Und der Basilisk weinte - Anne Gold - E-Book

Und der Basilisk weinte E-Book

Anne Gold

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Beschreibung

Basel im Sommer. Kommissär Francesco Ferrari schlendert müssig dem Rheinufer entlang. Er hat nichts zu tun und langweilt sich. Es scheint, als ob selbst Mörder Ferien machen würden. Doch der friedliche Schein trügt. Im Grossbasel, mitten in der Altstadt, wird eine männliche Leiche gefunden. Es ist der Beginn einer unheimlichen Mordserie. Für den Kommissär und seine Assistentin Nadine Kupfer beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.

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Anne Gold

Und der Basilisk weinte

Alle Rechte vorbehalten

© 2009 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

© eBook 2013 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Gestaltung: Bernadette Leus, www.leusgrafikbox.ch

Illustration: Tarek Moussalli

ISBN 978-3-7245-1949-2

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-1882-2

Ungekürzte Taschenbuchausgabe 2013

www.reinhardt.ch

Im Anfang war die Tat.Johann Wolfgang von Goethe

1. Kapitel

Eine drückende Hitze lag seit Tagen über der Stadt. Wie eine Glocke hatte sie sich über Basel festgesetzt. Sehnsüchtig warteten die Menschen auf ein erlösendes Gewitter. Kommissär Francesco Ferrari sass am Kleinbasler Rheinufer und atmete tief durch. Sogar beim Nichtstun schwitzt man. Der Regen würde wenigstens etwas Abkühlung bringen. Erwartungsvoll sah er zum Himmel hoch. Einzelne Wolken waren in der letzten halben Stunde vom Elsass her aufgezogen und verdichteten sich zunehmend zu einer schwarzen Front. Eigenartig. Monatelang warten wir auf den Sommer, kaum ist er da, jammern wir über die Hitze. Aber es war auch schwierig, sich den Temperaturschwankungen anzupassen. Zuerst knapp zwölf Grad, stieg das Thermometer über Nacht auf satte dreissig an. Frühling und Herbst verkümmerten zusehends zur Farce. Ferrari zupfte das Hemd aus der Hose und fächelte sich Luft zu. Auf dem Rhein fuhr die Christoph Merian vorbei. Die Passagiere winkten Ferrari zu. Er erwiderte ihren Gruss. Wie kann man nur bei dieser Hitze in der prallen Sonne auf dem Deck des Dampfers stehen? Im Sommer ist aber auch wirklich nichts los, setzte er seine Gedanken fort. Nicht einmal ein klitzekleiner Mord. Die Stadt wirkt wie ausgestorben, die Mörder machen irgendwo im Ausland Ferien und lassen einen frustrierten Kommissär und eine mürrische Nadine Kupfer zurück. Seine Assistentin wollte partout keine Ferien machen. Eigentlich hatte sie doch mit Noldi, dem IT-Spezialisten des Kriminalkommissariats, nach Rhodos fliegen wollen. Und dann plötzlich doch nicht. Frauen! Noldi war allein gefahren, aber nicht nach Rhodos, sondern in die Berge. Irgendwie schien die Beziehung kurz vor dem Aus zu stehen. Wundert mich nicht, dachte Ferrari. Noldi ist manchmal wie eine Klette, lässt Nadine kaum Raum, die einer Raubkatze ähnlich Auslauf braucht. Ein ungleiches Paar, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Bis sie ihn irgendwann auffrisst, um beim Vergleich mit dem Raubtier zu bleiben.

Ferrari warf einen kleinen Ast in den Rhein, der gemächlich und irgendwie fröhlich flussabwärts schaukelte. Ein langer Weg bis ins Meer. Ein sehr langer mit vielen Hindernissen. Doch kam es nicht gerade darauf an – auf den Weg? War nicht er das Ziel und der Sinn zugleich? Jetzt bin ich bereits so weit, dass ich hier am Rhein philosophiere. Wen wunderts, wider Willen zur Untätigkeit verbannt, nur weil es allen potenziellen Mördern zu heiss ist, ihrem Handwerk nachzugehen. Ich habe wohl einen an der Waffel, tadelte sich Ferrari. Geradezu pervers! Ich lechze nach einem Mord, um mir die Langeweile zu vertreiben. Dabei sollte ich froh sein, dass in Basel nicht viel passiert. Monika, Ferraris Freundin, sagte ab und zu scherzhaft, er sei am falschen Ort geboren worden. New York oder eine der deutschen Grossstädte wären das richtige Umfeld für ihn. Kriminelle jeder Art und täglich mindestens einen Mord. Francesco Ferrari, der FBI-Agent oder Kriminalbeamte des Miami-Dade Police Departments! Das wäre wohl auch nicht das Wahre.

Nahes Donnergrollen deutete an, dass das Gewitter sich bald über der Stadt entladen würde. Wind kam auf, erste Regentropfen fielen. Endlich. In die Menschen am Rheinufer kam Bewegung. Eilig packten sie ihre Sachen zusammen. Auch Ferrari erhob sich und stapfte keuchend das Rheinbord hoch. An der Böschung blieb er für einen kurzen Augenblick stehen, schaute auf die Grossbasler Seite. Das Münster lag nun bedrohlich unter einer schwarzen Wolke. Zum Glück können wir das Wetter nicht auch noch beeinflussen. Wir würden es bestimmt tun. Die einzelnen Tropfen gingen in anhaltenden Regen über. Der Kommissär suchte Schutz unter der Wettsteinbrücke. Doch bevor er die Brücke erreicht hatte, goss es wie aus Kübeln. Ferrari fluchte. Platschnass und leicht fröstelnd stellte er sich unter den Brückenkopf. Der Wind wurde immer stärker.

