Unbequem glücklich - Sonora Wolf - E-Book

Unbequem glücklich E-Book

Sonora Wolf

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Beschreibung

Nach unzähligen Schritten auf den verschiedenen Wanderwegen der Welt keimt in Sonora Wolf und ihrem Freund die Idee, den Pacific Crest Trail zu wandern: 4'266 Kilometer durch die Wildnis Nordamerikas. In Gesellschaft wilder Tiere wandern sie durch die grandiose Arena der Natur, die dem Wort Demut einen neuen Sinn verleiht. Die Wüste, hohe Pässe und wilde Flüsse stellen sie vor immer neue Herausforderungen. Die Witterung - vor allem die gnadenlose Sonne - prägt den Alltag. Die Wasserversorgung wird zu einem Abenteuer für sich. Der Hunger ist ein treuer Begleiter. Sie treffen auf interessante, verblüffende, kuriose und verstörende Menschen und werden überrascht von der Kultur und den Gepflogenheiten, die der Mikrokosmos PCT bereithält. Die Menschen und ihre Geschichten eröffnen ihnen neue Horizonte und weichen Vorstellungen auf. Die Wanderung wird zu einem lebensprägenden Erlebnis, welches den Alltag danach zu einer Herausforderung macht und die Lust nach Freiheit erst richtig weckt.

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Seitenzahl: 478

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Für Patrick, meine Liebe, mein Weg

und für Bruno, weil dieses Buch fertig wurde.

Ein riesiges Dankeschön den lieben Menschen auf der

Suche nach Unstimmigkeiten.

Inhaltsverzeichnis

Wieso denn bloss?

Der letzte Schliff

Lampenfieber

CAMPO TO WARNER SPRINGS 0 – 110

Aller Anfang ist schwer

Die Schlangen und wir

WARNER SPRINGS TO IDYLLWILD 110 – 180

Die Sache mit dem Wasser

IDYLLWILD TO BIG BEAR CITY 180 – 276

Märchenhafte Berge und metallene Freunde

BIG BAER CITY TO CANJUN JUNCTION 276 – 342

It rains in southern California

Schäumende heisse Quellen

Verheissungsvolle Tankstellen und böse Omen

CANJUN JUNCTION TO AGUA DULCE 342 – 455

Weltuntergang oder Atomkrieg?

Die tiefste Schlafstätte überhaupt

Massenansturm auf dem Hausberg von Los Angeles

Nach Level 4 kommt der Himmel

AGUA DULCE TO HIKERTOWN 455 – 518

Von Hippies und Filmliebhabern

HIKERTOWN TO TEHACHAPI 518 – 558

Sturm in der Wüste

TEHACHAPI TO KENNEDY MEADOWS 558 – 697

Die Wüste und ihr grosses Finale

Das Ende der Trockenheit

Ein Meilenstein und wir können es schaffen

KENNEDY MEADOWS TO MAMMOTH LAKES 697 – 906

Auf der Achterbahn der Hormone

Hunger in der Wildnis

Pässe wie Perlen

Von Mücken und grösseren Tieren

Regen, Schnee und Füsse wie Wasserleichen

Ein Fluss breit wie der Nil

Von Hunger, Monstertagen und dicken Köpfen

MAMMOTH LAKES TO SOUTH LAKE 906 – 1’069

Himmeldonnerwetter

Auf kleiner Flamme gegart

Streit und Versöhnung

Endspurt ins Eldorado der Banditen und Glückspieler

SOUTH LAKE TAHOE TO SIERRA CITY 1‘069 – 1‘191

Von Dieben und eiskalten Nächten

Petrus sei mit uns

SIERRA CITY TO CHESTER 1‘191 – 1‘335

Auf dem Boden

Nass wie ein Hund

Der Anfang vom Ende

CHESTER TO MOUNT SHASTA 1‘335 – 1‘507

Geht es noch heisser?

Ich hasse diese Büsche

Karussell im Kopf

MOUNT SHASTA TO SEIAD VALLEY 1‘507 – 1’662

Alles hat ein Ende nur Kalifornien hat keines

Bärenland

Zur Strafe gibt es Seelenqualen

SEIAD VALLEY TO ASHLAND OR 1’662 – 1’721

Wunderbares Oregon

ASHLAND TO SISTERS 1‘721 – 2‘002

Und wo bleiben die Quellen?

Wanderbekanntschaften

Der tiefste See im Märchenland

Keine Panik vor den Mückenmonstern

Auf dem Mond

SISTERS TO CASCADE LOCKS 2‘002 – 2‘150

Traum oder Wirklichkeit?

Vom Herbst geküsst

Ein Leben der anderen Art

Und da ging er

CASCADE LOCKS TO SNOQUALMIE PASS WA 2’150 – 2’396

Keine Macht den Verdauungsorganen

Dass es das noch gibt

Wo seid ihr bloss, ihr Geissen?

Waldhüttenbekanntschaften

SNOQUALMIE PASS TO THE BORDER 2'396 – 2‘655

Was tun mit den Gedanken

Die Natur und ihre Superlative

Regen vertreibt die Melancholie

Lang ersehnt und doch verpönt

Und was kommt danach?

GLOSSAR

FAKTEN

PACKLISTE

SPEISEKARTE

Wieso denn bloss?

Es begann mit einem Artikel in einer Zeitschrift. Thema war der Appalachian Trail. Daraus entstand eine Idee, diese wurde zu einem Plan und schliesslich zu einer fixen Obsession.

Schon lange trieben wir uns in den Bergen herum, kletterten, machten Hochtouren, genossen es, Zeit in der Natur zu verbringen. Ich ging immer mal wieder wandern, machte besonders mit meiner Schwester auch längere Trekkingtouren.

Kurz nachdem ich Patrick kennengelernt hatte, reisten wir im zarten Alter von neunzehn Jahren zusammen nach Nepal und sammelten erste Erfahrungen auf dem Annapurna Circle. Die Natur, die Leute, ja das ganze Land, hat uns damals tief beeindruckt.

Tageswanderungen fand Patrick hingegen schon immer langweilig. Nur selten konnte ich ihn zu einer Wanderung motivieren, er empfand einen einzelnen Wandertag stets nur als Besuch in der Natur, er fühlte nichts dabei, lebte nicht darin.

Als wir also auf diesen Artikel stiessen, waren wir sofort fasziniert. Die Gegend, die Strecke, die Landschaften, das ganze Drumherum interessierte uns. Zuerst dachten wir in kleinen Massstäben und stellten uns vor, unsere Ferien auf dem Trail zu verbringen und eine Teilstrecke zu wandern.

Immer wieder stiessen wir jedoch auf die Beschreibung des Trails als den grünen Tunnel. Tatsächlich wandert man auf dem Appalachian Trail grösstenteils im Wald, Ausblicke sind eine Rarität. Dies liess uns etwas stutzen.

Natürlich dauerte es nicht lange und das Internet spuckte auch erste Ergebnisse über den Pacific Crest Trail aus. Es war vom ersten Augenblick an klar, dass die Begebenheiten uns dort viel mehr entsprachen, doch schüchterten uns die schwierige Versorgungslage und die hohen Anforderungen an die Logistik ein. Wir sahen uns nicht wirklich, Versorgungspakete an die verschiedenen Poststationen zu versenden und jeden Zentimeter des Trails voraus zu planen.

Doch je länger uns der Gedanke, die Idee, begleitete, desto mehr nahm es Formen an, Hindernisse schienen überwindbar.

Schliesslich merkten wir, dass wir uns nicht mit einem Teilstück zufriedengeben wollten. Wennschon, dennschon, dachten wir uns. Somit würde jedoch auch der Jahresurlaub für unser Vorhaben nicht reichen. Ein Glück für mich, dass ich bei meinem Arbeitgeber einen Stein im Brett hatte, noch heute höre ich seine Entgegnung im Ohr: „Die Work-Life-Balance nehmen wir sehr ernst“ – und die Sache war geritzt. Da kamen mir die vielen Überstunden gerade richtig. Bei Patrick fielen unsere Wanderpläne genau auf das Ende seines Studiums, so genau, dass er seine Masterarbeit auf dem Weg zum Flughafen in den Briefkasten warf.

Als wir uns näher mit den Gegebenheiten beschäftigten und den Marsch durch die Wüste bedachten, bekamen wir es mit der Angst zu tun. Wir und Wüste, geht denn das? Wir gedachten ernsthaft, die Wüste auszulassen und erst in Kennedy Meadows zu beginnen. Schon allein beim Gedanken an all die Schlangen, die dort auf uns lauerten, wurde es mir zu Hause auf dem gemütlichen Sofa angst und bange. Nach einigem hin und her fällten wir – zum Glück - auch da den Entschluss: Wennschon, dennschon!

Zu meinem grossen Glück bin ich mit einer Recherchiermaschine liiert. Bezüglich Ausrüstung musste ich nur zwischen den verschiedenen Modellen, die mir allesamt mit allen Vor- und Nachteilen präsentiert wurden, auswählen. Bald schon setzten wir auf Leichtgewicht und es galt nur noch zu entscheiden, wie leicht und komfortlos es denn sein sollte. Zugegebenermassen muss man sich davor hüten, einem Gewichtswahn zu verfallen. Der Verkäufer schaute mich nur noch verständnislos an, als ich eines seiner kleinsten Sackmesser in der Hand wog und es für zu schwer befand.

