Telegraaf, die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, setzte sich an die Spitze einer Kampagne für eine Rückkehr Cruyffs. Einige Leute glaubten, van Gaal sei lediglich eine Übergangslösung und werde nur so lange bleiben, bis man Cruyff zur Rückkehr bewegt hätte. Es wäre durchaus nachvollziehbar gewesen, wenn diese Umtriebe bei van Gaal Groll auf Cruyff geweckt hätten. Doch der Ursprung der Spannungen zwischen den beiden lag bereits zwei Jahrzehnte zurück.

Van Gaal war ein durchaus talentierter Fußballer gewesen, ein hochaufgeschossener und etwas unbeweglicher Spieler, der als Stürmer begonnen hatte – er war eher ein Vorbereiter als ein Torjäger – und später ins Mittelfeld gewechselt war. Er war vor allem bei Sparta Rotterdam erfolgreich, empfand seine Laufbahn als Spieler jedoch als enttäuschend, was vor allem daran lag, dass es ihm nicht gelang, sich bei Ajax Amsterdam durchzusetzen. Er kam 1972 mit zwanzig Jahren zum Verein seiner Heimatstadt und spielte regelmäßig in der zweiten Mannschaft, wurde jedoch verkauft, ohne ein einziges Mal in der ersten Mannschaft zum Einsatz gekommen zu sein. Der Spieler, der seine Position besetzte, war natürlich Cruyff, in dessen Schatten van Gaal seine gesamte Zeit bei Ajax verbrachte: erst als Ersatzmann als Spieler und später als ungeliebte zweite Wahl als Trainer.

Anfang der neunziger Jahre trainierte Cruyff den FC Barcelona und van Gaal Ajax Amsterdam. Die beiden waren keine guten Freunde. »Die Chemie zwischen uns stimmte nicht«, erklärte Cruyff später. Als Trainer kamen sie anfangs durchaus gut miteinander aus. Im Jahr 1989 nahm van Gaal, der damals Assistenztrainer bei Ajax war, über Weihnachten an einem Lehrgang in Barcelona teil und war oft im Haus der Familie Cruyff zu Gast. Er verstand sich besonders gut mit Cruyffs Sohn Jordi, der zu jener Zeit im Nachwuchs von Barça spielte. In diesen Tagen begann angeblich der Zwist zwischen den beiden Männern. Van Gaal erhielt einen Anruf aus der Heimat und erfuhr, dass seine Schwester schwer erkrankt war und im Sterben lag. Er brach sofort nach Amsterdam auf, um sie vor ihrem Tod noch einmal zu sehen. Jahre später behauptete van Gaal, Cruyff habe ihm nicht verziehen, dass er damals abgereist war, ohne sich für die Gastfreundschaft der Cruyffs zu bedanken. Cruyff bestritt das und erklärte, es sei kurze Zeit später in Amsterdam zu einem freundschaftlichen Wiedersehen mit van Gaal gekommen. Es klingt nicht sehr plausibel, dass Cruyff die tragischen Erlebnisse van Gaals genutzt haben soll, um einen Streit vom Zaun zu brechen; wahrscheinlicher ist, dass es in einem Moment, in dem van Gaal emotional verwundbar war, zu einem Missverständnis kam.

Am Ende dürfte die Wahrheit sehr viel einfacher sein: Hier prallten zwei Fußballphilosophien aufeinander – und zwei große Egos.

Cruyff tat sein Bestes, um van Gaal zu ärgern, und musste sich selbst immer öfter ärgern. Im Jahr 1992 verglichen die Sportreporter mit unübersehbarem Vergnügen Cruyffs Barcelona mit van Gaals Ajax, den Sieger im Landesmeister-Cup mit dem Gewinner des Pokals der Pokalsieger – was Cruyff zu einer wütenden Reaktion bewegte. »Wenn er glaubt, Ajax sei viel besser als Barcelona, dann ist er auf dem Holzweg«, zürnte er. »Wenn man sich das gegenwärtige Ajax anschaut, sieht man, dass die Qualität sinkt.« Cruyff verhielt sich zusehends kleinlich. Im Jahr 1993 wünschte er nicht van Gaals Ajax, sondern Feyenoord den Meistertitel. Im Jahr darauf wurde er gefragt, welche europäischen Mannschaften er bewundere, und nannte AJ Auxerre und den ACParma – die beiden Vereine, die Ajax in den vorangegangenen Spielzeiten aus dem Europapokal geworfen hatten. Als im Februar 1995 ein Journalist zu behaupten wagte, Ajax sei stärker als Barcelona, reagierte Cruyff harsch: »Warum hören Sie nicht auf, Mist zu reden?« Doch wenige Monate später bewies van Gaals Ajax mit dem Gewinn der Champions League, dass es tatsächlich überlegen war.

Van Gaal predigte unermüdlich die Bedeutung des Kollektivs. »Fußball ist ein Mannschaftssport, die Spieler einer Mannschaft sind aufeinander angewiesen«, erklärte er. »Wenn einzelne Spieler ihre Aufgaben auf dem Feld nicht richtig erfüllen, werden ihre Mitspieler darunter leiden. Daher muss jeder Spieler seine grundlegenden Aufgaben so gut wie möglich erfüllen.« Das war unanfechtbar, aber Cruyff hätte den Fußball nie derart funktional und freudlos beschrieben. Cruyff wollte, dass die Spieler ihre Fähigkeiten zum Ausdruck brachten, dass sie Freude am Spiel hatten, während es für van Gaal darum ging, »die grundlegenden Aufgaben zu erfüllen«. Niederlagen seiner Mannschaft erklärte er üblicherweise damit, dass sich seine Spieler »nicht an den Plan gehalten« hätten, womit er sie im Grunde beschuldigte, durch eigensinniges Verhalten das Vertrauen ihrer Mannschaftskameraden enttäuscht zu haben. Aber van Gaals Mannschaften waren nicht einfach ergebnisorientierte Maschinen: Sie spielten einen extrem angriffslustigen, wenn auch mechanischen Fußball. »Vermutlich ist mir das gute Spiel wichtiger als der Sieg«, sagte er einmal.

Ein gutes Beispiel für seine Abneigung gegen den Individualismus lieferte van Gaal im Jahr 1992 mit der umstrittenen Entscheidung, den unterhaltsamen Außenstürmer Bryan Roy zu verkaufen, was Cruyff einen Grund gab, seinem Rivalen mangelndes Verständnis für individuelle Brillanz vorzuwerfen. Van Gaals Begründung für den Verzicht auf den Spieler war faszinierend: Er habe Roy aussortiert, obwohl dieser »durchaus bereit war, für die Mannschaft zu laufen« – aber »er konnte nicht für die Mannschaft denken«. Er war keineswegs der erste autokratische Trainer, der an einem unsteten Flügelspieler verzweifelte, aber während manche seiner Kollegen im Interesse der Kompaktheit vollkommen auf Außenstürmer verzichteten, funktionierte der Ansatz von Ajax nur, wenn es gelang, das Spiel in die Breite zu ziehen, weshalb van Gaal zwei echte Flügelstürmer brauchte.

