Und die Ratte lacht - Nava Semel - E-Book

Und die Ratte lacht E-Book

Nava Semel

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Beschreibung

1999 bemüht sich eine israelische Schülerin, Hausaufgaben zu machen. Sie soll ihre Großmutter über deren Kriegserlebnisse in Polen befragen und darüber einen Aufsatz schreiben. Die Großmutter nimmt Zuflucht zu einer Legende: Die Ratte wünschte sich vom Schöpfer die Gabe des Lachens. Er gab nach, unter einer Bedingung: Wenn die Ratte eines Tages unter der Erde ein anderes Wesen lachen hört, dann wird auch sie lachen können. Hundert Jahre später versucht eine Anthropologin, den Ursprung des Mythos vom Mädchen mit der Ratte zu ergründen. Dieser Mythos, der in vielerlei Formen überliefert ist, z.B. in Internet-Gedichten oder Comics , lässt die Forscherin nicht los. Schritt für Schritt deckt sie seine Entstehung auf: Im zweiten Weltkrieg versteckten polnische Bauern gegen Geld ein jüdisches Mädchen. Sie sperrten es in ein Erdloch, wo sein einziger Gefährte eine Ratte war, mit der es sich anfreundete. Ein Priester nahm sich schließlich des Mädchens an und übergab es bei Kriegsende einer zionistischen Organisation. "Und die Ratte lacht" ist ein bestürzendes, kühnes Werk, das sprachlich und inhaltlich neue Wege geht. Die hebräische Originalausgabe erschien 2001 und war ein großer Erfolg. Die gleichnamige Kammeroper, komponiert von Ella Milch-Sheriff und mit dem Libretto von Nava Semel, hatte 2005 in Tel Aviv Premiere.

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Nava SemelUnd die Ratte lacht

Roman

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

persona verlag

Über dieses Buch

1999 bemüht sich eine israelische Schülerin, Hausaufgaben zu machen. Sie soll ihre Großmutter über deren Kriegserlebnisse in Polen befragen und darüber einen Aufsatz schreiben. Die Großmutter nimmt Zuflucht zu einer Legende: Die Ratte wünschte sich vom Schöpfer die Gabe des Lachens. Er gab nach, unter einer Bedingung: Wenn die Ratte eines Tages unter der Erde ein anderes Wesen lachen hört, dann wird auch sie lachen können.

Hundert Jahre später versucht eine Anthropologin, den Ursprung des Mythos vom Mädchen mit der Ratte zu ergründen. Dieser Mythos, der in vielerlei Formen überliefert ist – zum Beispiel in Internet-Gedichten oder Comics –, lässt die Forscherin nicht los. Schritt für Schritt deckt sie seine Entstehung auf: Im zweiten Weltkrieg versteckten polnische Bauern gegen Geld ein jüdisches Mädchen. Sie sperrten es in ein Erdloch, wo sein einziger Gefährte eine Ratte war, mit der es sich anfreundete. Ein Priester nahm sich schließlich des Mädchens an und übergab es bei Kriegsende einer zionistischen Organisation.

»Und die Ratte lacht« ist ein bestürzendes, kühnes Werk, das sprachlich und inhaltlich neue Wege geht. Die hebräische Originalausgabe erschien 2001 und war ein großer Erfolg. Die gleichnamige Kammeroper, komponiert von Ella Milch-Sheriff und mit dem Libretto von Nava Semel, hatte 2005 in Tel Aviv Premiere.