Ich bemühte mich, zwischendurch joggen zu gehen, um zumindest mental einen fitten Eindruck von mir zu haben. Ansonsten vertraute ich auf meine gute Grundkonstitution. Mehr Sorgen machten mir meine Füsse: Würde sich durch eine solche Mordsstrecke mein Hallux verschlimmern? Also besorgte ich mir Einlagen als Prophylaxe und schleppte auch Patrick trotz seiner perfekten Fussstellung zu meinem Orthopäden.

Wir versuchten uns und unsere Ausrüstung an einigen Weitwanderwegen in Europa. Wir wanderten Teile der Alta Via, der Alta Via II, wanderten durch den Parc national du Mercantour, kreuz und quer durch das Valle Grande und schliesslich als letzte grosse Hauptprobe die Grande Randonnée 20 in Korsika – ein echtes, wenn auch überfülltes Highlight.

Und dann war es soweit, es ging los! Nach rund zwei Jahren wurde aus einer losen Idee ein Plan, den wir in die Tat umsetzen durften.

Der letzte Schliff

Am 11.04.2013 landeten wir am Flughafen in San Diego. Das Hotel in Downtown San Diego erinnerte stark an ein Gefängnis oder ein Kloster. Die Zellen, wie auch die Fenster, waren winzig klein und die Dusche und das WC befanden sich im Gang. Die Mitbewohner waren eine eigenartige Mischung aus Randständigen und verblüffend gut gekleideten Menschen. Das Konzept dahinter erschloss sich uns nicht.

Die grosse Zahl von Obdachlosen in San Diego war auffallend. In einigen Lebensmittelläden konnten Randständige im Tausch gegen Marken Nahrungsmittel beziehen, und das Angebot wurde rege genutzt. Es waren Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Drogen- und Alkoholprobleme. Zeitweise empfanden wir die Situation fast schlimmer als damals in Nepal. Offensichtlich hat die Krise von 2008 in den USA viele Opfer gefordert. Wir liessen unsere Reisekleider und Schuhe an einer Ecke stehen und bereits nach kurzer Zeit, hatte sich jemand daran zu schaffen gemacht.

Ein alter Mann, der stets direkt vor unserem Hotel sass, ging mir besonders ans Herz. Alter und Obdachlosigkeit ist eine Kombination, die ich nur schlecht ertragen kann. In diesem Lebensabschnitt sollte sich niemand mehr dermassen abmühen müssen. Am Tag unserer Abreise steckte ich ihm wenigstens einige Dollars zu.

Wir besuchten den Hafen und auch den Zoo von San Diego. Die Eintrittspreise waren astronomisch. Erst im Nachhinein haben wir erfahren, dass es sich um einen der grössten Zoos der Welt handelt, was die hohen Preise erklärt.

Für uns war die Schlangenabteilung von besonderem Interesse und zum ersten Mal beschäftigte ich mich damit, auf welche Schlangen wir auf unserer Reise treffen konnten. Es wurde erläutert wie giftig sie sind und wie die Auswirkungen eines Bisses sind. Den Feind zu kennen machte mir keinen Mut - ich war entsetzt wie vielfältig und meist giftig insbesondere die kalifornische Schlangenwelt ist.

Gleich neben unserem Hotel lag der Bahnhof, was uns auf die Idee eines Ausflugs an die mexikanische Grenze brachte. Ich stellte mir eine romantische Zugfahrt entlang des Meeres in den Sonnenuntergang vor. Der Zug führte auch tatsächlich auf direktem Weg via Isidor nach Tijuana. Je näher wir jedoch der mexikanischen Grenze kamen, desto weniger Hellhäutige sassen im Zug, bis wir schliesslich die einzigen, und von weitem als naive Touristen erkennbar, waren. Es geisterten sämtliche Szenen aus Drogenfilmen, von welchen viele in Isidor spielen, durch unsere Köpfe. Wir meinten bei den Mitreisenden eine wachsende Nervosität zu spüren. Päckchen wechselten die Besitzer und Schweissperlen standen auf den Stirnen. Bei der nächsten Gelegenheit verliessen wir fluchtartig den Zug und kehrten nach San Diego zurück.

Es fehlten uns noch einige letzte Ausrüstungsgegenstände, weshalb wir den Bus in den nächsten R.E.I., den Traum aller Outdoor Narren, nahmen. Das Angebot war paradiesisch, doch hielt uns der Gedanke an das Gewicht davon ab, uns den Einkäufen völlig hemmungslos hinzugeben. Wer sollte dies bloss alles tragen?

Das Letzte was noch fehlte, war eine Kamera, welche laut Patrick in den Staaten deutlich günstiger zu haben sei. Wir fragten diverse Leute nach einem Elektronikgeschäft, doch bekamen wir nicht einen vernünftigen Hinweis. In der Not fuhren wir mit dem Bus bis an den Rand von San Diego. Das Geschäft war winzig und das Angebot mehr als dürftig. Das hübsche rote Gerät war von schlechter Qualität, das andere zu teuer und jenes hatte kein ausreichendes Zoom. Die Missstimmung war vorprogrammiert. Schlussendlich entschieden wir uns für ein Gerät, doch machte mich der Kauf nicht glücklich. Nie im Leben hätten wir erwartet, dass es dermassen schwierig sein würde, in einer Millionenstadt wie San Diego eine einfache Kamera zu erstehen. Vermutlich bestellt man Dergleichen online oder wir hatten das Offensichtliche übersehen.

Am Bahnhof erkundigten wir uns nach dem Weg nach Campo, wo sich der Ausgangspunkt des Pacific Crest Trails befindet. Ein Zug fuhr in einen Vorort von San Diego, von wo aus uns ein Bus in zwei Stunden nach Campo bringen würde. Die Abreise war für den nächsten Tag geplant. Die Nerven spannten sich merklich.

Lampenfieber

19.04 ¦ Leider verpassten wir den Zug um wenige Minuten und mit der nächsten Verbindung würden wir den Bus an die Grenze mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht mehr erwischen. Mental standen wir bereits auf dem Startfeld, ein weiterer Tag in San Diego kam überhaupt nicht in Frage.

Allenfalls würde es uns mit einem Taxi gerade noch gelingen, den Bus beizeiten zu erreichen, doch leider war uns das Glück mit dem Taxifahrer nicht hold. Seine Englischkenntnisse waren so kläglich, dass wir ihm kaum klarmachen konnten, wohin wir wollten und seine Kenntnisse von San Diego waren noch kläglicher. Er verstand weder, dass wir zu einem Bahnhof wollten, noch wusste er, wo wir uns befanden. Immer wieder fragte er einen Freund telefonisch um Rat. Wir hatten die Hoffnung, den Bus noch zu erreichen, bereits aufgegeben, als Patrick schliesslich den Wegweiser zum Bahnhof entdeckte und dem Taxifahrer so den Weg weisen konnte. Und wir hatten Glück, der Bus war noch nicht abgefahren, doch kostete uns die Fahrt ein kleines Vermögen.

Dort standen wir nun in unseren brandneuen Schuhen und waren ziemlich aufgeregt. Zum ersten Mal schulterten wir die vollständig gepackten Rucksäcke. Obwohl wir kleinlich auf jedes Gramm geachtet hatten, waren sie schwerer und voller als gedacht. Mich plagten zudem Zweifel bezüglich der Schuhe. Würden sie zu klein sein, wenn meine Füsse erstmals vor Hitze anschwellen würden? Oder doch eher zu gross und ich würde an den Fersen Blasen bekommen? Wir streiften ein letztes Mal mit dem Gefühl durch den kleinen Bahnhofladen, dass dies die letzte Gelegenheit war, etwas einzukaufen, bevor wir für immer in der Wildnis verschwinden würden.

Schliesslich traf auch der Zug ein, welchen wir also doch hätten nehmen und uns so die Taxifahrt hätten sparen können. Vom Bus fehlte noch immer jede Spur. Dem Zug entstiegen drei junge Männer, welche vermutlich dasselbe Ziel hatten. Der eine hatte einen riesigen Rucksack, schwere Stiefel und einen völlig abwesenden Gesichtsausdruck. Aufgrund seiner stattlichen Körpergrösse, den langen blonden Haaren und seinem Gebaren, meinten wir ihn als Deutschen zu erkennen. Er vermied jeglichen Kontakt und blieb für sich allein. Die beiden anderen Männer waren einige Jahre jünger als wir und machten einen sehr nervösen Eindruck. Vermutlich machten sie sich Sorgen um ihren Grasvorrat, dies würde zumindest ihre Frage erklären, ob wir im Bus die mexikanische Grenze kreuzen werden. Sie waren zudem so freundlich, uns darauf aufmerksam zu machen, dass es viele Klapperschlangen gibt. Eine seltsame Bemerkung, wobei dies wohl die Nervosität mit ihnen machte.