Seinem Linksaußen Marc Overmars und dem Rechtsaußen Finidi George war es streng verboten zu versuchen, mehrere Gegner auszuspielen: Im Eins-gegen-eins durften sie ins Dribbling gehen, aber wenn sie zwei Verteidigern gegenüberstanden, hatten sie Anweisung, nach innen zu ziehen und das Spiel zu verlagern. Das Amsterdamer Publikum, das an unvorhersehbare und aufregende Aktionen der Außenstürmer gewöhnt war, reagierte enttäuscht auf die mangelnde Bewegungsfreiheit der Stürmer, und dasselbe galt für die Spieler. Finidi wechselte schließlich zu Betis Sevilla, wo er keinen Hehl daraus machte, dass er glücklich war, sich endlich wieder auf dem Platz austoben zu dürfen. Aber van Gaal verabscheute das Dribbling: In seinen Augen war es nicht nur ineffizient, sondern das beste Beispiel für egoistisches Verhalten auf dem Platz. »Wir leben in einer Laisser-faire-Gesellschaft«, erklärte er. »Aber in einer Mannschaft braucht man Disziplin.«

Van Gaals schulmeisterliche Grundhaltung passte zu seinem Lebenslauf: Er hatte in seiner aktiven Laufbahn zwölf Jahre lang neben dem Fußball an einer Schule unterrichtet, womit er in die Fußstapfen seines Idols Rinus Michels getreten war, der ebenfalls als Lehrer gearbeitet hatte. Nach allem, was über diese Zeit bekannt ist, war van Gaal ein strenger Zuchtmeister, der in einer Schule in einem problematischen Viertel mit schwierigen Schülern arbeitete, die oft aus armen Familien stammten. Diese Erfahrung prägte seinen Zugang zur Führung einer Mannschaft. »Die Spieler sind eigentlich große Kinder, weshalb es zwischen der Tätigkeit des Lehrers und des Trainers Parallelen gibt«, erklärte er. »In der Arbeit mit Schülern schlägt man, gestützt auf eine bestimmte Philosophie, einen bestimmten Weg ein, und bei Fußballern geht man genauso vor. Sowohl in einer Schule als auch in einem Fußballverein findet man eine Hackordnung und verschiedene Kulturen vor.« Bevor er die erste Mannschaft von Ajax Amsterdam übernahm, leitete van Gaal die Nachwuchsabteilung des Vereins, wo er eine Gruppe herausragender Talente betreute, darunter Edgar Davids, Clarence Seedorf und Patrick Kluivert. Nicht in der Arbeit mit der Mannschaft eines kleineren Vereins der Eredivisie, sondern in dieser Tätigkeit im Nachwuchsbereich schlug van Gaal die Brücke zwischen der Arbeit eines Lehrers und der eines Trainers von Fußballprofis. Er arbeitete gerne mit Jugendlichen, weil sie formbar waren: Er war überzeugt, dass man keinen Einfluss mehr auf die Spielweise eines Fußballers nehmen konnte, wenn dieser einmal 25 Jahre alt war. Die einzigen Veteranen in der Ajax-Mannschaft, die im Jahr 1995 in der Champions League triumphierte, waren die Verteidiger Danny Blind, der seit neun Jahren für Ajax spielte, und Frank Rijkaard der in den achtziger Jahren im Nachwuchszentrum von Ajax ausgebildet worden war und nun aus dem Ausland zurückkehrte. Van Gaal hätte den Kauf eines außerhalb der Ajax-Akademie ausgebildeten Superstars nicht gutgeheißen, selbst wenn dieser Spieler dem gegenwärtigen Inhaber der Position individuell überlegen gewesen wäre. »Ich brauche nicht die elf Besten«, sagte er. »Ich brauche die beste Elf.«

Während van Gaal ein Lehrer war, ging Cruyff nicht einmal in die Schule: Er wurde 1985 zum Cheftrainer von Ajax Amsterdam ernannt, ohne den erforderlichen Trainerschein zu besitzen. Cruyff war eben Cruyff, weshalb für ihn wie üblich eine Ausnahme gemacht wurde. Und während van Gaal dem herausragenden Individuum mit Misstrauen begegnete, verwöhnte Cruyff seine Superstars, und seine Barça-Mannschaft bewies im letzten Drittel des Spielfelds sehr viel größere individuelle Klasse, weil er in seinen Jahren bei Barcelona phasenweise auf vier gefeierte Superstars zurückgreifen konnte: Michael Laudrup, Hristo Stoitschkow, Romário und Gheorghe Hagi. Aufstieg und Fall von Cruyffs Barcelona hingen eng damit zusammen, wie er mit diesen Spielern zurechtkam.

Der Faszinierendste unter ihnen war Laudrup, der in Cruyffs Dream Team die Rolle Cruyffs spielte. Der Niederländer war Laudrups Kindheitsidol gewesen, und bei der Weltmeisterschaft 1986 (für die sich Holland nicht qualifizieren konnte) war Laudrup die herausragende Figur in der großartigen »Danish Dynamite«-Mannschaft, die oft mit dem niederländischen Team der siebziger Jahre verglichen wurde. Laudrup stieß im Jahr 1989 zu Barça und verwandelte sich sofort in den spielerischen Bezugspunkt der Mannschaft. Er ließ sich aus der Position im Sturmzentrum tief zurückfallen, um den Mittelfeldspielern Vorstöße zu ermöglichen. Er konnte mit beiden Füßen tödliche Pässe in die Schnittstellen der Abwehr spielen und besaß eine verblüffende Fähigkeit, bei Läufen nach links mit dem rechten Außenrist blinde Pässe in die Gasse zu spielen, womit er die Verteidiger regelmäßig auf dem falschen Fuß erwischte. Wie es der Zufall wollte, beendete er seine Karriere in der Saison 1997/​98 bei Ajax Amsterdam.

Cruyff bewunderte Laudrups angeborenes Talent. In der Saison 1991/​92 erzielte Laudrup im Spiel gegen Real Burgos in der letzten Spielminute ein fantastisches Ausgleichstor, indem er den Ball mit links hochlupfte und mit rechts in den rechten Winkel des gegnerischen Tors hämmerte. Anschließend lief er zu seinem entzückten Trainer und umarmte ihn so innig, wie man es selten zwischen Spieler und Trainer sieht. Cruyff bezeichnete ihn allerdings auch als »einen der schwierigsten Spieler«, mit denen er je zusammengearbeitet habe. Er war überzeugt, dass Laudrup sein Talent nicht vollkommen ausschöpfte, und beklagte sich immer wieder über die mangelnden Führungsqualitäten des Dänen. Cruyff versuchte es mit Michels’ »Konflikt-Methode«, was Laudrup jedoch nur aus dem Gleichgewicht brachte. Er war ein sensibler, zurückhaltender Spieler, dem man mit Einfühlungsvermögen begegnen musste.

Der Nutznießer von Laudrups perfekt getimten Schnittstellenpässen war ein weiterer außergewöhnlich begabter Fußballer, der legendäre Hristo Stoitschkow. »Ich bin sicher, dass mir Michael bei mehr als der Hälfte meiner über hundert Tore den entscheidenden Pass gab«, berichtete der Bulgare über seine Zeit bei den Blaugrana. »Mit ihm zu spielen, war extrem leicht – wir fanden einander intuitiv.« Eine aufschlussreiche Beschreibung: Bei den Angriffen einer Van-Gaal-Mannschaft waren die Bewegungen im Voraus festgelegt, bei einer Cruyff-Mannschaft hing die Koordination von organischen Beziehungen ab.

Wie Laudrup war auch Stoitschkow ein Bewunderer Cruyffs und hatte bei seiner Ankunft in Barcelona alte Videos von Spielen des Holländers im Gepäck. Aber der Bulgare hatte eine vollkommen andere Persönlichkeit als Laudrup: Er war aggressiv, hitzig und unberechenbar. In seiner Heimat hatte man ihn wegen einer Schlägerei im Pokalfinale mit einer lebenslangen Sperre belegt (die später auf ein Jahr verringert wurde). Cruyff hatte er im Spiel seines Heimatvereins CSKA Sofia gegen Barcelona im Europapokal der Pokalsieger mit einem wunderschönen Heber über Barças Torhüter Andoni Zubizarreta begeistert, 1990 gab er dann sein Debüt im Camp Nou. »Er war schnell, hatte einen ausgezeichneten Abschluss und besaß Charakter«, erinnerte sich Cruyff. »Wir hatten zu viele nette Jungs in der Mannschaft, wir brauchten jemanden wie ihn.« Aber gleich in seinem ersten Clásico gegen Real Madrid wurde Stoitschkow vom Platz gestellt und trat im Vorbeigehen noch dem Schiedsrichter auf den Fuß, womit er sich eine Sperre für zehn Spiele einhandelte. Bei einem anderen Klub wäre er möglicherweise ausgemustert worden, aber Cruyff hielt ihm die Treue, und im ersten Spiel nach Ablauf der Sperre erzielte er den Siegtreffer, um in der folgenden Woche vier Tore zu einem 6:0-Auswärtssieg in der »Kathedrale« von Athletic Bilbao beizusteuern. Es machte sich bezahlt, diesem Spieler gegenüber Nachsicht walten zu lassen, selbst wenn er sich in seiner Zeit bei den Blaugrana zehn rote Karten einhandelte, was eine verblüffend hohe Zahl für einen Stürmer ist.