Irgendein Handy klingelte. Der Kommissär sah sich missmutig um. Nicht einmal hier hatte man von der modernen Telekommunikation seine Ruhe. Einige Jugendliche, die ebenfalls vor dem Regen geflüchtet waren, zückten wie auf Kommando ihre Handys. Der Klingelton wurde lauter.

«He, Alter! Das ist deins», polterte einer der Jungs mit einem Basketball unter dem Arm los.

«Was meinst du?»

«Bist du schwer von Begriff? Dein Handy läutet.»

Ferrari griff in die Hosentasche. Tatsächlich, es war sein Mobiltelefon.

«Ferrari!»

«Na endlich! Wozu hast du überhaupt ein Handy, wenn du nie rangehst?!»

«Ich habe es nicht gehört, Nadine.»

«Wo steckst du?»

«Ich wurde vom Gewitter überrascht. Ich stehe hier mit einigen Basketballfreaks unter der Wettsteinbrücke.»

«Dann mach dich auf den Weg. Es gibt Arbeit, Francesco. Wieso flüsterst du eigentlich die ganze Zeit?»

«Ich flüstere doch gar nicht … ein Mord?», frohlockte Ferrari.

«Ja. Fast könnte man meinen, dass du richtig geil auf ein Verbrechen bist.»

«Dummes Zeug! Wohin soll ich kommen?»

«In die Güterstrasse. Gegenüber vom Bücher-Brocky. Das ist …»

«Ich weiss, wo das ist, Nadine. Im Gundeli. Du vergisst, dass ich in Basel aufgewachsen bin, ich kenne jeden Winkel der Stadt …»

«Schon gut, Herr Kommissär. Klingle bei Gissler und dir wird aufgetan.»

Ferrari steckte sein Handy in die Hosentasche zurück. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es gibt zu tun. Allem Anschein nach sind doch nicht alle Mörder in den Ferien!

2. Kapitel

Langsam liess der Regen nach, das Gewitter zog weiter. Ferrari fuhr mit dem Tram Nummer zwei zum Bankenplatz, stieg in den Sechzehner um, penetrant darauf bedacht, den vordersten Sitz im Anhänger zu erwischen. Eine ältere, fettleibige Frau versuchte, ihm seinen Platz streitig zu machen. Mit dem feinen Gespür des professionellen Tramfahrers hatte der Kommissär die Gefahr sofort erkannt. Er drängelte sich erbarmungslos unter den wütenden Blicken der arg keuchenden Konkurrentin vor und warf sich auf den eroberten Sitzplatz. Das sind die kleinen Freuden des Francesco F.! Die erbosten Worte der Frau, die mit dem zweitbesten Platz im praktisch leeren Tram Vorlieb nehmen musste, überhörte er geflissentlich.

Das Haus in der stark befahrenen Güterstrasse hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Ein graues, vierstöckiges Gebäude, bei dem sich an einigen Stellen der Putz von den Wänden löste. Ferrari klingelte bei Gissler. Der Flur lag im Dunkeln. Selbst als die spärliche Wandbeleuchtung aufflackerte, sah er nicht viel mehr. Das zarte Gelb an den Wänden liess sich nur erahnen. Im Hausgang stank es fürchterlich. Ferrari hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und keuchte die Treppe in die dritte Etage hoch, wo ihn Nadine Kupfer erwartete.

«Du könntest mal etwas für deine Kondition tun, mein Lieber. Ein paar Kilo weniger würden dir gut anstehen.»

Sie tippte ihm unbarmherzig auf den Bauchansatz.

«Es ist … es ist … die Wärme, die mir zu schaffen macht. Mein Gott hier stinkt es ja grauenhaft», stöhnte Ferrari.

«Tja, nicht wie in einem Parfümgeschäft. Hier, nimm den Mundschutz.»

Umständlich stülpte er sich das Gummiband über den Kopf.

«Soll ich dir helfen?»

«Danke, geht schon. Und … was gibts?»

«Ich möchte dich nur warnen, Francesco. Nichts für dein sanftes Gemüt.»

«Ja, ja, schon gut. Immer das Gleiche. Du hältst mich auch für ein Weichei, wie alle anderen im Kommissariat.»

«Bitte … wie du meinst …»

Ferrari betrat die Dreizimmerwohnung. Der Gestank wurde beinahe unerträglich. Linkerhand befand sich die Küche mit einem Esstisch, weiter hinten das Bad, rechts vom Gang Wohn- und Schlafzimmer. Der Kommissär atmete nur noch durch den Mund. Wie es schien, hatten der Gerichtsmediziner Peter Strub und sein Team bereits die Arbeit aufgenommen.

«Hallo, Francesco.»

«Tag, Peter. Kann jemand mal die Fenster öffnen. Das ist ja nicht auszuhalten.»

«Er liegt halt schon einige Tage rum. Willst du dir das wirklich antun?»

«Was soll das … Nadine hat mich schon gewarnt. Du kannst dir deinen Kommentar sparen. Und bitte, verschon mich heute auch mit deinem üblichen «Du als Italiener»-Gesülze. Ich bin und bleibe Basler. Verstanden?»

«Klar und deutlich, Francesco.»

Der Gerichtsarzt warf Nadine einen vielsagenden Blick zu und hob lächelnd das Laken. Dem Kommissär starrte eine von Fliegenmaden und Würmern zerfressene Fratze entgegen. Ferrari drehte sich um und rannte aus dem Wohnzimmer.

«Das Bad ist ganz hinten», hörte er Nadine rufen.