Endlich kam der Bus, und die Fahrt ging los. Sobald wir die letzten Häuser von San Diego und dessen Vororte hinter uns gelassen hatten, wurde das Land karg und trocken. Wir schauten einander an und fragten uns, ob wir wirklich da hindurch wandern wollten. Ich war mittlerweile unheimlich nervös, wusste nicht, was uns erwarten, und ob wir damit zurechtkommen würden und insbesondere die Schlangen liessen mir keine Ruhe.

Die beiden jungen Männer wollten noch eine Nacht in Campo verbringen und erst am nächsten Tag die Wanderung beginnen. Der vermeintliche Deutsche entpuppte sich als Amerikaner, doch blieb er sehr schweigsam. Er verliess den Bus an der gleichen Haltestelle.

Erstmals machten wir uns Gedanken bezüglich der Wasserversorgung, immerhin befanden wir uns ja jetzt in der Wüste. Bei der Haltestelle gab es einen kleinen Shop, wo sich ein entgeltlicher Wasserspender befand. Leider konnten wir diesen nicht benutzen, wenn wir nicht riskieren wollten, dass unsere Plastikflaschen platzten. Wir beschlossen, uns auf unsere Karte zu verlassen und die darauf eingezeichnete nächste Wasserstelle kurz nach dem Grenzpfahl anzusteuern.

Um zum Ausgangspunkt des PCTs, also dem Monument zu gelangen, mussten wir zuerst einige Meilen südlich zurück bis ganz an die Grenze gehen. Ich war mittlerweile sehr aufgeregt und auch unsicher, was den Weg betraf. Schliesslich müsste ich es als schlechtes Omen werten, wenn wir uns bereits auf den ersten Metern verlaufen würden. Es war ein seltsam unwirkliches Gefühl nun dem Start endlich so nahe zu sein, ein Moment, auf den wir nun schon seit Monaten gewartet und diesen herbeigesehnt hatten. Gleichzeitig kamen mir natürlich Zweifel, ob wir es schaffen konnten und ob alles gut gehen würde. Immerhin war es bereits eine Glutofenhitze und der Rucksack zog beträchtlich an den Schultern.

CAMPO TO WARNER SPRINGS 0 – 110

Aller Anfang ist schwer

Ich fühlte mich wie eine Anfängerin, wie ein Neuling. Dieses Gefühl verstärkte sich, als wir eine Gruppe von Männern trafen, welche bereits im vergangenen Jahr den PCT gewandert waren und auch beendet hatten. Wir erkundigten uns nach ihrem Ankunftsdatum und sie nannten den 16. Oktober, was mich einigermassen erschreckte, hatten wir doch den Rückflug am 11. Oktober gebucht. Sie befanden sich in einer emotionalen Hochstimmung und waren verblüfft, dass wir nicht dasselbe fühlten. Ihrer Meinung nach hätten wir laut jubeln und jauchzen müssen, wo uns doch ein lebensveränderndes Erlebnis bevorstand. Wie gewohnt, konnte ich unter Druck noch weniger Emotionen zeigen und schon gar nicht vorspielen. Tatsächlich war mir beim Monument auch nicht nach Jubel und Freudentänzen zumute. Ich konnte kaum fassen, dass es nun tatsächlich losging und sofern ich es begriff, beunruhigte es mich in erster Linie. Wir waren froh, als die Herren - sie planten nur eine Wanderung bis zur Kickoff Veranstaltung – losgingen, und wir einige Zeit alleine am Monument verweilen konnten.

Nun hatten wir Gelegenheit die Mauer, welche Mexiko von den Vereinigten Staaten trennt, genauer in Augenschein zu nehmen. Ich hatte sie mir deutlich höher und dicker, halt mehr wie die chinesische Mauer vorgestellt. Trotzdem war sie schon allein wegen ihrer Länge eine beeindruckende Erscheinung und sie hinterliess ein beklemmendes Gefühl, schliesslich war ihr Sinn, Menschen vom Grenzübertritt abzuhalten. Mir gingen Filmszenen durch den Kopf und ich stellte mir die vielen traurigen und schicksalhaften Geschehnisse vor, die rund um diese Mauer passierten. Jeeps patrouillierten regelmässig der Mauer entlang und es sollten noch während einigen hundert Meilen immer wieder Helikopter über uns kreisen und die Gegend nach illegalen Einwanderern absuchen, auch diese hinterliessen stets einen üblen Nachgeschmack. Dagegen stiessen wir auf keinen einzigen der riesigen Marihuana Ballen, welche gemäss einem Zeitungsartikel mit einem Katapult über den Grenzzaun in die Vereinigten Staaten geworfen wurden.

Nachdem wir diesen schicksalhaften Moment fotographisch festgehalten hatten, wanderten wir los, wobei das erste Ziel nur die auf der Karte beschriebene Wasserstelle war. Wir gelangten bald zu einigen Häusern, wo sich eine Gruppe Jugendlicher die Zeit mit Leibesertüchtigungen vertrieb. Es schien sich um ein Lager für straffällige Halbstarke zu handeln. Entsprechend gross waren unsere Hemmungen, dort auf der Suche nach Wasser einzudringen. Wir verloren uns in Diskussionen, wer sich an der Anmeldung nach dem Wasser erkundigen sollte. Schnell wurde uns klar, dass wir dies in Zukunft nicht mehr so handhaben konnten, andernfalls würden wir nicht weit kommen und schon nach den ersten Meilen jämmerlich in der Wüste verdursten.

Es war seltsam den Leuten unser Anliegen darzulegen, denn ich fühlte mich noch nicht dazu berechtigt, uns als PCT-Wanderer zu bezeichnen - noch hatten wir uns schliesslich nicht bewährt. Man gab uns breitwillig Auskunft und wir füllten die Wasserflaschen an einem einzelnen Wasserhahn mitten auf der Wiese.

Doch schon stellte sich die nächste Frage: Wieviel Wasser benötigten wir überhaupt? Bis zur nächsten sicheren Wasserquelle in Lake Morena waren es zwanzig Meilen zu wandern. Doch wieviel Zeit würden wir für zwanzig Meilen benötigen? Zudem war es bereits später Nachmittag, also würden wir übernachten müssen und ausserdem befanden wir uns doch mitten in der Wüste. Da wir sicher nicht zu wenig dabeihaben wollten, füllten wir je sechs Liter Wasser ab - leider ein massives zusätzliches Gewicht.

Nun ging es tatsächlich richtig los. Ich kann nur sagen, es fühlte sich sehr seltsam an. Allein das Wissen um die bevorstehenden Meilen und dass wir uns ganz am Anfang davon befanden, war ziemlich heftig und unwirklich.

Wir gingen bis es fast dunkel war und wir feststellen mussten, dass wir noch nicht geübt darin waren, einen Schlafplatz zu suchen. Wir wussten überhaupt nicht, auf was wir am meisten achten sollten. Könnte es sich bei den Löchern im Boden um Spinnen-, Skorpion-, Schlangen- oder Ameisenwohnungen handeln? Was gab es sonst noch zu beachten? Schliesslich zwang uns der Einbruch der Dunkelheit dazu, uns für einen Schlafplatz zu entscheiden. Er war einigermassen flach, nahe am Weg und nicht direkt auf einem Loch. Nach einem kurzen Nachtessen schliefen wir schnell ein - die erste Nacht auf dem PCT.

Die Schlangen und wir

20.04 ¦ Patrick lief voraus, hinunter zum Hauser Creek, als uns ein lautes Rasseln zusammenfahren liess. Wir hatten noch nie eine Klapperschlange in freier Wildbahn gesehen oder gehört, doch der Sinn dieses Geräuschs war sofort klar: „Bleib mir vom Leib!“ Und tatsächlich zog sich eine riesige Klapperschlange, fast so dick wie mein Oberschenkel, in eine Felsspalte zurück und rasselte dabei wie verrückt.

Dass wir so schnell und vor allem ein so grosses Exemplar sehen würden, hatten wir nicht erwartet und erschreckte uns. Wir machten einen grossen Bogen um die Spalte, da mir eine Sprungweite von rund zwei Metern vorschwebte. Eingeschüchtert wanderten wir weiter, die Augen starr auf den Weg vor uns gerichtet und bereits nach einer Viertelstunde begegneten wir der nächsten Schlange. Sie sah zwar anders aus, doch dass nur Klapperschlangen richtig giftig sind, wussten wir damals noch nicht. Ich war nun doch sehr beunruhigt und erwartete jeden Moment die nächste Schlange, von denen es hier nur so zu wimmeln schien.

Eigentlich wollten wir eine Mittagspause einlegen, doch wo sollten wir uns bloss niederlassen, ohne dass sich sämtliche Schlangen der Umgebung auf uns stürzen würden? Wir erreichten einen Feldweg und beschlossen dort zu pausieren, so konnten wir zumindest das hohe Gras vermeiden. Trotzdem beneidete ich Patrick um seine dünne und doch so nützliche Schaumstoffmatte, denn vermutlich lagen alle giftigen Spinnen und Skorpione bereits auf der Lauer. Es war mir äusserst unwohl und trotzdem gelang es mir, ein wenig zu dösen.