Im Gegensatz zu Laudrup sprach Stoitschkow gut auf Cruyffs »Konflikt-Methode« an. Er verstand sehr gut, was der Trainer mit seinen Attacken bezweckte. »Er sagte mir vor versammelter Mannschaft ins Gesicht, ich sei eine Katastrophe, ich werde im nächsten Spiel auf der Bank sitzen und er werde mich verkaufen«, erinnert sich Stoitschkow. »Aber nach dem Training gingen wir zusammen essen.« Stoitschkow machte nie einen Hehl aus seinem Hass auf Real Madrid, wofür ihn die Barça-Anhänger liebten. Er weigerte sich, Autogramme zu geben, aber die Fans fanden sein anarchisches Verhalten amüsant. »Er mischte den Klub gehörig auf«, erinnert sich Zubizarreta. »Manchmal ging er zu weit, aber mir gefällt es, wenn Menschen wie er die Monotonie des Alltags durchbrechen.«

Doch in der Saison 1993/​94, als Barça den letzten Meistertitel unter Cruyff errang, war Stoitschkow nicht einmal der arroganteste Stürmer der Blaugrana, denn Cruyff hatte dem PSV Eindhoven, dem größten heimischen Rivalen von Ajax Amsterdam, den brasilianischen Torjäger Romário abspenstig gemacht, einen außergewöhnlich talentierten Spieler, der allerdings in dem Ruf stand, nur zum Training zu erscheinen, wenn ihm danach zumute war. »Es heißt, er habe eine sehr schwierige Persönlichkeit«, hielt ein Journalist Cruyff nach Romários Ankunft in Barcelona entgegen. »Dasselbe kann man über mich sagen«, erwiderte Cruyff, der sich darüber freute, einen Fußballer in seinen Reihen zu haben, der ebenso individualistisch war wie er. Romário sagte von sich selbst, er sei der beste Stürmer aller Zeiten, kündigte an, er werde in dieser Saison dreißig Tore in der Liga schießen (er schaffte es tatsächlich und wurde Pichichi, das heißt Torschützenkönig), und versprach, die WM1994 werde »Romários Turnier« werden (es kam tatsächlich so, woraufhin er zum Fifa-Weltfußballer des Jahres gewählt wurde). In Eindhoven hatte sich Romário oft am Spielaufbau beteiligt, aber in Barcelona tauchte er immer wieder für längere Phasen, nur um im richtigen Moment erbarmungslos zuzuschlagen und ein entscheidendes Tor zu schießen. Er hatte einen famosen Antritt, verstand es, den gegnerischen Torwart mit Schüssen mit der Pieke zu überraschen, und ließ sich für seine Tore vorzugsweise alleine feiern, selbst wenn er den Ball nur ins leere Tor schieben musste, nachdem ein Mitspieler die Vorarbeit geleistet hatte.

Mit Stoitschkow verband Romário in ihren anderthalb gemeinsamen Jahren bei Barça eine intensive Hassliebe. Cruyff erklärte, die beiden Stürmer hätten »dasselbe Problem« – sie glaubten beide, die Mannschaft sei rund um sie errichtet worden. Das führte dazu, dass sie manchmal einen Wettbewerb um die Torjägerkrone führten, anstatt eine herkömmliche Sturmpartnerschaft zu bilden. Doch der Wettbewerb spornte beide zu neuen Höchstleistungen an, und überraschenderweise wurden sie sogar Freunde. »Es scheint absonderlich, und ich frage mich noch heute, wie es möglich war«, sagte Stoitschkow später, »aber wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut. Wir waren unzertrennlich.« Ihre Ehefrauen freundeten sich ebenfalls an, ihre Kinder besuchten dieselbe Schule, Stoitschkow wurde Pate eines der Söhne Romários und betätigte sich als Leibwächter, als sein Freund im Krankenhaus sein neugeborenes Kind besuchte, wobei er einen aufdringlichen Fotografen mit einem Fausthieb abwehrte.

Ihren denkwürdigsten Auftritt auf der europäischen Bühne hatten die beiden im November 1994, als Barça im Camp Nou Manchester United zerlegte und mit einem 4:0 nach Hause schickte. Stoitschkow erzielte das erste Tor, Romário das zweite. Dann spielte Stoitschkow nach einem Lauf über das halbe Feld Romário frei, der mit der Hacke auf Stoitschkow ablegte, der das 3:0 machte. Der Außenverteidiger Albert Ferrer stellte den Endstand her. »Wir hatten dem Tempo von Stoitschkow und Romário einfach nichts entgegenzusetzen«, gestand United-Trainer Alex Ferguson anschließend. »Diese überfallartigen Angriffe waren eine neue Erfahrung für uns.«

Größere Bedeutung für die Barça-Anhänger hatte der 5:0-Sieg gegen Real Madrid in der Meisterschaft. Romário erzielte in diesem Spiel drei Treffer und ließ beim ersten Tor Reals Innenverteidiger Rafael Alkorta mit einem unglaublichen Trick stehen, der als »cola de vaca« (»Kuhschwanz«) bekannt wurde: Er nahm den Ball mit dem Rücken zum Tor mit rechts an, drehte sich auf der Stelle, wobei er den Ball in derselben Bewegung ein zweites Mal mit dem rechten Fuß berührte, um ihn am Verteidiger vorbeizuführen und abzuschließen. »Das wird in die Geschichte eingehen«, sagte Stoitschkow, womit er nicht das Resultat, sondern Romários Trick meinte. Insgesamt war das Spiel von Barcelona zu dieser Zeit jedoch ausgesprochen instabil, und es gelang der Mannschaft nur dank eines exzellenten Schlussspurts, sich dank der besseren Tordifferenz vor Deportivo La Coruña die Meisterschaft zu sichern. Zum zweiten Mal in Folge verdankte Barça den Titel einem Ausrutscher des stärksten Rivalen am letzten Spieltag. Das war keine Katastrophe – aber das 0:4 gegen den AC Mailand im Champions-League-Finale 1994 war sehr wohl eine.

Es traten Auflösungserscheinungen auf. Die Beziehung zwischen Cruyff und Laudrup war so zerrüttet, dass der Däne für das Endspiel gegen Milan nicht aufgestellt und sein Vertrag nicht verlängert wurde. Prompt ahmte er Cruyffs provokanten Wechsel zu Feyenoord im Jahr 1983 nach, ging zu Real Madrid und hatte wesentlichen Anteil am Triumph der Königlichen in der Meisterschaft. Nun stellte Cruyff die verblüffende Behauptung auf, Laudrup sei zu individualistisch geworden. »Es mangelte ihm an Disziplin«, sagte Cruyff. »Wenn du viele Stars im Team hast, muss es eine Grenze dafür geben, was jeder individuell tun darf.« Das war eine etwas sonderbare Erklärung, denn Laudrup war offenkundig ein uneigennütziger Spieler, der es liebte, andere freizuspielen. In Wahrheit hatte Barcelona mittlerweile einfach größere Stars in seinen Reihen, und zu jener Zeit war die Zahl der Ausländer noch auf drei Spieler pro Mannschaft begrenzt. Laudrup war nur noch der vierte Mann hinter Romário, Stoitschkow und dem Innenverteidiger Ronald Koeman gewesen.

