Unausgesprochene Wahrheiten - Emre Çelik - E-Book

Unausgesprochene Wahrheiten E-Book

Emre Çelik

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Beschreibung

Um toxisches Verhalten zu überwinden, muss man die unausgesprochenen Wahrheiten enthüllen. Emre Çelik gilt als einer der führenden Spezialisten für Arbeitsplatzermittlungen und öffnet in seinem bahnbrechenden Werk die Türen zu einer Welt, die viele nur zu gut kennen, aber nur wenige zu durchleuchten wagen: "toxische Verhaltensweisen am Arbeitsplatz".  Toxische Verhaltensweisen am Arbeitsplatz sind kein Phänomen der Neuzeit. Sie gab es schon immer, solange Menschen in organisierten Strukturen zusammenarbeiten. In der heutigen Ära, die von starker Flexibilität, Teamarbeit und Kooperation geprägt ist, sind jedoch die negative Auswirkung solcher Verhaltensweisen stärker und katastrophaler als jemals zuvor. Mit einer Mischung aus erschütternden, wahren Geschichten, gewonnen durch tiefgehende Interviews, und fundierten wissenschaftliche Studien, gepaart mit seinen unersetzbaren Erfahrungen als Arbeitsplatzermittler, navigiert uns Emre Çelik durch die verborgenen Abgründe des Berufslebens. Von Mitarbeiterfehlverhalten über Mobbing bis hin zu Diskriminierung und Belästigung – kein Thema bleibt unberührt, keine unausgesprochene Wahrheit verborgen. - Anschauliche Interviews mit betroffenen Personen und Bewertung - Tiefe Bewertung und Analyse von Toxischen Organisationen, Führungs- und Mitarbeiter:innenverhalten - Psychologische und juristische Fachbeurteilung  - Praktische Hilfestellungen und Konzepte für Betroffene - Konkrete Maßnahmen zur kulturellen Entgiftung für Unternehmen - Schutz und Distanz vor toxischem Verhalten - 7 unausgesprochene Wahrheit der Arbeitswelt  - Heilung und Neuanfang - Möglichkeiten von KI im Kampf gegen toxisches VerhaltenEntwicklung von Fähigkeiten zum Umgang und zur Prävention von toxischem Verhalten Das Buch ist nicht nur eine Entdeckungsreise in die dunklen Ecken toxischer Arbeitsumgebungen, sondern auch ein Leitfaden zur Befreiung. Er bietet nicht nur tiefe Einblicke in die verheerenden Auswirkungen solcher Verhaltensweisen auf das Klima am Arbeitsplatz, die Gesundheit der Mitarbeitenden und den Unternehmenserfolg, sondern liefert auch praktische Lösungen sowohl für die direkt Betroffenen als auch für die Unternehmen selbst. Lassen Sie sich von dem "gefragtesten Personaler Deutschlands" (Handelsblatt) auf dieser aufklärenden Reise an die Hand nehmen. Sie wird Ihnen nicht nur die Augen öffnen, sondern auch konkrete Wege aufzeigen, wie Sie sich und Ihr Umfeld vor den schädlichen Auswirkungen toxischer Arbeitsbeziehungen schützen können. Dieses Buch ist ein Muss für jeden, der den Arbeitsplatz nicht nur als Ort des Erwerbs, sondern als Raum für persönliches Wachstum und gegenseitigen Respekt sieht.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2024

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[7]INHALT

Hinweis zum UrheberrechtImpressumWidmung01 EINFÜHRUNGWarum der »toxische Arbeitsplatz« real istWas zur Hölle ist Wasser? – Wieso wir in toxischen Arbeitskulturen schwimmen, ohne es zu bemerkenWarum dieses Buch?02 DIE TOXISCHE ARBEITSWELTVom richtigen Umgang mit toxischem Verhalten als Schlüssel zum beruflichen ErfolgDie Bienenstich-Begegnung: Meine Mutter und das Leben der vergessenen Gastarbeiter2.340 Wochen: Wenn toxische Arbeit mehr als die Hälfte des Lebens dominiertDie Verstrickung von Macht und ToxizitätOpfer oder Opferrolle?Nuancen der ArbeitsplatztoxizitätIm Spiegel der Selbstsucht: Dr. Ramzi Fatfouta über ­Narzissmus am Arbeitsplatz03 DER TOXISCHE DREIKLANG04 DIE TOXISCHE ORGANISATIONDer soziale Austausch: Wie funktioniert eigentlich Arbeit?Das Wesen toxischer OrganisationenFrühwarnsystem für toxische ArbeitskulturenMutige Wege aus der toxischen Organisation05 DIE TOXISCHE FÜHRUNGSKRAFTWer ist hier das Problem? Sie oder ich?Was ist eine toxische Führungskraft?Konflikte am ArbeitsplatzToxische KundschaftBerechtigte Beschwerde oder toxisches Verhalten06 TOXISCHE MITARBEITENDEDie ernüchternde Realität in PersonalabteilungenToxizität im KollegiumEmotionale Manipulation durch Kollegen und KolleginnenDas Problem mit den PersonalabteilungenDie Notwendigkeit einer »Employee Relations« in DeutschlandRechtliche Beurteilung toxischen Verhaltens am Arbeitsplatz mit Sören SeidelDas Phasenmodell der Toxizität – kumulative Prozesse und schleichende EskalationDas Phasenmodell der Befreiung – Ausbruch aus der toxischen UmgebungDr. Eva Elisa Schneider über mentale Gesundheit am Arbeitsplatz07 UNAUSGESPROCHENE WAHRHEITEN1. Die stille Epidemie: Wie Mobbing die Seele unserer Unternehmen zerfrisst2. Im Schatten der Macht: Vergeltung als giftige Waffe der Unterdrückung3. Verborgene Mauern: Die heimtückische Persistenz der Diskriminierung in der modernen Arbeitswelt4. Die unsichtbare Grenze: Sexuelle Übergriffe in der ­Arbeitswelt5. Das Schweigen der Leistungstragenden: Wenn ignorierte Schlechtleistung zur Norm wird6. Etiketten, die vernichten: Der zerstörerische Einfluss ­falscher Leistungsbeurteilungen auf Karriere und Selbstwert7. Die dunkle Seite des Erfolgs: Wenn Leistungstragende zur toxischen Bedrohung werden08 DETOX! DETOX! DETOX!Die organisatorische EntgiftungEntgiftungskur für FührungskräfteDie Rolle der Mitarbeitenden in der kulturellen Entgiftung09 KI ALS KATALYSATOR10 DIE LEISEN REVOLUTIONEN DES ALLTAGSDANKSAGUNGQUELLEN
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.

Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.

Dafür vielen Dank!

[288]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print:

ISBN 978-3-68951-021-3

Bestell-Nr. 12099-0002

ePub:

ISBN 978-3-68951-022-0

Bestell-Nr. 12099-0101

ePDF:

ISBN 978-3-68951-023-7

Bestell-Nr. 12099-0151

Emre Çelik

Unausgesprochene Wahrheiten

1. Auflage, Oktober 2024

© 2024 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

Munzinger Straße 9, 79111 Freiburg

www.haufe.de | [email protected]

Bildnachweis:

Cover: Philipp Mueller; Autorenfoto: Emre Çelik; S. 16, 94, 194, 208, 217, 223, 232, 238, 245: Theresa Friedländer (erstellt mithilfe von OpenArt); S. 24: Mitarbeiterzeitung »Aus Bestem Hause: Müller«, September 1989, Ausgabe 8; S. 45: Ivo Wilhelm; S. 53, 88, 119, 124, 179, 182, 260: Emre Çelik, Theresa Friedländer; S. 167: Sören Seidel; S. 185: Coba Uys

Produktmanagement: Elisabeth Heueisen

Lektorat: Andrea Hensler

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

[4]»Your silence will not protect you.«

Audre Lorde

Als Autor dieses Werkes versichere ich, dass es in diesem Buch keine fiktiven Figuren gibt. Jede Geschichte ist die Geschichte einer realen Person. Die Geschichten basieren auf persönlichen Interviews, die zum besseren Verständnis transkribiert, das heißt in eine lesefreundliche Form gebracht wurden. Die Namen der interviewten Personen wurden geändert und nur in manchen Fällen auch die biografischen Daten leicht abgewandelt, um die Privatsphäre der betreffenden Personen zu schützen, gleichzeitig aber auch größtmögliche Authentizität zu wahren.

Ich habe nicht auf einen Ghostwriter zurückgegriffen, sondern die Texte auf Grundlage des Materials, das ich durch persönliche Interviews gesammelt habe, selbst verfasst.

[5]Für meine Mutter, Meral, eine alleinerziehende Frau und eine Kämpferin, deren unerschütterlicher Mut, in der Dunkelheit Licht zu sehen, mir die Hoffnung gab, Licht in die dunkelsten Ecken der Arbeitswelt zu bringen

[10]01 EINFÜHRUNG

Definiert unser ökonomischer Wert unseren menschlichen Wert?

[11]WARUM DER »TOXISCHE ARBEITSPLATZ« REAL IST

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Ausbildungstag. Es war der Beginn eines neuen Kapitels in meinem Leben, eines, das ich in einer kleinen Zeitarbeitsfirma in München aufschlug. Als junger Mensch aus einer armen Familie träumte ich immer davon, in einem Büro zu arbeiten, einen festen Arbeitsplatz zu haben und gutes Geld zu verdienen. Angesichts meines Hauptschulabschlusses und meines Namens Emre schien dieses Ziel weit entfernt – eine Realität, die meine Lehrer und Lehrerinnen oft betonten. Doch entgegen allen Erwartungen gelang es mir, diesen Traum zu verwirklichen. Ich gehörte zu den wenigen meiner Klasse, die über den zweiten Bildungsweg einen Abschluss an einer Wirtschaftsschule erzielten. Nach unzähligen Bewerbungen erhielt ich eine Ausbildungsstelle als Bürokaufmann bei einer kleinen Zeitarbeitsfirma an der renommierten Leopoldstraße in München.

Mein Verständnis von Arbeit ist tief verwurzelt in den Erlebnissen meiner Mutter. Angetrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben, gab meine Mutter in den 1980er Jahren ihren akademischen Werdegang in der Türkei auf und ging nach Deutschland. In diesem fremden Land fand sie nicht nur Arbeit, sondern auch [12]Liebe, doch unglücklicherweise verlor sie meinen Vater schon bald an eine Krankheit.

Plötzlich stand sie alleine da, verantwortlich für zwei Kinder. Unbeirrt von den Widrigkeiten, nahm sie den Kampf ums Überleben auf, schuftete am Fließband bei Müller-Brot, einer großen Industriebäckerei, und jonglierte nebenbei mit zwei Reinigungsjobs. Ihr Alltag war ein ständiger Balanceakt zwischen harter körperlicher Arbeit und der Fürsorge für uns Kinder, bis ein Arbeitsunfall ihr Leben noch weiter erschwerte und sie mit einer Schwerbehinderung zurückließ.

Da war ich nun. Der Hoffnungsträger der Familie Çelik. Mit einem Bündel aus Hoffnungen und Ängsten trat ich meine Ausbildung an. Die Angst vor Monotonie, vor physischen und psychischen Schmerzen und die Furcht, Fehler zu machen oder meine Mutter zu enttäuschen, waren ständige Begleiter in meinem Arbeitsleben. Doch tief in mir wusste ich, dass dieser Schritt meine Chance war, aus dem Kreislauf der Ausweglosigkeit auszubrechen, der so viele Menschen aus meinem Umfeld gefangen hielt.

Ausgestattet mit den letzten Tipps meiner Mutter, machte ich mich auf den Weg, um mir meinen Platz in dieser für mich neuen Welt zu erkämpfen. »Egal, wie dein erster Tag wird, ich bin sicher, dass du die richtigen Entscheidungen treffen wirst«, hatte meine Mutter lächelnd gesagt. Mit diesen Worten im Rücken trat ich aus unserem Wohngebäude, durch die Tür mit dem eingeschlagenen Glas, und öffnete die schwere Eichenholztür zu meiner zukünftigen Arbeitsstätte in München, stieg die mit Stuck verzierte Treppe hinauf und ging durch die sich automatisch öffnende Bürotür.

Am ersten Tag wurde ich herzlich von Sabine, der Geschäftsführerin, von Niklas, dem damaligen Azubi, sowie Herrn Klein, dem Buchhalter der Firma, empfangen. Ich hatte keinen festen Arbeitsplatz, sondern musste auf einem kleinen Hocker, ohne Rückenlehne, neben Niklas, einem großen deutschen Jungen, der stets im Anzug zur Arbeit erschien, sitzen.