Kommissär Ferrari stand bereits in der Küche, riss die Balkontür auf und sog die frische Luft ein. Nach einigen Minuten kam er bleich zum Tatort zurück.

«Es … es … verdammte Scheisse. Weshalb habt ihr mir nicht gesagt, wie die Leiche aussieht.»

«Wir haben dich gewarnt», feixte Strub.

«Hört sofort auf zu grinsen …», stöhnte Ferrari. «Deckt den Mann zu und, verdammt noch mal, macht endlich alle Fenster auf.»

«Du wolltest ja den starken Max spielen, Herr Kommissär.»

«Der … Mann … hat ja fast kein Gesicht mehr. Das verfolgt mich jetzt bestimmt wochenlang, Nadine.»

«Verstehe, Chef. Wir bemühen uns, dir in Zukunft nur noch schöne Tote zu präsentieren.»

«Es kann nicht jeder so abgebrüht sein wie ihr zwei. Ich muss hier raus. Oder gibt es etwas Spezielles, das ich noch anschauen müsste?»

«Das Highlight haben wir dir gezeigt.»

Francesco sah Nadine an. War sie wirklich so abgebrüht? Oder zog sie einfach nur die perfekte Show ab?

«Ich bin so, wie ich bin, Francesco.»

Gedankenlesen kann sie auch noch. Eigentlich nichts Neues. Trotzdem bin ich immer wieder überrascht, fühle mich ertappt wie ein kleiner Schuljunge.

«Können wir die Unterhaltung draussen weiterführen?»

Nadine setzte sich auf die niedere Gartenmauer, während Strub sich stehend eine Zigarette anzündete.

«Was ist passiert? Wer ist der Mann? Und wer hat euch informiert?»

«Viel wissen wir noch nicht. Er heisst Arnold Gissler, dreiunddreissig Jahre alt. Zumindest habe ich einen Pass mit diesen Angaben in einer Schublade gefunden. Die Identifikation ist ja nicht ganz einfach.»

«Hör auf! Es kommt mir gleich wieder hoch.»

«Anscheinend arbeitet er bei einer Transportfirma als Lagerist. Ich habe einige Lohnabrechnungen neben dem Pass gefunden und bei der Firma angerufen. Arnold Gissler hatte zwei Wochen Ferien. Als er heute nicht zur Arbeit kam, hat ein Kollege bei ihm Sturm geläutet.»

«Der Hausmeister?»

«Gibt es nicht. Es sind nur vier Wohnungen, auf jeder Etage eine. Der Kollege von Gissler hat beim Gundeldingerposten angerufen, als niemand aufgemacht hat. Die sind dann ausgerückt, haben die Tür aufgebrochen, den Toten gefunden und uns informiert.»

«Ist denn niemandem der Gestank im Treppenhaus aufgefallen?»

«Anscheinend nicht. Wobei es erst so richtig stinkt, seit die Wohnungstür offen ist.»

«Die Todesursache, Peter?»

«Wahrscheinlich wurde er erstochen.»

«Was denn! Du immer mit deinem ‹Wahrscheinlich›. Ist er erstochen worden oder nicht?»

«Du brauchst mich gar nicht so anzumotzen, Francesco. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurde der Mann erstochen, aber du hast ja die Leiche gesehen. Du musst schon meinen Autopsiebericht abwarten …»

Ferrari schluckte leer und taumelte. Nadine fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Er setzte sich neben seine Assistentin auf die Mauer.

«Ist dir nicht gut, Francesco?», säuselte Strub. «Wie gesagt, aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er mit mehreren Messerstichen getötet. Die Hitze und die Tierchen haben ein Übriges getan», fuhr Strub ungerührt weiter. «Noch ein paar Tage und er wäre so richtig verfault. Stell dir vor, Francesco, die Maden fressen dir das Gehirn aus dem Kopf …»

Ferrari würgte und japste wie ein erstickender Fisch nach Luft.

«Jetzt reicht es, Peter!»

«Oh, Mama Kupfer stellt sich vor ihren Schützling! Ein empfindliches Pflänzchen, dein Partner. Vielleicht sollte er sich in die Abteilung Wirtschaftsdelikte versetzen lassen oder zur Verkehrspolizei wechseln. Bussen verteilen und so.»

Ferrari kümmerten die dummen Sprüche im Augenblick wenig. Er kämpfte mit erneuter Übelkeit.

«Ich bin oben, Nadine. Wenn er sich erholt hat, sag ihm, dass ich ihm morgen den Bericht vorbeibringe.»

«Mach ich, Peter. Danke.»

Nadine wartete geduldig, bis Ferrari seine Übelkeit überwunden hatte. Nur langsam nahm sein Gesicht wieder Farbe an.

«Ich frage mich jedes Mal, wenn wir so was erleben, weshalb du diesen Job machst. Warum bist du ausgerechnet Kriminalkommissär geworden?»

«Weil mich das am meisten fasziniert», brummte Ferrari.

«Mit deinem Nervenkostüm …»

«Hör auf damit, bitte. Es sehen ja nicht alle Leichen so schrecklich aus. Der Name … Arnold Gissler … irgendwie sagt er mir etwas», versuchte er vom Thema abzulenken.

«Du meinst, er war einer unserer Kunden?»

«Bin mir nicht sicher. Aber ich habe den Namen schon irgendwo gehört.»

«In welchem Zusammenhang?»

«Weiss ich nicht. Es fällt mir aber bestimmt noch ein.»

«Peter wird uns den Bericht morgen auf den Tisch legen.»

«Das habe ich gehört. Taub bin ich noch lange nicht. Gibt es Anzeichen für einen Kampf?»