Romário wiederum wurde zu einem immer größeren Problem für Cruyff. Seine Freundschaft mit Stoitschkow war zerbrochen, nachdem sich der Bulgare wiederholt über den zunehmend hedonistischen Lebenswandel des Brasilianers beklagt hatte. Auch andere Mannschaftskameraden waren mit ihrer Geduld am Ende. Nach dem Gewinn des Weltmeistertitels im Jahr 1994 ließ Romário es sich nicht nehmen, einen Monat lang in Rio zu feiern, und kam zu spät zum Trainingsauftakt in Barcelona. Das bereitete Cruyff kein allzu großes Kopfzerbrechen, aber der Spielerrat, dem Koeman, Zubizarreta, José Bakero und Txiki Begiristain angehörten, verlangte eine Aussprache mit dem Trainerstab. Cruyff erklärte sich widerwillig einverstanden und setzte sich mit den Spielern zusammen, damit sie ihre Klagen vorbringen konnten. Romário hörte aufmerksam zu, bevor er zu einer Wutrede ansetzte: »Du, du und du, ihr seid frühzeitig ausgeschieden«, hielt er den spanischen Spielern vor, bevor er sich an Koeman wandte und ihm in Erinnerung rief: »Und du wurdest von mir hinausgeworfen. Ihr habt verloren! Ich bin der Sieger! Ich dachte, dies wäre eine Begrüßungsfeier, ihr wolltet mir gratulieren und mir eine Trophäe überreichen. Warum rede ich überhaupt mit euch? Leckt mich doch am Arsch!« Cruyffs Antwort war typisch: »Alles klar, zurück zum Training.«

In Reaktion auf Laudrups Weggang hatte Cruyff einen weiteren unglaublich talentierten Stürmer engagiert: Gheorghe Hagi war ein großartiger Spieler, der wie Stoitschkow einen herausragenden Zehner abgab und die Auswahl Rumäniens Mitte der neunziger Jahre zu großen Erfolgen führte. Nur Cruyff konnte verrückt genug sein, zwei so ähnliche Spieler zusammen auf den Platz zu bringen, und er verglich Hagi bei dessen Ankunft direkt mit Laudrup: »Wenn man Laudrup durch Hagi ersetzt, darf man annehmen, dass man sich nicht verschlechtert. […] Ich wette, dass Hagi mindestens doppelt so viele Tore schießen wird wie Laudrup und zumindest genauso viele Vorlagen geben wird.« Cruyff war im Irrtum, und es war ungewöhnlich, dass ein Trainer die Leistungsfähigkeit zweier Fußballer derart direkt verglich, vor allem mit Blick auf die Tatsache, dass er damit die Leistungen eines Spieler kleinredete, der eine tragende Rolle in seinem Dream Team gespielt hatte.

Hagi war aufgrund seiner starken Auftritte bei der WM in den USA engagiert worden. Cruyff hatte nun drei Spieler aus dem All-Star-Team des Turniers in seiner Mannschaft: Romário, Stoitschkow und Hagi. Der Rumäne hatte einen unbändigen Charakter: Er war individualistisch, aggressiv, unbeständig, arrogant und faul. Aber er war auch imstande, auf dem Feld für magische Augenblicke zu sorgen. Sein von zahlreichen Verletzungen unterbrochenes Gastspiel in Barcelona verlief enttäuschend, aber Hagi empfand es als eine erfolgreiche Zeit, da er große Freiheit genossen hatte. »Es gab einige Gerüchte und Diskussionen über mich, aber Johan Cruyff vertraute mir und gab mir die Chance zu zeigen, was ich konnte. Ich bewies ihm, dass sein Vertrauen begründet war«, erklärte er. Hagi hatte einen genialen Augenblick bei einem 4:2-Sieg über Celta Vigo, als er direkt nach dem Anstoß im dichten Nebel aus dem Anstoßkreis ein Tor erzielte – ein gutes Beispiel für seinen Individualismus.

Doch Cruyffs Liebe zu individualistischen Spielern führte zum Kontrollverlust. Romários Verhalten nach der Rückkehr von der WM gab einen Vorgeschmack auf die kommenden Ereignisse. Auch zurück in Barcelona verbrachte der Brasilianer die meiste Zeit mit Partys und mietete auf Dauer zwei Hotelsuiten, in denen er seine Gäste bewirtete. Sein Motto lautete: »Du musst täglich Sex haben, aber höchstens dreimal.« In seiner zweiten Saison erschien er nach Berichten mehrerer Mitspieler wiederholt fast bewegungsunfähig zum Training, da er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. An solchen Tagen sah sich Cruyff gezwungen, ihn nach Hause zu schicken. Romário tauchte auch häufig verspätet zu Mannschaftsbesprechungen auf, da er verschlafen hatte. »Romário kam nach der Weltmeisterschaft nie wirklich zurück«, seufzte Stoitschkow. »Sein Körper war da, aber sein Kopf war immer noch in Rio.« Cruyff seinerseits beklagte sich über die »mangelnde Disziplin« des Brasilianers; genau so hatte er Laudrup beschrieben. Der Anfang vom Ende kam genau ein Jahr nach dem 5:0 über Real Madrid. Diesmal verlor Barcelona 0:5 gegen den Erzrivalen, und der herausragende Spieler der Madrilenen war Laudrup. Stoitschkow sah in der ersten Hälfte die rote Karte, und der vollkommen abgemeldete Romário wurde in der Pause ausgewechselt. Es war sein letztes Spiel für Barcelona. Cruyff hatte den falschen Individualisten vertraut.

In der folgenden Woche wurde Romário zum Fifa-Weltfußballer des Jahres gewählt. Stoitschkow belegte den zweiten Rang und gewann außerdem den Ballon d’Or, der zu jener Zeit noch bei europäischen Klubs aktiven Fußballern aus Europa vorbehalten war. Das zeigte sehr schön, wo Cruyffs Problem lag: Offiziell hatte Barcelona die beiden besten Spieler der Welt in seinen Reihen, die jedoch kaum noch miteinander oder mit ihrem Trainer sprachen und im Spiel gegen den Erzrivalen Real Madrid nach desolaten Leistungen in der zweiten Hälfte nicht mehr auf dem Platz gestanden hatten. Cruyff war wütend darüber, dass Stoitschkow an der Preisverleihung teilnehmen wollte, und zwang den Bulgaren, am Tag der Zeremonie zum Training zu erscheinen, weshalb der Spieler zu spät zu der Veranstaltung kam. »Zwischen mir und dem Trainer stimmt etwas nicht«, klagte er, als er schließlich bei der Preisverleihung eintraf, um dann erneut auf das Problem von Individuum und Kollektiv zu sprechen zu kommen. »Wenn wir verlieren, bin immer ich allein verantwortlich. Wenn wir gewinnen, ist es ein Verdienst der ganzen Mannschaft.« Später äußerte er sich erneut in dieser Richtung, nur dass er diesmal den Trainer direkt attackierte: »Wenn wir gewinnen, ist es Cruyff zu verdanken. Wenn wir verlieren, sind die Spieler schuld.« Cruyff war seinem Konfliktmodell zum Opfer gefallen.

Im Sommer verließ Stoitschkow den Verein. Romário kehrte nach Brasilien zurück, Laudrup feierte den Meistertitel mit Real Madrid. Übrig war nur noch Hagi, der bis dahin unter seinen Möglichkeiten geblieben war. Die Auseinandersetzungen mit den Superstars hatten Cruyffs Autorität untergraben. Vielleicht hatte er eifersüchtig verfolgt, wie van Gaal bei Ajax Amsterdam triumphierte, jedenfalls bestand seine Reaktion darin, zusätzlich zu seinem Sohn Jordi weitere Spieler aus dem eigenen Nachwuchs – Iván de la Peña, die Brüder Roger und Óscar García – in die erste Mannschaft zu befördern. Keiner von ihnen wurde den Erwartungen gerecht. Der Neuzugang Luís Figo war noch nicht so weit, die Mannschaft zu führen, und in der Spitze spielte der unspektakuläre Bosnier Meho Kodro, der so gar nicht zu Barça passen wollte und in der gesamten Saison lediglich auf neun Tore kam. Der Auslöser für Cruyffs Entlassung am Ende der Saison 1995/​96 war ein Streit mit Klubpräsident José Luis Núñez, aber die Konflikte mit den Stars hatten entscheidenden Anteil an seinem Scheitern gehabt.