[13]Die ersten Tage waren geprägt von Lernen und Anpassung. Ich lernte, mich am Telefon vorzustellen, mit der richtigen Anrede, durfte bereits das E-Mail-Postfach öffnen und auf wichtige E-Mails hinweisen. Ich machte mich mit den verschiedenen Computerprogrammen vertraut, fand guten Anschluss im Team, und alles schien sich positiv zu entwickeln. Die Putzkraft, eine türkische Frau, und ich verstanden uns auf Anhieb. Sie gab mir den Rat »Kendine iyi bak« – »Pass auf dich auf«. Eine gängige Redewendung, über die ich nicht weiter nachdachte, doch deren tieferen Sinn ich erst später wirklich verstehen sollte.

In der dritten Woche hob ich erneut das Telefon ab, und Sabine machte eine Bemerkung über meine Aussprache. Sie sagte, ich solle das »R« nicht rollen, da es sich seltsam anhören würde. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich nicht, was sie meinte, denn ich hatte immer so gesprochen. Ich konnte diesen Teil meiner Aussprache nicht einfach abstellen, nur weil sie meinte, es klinge unprofessionell. Heute weiß ich, dass dieses gerollte »R« kein Sprachfehler ist, sondern vielmehr ein bayerischer Einschlag, der daher rührt, dass ich in Neufahrn, einem kleinen bayerischen Vorort, aufgewachsen bin.

In der darauffolgenden Woche im Büro offenbarte sich eine neue Dimension der Spannung, als ich Niklas’ gerötetes Gesicht bemerkte. Kurz darauf platzte Sabine herein und entlud ihren Zorn auf ihn. Ihre Worte waren scharf, extrem laut und unerbittlich: »Wie kannst du den Stundennachweis nicht kontrollieren? Wir haben 800 Euro nicht abgerechnet! Im zweiten Lehrjahr – und du kannst das nicht? Du bist dümmer, als du aussiehst.« Niklas, gedemütigt und überwältigt, weinte, während er starr auf den Tisch blickte. Ich saß da, still, und bemühte mich, Sabines zornigen Blicken zu entgehen. Als sie den Raum verließ, versuchte ich, mit Niklas zu sprechen, doch er blieb stumm.

So vergingen die Wochen, in denen die Auftragslage immer schwieriger wurde und Sabines Ausbrüche zu einer regelmäßigen Erscheinung eskalierten.

[14]Sie schrie die türkische Putzfrau an, weil auf dem Glastisch ein Fingerabdruck zu sehen war, warf die Ordner mit den Stundennachweisen auf den Boden und forderte mich auf, die überall verstreuten Zettel einzusammeln. An einem Tag, als ich die Meetingräume aufräumte, hörte ich zufällig, wie Sabine im Nebenzimmer mit dem Buchhalter, Herrn Klein, über mich sprach. Sie erwähnte, dass sie mich nur wegen meiner schwierigen Kindheit eingestellt habe, weil sie jemand sei, der gerne Unterstützung biete.

Eine Kultur der Angst hatte sich etabliert, und die Warnung der Putzfrau, ich solle auf mich aufpassen, begann, einen Sinn zu ergeben. Ich fragte meine Mutter, ob das die Norm in der Arbeitswelt sei. »So ist die Arbeit, Emre. Wir müssen akzeptieren, wie wir behandelt werden«, antwortete sie resigniert.

In der Hauptschule war ich jahrelang als Pausenhelfer tätig, löste Konflikte und trat als Klassensprecher für die Rechte meiner Mitschüler und Mitschülerinnen ein. Und jetzt stand ich da, völlig sprachlos. Was ging in mir vor? Was war dieses Gefühl, das mich überkam? Schlaflose Nächte plagten mich, Bauchschmerzen wurden zur täglichen Qual, und bei der Arbeit unterliefen mir Fehler, obwohl ich so genau darauf achtete, keine zu machen.

Die schlechte Arbeitssituation erreichte ihren Höhepunkt, als ich für ein einwöchiges Projekt an einen Kunden vermittelt wurde, bei dem ich als Datentypist arbeiten sollte. Mir wurde strikt untersagt zu erwähnen, dass ich erst 17 Jahre alt und Auszubildender bin und keine Überstunden leisten darf. Ich sollte mich ausschließlich auf das Eintippen der mir zugewiesenen Daten konzentrieren und mit niemandem über meine Situation sprechen. Dass es sich bei dem Kunden um ein großes Pharmaunternehmen handelte, machte mir zwar etwas Angst, aber ich war entschlossen, meine Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Zugleich war ich erleichtert, eine Weile von Sabine fern zu sein.

Bei dem Kunden herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Ich erhielt viel Lob für meine Fragen und Denkweisen und wurde [15]sogar zu einem Abendessen im Büro eingeladen, und wegen der vielen positiven Rückmeldungen arbeitete ich gern eine Stunde länger, um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken.

Gerade in diesem Moment, als ich mich zum ersten Mal geschätzt fühlte, klingelte plötzlich mein Telefon. Es war Sabine, die wissen wollte, ob ich bereits nach Hause gegangen sei. Als ich ihr erklärte, dass ich noch eine Stunde länger geblieben war, weil ich zu einem Essen eingeladen worden sei, entlud sie einen Schwall von Beleidigungen über mich. Sie behauptete, ich sei dumm, könne nicht mal die Uhr lesen und würde es zu nichts bringen. Dabei drohte sie auch mit Konsequenzen. In diesem Augenblick, als sie nicht aufhörte, mir in einem Monolog schreiend meine Verantwortlichkeiten zu erklären, vollzog ich eine Handlung, die mein berufliches Leben bis heute maßgeblich prägen sollte. Es kostete mich all meinen Mut, doch ich entschied mich, zu handeln. Ich stellte das Telefon auf Lautsprecher, während Sabine weiterschrie – und das, während die Empfangsmitarbeiterin des Kunden direkt neben mir stand.

Diese Entscheidung veränderte alles. Die Empfangskraft des Unternehmens griff ein und forderte Sabine auf, zu erklären, wie sie es wagen könne, so mit mir zu sprechen. Zum ersten Mal erlebte ich Sabine sprachlos.