«Weder für einen Kampf noch für einen Raub. Seine Brieftasche lag auf dem Boden, an die zweihundert Franken waren drin. Der Mörder oder die Mörderin hat ihn gekillt, die Wohnungstür zugezogen und ist seelenruhig gegangen.»

«Also ein Bekannter oder eine Bekannte.»

«Wahrscheinlich. Vielleicht ein Beziehungsdelikt.»

«Was ist mit der Tatwaffe?»

«Die haben wir gefunden. Die mutmassliche Tatwaffe, wie Peter sagen würde. Aber Gissler ist sicher damit umgebracht worden. Ein Klappmesser. Der Mörder oder die Mörderin, man weiss ja nie, stach mehrmals zu. Ziemlich brutal sogar. Oh, Mist! Das muss ich Peter ja noch geben …»

«Was denn?»

«Eine goldene Kette mit einem Sternzeichenanhänger. Waage. Gehört sicher dem Toten. Sie lag auf dem Boden neben der Leiche unter ein paar Zeitungen. Beim Sturz auf den Boden muss der Klubtisch umgekippt sein. Ich habe die Kette in eine Tüte gesteckt. Bitte erinnere mich daran, dass ich sie den Kollegen noch gebe.»

«Mache ich. Wann ist Gissler geboren?»

«Am 20. Oktober 1976. Also Waage.»

Ferrari schüttelte den Kopf. Da liegt ein Mann zwei Wochen tot in seiner Wohnung und niemand bemerkt etwas. Niemand scheint ihn zu vermissen, die Familie nicht, die Freunde nicht, die Hausbewohner nicht. In welch armseliger Welt leben wir bloss, in der jeder nur für sich schaut? Gut, er hatte Ferien, wollte vielleicht wegfahren. Zumindest einer wusste, dass er da war, der Mörder oder die Mörderin!

«Hast du mit den anderen Mietern gesprochen?»

«Die arbeiten anscheinend alle. Es ist niemand da. Einer der uniformierten Beamten hat aber Gisslers Kollegen befragt. Arnold Gissler scheint ein Einsiedler gewesen zu sein. Er lebte zurückgezogen, war nie krank, immer pünktlich, absolut zuverlässig und beliebt. Deshalb waren die Kollegen auch beunruhigt, dass er heute nicht zur Arbeit erschienen ist. Er, der nie fehlte. Übrigens er hätte längst Abteilungsleiter werden können.»

«Und weshalb wurde er es nicht?»

«Er wollte nicht. Ihm reichte sein Posten als Lagerist.»

«Verheiratet?»

«Nein, auch keine Freundin, so viel der Kollege weiss.»

«Aber irgendein Motiv muss es ja geben. Er hat sich sicher nicht selbst erstochen. Raub fällt aus, zumal nichts fehlt oder zumindest das Geld noch da ist. Und, so wie die Wohnung aussieht, macht es nicht den Eindruck, dass etwas bei ihm zu holen gewesen wäre. Im Geschäft wurde er anscheinend für keinen zum Konkurrenten. Bleibt noch ein Beziehungsdelikt.»

«Oder etwas, was tief im Untergrund schlummert.»

«Auch gut. Das wäre mir beinahe am liebsten.»

Nadine warf ihrem Chef einen fragenden Blick zu.

«Im Augenblick ist nicht viel los …», verteidigte sich Ferrari und ging ohne weitere Erklärungen zur Tagesordnung über. «Kannst du mal feststellen, ob etwas gegen diesen Arnold Gissler vorliegt? Es muss etwas geben. Niemand sticht mehrmals aus Spass auf jemanden ein und bringt einen harmlosen Menschen um. Ohne Grund. Hinter der Fassade liegt etwas verborgen. Ganz sicher. Ausserdem ist er kein Unbekannter. Ich weiss nur noch nicht, wo ich den Mann hintun muss …»

3. Kapitel

Nadine und der Kommissär gingen über die Bahnhofspasserelle und den Bahnhofsplatz zurück ins Kriminalkommissariat. Der Weg zum Waaghof war kurz, wie eigentlich meistens. Genau das liebte Ferrari an seiner Stadt, in gut einer halben Stunde konnte man das Zentrum von praktisch überall zu Fuss erreichen. Basel war keine Grossstadt, nein, absolut nicht, und das war auch gut so. Dafür überschaubar, gemütlich und liebenswert.

«Ziemlich viel los heute.»

«Wen wunderts. Ferienzeit ist Reisezeit.»

«Da fällt mir ein, wolltest du nicht mit Noldi nach Rhodos?»

«Tja, Pläne geändert. Noldi ist nach Haute Nendaz gefahren.»

«Ins Wallis? Da ist doch im Sommer nichts los.»

«Seine Eltern haben dort ein Chalet. Ich könne ja nachkommen, wenn ich wolle.»

Ferrari schaute sie von der Seite an. Es hätte ihn brennend interessiert, weshalb sie nicht nach Rhodos geflogen waren.

«Du kannst ja fragen!»

«Ich … ich … wieso seid ihr nicht nach Rhodos geflogen?»

«Das geht dich überhaupt nichts an!»

«Ich habe ja nur … ich meine … du hast mich aufgefordert …»

«Unsinn. Ich wollte nur wissen, ob du wieder einmal deine Nase in meine Angelegenheiten stecken willst. Und prompt bist du darauf reingefallen. Paps wollte heute früh auch wissen, was denn zwischen Noldi und mir schief läuft. Du bist genau gleich wie mein Vater. Zwei neugierige alte Männer!»

Ferrari verzog das Gesicht. Neugierig ja, alt nein! Anscheinend hatte Nationalrat Kupfer bereits sein Fett abbekommen. Jetzt war er an der Reihe.