»Ein bewegender und sprachlich bestechender Roman.« (Doris Hermanns, emotion)

»Nava Semel hat mit Hilfe der Erinnerungen der Großmutter, der Fragen der Enkelin, der anonymen Internetgedichte, des Tagebuchs und des Traumchips aus der Zukunft ein komplexes Ganzes erzählt, das anregt, selbst zu forschen, sich und andere zu fragen, die Metamorphosen der Erinnerung zu entdecken und zuzulassen.« (Gesine Strempel, RBB)

Der Autorin

Nava Semel wurde 1954 in Israel geboren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte widmete sie sich der Literatur. Sie schrieb Lyrik und Prosa, Drehbücher fürs Fernsehen, Theaterstücke und Hörspiele. In Deutschland wurde sie vor allem durch ihre Jugendbücher bekannt. »Die Braut meines Bruders« stand 2004 auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises. Weitere Titel sind »Gerschona« (in der Neuauflage »Trauer, Hoffnung und Radieschen«) und »Flugstunden« sowie »Liebe für Anfänger«. Der (Erwachsenen-)Erzählband »Gläserne Facetten« ist vergriffen. Nava Semels Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie erhielt internationale Literaturpreise.

Die Übersetzerin

Mirjam Pressler ist Autorin und Übersetzerin. Sie hat u. a. Werke von Batya Gur, Shulamit Lapid, Amos Oz, Zeruya Shalev sowie alle bisher erschienenen Bücher von Nava Semel ins Deutsche übertragen.

Inhalt

Erster Teil: Die GeschichteZweiter Teil: Die LegendeDritter Teil: Die GedichteVierter Teil: Der TraumFünfter Teil: Das Tagebuch

Impressum

Erster TeilDie Geschichte

Ein Tag in Tel Aviv, Ende 1999

Wie soll man die Geschichte erzählen?

Was versiegelt war, will in letzter Zeit hervorbrechen.

Aber vielleicht ist es auch nicht nötig, die Geschichte zu erzählen. Die alte Frau versucht, ihren unbeirrbaren Entschluss zu verteidigen und ihr Schweigen zu bewahren. So viele Jahre hat sie die Frage in sich zurückgehalten.

Und jetzt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann, steigt die Geschichte aus ihrem Grab auf, fordernd und drängend.

Wie soll man die Geschichte erzählen?

Vielleicht wurde sie schon erzählt. In Augenblicken der Zerstreutheit taucht sie an die Oberfläche, entzieht sich dem Griff. Und weil der Gedanke an diese Geschichte, die unbewacht aus ihr herausbricht, zu erschreckend ist, scheint ihr, als habe sie keine andere Wahl, als den Auftrag der Erzählerin auf sich zu nehmen.

Doch sie weiß nicht, wie. Und so, wie sie die Geschichte unterdrückt hat, unterdrückt sie nun diese Frage. Denn wenn sie ihr eine Stimme gibt, wird die Geschichte herausplatzen, ohne dass sie sie zurückhalten kann, und die abgetrennten Teile werden sich in alle Richtungen zerstreuen, unkenntlich, sogar für sie selbst.

Soweit es von ihr abhängt, wird sie die Geschichte nicht ganz erzählen.

*

Ich war ihre Tochter. Die Tochter meiner Mutter und meines Vaters. Ich liebte sie.

Das könnte der Anfang sein.

Nein.

Das würde das Ende der Geschichte bedeuten, noch bevor sie begonnen hätte.

*

Auch wenn sie sie in ihrem Innern verschlösse, würde die Geschichte ausbrechen und sie mit ihren Stacheln verletzen. Einige dieser Stacheln hatten sich zersetzt oder waren abgefallen, und sie hatte gehofft, die Zeit würde alles zuverlässig abdecken, was man besser vergaß, was man noch nicht einmal sich selbst erzählen sollte. Und wenn sie manchmal versuchte, ein Aufflackern der Erinnerung herbeizurufen, wehrte sich ihr Gedächtnis und verweigerte die Mitarbeit. Nur wenn sie abgelenkt war, jenseits der Selbstbeherrschung, wurde sie gestochen, ungerufen tauchten die Stacheln auf und zwangen sie tief hinein in die Geschichte.

*

Ich war ein Kind.

Es war nicht meine Wahl, geboren zu werden.

Vermutlich war ich glücklich. Ohne dass sich diese Frage je gestellt hätte, natürlich. Kinder stellen sich nie die Frage nach ihrem Glück.

Was möchtest du wissen?