Nach Abschluss des Projekts bei dem auswärtigen Kunden meldete ich mich krank. Als ich nach einer Woche wieder im Büro meines eigentlichen Arbeitgebers, der Zeitarbeitsfirma, erschien, wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Auf dem Tisch ein Aufhebungsvertrag. Das Pharmaunternehmen hatte die Zusammenarbeit mit Sabine beendet, nachdem es bereits mehrere Beschwerden erhalten hatte. Sabine meinte, dass es meine Schuld sei und dass sie, wenn ich den Aufhebungsvertrag nicht unterschriebe, dafür sorgen würde, dass ich nirgendwo mehr einen Job finde. Ich unterschrieb und verließ das Unternehmen am nächsten Tag.

[16]WAS ZUR HÖLLE IST WASSER?– WIESO WIR IN TOXISCHEN ARBEITSKULTUREN SCHWIMMEN, OHNE ES ZU BEMERKEN

»Was ist Wasser?« – Mit dieser scheinbar einfachen Frage eröffnete der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace einst eine Abschlussrede auf einer Collegeveranstaltung.1 Die Geschichte, die er dazu erzählte, veranschaulicht auf brillante Weise die Problematik unserer Arbeitswelt. Sie handelt von zwei jungen Fischen, die den Weg eines älteren Exemplars ihrer Art kreuzen, das sie fröhlich mit »Guten Morgen! Wie ist das Wasser?« begrüßt. Die beiden jungen Fische überlegen eine Weile, bis schließlich einer von ihnen den anderen fragt: »Was zum Teufel ist Wasser?«

Diese kurze Erzählung wirft ein helles Licht auf unser allzu häufiges Unvermögen, die unmittelbaren Umstände und Bedingungen unserer Existenz wahrzunehmen und angemessen zu reagieren, insbesondere im Kontext unserer Arbeitsumgebungen.

Wie die jungen Fische in der Geschichte, die sich nicht bewusst sind, dass sie in Wasser schwimmen, nehmen wir oft die toxischen Aspekte unserer Arbeitsplätze als gegeben hin. Wir atmen die Luft [17]einer Kultur ein, die Überarbeitung glorifiziert, emotionalen Missbrauch toleriert und psychische Belastung als Preis des Erfolgs akzeptiert. Wir hinterfragen nicht, warum sie existieren oder welche Auswirkungen sie haben. Stattdessen passen wir uns an, akzeptieren das Unakzeptable und normalisieren das Abnormale.

Warum tun wir das? Vielleicht liegt es an der Macht der Gewohnheit, der Angst vor Veränderung oder dem trügerischen Glauben, dass Leiden irgendwie nobel oder notwendig für den Erfolg sei. Möglicherweise sind wir auch so sehr damit beschäftigt, in diesem toxischen Wasser zu schwimmen, dass wir keine Zeit oder Energie haben, innezuhalten und unsere Umgebung kritisch zu betrachten.

Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist zweifach: Erstens müssen wir lernen, das »Wasser« zu sehen – die Kultur, die Praktiken und die unausgesprochenen Regeln, die unsere Arbeitsumgebungen definieren. Zweitens müssen wir den Mut finden, diese Bedingungen in Frage zu stellen und zu verändern, selbst wenn sie tief verwurzelt und weit verbreitet sind.

Dies erfordert einen Paradigmenwechsel in unserem Denken über Arbeit und Erfolg. Es verlangt von uns, dass wir unsere Werte überdenken und uns fragen: Ist ein Arbeitsumfeld, das unsere psychische und physische Gesundheit untergräbt, wirklich der Preis, den wir für beruflichen Erfolg zahlen müssen? Können wir nicht produktiv und erfolgreich sein, ohne dabei unser Wohlbefinden zu opfern?

Die Wahrnehmung des »Wassers«, das uns umgibt, ist der erste Schritt zur Veränderung. Es geht darum, die mehr oder weniger subtilen Formen der Toxizität in unseren Arbeitsumgebungen zu identifizieren.

Indem wir uns dieser Realitäten bewusst werden, eröffnen wir uns die Möglichkeit zur Transformation. Wir können beginnen, Grenzen zu setzen, gesündere Arbeitspraktiken zu fordern und eine Kultur zu schaffen, die das Wohlbefinden der Mitarbeitenden ebenso wertschätzt wie ihre Produktivität.

[18]Letztendlich geht es darum, ein neues »Wasser« zu erschaffen – eine Arbeitsumgebung, die nährend statt toxisch ist, die uns unterstützt, statt uns auszulaugen, die unser Potenzial fördert, statt es zu unterdrücken. Es ist eine Herausforderung, die Mut, Ausdauer und kollektives Handeln erfordert. Aber es ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen, wenn wir in unserer Arbeitswelt nicht nur überleben, sondern wirklich gedeihen wollen.

WARUM DIESES BUCH?

In den Tiefen unserer Arbeitswelten lauert eine Realität, die wir allzu oft zu ignorieren versuchen – eine Realität, die unsere Seelen zerfrisst und unsere Träume vergiftet. Es ist die Realität toxischen Verhaltens, ein Thema, das viele von uns lieber meiden würden. Doch genau hier, in diesem unbequemen Raum zwischen Verleugnung und Erkenntnis, beginnt der Weg zur Veränderung.

Ich verstehe die mögliche Zurückhaltung, dieses Buch zur Hand zu nehmen. Es ist, als würde man einen Spiegel vorgehalten bekommen, der nicht nur unser Arbeitsumfeld, sondern auch unsere eigenen Ängste und Zweifel reflektiert. Es ist einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken, die Augen zu verschließen vor dem, was uns täglich belastet. Wir klammern uns an die Hoffnung, dass sich die Dinge von selbst bessern werden, während uns tief in unserem Inneren die Wahrheit zugeflüstert wird: Es wird sich nichts ändern, wenn wir nicht den Mut finden, Veränderung einzufordern.

Dieses Buch ist kein Karriereratgeber. Es verspricht keine schnellen Lösungen oder einfachen Wege zum Erfolg. Stattdessen lädt es dich ein zu einer Reise – einer Reise in die Abgründe toxischer Arbeitskulturen und wieder hinaus, hin zu einem Ort der Ermächtigung und des authentischen beruflichen Wachstums.