Wir hatten eigentlich geplant, die Mittagshitze im Schatten zu verbringen. Doch schon bald wurden wir von einer Unruhe gepackt und als der Schatten auf dem Feldweg ständig kleiner wurde, hielten wir es nicht mehr aus und gingen trotz der Hitze weiter. Wir waren langsam aber stetig am ersten Aufstieg, als wir von einer Dreiergruppe in beeindruckendem Tempo ein- und überholt wurden. Obwohl ich es nicht wollte und normalerweise keineswegs in Wettbewerbslaune komme, konnte ich mich gegen den Wer-schneller-Gedanken nicht wehren. Das Bedürfnis sich zu messen scheint wirklich tief im Menschen verankert zu sein.

Wir sahen die erste Horned Toad, eine wirklich süsse Kröten-echse und erlebten die erste Trail Magic: Eine nette Seele hatte einen Sack mit Orangen auf dem Weg bereitgelegt. Wir kannten diese Gesten noch nicht und fühlten uns im Unrecht, uns daran zu bedienen. Sie sahen aber so verführerisch aus, dass wir schnell und heimlich zugriffen. Die Früchte waren von der Sonne aufgeheizt und unglaublich süss.

Schliesslich erreichten wir den Zeltplatz in Lake Morena. Bei den Wasservorräten hatten wir uns gründlich verschätzt, den grössten Teil unserer Vorräte konnten wir wegschütten. Wir schleppten auf dem ganzen Weg nie mehr so viel Wasser wie in diesen ersten Tagen.

Obwohl wir noch keinen Nachschub benötigten, führte uns die Gewohnheit in den kleinen Dorfladen. Es fühlte sich zwar nicht richtig an, dass wir bereits nach so kurzer Zeit wieder unsere Konsumgelüste befriedigten, doch sein lassen wollten wir es auch nicht.

Auf diesem Zeltplatz fand am darauffolgenden Wochenende die Kickoff Veranstaltung des PCTs statt, wofür die Betreiber Tausende von Besuchern erwarteten. Auf dem Zeltplatz befanden sich gleichzeitig Gäste mit unglaublich aufgemotzten Jeeps, welche eine richtiggehende Autoshow veranstalteten. So wie wir sie skeptisch beobachteten, befanden sie uns als kuriose Geschöpfe: Ohne Auto, mit winzigen Zelten und ganz ohne Generator.

Wir kampierten in der für PCT-Wanderer vorgesehenen Ecke des Zeltplatzes. Dort trafen wir das erste Mal auf Kevin, einen 68-jährigen ehemaligen Pfadfinder und Beamten aus Vermont. Er war mit einem jungen Mann unterwegs, der sich später Tumbling Weed nennen sollte und wir hielten die beiden irrtümlicherweise für Enkel und Grossvater. Ganz erstaunt bemerkten wir, dass sie ohne Zelt nächtigten, worauf wir uns nach der Gefahr durch Schlangen erkundigten und Kevin erwiderte, dass Ameisen die grössere Gefahr darstellten. Wir trauten der Sache jedoch nicht und schliefen weiterhin im Zelt.

21.04 ¦ Der Morgen begann heiss. Kevin und der vermeintliche Enkel verschwanden in eine andere Richtung, wovon wir uns glücklicherweise nicht beirren liessen. Der See lag bald hinter uns und wir unterquerten eine Strasse, auf deren Pfeilern sich unglaublich viele Leute mit ihren Weisheiten verewigt hatten.

Als wir den Boulderoak Campground erreichten, machten wir Bekanntschaft mit Mister Green. Er beeindruckte mit einem blütenweissen Hemd und einem aufgeschlossenen Charakter und erzählte uns von seinem schwierigen Start und wie er sich bereits am ersten Tag aufgrund der Hitze wiederholt hatte übergeben müssen. Es war eine bleibende Begegnung, leider trafen wir den jungen Herrn später nie mehr wieder.

Die Hitze erschwerte den darauffolgenden Aufstieg und wir hatten Mühe, uns auf der Karte zurechtzufinden. Entsprechend verunsichert waren wir, was den Wassernachschub betraf. Die Verunsicherung nahm zu, als wir viele Meter unter uns Kevin und den vermeintlichen Enkel in einem Flussbett entdeckten. Sie gaben uns Zeichen und riefen etwas. Da wir sie nicht verstanden und auch keine Lust auf einen Abstieg hatten, setzten wir unseren Weg fort.

Es wurde heisser und heisser. Die Hitze erreichte ihren Höhepunkt, als wir eine lange Hügelflanke traversierten. Ich bekam Zweifel, ob wir es wirklich schaffen konnten, wenn es weiterhin so brütend heiss bleiben würde. Wir nannten diese Strecke nur noch den „Chemin rôti“, den „Röstweg“. Es war fast Mittag, die Sonne stand direkt über unseren Köpfen und der Schatten, wenn es denn welchen gab, war unvorstellbar kurz. Gerne hätten wir eine Mittagspause gemacht, doch war dies ohne einen Schattenplatz nicht denkbar. Nach einigen Meilen begannen die Büsche wieder grösser zu werden, doch im ersten passablen Schatten sass bereits ein deutsches Paar. Da der Schatten zu klein zum Teilen war, mussten wir weitergehen. Dies war unser Glück, denn kurz darauf fanden wir einen wunderschönen Pausenplatz unter grossen, schattenspendenden Bäumen.

Wir passierten einen Helikopterlandeplatz, vermutlich zu Militärzwecken, sowie eine Schotterstrasse. Der Weg führte eine Bergflanke entlang, als mich ein Schrei von Patrick aus meinen Hitzegedanken riss. Als ich mich umdrehte, sah ich sie auch, die kleine Klapperschlange, die leise rasselnd nur wenig oberhalb des Weges kauerte. Tatsächlich hatte ich sie nicht gesehen und war mitten auf sie getreten. Sie hatte mich glücklicherweise auch erst spät gesehen und mich offenbar deshalb nicht gebissen. Ich spürte nichts, untersuchte aber zur Sicherheit trotzdem noch mein Bein. Ich hatte sie beim Drauftreten mit dem Schuh auf den Rücken gedreht und Patrick hatte sie dann aufgrund ihres weissen Bauches gesehen. Der Schreck fuhr mir gehörig in die Glieder und ich wurde ganz zittrig, schliesslich wäre mein PCT-Abenteuer schon am dritten Tag beinahe beendet worden. Besonders erschreckend war, dass ich sie wirklich nicht gesehen hatte. Ich schwor mir und Patrick in Zukunft besser achtzugeben.

In einem Tal oberhalb eines Flusses fanden wir eine schöne Stelle zum Zelten. Leider mussten wir, um das Wasser zu erreichen, Büsche und das Unterholz durchbrechen. Ich versuchte, nicht an all die giftigen, kleinen Kriechtiere zu denken, die vermutlich überall auf uns lauerten. Am Fluss machte ich meine ersten Filtererfahrungen und entdeckte die äusserst meditative Wirkung des tröpfelnden Wassers, worauf ich mich zur künftigen Wassermeisterin erklärte.

Nach dem Essen kamen Kevin und der Enkel an und schlugen ihr Nachtlager an unserer Seite auf. Nach und nach trafen noch weitere Wanderer ein und Kevin empfahl jedem einzelnen stets, noch einige Meter weiterzugehen, da es dort unter einer wunderschönen Tanne einen wunderbaren Schlafplatz gäbe. Erstaunlicherweise zeltete schliesslich kaum jemand bei uns, obwohl ausreichend Platz vorhanden gewesen wäre, wogegen sie sich unter der Tanne schon etliche tummeln mussten.

Wir unterhielten uns über die Motivation, diesen Treck alleine anzugehen, was Patrick und ich nicht nachvollziehen konnten. Für uns wurde durch das geteilte Erlebnis, das Erlebte erst richtig schön. Kevin wies nüchtern darauf hin, dass nicht jeder einen passenden Wanderpartner zur Hand hatte. Erst später realisierten wir, dass beide eigentlich allein unterwegs waren.

22.04 ¦ Wir erreichten Mount Laguna, was zumindest für Patrick ein klingender Name war. Es handelt sich um ein kleines Dorf mit einem Post Büro. Einige gute Seelen hatten Wasser und Orangen am Wegesrand hinterlassen, womit wir die Vorräte ausreichend ergänzen konnten. Jemand hatte sogar ein Glas Erdnussbutter hingestellt, bei welchem Patrick sich nicht zurückhalten konnte und sich mit dem grossen Löffel bediente, schliesslich würden wir in den nächsten Monaten noch einige Kalorien gebrauchen können. Ganz sicher waren wir unserer Sache jedoch nicht. War es zu übermütig, die erste Versorgungsstation so grossspurig aussen vor zu lassen? Ich hoffte, dass sich dies nicht rächen würde.

Am Nachmittag stiegen wir immer höher hinauf, bis wir einen Bergrücken erreicht hatten. Wir wurden mit einer unglaublichen Weitsicht über die Wüste belohnt - die erste von vielen auf dieser Reise. Doch war es für uns die erste und umso beeindruckter waren wir. Selten hatten wir solch eine Weite und gleichzeitig eine so unfassbar leere Landschaft gesehen. Es war Genuss pur!