«Gut, dann eben nicht. Ich habe es nur gut gemeint.»

«Darauf pfeife ich! Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue. Und wenn Noldi meint, dass er mich in einen goldenen Käfig stecken muss, dann ist er bei mir an die Falsche geraten. Er soll sich doch so eine wie die neue Sekretärin von Borer anlachen. Diese dumme Gans mit ihrem Schlafzimmerblick. Die lässt sich bestimmt gern jeden Wunsch von den Lippen ablesen und von ihrem Märchenprinzen ins Reich der Träume entführen.»

Aha, daher weht der Wind! Habe ich es mir doch gedacht. Noldi ist und bleibt ein ewiger Romantiker. Nur kommt diese Tour bei seiner Angebeteten schlecht an. Die Raubkatze hat also ihre Krallen gezeigt und Noldi eins ausgewischt. Jetzt hockt er in seinem Chalet und leckt seine Wunden.

«Was grinst du so blöd, Francesco!»

Ferrari zog den Kopf ein. Imaginär zeichnete er einen Heiligenschein über seinem Kopf.

«Du und mein Vater! Was glaubt ihr eigentlich?»

Einzelne Passanten blieben stehen und harrten neugierig des Geschehens.

«Ich würde mich nicht wundern, wenn ihr hinter meinem Rücken miteinander telefoniert. Na, Francesco, wie geht es meinem kleinen Mädchen? Passt du auch gut auf sie auf?»

«Also, ich bitte dich, jetzt gehst du zu weit! Ich habe bloss ein oder zwei Mal mit deinem Vater telefoniert …»

«Ha! Jetzt gibst du es auch noch zu. Eine Frechheit! Eine absolute Unverschämtheit! Ihr unterhaltet euch hinter meinem Rücken über mich …»

Nadines Stimme überschlug sich. Sie holte tief Luft, doch bevor sie zu einem nächsten Rundumschlag ausholen konnte, nahm sie die belustigten Gesichter wahr, die gespannt auf eine Fortsetzung warteten.

«Habt ihr nichts Besseres zu tun, als uns anzuglotzen. Na los, zieht Leine!»

Sie ging auf eine junge Frau zu, die sich eilig entfernte. Dann liess Nadine den Kommissär einfach stehen. Keuchend versuchte er sie einzuholen.

«He! Warte … auf … mich, Nadine.»

Erst auf der Höhe des Restaurants «Tapadera» holte er sie ein.

«Peace!»

Ferrari machte das Zeichen der Friedensbewegung. Nadine musste lachen. Sie küsste ihn auf die Wange.

«Ich kann dir einfach nicht böse sein, Francesco.»

Nochmals gut gegangen, dachte der Kommissär. Aber ich werde weiterhin ein Auge auf sie halten. Und vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, mich demnächst einmal mit Nationalrat Kupfer zu treffen. Ganz unverbindlich. Einfach so von Mann zu Mann. Oder so.

«Untersteh dich, mit Paps zu sprechen!», zischte sie ihm zu, «und mach den Mund wieder zu. Es zieht. Du solltest doch langsam wissen, dass dein Gesicht Bände spricht.»

«Das war ein Glückstreffer. Ich bin weit herum bekannt für mein Pokerface. He, wieso bist du eigentlich zu Fuss unterwegs? Normalerweise machst du doch keinen Schritt ohne deinen geliebten Porsche.»

«Blechschaden.»

«Blechschaden?»

«Es ist mir so ein Idiot am Aeschenplatz in die Seite gefahren.»

«Du hast dich doch hoffentlich nicht verletzt?»

«Nein, mir geht es gut. Und schau mich nicht so dämlich an. Ich lebe ja noch, wie du siehst.»

«Gott sei Dank! Ist der Wagen in der Garage?»

«Wo denn sonst, auf dem Friedhof vielleicht?»

«Hm!»

«Der Idiot ist mir voll reingeschrammt.»

«Links?»

«Rechts!»

«Rechts?»

«Ja, rechts! Ich dachte, ich kriege noch vor ihm die Kurve. Der Trottel hat den Vortritt erzwungen und mich voll erwischt.»

«Hm!»

«Was hm?! Er hätte nur ein wenig abbremsen müssen. Dann wäre ich an ihm vorbei gewesen. Aber das Arschloch hat vorsätzlich gehandelt.»

«Gibt es Zeugen dafür? Ein Polizeiprotokoll?»

«War wohl nicht nötig», gab sie kleinlaut zu.

«Nicht nötig?»

«Was ist heute eigentlich los, Francesco? Bist du mein Echo? Schluss jetzt. Ich will nicht mehr darüber sprechen.»

Ich schon, dachte Ferrari. Meine schnelle Kollegin wollte also den Vortritt erzwingen. Wie des Öfteren. Nur dieses Mal ohne Erfolg. Einer hatte nicht nachgegeben, und zwar zu Recht. Das Resultat präsentierte sich in Form eines Blechschadens, der wohl eine hübsche Summe kosten wird. Bleibt zu hoffen, dass es ihr eine Lehre sein wird. Na ja …, ihre Miene verriet das pure Gegenteil. Keine Spur von Einsicht oder gar Reue. Was die Hoffnung betrifft, sie stirbt wirklich zuletzt.

Im Büro versuchte Ferrari verzweifelt, die Klimaanlage auszuschalten. Sie arbeitete auf Hochtouren. Lieber schwitze ich mir die Seele aus dem Leib, als hier drinnen im Hochsommer zu erfrieren. Seine technische Begabung reichte für dieses Unterfangen nicht aus. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Fenster zu öffnen. Hämisch dachte er darüber nach, dass die Klimaanlage wahrscheinlich nächstens kollabierte, weil sie mit der Wärme von draussen nicht fertig wurde.