[19]In einer Welt, die von oberflächlichen Erfolgsrezepten überschwemmt wird, wagen wir es, tiefer zu graben. Denn was nützen all die Tipps zur Produktivitätssteigerung, wenn unser Arbeitsumfeld uns systematisch untergräbt? Welchen Wert hat das höchste Gehalt, wenn es mit dem Preis unserer seelischen Gesundheit erkauft wird?

Dieses Buch ist ein Weckruf. Es ist eine Einladung, die Augen zu öffnen für die oft unausgesprochenen Wahrheiten, die unsere Arbeitswelt prägen. Es ist ein Kompass, der uns durch die Untiefen toxischer Verhaltensweisen navigiert und uns die Werkzeuge an die Hand gibt, um nicht nur zu überleben, sondern auch zu gedeihen.

Indem wir die Mechanismen toxischer Arbeitsumgebungen offenlegen, schaffen wir Raum für echte Veränderung. Wir brechen das Schweigen, das so oft Unterdrückung und Missbrauch schützt. Wir geben denjenigen eine Stimme, die zu lange stumm geblieben sind.

Ein anti-toxisches Mindset ist mehr als eine berufliche Fähigkeit – es ist eine Überlebensstrategie in der modernen Arbeitswelt. Es ist der Schlüssel zu einem erfüllten Berufsleben, in dem wir nicht nur funktionieren, sondern wachsen und uns entfalten.

Dieses Buch ist für alle, die müde sind vom ständigen Kampf gegen unsichtbare Widerstände. Es ist für diejenigen, die spüren, dass etwas nicht stimmt, aber nicht die Worte finden, es zu benennen. Es ist für die Mutigen, die bereit sind, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen, um eine bessere Zukunft zu gestalten.

Gemeinsam werden wir die Dunkelheit toxischer Arbeitskulturen durchdringen und den Weg zu einer Arbeitswelt ebnen, in der Respekt, Fairness und menschliche Würde nicht nur Schlagworte, sondern gelebte Realität sind.

Bist du bereit, diesen Weg zu gehen? Dann lass uns gemeinsam die Seiten umblättern und eine neue Ära der Arbeit einläuten.

[20]02 DIE TOXISCHE ARBEITSWELT

Bin ich ein Opfer? Oder bin ich gefangen in einer Opferrolle?

[21]VOM RICHTIGEN UMGANG MIT TOXISCHEM VERHALTEN ALS SCHLÜSSEL ZUM BERUFLICHEN ERFOLG

In den unzähligen Lehr- und Karrierebüchern über Führungsstärke begegnet man oft einem einseitigen Narrativ: der unermüdlichen Arbeit an sich selbst. Doch in diesem Chor der Selbstoptimierung fehlt eine entscheidende Stimme – die Fähigkeit, mit toxischem Verhalten umzugehen. Diese Erkenntnis ist wie ein verborgener Schlüssel, der den Unterschied zwischen Erfolg und außergewöhnlichem Erfolg ausmacht. Denn früher oder später wird man am Arbeitsplatz mit der dunklen Seite menschlicher Interaktionen konfrontiert. Es ist eine unausgesprochene Wahrheit, die in den glänzenden Hallen des Erfolgs oft übersehen wird.

Die Fähigkeit, toxisches Verhalten zu erkennen, ihm zu begegnen und es zu neutralisieren, ist nicht nur eine Überlebensstrategie – sie ist eine Kunst. Eine Kunst, die in den traditionellen Erfolgsratgebern selten gelehrt wird, deren Beherrschung jedoch den Weg zu wahrer Größe ebnet.

[22]Stell dir vor, du betrittst einen Raum voller Möglichkeiten, aber der Boden ist mit unsichtbaren Stolperdrähten übersät. Die meisten Ratgeber lehren dich, schneller und geschickter zu laufen. Aber die wahren Meister ihres Fachs? Sie lernen, die Drähte zu sehen, sie zu entschärfen, und manchmal sogar, sie in Sprungbretter zu verwandeln.

Diese Fähigkeit ist nicht angeboren. Sie ist das Ergebnis von Erfahrung, Reflexion und oft schmerzhaften Lernprozessen. Sie erfordert eine tiefe emotionale Intelligenz, eine fast intuitive Wahrnehmung zwischenmenschlicher Dynamiken und den Mut, unbequeme Wahrheiten anzusprechen.

Mein eigener Werdegang spiegelt die transformative Kraft dieser oft übersehenen Fähigkeit wider. Von einem qualifizierenden Hauptschulabschluss ausgehend werde ich heute von Technologiegiganten wie Adobe und Google aktiv umworben. Renommierte Zeitschriften zeichnen das Bild eines resilienten, durchsetzungsstarken, dabei empathischen und zutiefst menschlichen Charakters.2 Was sich jedoch hinter den Kulissen abspielt, ist weit vielschichtiger: Es ist die Kunst, Grenzen zu ziehen, toxische Dynamiken frühzeitig zu erkennen und darauf mit Bedacht zu reagieren. In Situationen, in denen mein Name aus Präsentationen verschwand, subtile Manipulationsversuche mich einzuschränken drohten oder meine Leistungen plötzlich als problematisch galten, erwies sich diese Fähigkeit als unschätzbar wertvoll. Sie wurde zum Kompass, der mich durch die Untiefen der Unternehmenspolitik navigieren ließ und Wege eröffnete, die vielen verschlossen bleiben.

Man mag durch harte Arbeit und Talent beruflichen Erfolg erzielen, aber wenn man im Beruf nicht nur überleben, sondern gedeihen will, muss man lernen, in den toxischen Strömungen zu navigieren, die in den Höhen der Macht oft besonders stark sind.

Diese Erkenntnis ist nicht nur für deinen individuellen Erfolg von Bedeutung. Sie hat weitreichende Implikationen für unsere gesamte Arbeitskultur. Denn wenn wir anerkennen, dass der Um[23]gang mit Toxizität eine Schlüsselkompetenz ist, beginnen wir, unsere Organisationen und Führungskräfte anders zu bewerten und auszubilden.

Es geht nicht darum, Toxizität zu akzeptieren oder sich ihr zu unterwerfen. Im Gegenteil: Es geht darum, sie zu erkennen, ihr die Stirn zu bieten und Umgebungen zu schaffen, in denen sie keinen Nährboden findet. Dies erfordert Mut, Integrität und oft die Bereitschaft, kurzfristige persönliche Vorteile für langfristiges kollektives Wohlergehen zu opfern.