Je mehr der Tag voranschritt, umso mehr frischte der Wind auf. Auf der Suche nach Wasser verliessen wir den PCT und nächtigten in der Nähe eines Wasserreservoirs, wobei ausdrücklich geschrieben stand, dass das Wasser nur für Pferde gedacht war. Zum Glück hatten wir den Filter. Doch funktionierte er auch richtig?

Der Wind war mittlerweile zu einem regelrechten Sturm angewachsen. Wir stellten das Zelt soweit als möglich in den Windschatten des Reservoirs, doch viel half es nicht.

Als Gutnachtgruss beglückte mich Patrick mit seinem ab diesem Zeitpunkt legendären Chilipopcorn Furz, so furchtbar übelriechend, dass es mir schier die Sinne raubte. Der ganze Wind half nicht, obwohl dieser dermassen an der Zeltplane riss, dass es uns diese regelrecht um die Ohren haute, immerhin litt er selber ebenfalls unter der Geruchsemission.

Nach wachen Stunden und ganz wenig unruhigem Schlaf, entfernten wir den Wanderstock aus der Zeltkonstruktion, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. So ging es mehr schlecht als recht.

23.04 ¦ Das Wanderpaar Piggels und Sundog war schlauer gewesen, hatte noch in den Büschen und dadurch geschützt das Zelt aufgeschlagen, wodurch ihre Nacht deutlich angenehmer ausgefallen war als unsere. Sie erzählten, dass sie den PCT bereits vor acht Jahren in Angriff genommen hatten und dass sie damals eine Woche vor der Grenze vom Schnee überrascht worden waren. Es war ihnen deshalb nicht mehr möglich gewesen, den Weg zu beenden und nun begannen sie noch einmal am Anfang.

Sie empfahlen mir wegen der Gelenke unbedingt Wanderstöcke zu benutzen. An diese Ermahnung dachte ich immer wieder und je weiter ich ohne Stöcke gekommen war, desto stolzer war ich, es auch ohne zu schaffen. Wir plauderten, bis sie unser langsames Tempo nicht mehr aushielten.

Auf einem ausgestorbenen Campingplatz konnten wir unser Geschäft auf einer herrlichen Toilette verrichten. Wir waren noch nicht lange unterwegs, doch empfand ich es bereits als Hochgenuss, die Hände mit parfümierter Seife zu waschen. Immer wieder roch ich während der nächsten Stunden verstohlen an meinen Händen.

Auf dem Campingplatz trafen wir auf den Mann, mit welchem wir im Bus nach Campo gefahren waren. Er stammte aus der Gegend um Maine und war nun gesprächiger als zu Beginn der Reise. Einen verwirrten Eindruck machte er aber noch immer, was auch seine Erzählungen bestätigten: Er hatte die falsche Patrone für seinen Gaskocher eingepackt und hatte sie erst in Mount Laguna umtauschen können. Deshalb hatte er seine Nahrungsvorräte nicht verwenden können und musste sich während der ersten Tage ausschliesslich von M&Ms ernähren, er nahm dies mit stoischer Gelassenheit. Schlimmer war, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Sonnencrème einzupacken, weshalb seine Arme und sein Gesicht nun krebsrot waren. Er hatte vor bis nach Kennedy Meadows zu wandern.

Es wurde immer heisser und als die Sonne am höchsten stand, hätten wir gern eine Pause gemacht. Schatten war jedoch sehr dünn gesät und zwischen den einzigen Büschen hatten sich bereits ein paar Männer niedergelassen. Wir hatten keine Lust, uns dazu zu gesellen und suchten einen Halbschattenplatz etwas abseits.

Aus Gewichtsgründen hatten wir für das Mittag- wie auch das Nachtessen eine Mahlzeit zum Kochen vorgesehen. Das Kochen nahm jedoch sehr viel Zeit in Anspruch, zudem war uns bei dieser Hitze überhaupt nicht nach einer warmen Mahlzeit zumute. Wir hatten jedoch nichts anderes, weshalb wir begannen, unsere Versorgungsstrategie zu hinterfragen.

Die Gegend hatte sich in einen Glutofen verwandelt, trotzdem machten wir uns wieder auf den Weg. Es war mir in der Nähe dieser Typen nicht wohl und zudem hatte sich auch unser Schatten beinahe ins Nichts aufgelöst. Die Herren gaben uns zum Abschied den weisen Ratschlag, dass es nicht gut sei, sich bei dieser Hitze aus dem Schatten zu wagen. Wer hätte das gedacht? Vermutlich handelte es sich um ach so erfahrene Ehemalige, die auf dem Weg zur Kickoff Veranstaltung waren. Es war ein mieses Gefühl, sich in der brütend heissen Sonne wie eine blutige Anfängerin zu fühlen, mich verunsicherten solche Vorkommnisse stets ausserordentlich.

Wir trafen auf eine weitere Gruppe junger Frauen und Männer. Sie alle hatten klangvolle Trail Namen wie zum Beispiel Foxfeather. Auch sie waren in die Gegenrichtung unterwegs und hatten die Kickoff Veranstaltung zum Ziel.

Im ersten Schattenfleck, nach einer langen, schattenlosen Strecke, trafen wir auf Kathy. Sie erinnerte mit ihrer sehr hellen Haut und den langen roten Haaren an eine Irin. Sie war allein unterwegs, las ein Buch und war von Kopf bis Fuss mit Dreck beschmiert. Uns war nicht klar, ob es ihr gefiel endlich einmal schmutzig sein zu dürfen oder ob sie sich des Drecks nicht bewusst war, da sie allein und ohne Spiegel unterwegs war.

Auch wir quetschten uns am Fuss einer heissen, senkrechten Felswand in einen Streifen des raren Schattens - natürlich nicht ohne zuvor ängstlich den Boden und die Wand nach Skorpionen und Schlangen abzusuchen.

Kaum angekommen, verspürte ich ein natürliches Bedürfnis. Es ist unerwartet unangenehm in der prallen, heissen Sonne ein Geschäft verrichten zu müssen und es hinterlässt auf eine unbestimmte Weise ein schmuddeliges Gefühl. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht, zu was ich fähig bin, offensichtlich regt die tägliche Wanderschaft den Darm zu Höchstleistungen an.

Der Pfad führte ins Tal und schnurgerade weiter zu einer breiten, asphaltierten Strasse. Wir erreichten die Scissor Crossing und da die Vorräte erstmals zur Neige gingen, waren wir gezwungen, uns im kleinen Laden des Stagecoach RV-Park um Nachschub zu bemühen. Also stellten wir uns zum ersten Mal und noch etwas verschämt an die Strasse und hielten den Daumen hoch. Bald schon bremste ein Auto und Adam nahm uns mit. Adam unterstützte zwei Frauen, die ebenfalls den PCT wanderten. Er sorgte für Nachschub und holte sie an vereinbarten Stellen ab. Für dieses Unternehmen hatte er ein halbes Jahr frei genommen und würde in dieser Zeit eine Unmenge an Meilen zurücklegen. Da er in der Zwischenzeit nichts Besseres zu tun hatte, war es ihm durchaus willkommen auch andere Wanderer durch die Gegend zu chauffieren.

Im Laden fanden wir Proviant für die nächsten Tage, wie auch Leckereien für den Sofortverzehr. Wir entdeckten zum ersten Mal eine Hiker Box, worin sich bezeichnenderweise Regenhosen befanden. Da schienen andere ebenfalls an den Song „It Never Rains in Southern California“ zu glauben.

Auf dem Weg zur Dusche wurden wir von einem jungen Paar, welches sich auf dem ansonsten fast leeren Zeltplatz zu langweilen schien, auf ein Bier eingeladen. Wir vertrösteten sie auf später, wobei sie bis dahin bereits entschwunden waren.

In der Dusche traf Patrick auf einen nackten Kevin. Da in der Nacht kaum Autos auf dem Highway verkehrten, wollte er umgehend zurücktrampen und bei der Kreuzung schlafen. Durchaus ein weiser Gedanke, doch uns war nun erstmals nach einer ausgiebigen Pause zumute. Es gab sogar einen Swimmingpool, doch als wir endlich gegessen und die Kleider gewaschen hatten, war uns die Lust auf Baden vergangen. Wir beschlossen direkt am Swimmingpool auf den Liegestühlen zu schlafen, wodurch wir auf das Zelt verzichten konnten.

24.04 ¦ Es versprach erneut sehr heiss zu werden und nach Schatten sah es auf der folgenden Strecke nicht aus. Deshalb stellten wir den Wecker auf zwei Uhr nachts, wobei es sehr hart war, so kurz nach dem Einschlafen bereits wieder aus den Schlafsäcken zu kriechen. Kevin hatte Recht gehabt, es fuhr kein einziges Auto, weshalb wir die Meilen zurück zum Weg laufen mussten. Es war Vollmond, wolkenlos und damit unsagbar hell. Trotzdem fanden wir schliesslich bei der Kreuzung den Weg nur mit Mühe. Um ein Haar wären wir über die vielen schlafenden Wanderer§ gestolpert, die sich dort zur Ruhe gelegt hatten.