Arnold Gissler … Gissler … was sagt mir nur der Name? Und in welchem Zusammenhang? Mit Sicherheit bestand keine Verbindung zu einem seiner Fälle. Das wäre ihm in Erinnerung geblieben.

Nadine hatte sich ins Archiv begeben, um eine allfällige Akte Gissler zu finden. Besser sie als ich. Der Archivar war kein besonders guter Freund von Ferrari. Er liess ihn oft bewusst auflaufen, verzögerte die Einsichtnahme in Unterlagen. Warum auch immer. Manche Menschen mag man einfach nicht. Wenigstens bestand diese Antipathie auf Gegenseitigkeit. Nadine würde ihn problemlos um den Finger wickeln.

«Spinnst du, Francesco! Mach sofort die Fenster zu.»

«Weshalb?»

«Die Klimaanlage arbeitet auf Hochtouren.»

«Ich finde es so richtig angenehm.»

Nadine schloss die Fenster.

«He, das ist mein Büro!»

«Wenn dir das Klimagerät auf den Wecker geht, kannst du es doch einfach ausschalten.»

«Aha! Und wie das?»

«Hier …» Nadine drückte auf einen Knopf rechts vom Lichtschalter. «Ganz einfach. Wenn du hier draufdrückst, ist die Anlage aus. Und wenn die Anlage an ist, kannst du den Schalter drehen, von Minimal bis Maximal.»

«Ist sie jetzt ganz aus?»

«Ja.»

«Gut, dann kannst du die Fenster wieder öffnen und frische Luft reinlassen.»

Kopfschüttelnd öffnete Nadine die Fenster.

«Du bist ein sturer Bock, Francesco.»

«Danke für das Kompliment.»

«Nur dein Gedächtnis funktioniert nicht mehr richtig. Von Gissler existiert keine Akte.»

«Komisch. Ich hätte schwören können, dass er Dreck am Stecken hat. Trotzdem, der Name kommt mir bekannt vor.»

«Was hingegen wiederum stimmt.»

«Also doch jemand, der schon mit uns zu tun hatte?»

«Kannst du dich an die Fahrner-Tragödie vor fünfzehn Jahren erinnern?»

«Fahrner … Fahrner? Nein, das sagt mir nichts.»

«Ein junger Mann, den man mit inneren Verletzungen in der Augustinergasse fand. Auf dem Weg ins Spital starb er.»

«Ja, genau, jetzt dämmert es mir. Waren da nicht Freunde von ihm mit im Spiel?»

«Gar nicht schlecht, dein Gedächtnis. Angeblich wurde er von vier Gleichaltrigen praktisch zu Tode geprügelt. Allerdings waren es keine Freunde, sie kannten sich nicht.»

«Weshalb haben sie ihn zusammengeschlagen?»

«Grundlos. Heute würde man das wohl ‹Happy Slapping› nennen.»

«Meist jugendliche Angreifer schlagen auf einen Unbekannten ein, filmen es mit dem Handy und stellen es ins Netz oder verbreiten es übers Mobiltelefon.»

«Manchmal überraschst du mich. In einigen Dingen bist du absolut weltfremd, in anderen wiederum auf dem neusten Stand. Chapeau.»

«Schliesslich lese ich Zeitungen und schau mir die ‹Tagesschau› an.»

«Arnold Gissler war einer der vier jungen Leute.» Nadine legte eine Akte auf den Tisch. «Du solltest einen Blick darauf werfen.»

In den folgenden zwei Stunden vertiefte sich der Kommissär in die Gerichtsakten. Am 17. Oktober 1994, um zweiundzwanzig Uhr, wurde die Polizei von Passanten alarmiert. In der Augustinergasse beim Brunnen lag ein bewusstloser junger Mann. Obwohl umgehend ein Rettungswagen aufgeboten wurde, erlag das Opfer noch während des Transports seinen inneren Verletzungen. Geleitet wurden die damaligen Ermittlungen von Ferraris Vorgänger, Kommissär Bernhard Meister, der kurz darauf in Pension gegangen war.

Nach drei Tagen erfolgte ein Zugriff. Robert Selm, einer der vier jungen Männer, wurde verhaftet. Er bestritt die Tat, verwickelte sich aber in immer neue Widersprüche. Meister gelang es nach und nach, die Namen der drei anderen aus ihm herauszulocken, die mit ihm an jenem Abend zusammen waren: Arnold Gissler, Philippe Stähli und Andreas Richter. Die tagelangen Verhöre brachten keine neuen Erkenntnisse, die vier mutmasslichen Täter bestritten alles und gaben sich gegenseitig ein Alibi. Wochen später gelang dennoch der Durchbruch. Das schwächste Glied in der Kette, Robert Selm, gestand die Tat. Sie hätten sich einen Spass daraus gemacht, einen Unbekannten zu verprügeln, aber sie hätten ihn ganz bestimmt nicht töten wollen. Die anderen drei blieben bei ihren Aussagen. Auf Druck der Bevölkerung, vor allem die Eltern und die ältere Schwester von Beat Fahrner mobilisierten die Basler Medien, entschloss sich die Staatsanwaltschaft gegen die Empfehlung des Kommissärs Anklage zu erheben. Bernhard Meister befürchtete nämlich, dass Selms Geständnis nur für dessen Verurteilung reichen würde.