In einer Welt, die zunehmend komplex und vernetzt ist, wird diese Fähigkeit immer wichtiger. Denn toxisches Verhalten ist wie ein Virus – es verbreitet sich schnell und kann ganze Systeme lahmlegen. Wer versteht, diesem Virus zu begegnen, wird nicht nur persönlich erfolgreich sein, sondern auch zu einem Heiler unserer Arbeitskultur, zu einem Architekten gesünderer, produktiverer und letztlich menschlicherer Organisationen.

DIE BIENENSTICH-BEGEGNUNG:MEINE MUTTER UND DAS LEBEN DER VERGESSENEN GASTARBEITER

Die Frage »Was arbeiten deine Eltern?«, die mir in meiner Kindheit oft gestellt wurde, besonders von den Eltern meiner Mitschüler und Mitschülerinnen, war mehr als bloße Neugier. Sie diente auch der sozialen Einordnung innerhalb unserer Gemeinschaft und spiegelte die tief verwurzelte Neigung wider, den Wert eines Menschen hauptsächlich über die Höhe seines ökonomischen Beitrags zu definieren – eines Beitrags, den meine alleinerziehende Mutter nur in geringem Maße leisten konnte, was wohl der Grund für mein ständiges Unbehagen bei dieser Frage war.

[24]

Meine Mutter Meral Çelik (vorne rechts) auf einem Foto in der türkischsprachigen Mitarbeiter-Zeitung von Müller-Brot, auf dem man sie bei der Arbeit in der Feinbäckerei sieht

Im Laufe der 1960er Jahre entwickelte sich Neufahrn, ein Ort im Landkreis Freising, zu einem Zentrum für Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus der Türkei. Angezogen von der Aussicht auf Arbeit, [25]ließen sich viele in der Gegend nieder. Sie arbeiteten in großen Fabriken und lebten in einer der zahlreichen überteuerten kleinen Wohnungen. Unternehmen wie AVON Cosmetics und Müller-Brot prägten, zusammen mit vielen Supermarktketten, die ihre Lagerhallen dort errichteten, die wirtschaftliche Landschaft von Neufahrn. Diese Zeit markierte den Beginn einer tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Veränderung in der Region, die nicht nur die lokale Wirtschaft, sondern auch das soziale Gefüge nachhaltig beeinflusste.

Im Jahr 1980 zog meine Mutter, auf Empfehlung meiner Großtante, nach Neufahrn, um dort bei Müller-Brot in der Produktion zu arbeiten. Dies war der Anfang einer bemerkenswerten beruflichen Laufbahn, die sie mehr als ein Vierteljahrhundert ihres Lebens in der Produktionsbranche verbringen lassen sollte.

Für viele Menschen türkischer, kurdischer, italienischer und rumänischer Herkunft in Neufahrn war der Broterwerb untrennbar mit Fließbandarbeit verbunden. Diese Art der Arbeit zog sich durch ganze Familiengenerationen hindurch – ein Phänomen, das auch meine Familie prägte. Zu den Mitgliedern meiner Familie, die am Fließband arbeiteten, gehörten meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter und meine Tante. Und sogar ich erhielt einst ein Ausbildungsangebot von Müller-Brot, das ich jedoch ablehnte. Meine Entscheidung wurde maßgeblich von meinen Kindheitserinnerungen beeinflusst, von den Erinnerungen an eine Mutter, die ihre Tränen oft verbarg. Diese Tränen waren stumme Zeugen der Belastungen und der toxischen Verhaltensweisen, denen sie über Jahrzehnte hinweg ausgesetzt war.

Im Folgenden schildere ich euch einige der Erinnerungen meiner Mutter Meral an ihr Arbeitsleben, die sie mir in einem persönlichen Gespräch preisgab:

»Über 25 Jahre hinweg war ich Teil der großen Familie bei Müller-Brot, und jene ersten 15 Jahre am Fließband bewahre ich wie einen Schatz in meinem Herzen, Emre. Es war mehr als nur Arbeit; [26]es war das Gefühl, wahrhaftig gesehen und geschätzt zu werden. An einem Tag, der mir ewig in lebhafter Erinnerung bleiben wird, nachdem ich dich in den Kindergarten gebracht hatte, ging ich an das Fließband. Es war die Zeit, den Bienenstich für die Faschingszeit vorzubereiten, und der Teig benötigte immer etwas mehr Zeit. Als ich kurz den Wassereimer auffüllen ging und zurückkam, standen alle Abteilungsleiter an meinem Produktionsband und vor mir der Vorstand – Herr Müller und sein Sohn, den wir alle nur ›Junior‹ nannten. Ich putzte mir die letzten Kuchenreste von meiner Kleidung und sah in die gestriegelten Gesichter und auf die feinen Anzüge. Herr Müller lächelte mich an und sagte: ›Frau Çelik, schön, dass Sie da sind. Haben Sie einen kurzen Moment Zeit?‹ Ich war sichtlich irritiert und antwortete mit zittriger Stimme: ›Ja.‹

Herr Müller erhob seine Stimme, klar und bestimmt, und durchbrach die Alltagsgeräusche der Fabrik: ›Seht, wie Meral das Band pflegt! Ihr Band ist immer sauber, und ihre Sorgfalt beflügelt unsere Produktion. Sie gehört zu unseren Spitzenbäckerinnen. Wir können von ihrem Fleiß sehr viel lernen.‹ Nach einem Moment der Stille begannen die Bereichsleiter aus den unterschiedlichsten Bereichen zu klatschen.

Ich stand da, völlig schockiert. Plötzlich scherzte der Bereichsleiter mit der blonden Schnittfrisur: ›Was ist Ihr Geheimrezept?‹ Gelächter erfüllte den Raum, und ich, immer noch verwirrt, antwortete: ›Ich tue nichts Besonderes hinein.‹ Das Lachen der Männer um mich herum war freundlich, doch ihre Neugier war geweckt. Sie stellten Fragen zum Ablauf, zu meinen Handgriffen und sogar zu meinen Pausenzeiten. Besonders interessiert waren sie an der Reinigung meiner Maschinen. Dank meines Nebenjobs bei der Putzfirma wusste ich genau, wie man das Band so reinigt, dass keine Teigreste übrig bleiben.