Der Weg stieg an und führte durch eine Landschaft gespickt mit riesigen Kakteen, die im kalten Mondlicht wie Geister wirkten. Es war unheimlich, sehr schön und total surreal. Ich verlor jegliches Zeitgefühl und fiel in einen tranceähnlichen Zustand. Die Müdigkeit machte mir zu schaffen und ich kämpfte dagegen, dass mir die Augen zufielen. Wir waren froh, als sich der Himmel endlich zu verfärben begann und sich die ersten Lichtstreifen am Horizont zeigten. Es folgten ein wunderschöner Sonnenaufgang und der erfrischende Genuss einer Mango.

Am Mittag führte ein kurzer Weg zu einem Flaschenlager, an welchem zu unserer grossen Erleichterung genügend Wasser vorhanden war. Unter einem Baum fanden wir einen hervorragenden Rastplatz und direkt über unseren Köpfen machte sich ein winziger, ausgesprochen knuffiger Vogel zu schaffen und bot uns ein herrliches Schauspiel. Nach und nach trafen weitere Wanderer ein und im Schatten wurde es so eng, dass sogar die Bäume zu sprechen begannen. Die Frau mit dem vielen Dreck im Gesicht hatte sich mitten in einen Baum gesetzt, woraus nur noch ihre Stimme zu hören war, man sie aber nicht sehen konnte. Eigentlich hatten wir eine lange Pause machen und so die fehlenden Ruhestunden der Nacht nachholen wollen. Da wir jedoch nicht schlafen konnten, überwog irgendwann die Aufbruchsstimmung.

Ich führte unsere kleine Zweierwandergruppe an, als plötzlich eine sich wild windende Schlange vor mir auftauchte. Ich erschrak und wollte ausweichen, die Schlange hatte jedoch dasselbe im Sinn. Wir versuchten es beide auf der anderen Seite, wiederum vergebens. So benötigten wir einige Versuche, bis wir aneinander vorbeikamen. Es ging alles sehr schnell und vermutlich sah es aus, als ob ein Cowboy einen Ganoven mit der Pistole tanzen lassen würde. Obwohl es sich nicht um eine giftige Schlange handelte, sass mir der Schreck in den Gliedern. Am gefährlichsten an der ganzen Sache war, dass ich, vertieft in meine Ausweichmanöver, beinahe den Abhang hinuntergesprungen wäre. Patrick war sehr unzufrieden.

Mittlerweile waren wir wirklich müde und wollten möglichst bald das Nachtlager aufschlagen, doch leider war weit und breit kein geeigneter Platz in Sicht. Nach einigen Meilen entschieden wir uns für einen mehr schlechten als rechten, abschüssigen Platz. Dies war der Moment, in dem so etwas wie ein Zuckerschock bei Patrick seinen Höhepunkt erreichte. In einem Moment strotze er noch vor Energie und Unternehmenslust und einen kurzen Augenblick später fiel er in sich zusammen. Er kroch ins Zelt, litt unter Übelkeit und konnte sich gerade noch das Nachtessen einverleiben. Zur gleichen Zeit zogen sich die Wolken mehr und mehr zusammen, so dass wir fast schon einen Regenguss erwarteten.

25.04 ¦ Wir erreichten die Hundert-Meilen-Marke, welche jemand mit Steinen auf den Weg gelegt hatte und waren stolz auf uns und fanden, dass wir schon weit gekommen waren, wobei wir tunlichst vermieden, uns die Meilenzahl, die noch vor uns lag, vor Augen zu führen.

Auf einmal wechselte das Landschaftsbild und die Gegend wurde flach und der Weg führte durch weite, dürre Weidelandschaften. So musste die Prärie aussehen, es fehlten nur noch die Cowboys mit ihren Kühen, immerhin weideten Pferde, unbewacht und ohne Zäune. Nach den Tagen in der Wüste genossen wir es, wieder in etwas menschenfreundlicheren Gegenden unterwegs zu sein.

Es zweigte ein kleiner Trampelpfad vom Weg ab und führte zu einer Felsgruppe, bei welcher es sich gemäss der Karte um den Eagle Rock handelte. Die Formation war Patrick ein Begriff und er meinte, der kleine Umweg lohne sich alleweil. Schon von weitem bemühte ich mich, den Adler im Felsen zu erkennen und mit viel Vorstellungskraft gelang es mir schliesslich, einen sitzenden Adler auszumachen. Patrick lachte in sich hinein und schüttelte über meine Blindheit den Kopf. Und plötzlich sah ich den riesigen Adler mit den weit geöffneten Schwingen über mir - ein magischer Anblick! Man fühlte die besondere Bedeutung dieses Ortes, der vermutlich schon viele Menschen in seinen Bann gezogen hatte. Ich spürte das Geschichtsträchtige, wie ich es schon auf bedeutenden, alten Burgen gefühlt habe. Es war ein Ort der Kraft.

Kurz darauf erreichten wir Warner Springs, ein kleines Dorf, in welchem das Livekonzert auf dem Wochenmarkt gerade geendet hatte. In einem neu errichteten Gebäude war behelfsmässig ein Unterstützungszentrum für Wanderer eingerichtet worden. Es gab warme Aussenduschen, und ein Badetuch mit Shampoo und Seife wurde gegen eine kleine Gebühr abgegeben. Der kleine Laden bestand aus einem winzigen Raum, gefüllt mit Regalen und einem Pult als Kasse.

Wir hatten noch genügend Proviant, doch einige Kleinigkeiten konnten wir immer gebrauchen. Kaum standen wir in diesem kleinen, geschlossenen Raum, stachen uns die eigenen Körperdüfte scharf in die Nase. Die Verkäuferin riet uns, unbedingt vor dem Einkaufen zu duschen, was wir uns zu Herzen nahmen.

Wir wurden gebeten, uns ins Trail Register einzutragen und kaum hatten wir unsere Nationalität niedergeschrieben, wurde eine ältere Dame aus der Küche geholt. Sie hatte vor vierzig Jahren ein halbes Jahr in Vevey am Genfer See verbracht. Es hatte ihr damals in der Schweiz gut gefallen und sie genoss es, sich mit uns auszutauschen. Der Empfang war sehr herzlich und ich wette, unsere Hamburger wurden mit besonders viel Liebe zubereitet.

Erstmals seit Beginn der Wanderung hatten wir Zugang zum Internet. Patrick hatte eine Mail der Universität im Postfach, in der man ihm mitteilte, dass seine Masterarbeit, welche er bei der Abreise in letzter Sekunde am Bahnhof eingeworfen hatte, angenommen worden war. Damit befand ich mich nun in Gesellschaft eines gemasterten Volkswirts. Wir waren erleichtert und doch war jenes Leben schon so weit weg, dass es fast nebensächlich war.

Einige andere Wanderer, darunter auch Kevin, bildeten Fahrgemeinschaften, um zurück zur Kickoff Veranstaltung zu gelangen. Nach der Veranstaltung wollten sie nach Warner Springs zurückkehren und dadurch einen Vorsprung auf die Herde gewinnen, so dass sie die ersten Meilen nicht in den grossen Massen zurücklegen mussten. Kevin sahen wir erst nach 600 Meilen und einen knappen Monat später wieder.

WARNER SPRINGS TO IDYLLWILD 110 – 180

Die Sache mit dem Wasser

Gestärkt, geduscht und erfrischt machten wir uns am späten Nachmittag wieder auf den Weg. Bereits nach wenigen Meilen trafen wir auf eine Gruppe junger Männer, die im Kreis sassen und versuchten sich zu unterhalten. Es lag viel Testosteron und damit zu viel Rivalität in der Luft. Die Stimmung war so seltsam, dass wir schnell von dannen zogen.

Am Rand einer Lichtung machte ein kleines Holzschild auf ein giftiges Gebüsch namens Poison Oak aufmerksam und wir versuchten krampfhaft, uns das Aussehen der Pflanze einzuprägen. Doch kurze Zeit später war ich bereits nicht mehr sicher, ob ich nun schon inmitten der giftigen Pflanzen stand. Plötzlich sah so manches Kraut der Giftpflanze ähnlich und uns blieb nur zu hoffen.

Das Zelt schlugen wir auf einer malerischen Sandbank am Agua Caliente Creek auf. Obwohl ich auf meiner weichen Luftmatratze herrlich schlief, beneidete ich Patrick um die rasche Installation seiner Matte. Er konnte seinen Hauch einer Unterlage auslegen und fertig war sein Bett. Ich musste nach einem langen, anstrengenden Wandertag stets noch die letzte Luft aus meinen Lungen pusten, bis mir schwarz vor Augen wurde. Ich versuchte es damit, die Luftstösse zu zählen und mich dadurch abzulenken und jeden Abend war ich enttäuscht, wie viele meiner zaghaften Stösse nötig waren, um meine Matratze zu füllen. Immerhin wurde ich mit einer wunderbar weichen und warmen Unterlage belohnt.