Die stilistische Auseinandersetzung zwischen Cruyff und van Gaal wurde fortgesetzt, als dieser nur ein Jahr nach Cruyffs Weggang zum FC Barcelona wechselte. Bei seiner Vorstellung verkündete er voller Stolz: »Jetzt ist Louis van Gaal der Star.« Er versuchte, sein bei Ajax entwickeltes Modell in Barcelona anzuwenden, und brachte sogar einige Spieler aus Amsterdam mit. Anfangs funktionierte es: In seiner ersten Saison gewann Barça das Double, und in der folgenden Saison konnte die Mannschaft den Meistertitel verteidigen. Aber wie nicht anders zu erwarten, kam van Gaal mit den Schwergewichten der Mannschaft nicht zurecht, vor allem nicht mit Rivaldo, dem krummbeinigen brasilianischen Genie, das für kurze Zeit als weltbester Spieler galt. Dabei war Rivaldo verglichen mit Stoitschkow und Romário ausgesprochen professionell, und während es bei Cruyffs Streitigkeiten mit den Stars im Wesentlichen um die Disziplin abseits des Platzes gegangen war, betrafen van Gaals Probleme mit Rivaldo die taktische Disziplin auf dem Spielfeld.

In ihrer dritten gemeinsamen Saison bei Barça konnte van Gaal nicht länger ertragen, dass sich Rivaldo nicht davon abbringen ließ, ins Dribbling zu gehen, eine Neigung, die im Dream Team und nicht zuletzt von Cruyff hoch geschätzt worden war. In einer Konfrontation, die an Stoitschkows Streit mit Cruyff erinnerte, übte Rivaldo an dem Tag, an dem er den Ballon d’Or erhielt, offene Kritik an seinem Trainer und erklärte, er sei nicht länger bereit, auf der linken Seite zu spielen. »In Brasilien ist es anders. Dort reden die Leute nicht über Taktik, und das bedeutet Freiheit«, erklärte er. »Hier ist es ein bisschen kompliziert, es ist taktischer … Ich habe jahrelang für das Team gearbeitet und nichts für mich selbst getan. Ich will mehr Spaß haben. Ich habe eine Weile auf dem Flügel gespielt, und jetzt will ich im Zentrum spielen, und zwar nicht nur mit der Nummer 10 auf dem Rücken, sondern als die Nummer 10.«

Dass sich ein Spieler derart wichtig nahm, konnte van Gaal nicht dulden. Also strich er Europas Fußballer des Jahres für das Auswärtsspiel bei Rayo Vallecano zwei Tage später aus dem 18-köpfigen Kader. Barça kam über ein Unentschieden bei dem kleinen Madrider Klub nicht hinaus. Auch beim 3:1 über Real Sociedad stand Rivaldo nicht auf dem Platz. Erst im Spiel gegen Celta Vigo gab van Gaal nach und wechselte den Brasilianer in der zweiten Hälfte ein; Rivaldo steuerte das zweite Tor zum 2:0-Sieg bei. In den folgenden sieben Begegnungen spielte er jedes Mal durch. Rivaldo hatte den Machtkampf gewonnen, und das war der Anfang vom Ende der Ära van Gaal. »Ich habe ihm zu viele Chancen gegeben«, urteilte der Niederländer im Nachhinein. »Das Gleichgewicht in der Kabine ist zerstört – das war mein größter Fehler in dieser Saison. Diese Kultur ist auf Stars angewiesen. Hier habe ich zwei Spieler, die zu den besten zehn der Welt gezählt werden [der andere war Figo]. Bei Ajax hatte ich im Jahr 1995, als ich kein einziges Spiel verlor, keinen Spieler in dieser Liste.« Eine Mannschaft ohne Stars behagte van Gaal sehr viel eher.

Der Niederländer geriet auch mit Sonny Anderson und Geovanni aneinander, die bezeichnenderweise ebenfalls Brasilianer waren. Die brasilianische Fußballkultur kreiste um die individuelle Inspiration der Angreifer, was für van Gaal einfach nicht akzeptabel war. Am Ende der Saison wurde er entlassen.

Wenn man bedenkt, dass Cruyff und van Gaal gleichermaßen besessen von der Verbreitung des klassischen Ajax-Stils waren, waren diese herausragenden Trainer doch bemerkenswert verschieden. Man nehme beispielsweise ihren Zugang zur Matchvorbereitung. Cruyff ermutigte seine Spieler, jeden Gegner an die Wand zu spielen, und verschwendete keinen Gedanken an die Taktik des gegnerischen Trainers. Ganz anders van Gaal: Er studierte Videobänder des nächsten Kontrahenten und erklärte seinen Spielern bis ins kleinste Detail, wie die andere Mannschaft ihr Spiel aufbaute und wie man ihren Spielfluss stören konnte.

Es war eine Auseinandersetzung zwischen Cruyffs Kunst und van Gaals Wissenschaft. Van Gaal saß mit einem Notizblock im Schoß auf der Bank, studierte taktische Varianten, kontrollierte die Leistungsdaten seiner Spieler und beschäftigte lange vor dem Siegeszug der statistischen Analyse einen »Computercrack« namens Max Reckers. Jedes Mal, wenn van Gaal den Verein wechselte, musste sein »Archiv«, das ungezählte Dossiers und Videokassetten enthielt, zu beträchtlichen Kosten quer über den Kontinent bewegt werden. So etwas war für Cruyff undenkbar; einmal sagte er, seine großen fußballerischen Qualitäten seien »für einen Computer unergründlich«. Sein Verständnis des Spiels entsprang einem »sechsten Sinn«, und er gab bereitwillig zu, ein miserables Gedächtnis zu haben und selten die Details zu kennen. Er war ein Instinktmensch und verkörperte eine Philosophie im wahrsten Sinn des Wortes. Van Gaal hingegen glaubte an einen wissenschaftlichen Zugang zum Fußball und entwickelte roboterartige Spieler, denen er jegliches Flair abgewöhnte.

Die Saga der Feindschaft zwischen van Gaal und Cruyff setzte sich in den folgenden fünfzehn Jahren fort. Im Jahr 2000 wurde van Gaal niederländischer Nationaltrainer und durchkreuzte als Erstes Cruyffs Pläne für die Nachwuchsförderung. Doch die Elftal scheiterte in der Qualifikation für die WM2002. Nach einer katastrophalen Amtszeit als Bondscoach kehrte van Gaal im Jahr 2004 als Technischer Direktor zu Ajax Amsterdam zurück, wo er sich mit einem jungen Stürmer überwarf, der die für Amsterdam erforderliche Arroganz an den Tag legte. »Er wollte ein Diktator sein«, schreibt Zlatan Ibrahimović in seiner Autobiografie über van Gaal. »Van Gaal liebte es, über Spielsysteme zu reden. Er war einer von denen im Verein, die von den [Spielern] als Nummern redeten. Also die Fünf geht hierhin, und die Sechs geht dorthin … Es war die übliche Geschichte, dass die Nummer neun, also ich, nach rechts verteidigt, wenn die Zehn nach links geht, und umgekehrt. ›Wir wissen das, und wir wissen auch, dass du es erfunden hast.‹« Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Cruyff seit acht Jahren nicht mehr als Trainer, was ihn jedoch nicht daran hinderte, in Interviews weiter eine vertraute Botschaft zu verbreiten: »Mir fällt vor allem auf, dass sich die Leute, die im Fußball die Richtung vorgeben, eigentlich nie für die individuellen Spieler interessieren, sondern nur für das Team als Ganzes. Aber ein Team besteht aus elf Individuen, und jedes einzelne braucht Aufmerksamkeit.«

Im Jahr 2009 übernahm van Gaal den Trainerposten bei Bayern München und führte die Mannschaft zum Double und ins Endspiel der Champions League. »Ich habe noch nie mit einer Mannschaft gearbeitet, die eine so starke Bindung an mich und so großes Vertrauen zu mir hatte«, schwelgte er – und er erntete ein seltenes Lob von Cruyff. Aber eine Spitze konnte sich sein alter Rivale nicht verkneifen: »Bayern München und van Gaal passen besonders gut zusammen – Vereinsführung und Spieler waren darauf vorbereitet, seine Art zu denken und zu arbeiten zu akzeptieren.« Was aus Cruyffs Mund ein kaum verschleierter Vorwurf war, van Gaal habe eher eine deutsche als eine niederländische Mentalität und passe eher zu Bayern als zu Ajax (was wiederum diejenigen Bayern-Fans überraschen mag, die sich an die heftigen Konflikte zwischen dem neuen Trainer und den Vereinsoberen erinnern, die bereits im Herbst nach seiner Ernennung ausbrachen).