Es wurde einer der grössten Schauprozesse der Stadt. Medienleute aus ganz Europa berichteten darüber. Bei Prozessbeginn widerrief Robert Selm durch seinen Anwalt, Dr. Gregor Hartmann, seine Aussage. Er sei zu diesem Zeitpunkt von der Polizei derart unter Druck gesetzt worden, dass er gestanden habe, um endlich in Ruhe gelassen zu werden. Der Prozess wurde daraufhin zur Farce. Alle vier erklärten, zum angegebenen Zeitpunkt nicht in der Nähe der Augustinergasse gewesen zu sein. Auch die Zeugin, die bisher ausgesagt hatte, einen der Angeklagten gesehen zu haben, kippte um. Dem Richter blieb nichts anderes übrig, als die vier freizusprechen.

Den Akten lag ein Foto bei, das die vier Jungs mit Siegermienen vor dem Gerichtsgebäude zeigte, in der Mitte stand der strahlende Verteidiger, Dr. Gregor Hartmann. Ein weiteres Bild zeigte die Eltern und die Schwester von Beat Fahrner. Die Schwester tröstete die am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehende Mutter. Der Vater machte einen gefassten Eindruck. Ferrari holte eine Lupe aus der obersten Schublade seines Schreibtischs und konzentrierte sich auf den Vater. Es ist kein gefasster Eindruck, den er vermittelt. Wahrscheinlich starrt er zu den vier jungen Männern hin. Der Blick des Mannes wirkt wie eingefroren, so als ob dies noch längst nicht das Ende des Prozesses bedeuten würde. Eigenartig.

Ferrari klappte den Aktendeckel zu. Hat sich der Vater nach fünfzehn Jahren an einem der mutmasslichen Mörder seines Sohnes gerächt? Weshalb erst jetzt, nach so langer Zeit? Und weshalb gerade an Gissler? Gissler – Richter – Selm – Stähli. Alphabetisch? Dann ist Richter vielleicht der Nächste? Reine Spekulation. Wahrscheinlich wurde Gissler aus einem ganz anderen Grund ermordet. Aber zumindest ist es eine erste Spur.

Francesco Ferrari überquerte den Flur und klopfte an Nadines Bürotür.

«Hast du den Bericht gelesen?»

«Ja, ein Toter mit dunkler Vergangenheit. Warst du damals schon im Dienst?»

«Als Wachtmeister.»

«Wow! Und kennst du diesen Bernhard Meister, der die Ermittlungen leitete?»

«Er ist mein Vorgänger. Kurze Zeit später, als der Fall abgeschlossen war, ging er in den Ruhestand.»

«Mit fünfundsechzig?»

«Nein, mit achtundfünfzig. Er hatte die notwendige Anzahl Dienstjahre erreicht, um mit voller Pension in Rente gehen zu können. Der Fall gab ihm damals den Rest.»

«Aber es lag ja nicht an ihm, dass die Jungs wieder auf freien Fuss kamen.»

«Die Beweislage war sehr mager. Einer hat die Tat gestanden, drei haben sie bestritten. Mit dem Auftauchen von Staranwalt Hartmann war die Sache gelaufen.»

«Ein Staranwalt? Wer hat den bezahlt?»

«Ich nehme an, dass einer der vier oder sogar mehrere aus reichem Haus stammen. Dieser Hartmann hat dafür gesorgt, dass Selm seine Aussage zurückzog. Das war die grosse Sensation. Wenn ich mich nicht irre, gehörte Borer bereits zum Team des Ersten Staatsanwalts. Doch Dr. Gregor Hartmann zog alle Register und gewann.»

Nadine erhob sich.

«Dann gehen wir mal rüber.»

«Wohin?»

«Zu unserem verehrten Staatsanwalt.»

4. Kapitel

Jakob Borer sass vor dem Laptop und schrieb eine Rede. Zumindest versuchte er es. Nur zögerlich formierten sich die Buchstaben zu einzelnen Wörtern, deren höherer Sinn noch ungewiss war. Die Konzentration fiel ihm schwer, was nicht nur an der Hitze lag. Vielmehr fehlte ihm der Zugang zum Thema: die Jubiläumsfeier der Freien Schützen Beider Basel. Ausgerechnet ihn hatte man angefragt. Er, der ganz grundsätzlich nicht viel vom Schiessen hielt. Während seiner Dienstzeit hatte er jedes Mal das obligatorische Schiessen nur mit Mühe und Not bestanden. Und vor dem letzten Wiederholungskurs hatte er sogar sang- und klanglos versagt und sich dann beim Nachschiessen von einem Freund vertreten lassen. Der Schweiss lief ihm noch heute beim Gedanken über die Stirn, dass sie hätten erwischt werden können. Aber die alten Schiessspezies, die das Obligatorische abnahmen, kontrollierten nur vage, ob wirklich der Richtige im Schiessstand lag. Sein Freund Robert, heute immerhin ein renommierter Bankdirektor, gab ihm die gewünschte Schützenhilfe, im wahrsten Sinn des Wortes. Er schoss fröhlich drauflos und seinen Freund Jakob beinahe in die Ränge. Borer musste ihn bremsen, sonst wäre womöglich der Betrug aufgeflogen. So schoss Robert die letzten Kugeln einfach in den Himmel, sehr zum Missfallen der alten Herren, die es gerne gesehen hätten, wenn einer ihrer Schützen das Maximum erreicht hätte. Borer atmete tief durch, setzte sich aufrecht und begann zu schreiben. Schliesslich war es der Parteipräsident, der ihn um diesen Gefallen gebeten hatte. Ganz abgesehen davon, dass Schützen echte Patrioten waren und echte Patrioten gingen an die Urne. Das war gut, sehr gut sogar. Denn im nächsten Jahr standen Wahlen an, Borer kandidierte für den Nationalrat. Die Schützen würden sich an ihn erinnern und ihm seine Stimme geben, unter der Voraussetzung, dass es ihm gelang, sie zu begeistern. Ein Lob auf die Schützen und den Militärdienst durfte also nicht fehlen. Der Staatsanwalt strich die Notwendigkeit der Schweizer Wehrtauglichkeit zur Verteidigung der Neutralität heraus und ergänzte den Text mit einem Pamphlet über die Bedeutung einer kampfbereiten Bevölkerung. Nicht nur kampfbereite Männer, sondern auch Frauen. Auf diese Passage war er besonders stolz. Das würde ihm auch die Stimmen der Patriotinnen einbringen. Gegen wen die Kampfbereiten dann letztendlich ins Gefecht ziehen sollten, liess er mangels Feindbild lieber offen. Borer wurde durch laute Stimmen in seinem Vorzimmer abgelenkt. Gerade jetzt, wo sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen zu fügen begannen. Wütend erhob er sich und öffnete die Tür.