So verlief der Tag, gefüllt mit bedeutungsvollen Gesprächen und Interaktionen. Doch schließlich musste ich sie alle vom Band wegschicken, um den Bienenstich fertigzustellen. Als wäre dieser [27]Moment der Anerkennung nicht schon bewegend genug gewesen, trat dann der ›Junior‹ in seinem fein gestriegelten Anzug an mich heran, legte seinen Arm um mich und sagte: ›Frau Çelik, ich bin froh, Sie bei uns zu haben.‹ Sichtlich überrascht stand ich da, und war vor allem darauf bedacht, seinen Anzug nicht mit meiner Arbeitskleidung zu beschmutzen.

Seine Worte, die mir versicherten, wie sehr er meine Arbeit schätzte, klingen noch heute in meinen Ohren nach, Emre. Es waren genau diese Gesten der Anerkennung, die meine Zeit bei Müller-Brot zu einer Reihe von unvergesslichen Erlebnissen machte. Diese Momente des persönlichen Austauschs und der Wertschätzung durch die Unternehmensführung gaben mir das lang ersehnte Gefühl, ein geschätzter Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein – ein Gefühl, das über die Jahre hinweg Kraft und Trost spendete, auch wenn die Arbeitsbedingungen zunehmend schwieriger wurden.

Nach zwei Jahrzehnten, die von vielen Turbulenzen geprägt waren, erlebte Müller-Brot einen Inhaberwechsel. Herr Ostendorf übernahm die Firma, und mit ihm zogen dunkle Wolken auf, die bis heute ihre Schatten über mein Leben werfen. Der neue Vorstand brachte eine Schichtleiterin mit, die keiner von uns kannte – Henrike. Schon in den ersten Wochen waren ihre Auftritte von abfälligen Bemerkungen über mein Aussehen, meine Haare und mein gebrochenes Deutsch geprägt. Dabei sprach die Hälfte des Fließbandes kein Deutsch.

Eines Tages lud sie mich zu einem Gespräch ein und beschuldigte mich des Betrugs, weil ich den Bienenstich in 15 Minuten fertigte, während andere dafür 30 Minuten benötigten. Ich bot ihr an, selbst an das Band zu kommen und sich meine Arbeitsweise anzuschauen, was sie jedoch abwertend ablehnte. Sie meinte, dass sie wisse, wenn etwas nicht in Ordnung sei. Innerhalb einer Woche änderte sie meine Schichtzeiten fünfmal. Ich erklärte ihr, dass ich nur zwischen 8 und 16 Uhr arbeiten könne, weil ich dich und deine Schwester zum [28]Kindergarten bringen und wieder abholen musste. Ein Gespräch mit ihr war unmöglich; sie schien gleichgültig und antwortete oft nur mit Geschrei. So kam es, dass du und deine Schwester oft von den Nachbarn abgeholt werden musstet – eine Tatsache, die mir erst durch dieses Interview so richtig bewusst wird.

Glaub mir, Emre, dein Vorgesetzter hat mehr Einfluss auf deine mentale Gesundheit als der beste Arzt. In meinen Adern fließt Blut, meine Knochen sind von Haut umhüllt, ich besitze ein Herz und fühle tief. Warum wird nicht erkannt, wer ich wirklich bin – ein Mensch mit Gefühlen und Leben?«

»All die Leistungen, die ich in den 15 Jahren davor für dieses Unternehmen erbracht hatte, wurden innerhalb kürzester Zeit durch eine Person zerstört«, teilte sie mir seufzend mit. »Die Situation eskalierte schließlich so weit, dass viele Kolleginnen und Kollegen nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollten, da Henrike ihnen verraten hatte, dass ich mehr als die anderen verdienen würde. Ich habe in den 25 Jahren nie eine Gehaltserhöhung gefordert, und jede Erhöhung kam durch die ehemaligen Vorstände, ein Umstand, der diese Psychopathin gestört hat! Meine Kollegen und Kolleginnen beschuldigten mich, mich bei den Vorgesetzten einzuschleimen, während Henrike mein Leben systematisch zerstörte.

Man sagte mir, ich solle mich nicht so anstellen und froh sein, hier arbeiten zu dürfen. Als ich mich beim Betriebsrat beschwerte, erntete ich nur Ablehnung. An Herrn Müller konnte ich mich nicht mehr wenden, da er Gerüchten zufolge ein Hausverbot von dem neuen Gesellschafter erhalten hatte.«

»So vergingen Jahre voller Mobbing, Diskriminierung und menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen, unter deren Folgen ich bis heute leide«, erzählte sie mir.

»Du erinnerst dich an die Situation mit deinem Vater, Emre?«, fuhr sie fort, während ich nur seufzen konnte, denn es war eine Erinnerung, die ich tief in mir begraben hatte.

[29]»Mit einem Ultimatum stand sie vor mir: Entweder ich begleite euch zur Beerdigung deines Vaters in die Türkei und verliere meinen Job, oder ich bleibe und wahre meine berufliche Stellung. Wie hätte ich diese Zerreißprobe überstehen sollen? Schlussendlich sah ich mich gezwungen, euch allein auf die Reise zu schicken – eine Entscheidung, die mich bis ins Mark erschütterte und deren Nachhall von Reue ich bis heute nicht abschütteln kann.« Mit schuldbeladenem Blick offenbarte sie mir diese Worte, ihre Stimme brach unter dem Gewicht des ungelebten Abschieds.

»Ich bin die schnellste und beste Fabrikarbeiterin gewesen«, seufzte sie mit einer stolzen und zugleich traurigen Stimme. Während sie sprach, bahnten sich Tränen ihren Weg über ihre Wangen – stumme Boten eines tiefen inneren Schmerzes, den keine Worte zu lindern vermögen. Sie wischte sie beiseite, mit Händen, die von jahrzehntelanger unermüdlicher Arbeit am Fließband gezeichnet sind, als wollte sie damit auch die Last der Jahre fortwischen.

Im Jahr 2012 brachte ein gravierender Hygieneskandal die Produktion bei Müller-Brot zum Erliegen.3 Fortwährende ernsthafte Hygieneprobleme führten dazu, dass das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit einen Produktionsstopp verfügte. In den Backzutaten fanden sich Schaben, Motten und Käfer – ein deutliches Zeichen für die Missstände. Diese Unterbrechung der Produktion und der Verlust von Großkunden sowie Konsumenten zwangen das Unternehmen schließlich in die Insolvenz. Der Fall erregte weitreichend Aufsehen, und am 23. Januar 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Landshut Anklage gegen drei ehemalige Geschäftsführer wegen Betrugs in 238 Fällen. Ihnen wurde zudem vorgeworfen, Lebensmittel in den Verkehr gebracht zu haben, die nicht für den Verzehr geeignet waren.