Van Gaal brachte sich später sogar als deutscher Nationaltrainer ins Gespräch: »Ich träume vom Gewinn der Weltmeisterschaft mit einer Mannschaft, die das schaffen kann, und die deutsche ist eine dieser Mannschaften.« Das passte zu den in niederländischen Medien häufig zu hörenden Vorwürfen, van Gaal sei nicht sehr niederländisch, sondern entspreche eher der freudlos effizienten Art des Erzrivalen Deutschland. Van Gaal wurde wiederholt als »Diktator« bezeichnet, und der Journalist Hugo Borst verglich van Gaal in einem Kapitel seiner faszinierenden Biografie sogar mit Hitler. In diesem etwas verstörenden Teil des Buchs wird der ehemalige Barça-Spielmacher Geovanni mit den Worten zitiert, van Gaal sei »gestört«, »verrückt« und »ein Hitler«, und Borst erzählt, eine rumänische Zeitung habe einmal berichtet, in den Niederlanden habe van Gaal den Spitznamen »van Hitler«. Das stimmte nicht, aber die Tatsache, dass es plausibel klang, spricht Bände über seinen Ruf.

Das letzte Gefecht lieferten sich die Intimfeinde im Jahr 2011, nachdem van Gaal zum Sportdirektor von Ajax Amsterdam ernannt worden war. Cruyff saß zu dieser Zeit im Aufsichtsrat des Vereins. Die Ernennung van Gaals wurde durchgedrückt, während er in Barcelona Urlaub machte. Cruyff leistete erbitterten Widerstand gegen die Berufung seines Gegners und verklagte den Verein sogar. Er unterlag vor Gericht, doch in gewissem Sinn behielt er die Oberhand, denn van Gaal trat den Job nie an, sondern übernahm stattdessen zum zweiten Mal die Elftal, was eine weitere Schlammschlacht zwischen den alten Rivalen auslöste.

»Gegen van Gaals Vorstellungen vom Fußball ist nichts einzuwenden«, sagte Cruyff. »Aber ich habe andere Vorstellungen. Er will Siegerteams aufbauen und verfolgt eine militaristische Taktik. Ich will das nicht. Ich will, dass die Spieler selbstständig denken und auf dem Platz die in der jeweiligen Situation beste Option wählen. Er will sämtliche Situationen von der Bank aus kontrollieren. Wir müssen den Verein einschließlich der Nachwuchsakademie erfolgreich machen, und dazu brauchen wir keine taktische Zwangsjacke, sondern eine individuelle Förderung. Wenn Louis zu Ajax kommt, werde ich mich bald verabschieden. Wir denken über alles im Leben unterschiedlich.«

Van Gaal beurteilte den Konflikt pragmatischer, obwohl er der Versuchung nicht widerstehen konnte, noch einen letzten Giftpfeil in Richtung seines Widersachers zu schicken. »Es gibt genauso wenig eine ›Cruyff-Linie‹, wie es eine ›Van-Gaal-Linie‹ gibt«, erklärte er. »Es gibt nur eine Ajax-Linie, an der sich seit 25 Jahren nichts geändert hat. Cruyff und ich haben beide dazu beigetragen – nur dass ich länger dabei war.«

2

Raum

Es liegt in der geografischen Natur ihres Landes begründet, dass der Raum im Denken und Handeln der Niederländer einen zentralen Platz einnimmt. Das Land, dessen Name seine Tieflage verrät, ist ein bemerkenswertes Gebilde, das teilweise durch den revolutionären Einsatz von Deichen schrittweise dem Meer abgetrotzt wurde. Siebzehn Prozent des niederländischen Territoriums würden ohne Deiche unter Wasser liegen, und nur etwa die Hälfte des Landes erhebt sich mehr als einen Meter über Meereshöhe.

Die Niederlande sind auch das am dichtesten besiedelte Land Europas (wenn man Kleinstaaten wie Malta, San Marino und Monaco nicht einrechnet), und weltweit weisen unter den Ländern mit ähnlich vielen oder mehr Einwohnern lediglich Südkorea, Bangladesch und Taiwan eine höhere Bevölkerungsdichte auf. Daher bemühen sich die Niederländer seit je, die Grenzen des Landes hinauszuschieben, um anschließend innerhalb dieser Grenzen Raum zu finden.

Dieses Bestreben schlägt sich auch im niederländischen Fußballstil nieder. In seinem bahnbrechenden Buch Oranje brillant betrachtet David Winner den Voetbal totaal durch das Prisma der Geografie: »Der [Voetball totaal] wurde auf einer neuen Theorie des flexiblen Raums gegründet«, erklärt Winner. »So wie im 19. Jahrhundert Cornelis Lely die Idee entwickelte und umsetzte, riesige neue Polder zu schaffen und damit die räumliche Ausdehnung Hollands durch Deichbau und die Ausnutzung der neuen Technologie der Dampfmaschine zu verändern, so nutzten Rinus Michels und Johan Cruyff die Fähigkeiten eines neuen Typus von Fußballer, um die Dimensionen des Fußballfeldes zu erweitern.«

Michels war derjenige, der diese Konzepte einführte, und Cruyff verkörperte sie und gab ihnen den poetischsten Ausdruck. Er erläuterte die Bedeutung des Raums in zwei verschiedenen Situationen: mit Ball und ohne Ball. »Michels prägte mein Verständnis des Spiels nachhaltig«, sagte Cruyff. »Wenn du den Ball hast, musst du dir so viel Raum wie möglich verschaffen, und wenn du den Ball verlierst, musst du den Raum deines Gegners möglichst stark einengen. Tatsächlich hängt im Fußball alles von der Distanz ab.« Diese Vorstellung wurde zu einem festen Bestandteil des niederländischen Fußballverständnisses, in dem sich alles um Positionen und die Form dreht. Manche Länder hielten die individuellen Eigenschaften der Fußballer für besonders wichtig (»kräftig und schnell«), andere konzentrierten sich auf bestimmte Aspekte des Spiels (»Zweikämpfe gewinnen«), wieder andere interessierten sich nur dafür, was mit dem Ball geschehen sollte (»Man muss ihn schnell nach vorne bringen«). Im niederländischen Fußball ging es ab der Erfindung des Voetbal totaal nur noch um den Raum, und im Lauf der Zeit übernahmen andere europäische Länder diese Denkweise.

So wie Michels den »totalen Fußball« verstand, ging es darin um zwei verschiedene Dinge: Positionswechsel und Pressing. Bei Ajax war Johan Neeskens mit seinen aggressiven Attacken auf den gegnerischen Spielmacher der Vorreiter der Vorwärtsverteidigung, und Abwehrchef Velibor Vasović gab in der Abwehrkette die Kommandos, damit sie im richtigen Moment vorrückte, um die gegnerischen Stürmer ins Abseits laufen zu lassen. Dies wurde später das Hauptmerkmal des holländischen Spiels bei der WM1974.

»Das Hauptziel der Vorwärtsverteidigung, der ›Jagd‹, ist es, nach Ballverlust in der gegnerischen Hälfte so schnell wie möglich wieder in Ballbesitz zu gelangen«, erklärte Michels. »Man kann dem Gegner nur eine ›Falle‹ stellen, wenn alle Linien vorrücken und nahe beieinander spielen.« Unter Michels spielte Holland mit einer verblüffenden Abseitsfalle, die funktionierte, weil die gesamte Mannschaft im selben Moment vorrückte und fünf oder sechs gegnerische Spieler gleichzeitig ins Abseits stellte, bevor dieses extreme Vorgehen gefährlich wurde, als die Unterscheidung zwischen »aktivem« und »passivem« Abseits eingeführt wurde (so dass nur noch jene Spieler der angreifenden Mannschaft berücksichtigt wurden, die »ins Spiel eingriffen«).

Trotz der veränderten Auslegung der Abseitsregel hatte das Pressing für Cruyff und van Gaal in der Zeit der niederländischen Vormachtstellung in den Neunzigern besondere Bedeutung, und beide Trainer ermutigten ihre Spieler, in der Verteidigung extrem hoch zu stehen und den Raum schon vorne eng zu machen. Cruyffs Barcelona und van Gaals Ajax bestimmten, in welchem Teil des Feldes gespielt wurde, sie drängten die gegnerische Mannschaft in ihre eigene Hälfte, und beide Trainer setzten auf umgeschulte Mittelfeldspieler als Verteidiger, da sie das ganze Spiel in der Nähe der Mittellinie verbrachten.