«Was ist denn hier los?»

«Diese … diese Tussi da will uns nicht zu Ihnen lassen.»

«Mässigen Sie sich, Frau Kupfer! Frau Steiner ist keine Tussi. Eine Entschuldigung Ihrerseits wäre angemessen.»

«Was?! Das ist die Höhe. Wir sind hier reingekommen und wollten Sie sprechen. Die Kuh hat sich die Fingernägel lackiert und süffisant gesagt, dass Sie nicht zu sprechen seien. Und jetzt soll ich mich auch noch entschuldigen? Niemals!»

Frau Steiner war dem Weinen nahe. Sie ist gut, dachte Ferrari, aber nicht ganz so gut, um mich zu täuschen.

«Muss ich mich von dieser … dieser Frau Kupfer das gefallen lassen, Herr Staatsanwalt?», flötete sie.

«Mitnichten, meine Gute. Also, was ist, Frau Kupfer?»

«Niemals!»

«Gut, dann bitte ich Sie, unser Büro zu verlassen. Ich habe Wichtiges zu tun.»

«Unser Büro?», echote Ferrari.

«Ich meine natürlich mein Büro, Ferrari.»

«Sie haben aber unser Büro gesagt, Herr Staatsanwalt.»

«Unser Büro, mein Büro, was soll diese Haarspalterei?»

«Ich gebe zu, dass Nadine mit ihrer Bezeichnung Tussi eine unglückliche Wortwahl gewählt hat …»

«Habe ich nicht!»

«… aber Frau Steiner hat uns tatsächlich wie Bittsteller behandelt …»

«… habe ich nicht. Das müssen Sie mir glauben, Herr Staatsanwalt!», flennte sie los.

«Oscarreife Leistung!», setzte Nadine noch einen drauf, bevor Ferrari zur eigentlichen Sache übergehen konnte.

«Wir müssen Sie in einem Mordfall sprechen, Herr Staatsanwalt. Ein Arnold …»

«Sehen Sie denn nicht, was Sie mit Ihrem Überfall angerichtet haben? Sie und Ihre Frau Kupfer! Frau Steiner ist in Tränen aufgelöst und ganz durcheinander. Und im Übrigen habe ich jetzt keine Zeit. Ich habe Wichtiges zu tun. Die Zukunft verlangt meinen ganzen Einsatz.»

Borer tätschelte Annina Steiner die Hände, um sie zu beruhigen. Weinende Frauen brachten ihn stets aus dem Gleichgewicht.

«Wie Sie meinen, Herr Staatsanwalt. Komm, Nadine, wir gehen.»

«Das ist doch …»

Ferrari schob Nadine unsanft zum Büro hinaus.

«He! Was soll das? Ich lasse mich doch nicht von dieser Schnepfe so einfach abservieren. Die zieht nur eine miese Show ab.»

Jakob Borer hielt noch immer eine Hand von Annina Steiner.

«Was wollten Sie eigentlich? Von wem sprachen Sie da eben?», brummte er beim Versuch, sein fein säuberlich gefaltenes und gebügeltes Taschentuch mit den Initialen JB hervorzuholen.

«Arnold Gissler wurde ermordet. Darüber wollten wir uns mit Ihnen unterhalten.»

Jakob Borer wich schlagartig von seiner Sekretärin zurück.

«Arnold Gissler? Kommen Sie rein. Ich will in der nächsten Zeit unter keinen Umständen gestört werden, Frau Steiner!»

Jakob Borer ging nervös in seinem Büro hin und her. Nadine und der Kommissär hatten sich vor seinem Schreibtisch auf die Besucherstühle gesetzt. Nadine wollte den Staatsanwalt etwas fragen, aber Ferrari hielt sie davon ab. Borer sollte von sich aus sprechen. So verging eine Minute, bis Borer endlich zur Sache kam.

«Eine der grössten Niederlagen in meiner Karriere. Man könnte sogar sagen, die einzig wirkliche.»

«Aber Sie waren damals doch gar nicht dafür verantwortlich», sprudelte es aus Nadine heraus.

«Ich fühlte mich aber verantwortlich. Der Erste Staatsanwalt vertrat die Anklage. Und ich habe ihm wochenlang zugearbeitet. Das hätte mich beinahe meine Karriere gekostet.»

«Haben Sie dabei Fehler gemacht?»

«Wie … Fehler? Nein, sicher nicht. Wo kämen wir da hin, wenn man die Anklage auf Fehlern aufbauen würde. Aber die Beweislage war äusserst dünn. Letztendlich nur basierend auf der Aussage von diesem, wie hiess er doch noch …»

«Selm!»