26.04 ¦ Wir verliessen den Bach und stiegen stetig bergauf. Wasser war in diesem Abschnitt gemäss der Karte dünn gesät. Aufgrund der Hitze steuerten wir deshalb die nächste Wasserstelle an und fanden einen betonierten Trog vor, zugedeckt mit einer Metallplatte. Darunter befand sich das ekligste Wasser, welches ich bisher in meinem Leben zu trinken geplant hatte. Es schwammen diverse undefinierbare Dinge darin und es roch modrig. Wegen dem drohenden Wassermangel schöpften wir trotzdem mit angewiderten Gesichtern die Flaschen voll, filterten das Wasser, um es von den Schwebeteilchen zu befreien und führten zusätzlich Chlor zu. Leider verlor es weder durch die eine noch durch die andere Prozedur den modrigen Geruch.

Der Weg wurde gesäumt von seltsam anmutenden, runden Gesteinsformationen. Die Gegend gefiel uns, auch wenn Braun die vorherrschende Farbe war. Später erzählten uns Patricks Eltern, dass sie sich beim Betrachten dieses Streckenabschnitts auf Google Earth ernsthaft gefragt hatten, wie wir es dort bloss aushalten konnten, denn von oben machte es einen langweiligen und trostlosen Anschein.

Gegen Mittag stiessen wir auf ein kleines Schild, welches auf einen Trail Angel aufmerksam machte. Wir beschlossen, ihn aufzusuchen und bereits vor dem Haus trafen wir auf eine junge Frau, die uns barfuss mit einem riesigen Hund entgegenkam. Sie war freundlich, aber nicht gesprächig und schien in dem Haus zu wohnen.

Es rasteten bereits einige andere Wanderer dort, darunter Chief, ein netter Feuerwehrmann aus Kalifornien in seinen Fünfzigern. Wir tauschten uns über den Notfallsender aus, welchen auch er dabeihatte und ohne welchen seine Frau ihn nicht hätte gehen lassen.

Abgesehen von einer jungen Frau mit Zopf und Dutt, welche einen tiefreligiösen Eindruck machte, waren alle anderen junge Männer.

Gerne schmückte sich der einzelne Wanderer mit einem ganz individuellen Merkmal, einem besonderen Gegenstand oder einem ausgefallenen Kleidungsstück und versucht sich dadurch von der Menge abzuheben. Ein Mann hatte sich für eine ganz besondere Pfeife entschieden.

Der Trail Angel selber wohnte nur zeitweise in dem Haus, welches zugegebenermassen äusserst abgelegen lag. Auch wenn er nicht da war, stellte er den Wanderern gewisse Räume seines Hauses sowie gefiltertes Wasser unentgeltlich zur Verfügung. Glücklicherweise waren wir von dem ekligen Wasser verschont geblieben, welches wir nun nur zu gern austauschten.

Nach einer kurzen Pause zogen wir weiter und bereits mit den ersten Schritten verschwand eine grosse Schlange im Gras. An diesem Nachmittag sahen wir noch mindestens eine weitere Schlange und obwohl es keine Klapperschlangen waren, liessen sie mein Herz doch stets schneller schlagen.

An der nächsten Wasserstelle, der Tule Spring, trafen wir auf das Paar Kaleidoskop und Vertigo. Sie schwärmten in den höchsten Tönen vom offenbar legendären Houseiburger, welchen es am kommenden Tag im viel erwähnten Paradise Café zu verzehren galt. Es handle sich um den besten Burger des ganzen Trails, welchen wir unter keinen Umständen verpassen dürften. Sie freuten sich bereits seit Tagen, wenn nicht seit Wochen, auf diesen grossen Moment. Und wir trafen den sympathischen Larox, dem wir ab diesem Tag immer wieder begegneten.

Patrick wollte direkt bei der Wasserstelle das Zelt aufschlagen, doch entdeckte ich etwas weiter einen noch viel schöneren Platz. Es kostete mich einige Mühen und Nerven und einen kleinen Disput, bis ich Patrick dazu bringen konnte, sich noch einmal zu erheben und die wenigen Meter zum vorgesehen Nachtplatz weiter zu gehen. Gerade als ich wütend und entsprechend schwungvoll meinen Rucksack auf den Rücken schwingen wollte, fuhr mir direkt unter meinem linken Schulterblatt ein stechender Schmerz in den Muskel. Ich hatte bereits zuvor latente Schmerzen an dieser Stelle gehabt, jedoch niemals in diesem Ausmass. Der akute Schmerz verging, der latente ist mir noch über Jahre erhalten geblieben.

Patrick hatte an diesem Abend mit einem unerklärlichen Ekzem an den Fussgelenken zu kämpfen, welches wie aus dem Nichts aufgetaucht und zu jucken begonnen hatte. Wir dachten an eine allergische Reaktion oder war es die Poison Oak oder waren doch nur die Socken zu eng? Es sah jedenfalls beunruhigend aus.

27.04 ¦ Die Gegend war braun, wurde aber stellenweise von grünen Bändern durchzogen, welche die Folgen der kleinen Bäche waren. Es war beeindruckend, wie sehr bereits ein bisschen Wasser das Landschaftsbild veränderte. Das Wasserthema war für uns stets präsent und wir informierten uns jeweils im Vorfeld auf dem sogenannten Water Report bezüglich der Wassersituation. Der Report basierte auf Einträgen von verschiedenen Wanderern und war zum Teil nicht mehr aktuell. Auch wenn wir annehmen konnten, dass an einem bestimmten Ort Wasser vorhanden war, waren wir stets erleichtert, wenn sich die Annahme auch bewahrheitete.

Es kam vor, dass wir viele schwere Liter mittrugen und dann unverhofft auf ein Wasserlager stiessen, so geschah es auch an diesem Tag. Eine freundliche Seele hatte eine grosse Anzahl grosse Flaschen am Weg deponiert. Es war richtig schade, dass wir bereits so viel Wasser dabeihatten und so kaum etwas davon benötigten. Anders ging es zwei jungen Männern, auf die wir dort trafen. Sie waren beglückt von diesem Lager, da ihr Vorrat nahezu aufgebraucht war.

Wir marschierten zügig, da wir uns nach der Strasse sehnten, die uns zum Paradise Café und anschliessend weiter nach Idyllwild führen würde. Wahrscheinlich sah ich deshalb die Klapperschlange erst, als mein Fuss nur noch zwanzig Zentimeter von ihr entfernt war. Sie lag lang ausgestreckt auf dem Weg und genoss das Sonnenbad in der Mittagshitze. Sie rasselte nicht und schien kein bisschen an uns interessiert zu sein.

Bald darauf holten wir Vertigo und Kaleidoskop ein. Die beiden wanderten gemächlich und hörten Musik aus einem kleinen Transistorradio. Sie gehörten zu den wenigen Wanderern, die wir überholten. Wir hatten etwas Mitleid, da sie aufgrund ihrer Körperfülle mit Sicherheit unter einem ausgewachsenen Wolf zu leiden hatten. Sobald wir abends in den Schlafsäcken lagen und sich die nackten Oberschenkel berührten, begann es auch bei uns unsäglich zu brennen. Wie erging es dann erst ihnen?

Endlich erreichten wir die Strasse, an der das berühmte Paradise Café, auf welches wir nun wirklich gespannt waren, eine Meile westlich lag. Vor dem Café standen einige Pferdetrailer und gerade als wir daran vorbei gingen, verhedderte sich ein Pferd in der Leine und stieg hoch, so dass die Leine zerriss. Dumm wie Pferde sind, lief es direkt auf die Strasse und damit auf die vorbeirasenden Autos zu. Beherzt griff Patrick in die vorbeifliegenden Zügel, wendete die drohende Katastrophe ab und übergab das Pferd am Halfter dem heraneilenden Besitzer.

Es war nicht schön in den verdreckten und verschwitzten Kleidern zwischen den gutgekleideten Restaurantbesuchern Platz zu nehmen. Doch die Lust auf Essen und Getränke überwog. Patrick suchte die Speisekarte nach dem berühmten Houseiburger ab - und wurde nicht fündig. Wir hatten bis dahin noch keine Bekanntschaft mit der spanischen Aussprache von Amerikanern gemacht. Es war der José-Burger gemeint, was eine ständige Quelle der Belustigung blieb. Und ja, es war ein Burger, nicht schlecht, aber eben halt einfach ein Burger. Vielleicht verstanden wir als Nicht-Amerikaner einfach zu wenig davon.

Wir lernten Drama kennen, ein sehr sympathischer junger New Yorker – eine amüsante und erfrischende Begegnung.

Schliesslich stellten wir uns an die Strasse in Richtung Idyllwild und hielten den Daumen hoch. Es dauerte nicht lange und eine Frau in einem weissen Ford Bronco aus den 70er Jahren hielt an. Sie sah müde aus und erzählte uns schon nach kurzer Zeit von ihrem sterbenskranken Bruder, welchen sie die letzten Tage gepflegt hatte - so viel zur vielbesprochenen Oberflächlichkeit der Amerikaner.