»Ich stelle die herkömmlichen Ideen gerne auf den Kopf und schärfe den Stürmern ein, dass sie die ersten Verteidiger sind«, erläuterte Cruyff. »Und ich erkläre den Verteidigern, dass es von ihnen abhängt, wie lang das Spielfeld ist. Sie müssen verstehen, dass die Entfernung zwischen den Linien nie größer als zehn bis fünfzehn Meter sein darf. Und alle Spieler müssen dafür sorgen, bei Ballbesitz Raum zu schaffen, während sie ohne Ball enger zusammenrücken müssen.«

Van Gaal wählte einen ähnlichen Zugang. Er setzte schnelle Verteidiger ein, die in einer hohen Linie standen und ein intensives Pressing in der gegnerischen Hälfte betrieben. »Der Zehner bei Ajax ist Jari Litmanen, und er muss mit gutem Beispiel vorangehen, indem er seinen Gegenspieler unter Druck setzt. Vergleichen Sie das mit den Aufgaben des Spielmachers vor zehn Jahren!«

Ihren besten Ausdruck fand die niederländische Fixierung auf den Raum in der Spielweise von Cruyffs Barcelona, van Gaals Ajax und der Elftal. Das klassische holländische Muster war das 4-3-3, aber in der Praxis nahm diese Grundaufstellung zwei sehr unterschiedliche Formen an.

In der modernen Auslegung des 4-3-3, die ihren höchsten Ausdruck in der Spielweise des FC Barcelona unter Pep Guardiola fand, steht ein defensiver Mittelfeldspieler hinter den beiden anderen, wodurch sich ein 4-1-2-3 ergibt; die Niederländer drehen das Dreieck oft um, so dass ein 4-2-1-3 entsteht, aber sie betrachten diese Anordnung ebenfalls als ein 4-3-3. Heute wirkt es sonderbar, dass die beiden Varianten in derselben Formel notiert werden können, vor allem wenn man bedenkt, dass das 4-2-1-3 im Grunde dem 4-2-3-1 entspricht, dem neben dem 4-3-3 vorherrschenden taktischen Schema der zehner Jahre. Aber in jener früheren Periode war das 4-3-3 ebenso eine Philosophie wie ein System, und in Anbetracht der Tatsache, dass in anderen europäischen Ländern im Allgemeinen ein robustes 4-4-2 und manchmal ein extrem defensiv ausgerichtetes 5-3-2 bevorzugt wurde, galt es als gewagte Idee, mit einem über die ganze Breite des Spielfelds verteilten Dreimannsturm anzugreifen. Die genaue Raumaufteilung zwischen den Mittelfeldspielern war ein untergeordnetes Detail.

Cruyff und van Gaal trieben den Wagemut allerdings noch ein wenig weiter. Als Trainer von Ajax Amsterdam verringerte Cruyff die vierköpfige Verteidigung auf eine Dreierkette und erklärte das mit der Tatsache, dass die Mehrheit der Mannschaften in der niederländischen Liga mit zwei Spitzen spielten, weshalb drei Verteidiger genügten. Er ersetzte im Grunde einen Verteidiger durch einen Zehner, womit er im Mittelfeld eine Raute konstruierte, die eine dreiköpfige Abwehr mit einem dreiköpfigen Angriff verband. Dies war das holländische 3-4-3, das etwas ganz anderes war als das italienische 3-4-3 mit Flügelverteidigern (die je nach Auslegung defensive äußere Mittelfeldspieler oder offensive Außenverteidiger waren), das später etwa von Antonio Conte bei Chelsea eingeführt wurde. Cruyffs defensiver Mittelfeldspieler bewegte sich zwischen Verteidigung und Mittelfeld, und der Zehner wechselte zwischen Mittelfeld und Angriff, während auf den Achterpositionen laufstarke Box-to-Box-Mittelfeldspieler eingesetzt wurden. »Cruyff nahm die damit verbundenen Risiken in Kauf«, erklärte Michels. »Der Erfolg des 3-4-3 hängt von der individuellen Klasse der Spieler ab, die dieses spektakuläre, aber riskante System umsetzen sollen, […] es stellt hohe Anforderungen an die taktische Disziplin der zentralen Spieler und verlangt ein hohes Maß an Spielintelligenz.«

Van Gaal war in vielen Dingen anderer Meinung als Cruyff, aber gegen Cruyffs Grundformation hatte er nichts einzuwenden. Er ließ während seiner gesamten Zeit bei Ajax im 3-4-3-Schema spielen. Cruyffs alter Mentor Rinus Michels ließ sich ebenfalls zu diesem System bekehren, als er das niederländische Team bei der Europameisterschaft 1992 betreute, obwohl er es lediglich als Abwandlung seines alten 4-3-3 betrachtete. Bei diesem Turnier verwirrte die Wandlungsfähigkeit des niederländischen Systems die ausländischen Experten, die es teilweise als 4-3-3, teilweise als 3-4-3 und manchmal sogar als 3-3-4 betrachteten, ein Schema, das auf dem Papier, verglichen mit den damals vorherrschenden Systemen 4-4-2 und 5-3-2 bzw. 3-5-2, verrückt wirkte. Doch die Niederländer verstanden das Spiel eben vollkommen anders als Deutsche, Italiener und Skandinavier.

Das zentrale, unantastbare Element der niederländischen Systeme war Breite. Unabhängig von der Zahl der Verteidiger, der Gewichtung im Mittelfeld oder der Frage, ob der Mittelstürmer von einem Zehner unterstützt werden sollte, hielten die niederländischen Trainer an zwei an den Seitenlinien klebenden Flügelspielern fest. Auch das entsprach nicht der Mode jener Zeit, denn im 4-4-2 hatten die Mittelfeldspieler die Aufgabe, das Zentrum zu halten, und im 5-3-2 sollten die Außenverteidiger das Feld mit überlappenden Vorstößen öffnen. DieNiederländer hingegen bestanden darauf, das Spiel müsse in die Breite gezogen werden, um Lücken in der gegnerischen Verteidigung zu öffnen. Michels hielt »wirkliche Flügelspieler mit hoher Geschwindigkeit und guter Technik«, die »in sehr jungem Alter ausgewählt und geschult« werden müssten, für unverzichtbar. »Die Niederlande gehören zu den wenigen Ländern, die im 4-3-3-System tatsächlich solche Spieler ausbilden.«

Die von van Gaal trainierte Ajax-Mannschaft, die im Jahr 1992 den Uefa-Pokal gewann, hing vom Rechtsaußen John van ’t Schip ab, einem Flügelstürmer der alten Schule, der die drei klassischen Merkmale eines solchen Spielers aufwies: einen rasanten Antritt, Wendigkeit und gute Flanken. Van ’t Schip bewegte sich nie zwischen den Linien und zog auch nicht nach innen: Der Rechtsfuß war ein reiner Flügelspieler, der an der Seitenlinie blieb. Bryan Roy, sein Pendant auf dem linken Flügel, war ein ähnlicher, dabei aber schnellerer Spieler, der überdies weniger flankte. Er hatte dieselbe Aufgabe wie van ’t Schip, stellte van Gaals Geduld jedoch auf eine harte Probe, indem er zu oft nach innen zog. Der Gegensatz der Systeme trat beim Finalsieg 1992 über den AC Turin besonders deutlich zutage: Die Italiener agierten in einem 5-3-2, die Niederländer im 3-4-3.

Roy spielte auch bei der EM1992 unter Michels auf dem linken Flügel. Sein Gegenstück auf der rechten Seite war jedoch Ruud Gullit, eigentlich ein zentraler Spieler, für den aber eine Position gefunden werden musste, weil er zu wichtig für die Mannschaft war, um ihn nicht aufzustellen. Dick Advocaat, der die Nationalmannschaft bei der WM1994 betreute, setzte links weiter auf Roy, entdeckte jedoch auch den aufregenden Gaston Taument – und Marc Overmars von Ajax Amsterdam.