Das Interview fand seinen Abschluss in einer stillen, tröstenden Umarmung, die mehr sagte, als Worte es könnten. Als wir beide unsere Tränen trockneten und uns in dieser Umarmung wieder[30]fanden, wurde deutlich, dass in der Zurückgezogenheit ihres bescheidenen Zuhauses, weit abseits der politischen und juristischen Arenen, die Geschichte von Müller-Brot nachhallte.

Als der Tag sich dem Ende zuneigte und ein neuer kurz bevorstand, waren meine Mutter und ich nicht nur Zeugen unserer persönlichen Geschichte, sondern auch Teil einer viel größeren Erzählung. Einer Erzählung, die uns lehrt, dass das Wohl der Menschen, die wir führen, in unseren Händen liegt. Eine bittere, doch notwendige Lektion in einer Arbeitswelt, die allzu oft vergisst, dass letztendlich die Menschen zählen.

2.340 WOCHEN:WENN TOXISCHE ARBEIT MEHR ALS DIE HÄLFTE DES LEBENS DOMINIERT

Unser Berufsleben nimmt einen beträchtlichen Teil unserer Lebenszeit ein – oft mehr, als wir mit unseren Liebsten verbringen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 80 Jahren, was ungefähr 4.160 Wochen entspricht, verbringen wir rund 2.340 Wochen mit Arbeit, wenn wir von einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren ausgehen. Das sind erstaunliche 56 % unserer erwachsenen Lebenszeit.

Diese 2.340 Wochen bieten jedoch nicht nur Chancen für berufliche Entwicklung und Erfüllung, sondern auch ein erschreckendes Potenzial für negative Erfahrungen. Diskriminierung, Mobbing, Bossing (Mobbing durch Vorgesetzte), sexuelle Belästigung, Manipulation und Vergeltung sind nur einige der toxischen Verhaltensweisen, denen Arbeitnehmende ausgesetzt sein können. Diese Verhaltensweisen sind nicht nur unangenehm – sie sind gesundheitsschädlich und können lebensbedrohliche Folgen haben.

[31]Eine Studie des McKinsey Health Institute (MHI) mit dem Titel »Reframing employee health: Moving beyond burnout to holistic health« aus dem Jahr 2023 unterstreicht die alarmierenden Auswirkungen toxischer Arbeitsumgebungen.4 Die Untersuchung, die über 30.000 Beschäftigte aus 30 Ländern einschließlich Deutschland umfasste, zeigt erschreckende Ergebnisse:

Nur die Hälfte (51 %) der Befragten fühlt sich wirklich gesund.Ein Drittel aller Beschäftigten in Deutschland (37 %) klagt über körperliche und geistige Erschöpfung.Toxische Arbeitsumgebungen werden als einer der Hauptgründe für Burnout identifiziert.

Doch die Folgen toxischer Arbeitsumgebungen reichen weit über Burnout hinaus. Eine in der BMJ, einer Londoner medizinischen Fachzeitschrift, veröffentlichte prospektive Kohortenstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen arbeitsbezogener sexueller Belästigung und dem Risiko von Suizid und Suizidversuchen.5 Die Ergebnisse sind erschütternd: Personen, die am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung erlebten, hatten ein 2,82-mal höheres Risiko für Suizid und ein 1,59-mal höheres Risiko für Suizidversuche. Diese Zahlen verdeutlichen auf brutale Weise, dass toxische Arbeitsumgebungen nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen, sondern tatsächlich Leben kosten können.

Während diese Studie die extremsten Folgen aufzeigt, belegen andere Untersuchungen, dass selbst subtilere Formen der Diskriminierung tiefgreifende gesundheitliche Auswirkungen haben können. Ein Beispiel hierfür sind die unzähligen Diskriminierungsformen, denen Menschen mit dunkler Hautfarbe täglich ausgesetzt sind. Rassistische Beleidigungen und ständige Diskriminierung verursachen nachweislich psychische und physische Schäden. Eine von Soohyun Nam geleitete Studie der Yale University hat diese Auswirkungen direkt gemessen.6 Obwohl die Studie klein angelegt war, trägt sie zu einem besseren Verständnis darüber bei, wie die tägliche Belastung [32]durch solche negativen Begegnungen der Gesundheit schadet. Zudem hat sie das Potenzial, das Bewusstsein für diese Probleme in der allgemeinen Bevölkerung zu schärfen.

An der Studie nahmen zwölf afroamerikanische Menschen im Alter von 30 bis 55 Jahren teil. Mittels einer speziellen Smartphone-App wurden über eine Woche hinweg mehrmals täglich ihre Erfahrungen mit Mikroaggressionen und Diskriminierung sowie ihre Stimmung erfasst. Gleichzeitig wurden Speichelproben der Teilnehmenden auf Stressbiomarker wie Cortisol und Alpha-Amylase analysiert.

Die Ergebnisse waren eindeutig: Nach rassistischen Vorfällen verdoppelten sich die Cortisolwerte im Speichel der Teilnehmenden. Selbst subtilere Mikroaggressionen führten innerhalb weniger Stunden zu einem messbaren Cortisolanstieg. Die negative Stimmung, die rassistische Begegnungen bei ihnen auslösten, ging mit erhöhten Alpha-Amylase-Werten einher.

Neben Rassismus und sexueller Belästigung berichten Millionen Menschen von Mobbing oder Bossing am Arbeitsplatz.7 Studien zeigen, dass sowohl die Opfer als auch die Beobachter von Mobbing stärker unter allgemeinem Stress und spezifischen psychischen Stressreaktionen leiden als Befragte an Arbeitsplätzen ohne Mobbing.8 Die Opfer äußerten auch häufiger Gefühle von geringem Selbstbewusstsein. Besonders belastend sind ungerechte oder beleidigende Beurteilungen der Arbeit, die Einschränkung der Möglichkeit, die eigene Meinung zu sagen, und Angriffe auf das Privatleben. Besorgniserregend ist auch, dass Mobbingopfer häufiger zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln greifen.