Sie war es, die uns davon überzeugte, dass Schlangen nachts nicht in Schlafsäcke zu kriechen pflegen. Sie musste es wissen, schliesslich war sie seit Kindesbeinen in den Bergen unterwegs. Ihr haben wir es auch zu verdanken, dass wir den darauffolgenden Abschnitt durch die Jacinto Berge nicht ausliessen, wie es Patrick eigentlich vorgeschlagen hatte. Der Weg hätte die Abkürzung zwar richtiggehend angeboten, doch ich wollte nicht, dass Abkürzungen zur Gewohnheit wurden.

Nach gut einer Woche freute ich mich sehr darauf, wieder in einem richtigen Bett mit weissen Leintüchern zu nächtigen, was ich allen, die es hören wollten auch gern mitteilte. Erst später fiel mir auf, dass mein Englisch wirklich mangelhaft war, hatte ich doch stets davon gesprochen, wie sehr ich die weissen Linien vermisst hatte und mich nun unglaublich darauf freute.

Idyllwild war ein schmuckes, kleines Touristendörfchen. Wir begannen bei den günstigen Hotels und endeten bei den teuren, doch ein Bett war nirgends mehr frei. Es galt eine herbe Enttäuschung wegzustecken und entgegen allen Erwartungen das Zelt auf dem Campingplatz aufzuschlagen. Immerhin konnten wir die dreckigen Kleider im lokalen Waschsalon waschen, wo wir biertrinkend in den Unterhosen sassen und den milden Abend genossen.

Anschliessend wollten wir uns eigentlich ein gutes Nachtessen im Restaurant gönnen und landeten inmitten einer Rockerparty. Wir waren beeindruckt wie die Leute feierten und tanzten, was wir in dieser Form aus der Schweiz nicht kannten. Wir genossen das Nachtessen in der feiernden Menge und hörten uns das Rockkonzert eines ehemaligen Mitglieds von American Idol an. Einige Drinks später und müde vom langen Tag in der Sonne war mir bald nur noch nach Schlafen zu Mute.

Doch als wir schliesslich im Zelt lagen, schritt die Nacht immer weiter voran und mir wurde immer übler, bis ich mich schliesslich aufraffte und mich im Dämmerzustand auf die Toilette schleppte, wo ich mich wieder und wieder übergeben musste. Ich dachte nur kurz an die olivenölgetränkten Auberginen vom Abendessen und der Brechreiz war sofort wieder da. Es war nicht das erste Mal, dass ich so auf Olivenöl reagierte und vermutlich sollte ich wirklich auf andere Ölsorten ausweichen.

28.04 ¦ Wir verbrachten den Vormittag damit, Vorräte aufzufüllen und versuchten zudem krampfhaft eine Telefonkarte zu erstehen, um zu Hause anrufen zu können. Das eine war die Telefonkarte, doch als noch viel schwieriger stellte sich das Finden eines öffentlichen Telefons heraus. Wer benötigt im Zeitalter des Mobiltelefons schon eine Telefonzelle? Wir waren schon ziemlich verzweifelt und nahe am Aufgeben, als uns ein Ladenbesitzer sein eigenes Telefon auslieh. Er half uns den Nummern-Dschungel der Telefonkarte zu verstehen und währendem Patrick mit seinen Eltern sprach, unterhielt ich mich ein wenig mit ihm. Er stammte ursprünglich aus Mexiko, lebte aber schon viele Jahre in Idyllwild und es gefiel ihm in dem kleinen, beschaulichen Dörfchen, wo er die hohe Lebensqualität schätzte. Er erzählte von schlechteren Zeiten, als das Dorf noch regelmässig von Hells Angels heimgesucht worden war, bis man sämtliche Motorradgangs des Dorfes verwiesen hatte. Und er erzählte von seiner Begegnung mit einem Berglöwen, welcher eines Tages bei ihm im Garten aufgetaucht war.

IDYLLWILD TO BIG BEAR CITY 180 – 276

Märchenhafte Berge und metallene Freunde

Die dreizehn Meilen zurück zum Weg wurden wir in einem monströsen Pickup mitgenommen, gefahren von einem ebensolchen Fahrer. Trotz seiner beeindruckenden Erscheinung, welche durch die übergrosse IRA-Tätowierung noch unterstrichen wurde, war er sehr freundlich. Wie nicht schwer zu erraten war, stammten seine Vorfahren aus Irland. Als wir erwähnten, dass wir aus der Schweiz kamen, entgegnete er, dass Schweden doch berühmt sei, für die vielen schönen Frauen. Erst als er seinen Pickup vor dem Paradise Café wendete, merkten wir, dass er nur unseretwegen dorthin gefahren war und unser Weg gar nicht der seine gewesen war.

Kaum waren wir ausgestiegen, stand schon das nächste Auto mit offenem Kofferraum parat und wir wurden die eine Meile dorthin zurückgefahren, wo der Weg die Strasse kreuzte. Dort stiessen wir auf eine Wandergruppe, die ihr Teilstück auf dem PCT gerade beendet hatte. Sie waren in ausgelassener Stimmung und boten uns grosszügig von ihren Biervorräten an. Da wir noch einige Meilen zurücklegen wollten, lehnten wir dankend ab. Wieder einmal waren wir beeindruckt von der Hilfsbereitschaft und der Freundlichkeit, welche uns die Amerikaner entgegenbrachten.

Die Landschaft war überwältigend, was durch die tiefstehende Sonne und das dadurch intensive Licht noch verstärkt wurde. Alles wurde in sanftes, rosafarbenes Licht getaucht und erhielt ganz weiche Formen. Exakt bei Einbruch der Dunkelheit erreichten wir einen Platz auf einer Bergkuppe mit wunderschöner Aussicht nach beiden Seiten, wo wir das Zelt aufgrund des starken Windes zwischen den Büschen aufschlugen.

Es war bereits stockdunkel, als wir den halbstündigen Abstieg zur Live Oak Spring in Angriff nahmen, um dort die Wasservorräte zu füllen. Wieder verloren wir in der Dunkelheit jedes Gefühl für die Zeit. Die Quelle lag, wie es der Name schon sagte, zwischen riesigen alten Eichen. Der Platz schien wunderschön zu sein, wobei wir leider in der Finsternis nur eine Ahnung davon bekamen.

29.04 ¦ Dieser Streckenabschnitt zeichnete sich durch Quellen aus, welche alle abseits des Weges lagen. Es widerstrebte uns, Extrameilen zu machen, was wir jedoch mussten, wollten wir nicht Unmengen an Wasser schleppen. Oft war leider nicht klar, ob die Quellen überhaupt noch Wasser führten und da der Weg ständig auf einem Bergrücken verlief, waren die Abstecher stets mit einem Abstieg und einem anschliessenden Aufstieg verbunden.

Wir trafen auf einen Mann aus Israel mit dem wahrscheinlich grössten und schwersten Rucksack der ganzen Nordhalbkugel. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich mit dem Rucksack auf dem Rücken wieder aufzurichten - und von schwächlicher Statur war er nicht. Er wollte nur einige Tage auf dem PCT verbringen und hatte dafür sein gesamtes Reisegepäck mit dabei und er war verzweifelt, weil ihm offenbar das Wasser ausgegangen war. Ich wollte ihm gerade von unserem Wasser anbieten, als er eine volle Flasche aus seiner Tasche zog, die mehr beinhaltete als Patricks und meine zusammen. Es war ein seltsamer Zeitgenosse, welcher sich unter keinen Umständen überholen lassen wollte. Da erfreute uns die Begegnung mit dem ersten Reh kurze Zeit später deutlich mehr.

Bei der Abzweigung zur nächsten Quelle liessen wir die Rucksäcke im Gebüsch zurück und machten uns an den Abstieg. Nach einigem Suchen fanden wir ein kleines Rinnsal, wo wir mehr schlecht als recht die Flaschen füllen konnten. Mittlerweile war uns klar geworden, wie unpraktisch unsere Wasserflaschen waren, denn sie liessen sich nur sehr schwer bis gar nicht füllen. An der Quelle trafen wir auf einen Mann, gekleidet in einen Schottenrock. Er stellte sich als Björn vor, wobei es sich dabei um seinen Trail Namen handelte. Sein eigentlicher Name lautete Storm, bei welchem jedoch jeder dachte, es sei sein Trail Name.

Zurück bei den Rucksäcken legten wir uns unter die Bäume in den Schatten. Ein netter Mensch hatte dort, fernab jeder Strasse, zwei alte klapprige Stühle hinterlassen, welche jedoch nur auf den ersten Blick zum Verweilen einluden.

Kurz darauf kam Tumbling Weed des Weges. Er schaute verständnislos, als wir ihn nach seinem Grossvater Kevin fragten. Er dementierte eine Verwandtschaft, wobei dieser tatsächlich ein Grossvatergehabe an den Tag gelegt habe. Es fühlte sich an, als würden wir einen alten Bekannten treffen, obwohl wir ihm nur kurz begegnet waren. Er war noch keine zwanzig Jahre alt und hatte die High-School vor dem Abschluss verlassen, um pünktlich den PCT antreten zu können. Allein unterwegs und guten Mutes waren wir beeindruckt von der Reife, die wir in seinem Alter niemals hatten bieten können.