Overmars war der typischste und erfolgreichste niederländische Außenstürmer jener Zeit. Er war extrem antrittsschnell, fühlte sich dank seiner Beidfüßigkeit auf beiden Flügeln gleich wohl, entzog sich problemlos Abwehrspielern im direkten Duell, schlug vorzügliche Flanken und hatte einen sehr guten Schuss. Er war spektakulär und zugleich effizient, ein Flügelspieler, der nicht das Dribbling, sondern das Endprodukt des Dribblings im Sinn hatte, was ihn für van Gaal zum idealen Spieler machte.

»Ich wollte über die Flügel angreifen«, erinnert sich van Gaal. »Es gibt nicht viele gute Außenstürmer, und Overmars war einer der besten. Er war gut im Dribbling und konnte Verteidiger im Eins-gegen-eins ausschalten, was in unserem System wichtig war, aber er war auch ein ausgezeichneter Vorlagengeber und obendrein torgefährlich. Er erzielte zehn bis fünfzehn Tore pro Saison, und zwar fast immer wichtige Tore. Solche Spieler brauchen wir, um ein attraktives Spektakel bieten zu können.« Hätte van Gaal auf beiden Flügeln einen Overmars aufstellen können, so hätte er es getan. Aber da es diesen Spieler nur einmal gab, ließ er Overmars links außen spielen und besetzte den anderen Flügel mit dem schnellen Nigerianer Finidi George.

Das Eigentümliche an van Gaals Verwendung der Außenstürmer war jedoch, dass sie fast immer als Köder dienten, dass sie vor allem Teil des Gesamtplans waren und nicht individuell brillieren sollten. Ähnliches galt für die Mittelstürmer: Angreifer wie Stefan Pettersson und Ronald de Boer (der auch im Mittelfeld eingesetzt wurde) waren nicht unbedingt für das Toreschießen zuständig, sondern sollten in erster Linie die Sturmlinie führen. Sie hatten Anweisung, das Spielfeld in die Länge zu ziehen und die gegnerischen Innenverteidiger zu beschäftigen. Van Gaals Überlegung war einfach: Wenn die Flügelstürmer die gegnerischen Außenverteidiger an der Außenlinie festpinnten und der Mittelstürmer die Innenverteidiger zwang, sich zurückzuziehen, gab es mehr Platz für den wichtigsten Spieler: den Zehner.

Sowohl bei Ajax Amsterdam als auch in der Elftal konnte das zu jener Zeit nur ein Mann sein: Dennis Bergkamp. Er war nicht unbedingt der beste niederländische Fußballer – Marco van Basten gewann 1992 den Ballon d’Or, während Bergkamp den dritten Platz belegte und im Jahr darauf Zweiter wurde –, aber er war zweifellos der typische holländische Fußballer der neunziger Jahre, denn seine Denkweise beruhte auf dem vertrauten Konzept: »Meine größte Fähigkeit auf dem Platz war, dass ich den Raum sah und erkannte, wo man Raum schaffen konnte«, sagt er. In seiner Autobiografie erklärt Bergkamp den Fußball und seine eigene Laufbahn gestützt auf dieses eine Wort: Raum. Warum war er derart darauf versessen, beim Torschuss den Keeper zu überlupfen? »Es ist die beste Methode – über dem Torhüter ist viel Raum.« Warum fiel es ihm in seiner Zeit bei Inter Mailand schwer, sich in das Spiel seiner Mannschaft zu integrieren? »Es klaffte ein gewaltiger Raum zwischen uns, und dieser Raum war tot.« Warum wechselte er in die Premier League? »Ich wusste, dass man sich in England Raum verschaffen konnte.« Was war der Schlüssel zu seinem berühmten Siegtor gegen Argentinien bei der WM1998? »Es kam darauf an, mir diesen kleinen Raum zu verschaffen.« Und warum hatte er so große Angst vor dem Fliegen? »Da war fast kein Raum – es war so beengt, dass ich unter Klaustrophobie litt.«

Bergkamp stammte aus Amsterdam und war im Nachwuchszentrum von Ajax aufgewachsen, obwohl sein Weg zum Zehner in seinem Heimatverein nicht geradlinig verlief. Als Jugendlicher galt er als reiner Mittelstürmer, und Cruyff setzte ihn in der Saison 1986/​87 ursprünglich auf der rechten Außenbahn ein. »Das Spiel der Flügelstürmer war damals einfacher«, erinnert sich Bergkamp an die zu jener Zeit akzeptierte Art des Flügelspiels. »Es wurde nicht von dir erwartet, dass du in den Strafraum eindrangst, um den Abschluss zu suchen. Du solltest an der Außenlinie bleiben und die Kreide unter den Schuhen spüren. Deine Aufgabe war es, die gegnerische Verteidigung auseinanderzuziehen, deinen Gegenspieler zu überlaufen und den Ball scharf in die Mitte zu spielen.«

Nach Cruyffs Ausscheiden wurde Bergkamp von dem Deutschen Kurt Linder, der die Ajax-Mentalität nicht verstand und ein rigides 4-4-2 vorzog, in die zweite Mannschaft verbannt. Das Reserveteam wurde allerdings von van Gaal trainiert, der Bergkamps Talent erkannte und ihn als Zehner aufstellte. Als Linder entlassen wurde, übernahm Antoine Kohn vorübergehend die erste Mannschaft, aber für die Taktik war sein neuer Assistent van Gaal zuständig. Van Gaal bestand darauf, Bergkamp als Zehner spielen zu lassen, und dieser rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen, indem er in zehn aufeinanderfolgenden Spielen traf und damit einen neuen Rekord in der Eredivisie aufstellte. Doch dann übernahm Leo Beenhakker den Trainerposten, der Bergkamps Fähigkeiten auf dieser Position nicht nutzte, sondern ihn erneut als Mittelstürmer oder auf dem Flügel einsetzte. Erst als van Gaal 1991 Cheftrainer wurde, durfte Bergkamp wieder auf die Position zurückkehren, die am besten zu ihm passte. Die niederländischen Medien waren so begeistert von seinen Auftritten als Zehner, dass sie einen neuen Begriff prägten: Sie nannten ihn »schaduwspits«, die »Schattenspitze«.

In dieser Rolle war Bergkamp eine Augenweide. Bei Ajax bildete er eine wunderbare Sturmpartnerschaft mit dem Schweden Pettersson, einem klassischen Mittelstürmer, der jedoch intelligente Laufwege fand, um Raum für seinen Sturmpartner zu schaffen. In dieser Zeit wurde Bergkamp dreimal in Folge bester Torschütze der Eredivisie: In der Saison 1990/​91 teilte er sich die Krone mit Romário, aber in den beiden folgenden Spielzeiten wurde er unangefochtener Torschützenkönig, obwohl er kein Neuner war – oder entsprechend der niederländischen Philosophie eben weil er kein Neuner war. Das beste Beispiel für einen torgefährlichen Stürmer, der sich weit zurückfallen ließ, anstatt im Strafraum zu bleiben, war Johan Cruyff, aber der erfolgreichste Torjäger in der Geschichte der Eredivisie, Willy van der Kuijlen, war ebenfalls kein Mittelstürmer, sondern eine hängende Spitze. Van der Kuijlen, der fast seine gesamte Karriere bei PSV Eindhoven verbrachte, hatte das Pech, ein Zeitgenosse von Cruyff zu sein, und wegen Konflikten zwischen den Spielern von Ajax und PSV kam er in der Nationalmannschaft kaum zum Einsatz. In der Liga war er jedoch sehr erfolgreich und hatte im Verein ebenfalls einen schwedischen Sturmpartner, den Mittelstürmer Ralf Edström. Diese Partnerschaft ähnelte auch im Spielstil der von Bergkamp und Pettersson: Der Schwede gab den Zielspieler, der Niederländer den hängenden, aber effektiven zweiten Torjäger.

Das war die niederländische Methode: Der Neuner opferte sich für den Zehner. Dieser Grundsatz galt selbst im Nationalteam, wo die Position des Mittelstürmers vom großartigen Marco van Basten besetzt wurde. Bei der EM1992 glänzte die niederländische Mannschaft, obwohl sie im Halbfinale den Dänen unterlag. Ihren besten Auftritt hatte die