Wozu soll das gut sein?

Warum ausgerechnet jetzt?

Mit diesen Fragen versucht die alte Frau, das Unvermeidliche zu verhindern. Aber die Enkelin gibt nicht auf. Sie beharrt auf Antworten.

Die alte Frau sucht hartnäckig nach einem möglichen Anfang, einem, der den Fortgang nicht gefährdet.

*

In ihren Augen hat die Geschichte keine besondere Bedeutung für andere, auch nicht zu diesem späten Zeitpunkt. Es gibt viele ähnliche Geschichten, und manche von ihnen wurden schon erzählt. Sie glaubt nicht, dass ihre Geschichte wichtiger ist.

Im Gegenteil: Sie ist überzeugt, dass diese Geschichte sich wehrt, dass sie sich selbst zerstört, und dass sie bei dem Versuch, ihre eigene Hässlichkeit zu verbergen, zu einer anderen Geschichte wird.

Und dennoch ist sie die Einzige, die sie erzählen kann, und wenn schon nicht ganz, dann doch das Wichtigste, oder wenigstens einiges davon. Ein fremdes Gefühl von Dringlichkeit überkommt sie. Vielleicht liegt es am Alter. Sie kann nicht zulassen, dass diese Geschichte verschwindet.

*

Ich hatte eine Mutter.

Ich hatte einen Vater.

Reicht dir das nicht?

Ich liebte und ich verlor.

Das ist das Ende. Und auch der Anfang.

Die alte Frau kämpft bis zum letzten Moment mit sich selbst, bis die Türglocke läutet und die Wände erbeben lässt.

*

Das ist keine der Geschichten, die das Publikum liebt. Alte Frau, gib ihnen etwas Leichtes, Optimistisches, mit einer spannenden Handlung. Der Held muss größer sein als das Leben, sagt ihre Enkelin. Strahlend, berühmt, wie aus dem Fernsehen. Trotz ihres Alters kennt die Frau die neuen Geschichten. Sie weiß, dass eine Geschichte erfolgreich ist, wenn sie die Zuhörer von der eigenen freudlosen und willfährigen Existenz wegführt. Die Leute haben genug Probleme, auch ohne Geschichten wie die ihre.

Die Rezipienten des neuen Jahrtausends urteilen schnell. Sie glauben, genug gehört zu haben. Diese Geschichte, jene Geschichte, die Welt ist voller Geschichten. Sogar wer keine zu erzählen hat, beharrt auf seinem eigenen Bruchstück. Und wenn man es erzählt, soll das Bruchstück bekannt klingen. Es ist empfehlenswert, nur das zu erzählen, was bereits erzählt worden ist.

Doch ihre Geschichte, verfault in ewiger Dunkelheit, kann nicht bekannt sein. Deshalb sind ihre Aussichten, Zuhörer zu finden, besonders gering. Tief in ihrem Herzen hofft die alte Frau auf eine feindliche Reaktion, die die Geschichte ein für alle Mal wegwischen würde.

Doch sie ganz wegzuwischen ist unmöglich.

Außerdem weiß sie, dass in ihrem Fall eine außerordentliche Mühe erforderlich ist, überhaupt zu erzählen. Weiterhin zu lieben, auch an Stellen, an denen die Geschichte ohne Liebe ist.

Denn wenn sie die Geschichte erst losgelassen hat, werden die Leute sie anders erzählen. Dinge hinzufügen, andere weglassen, sie verzerren. Und sie hat nur ihre eigene Version, das Beste, was sie geben kann. Und in Gedanken fängt die alte Frau vorsichtig und behutsam an, Stacheln aus dem Körper der Geschichte zu ziehen, in der Hoffnung, sie damit wohlüberlegt und kontrolliert hervorzubringen.

Wegen der Grausamkeit würde sie es lieber sein lassen.

Vorläufig.

*

Das Mädchen sitzt ihr gegenüber, mit offenen Handflächen.

Großmutter, erzähle.

Sie schweigt.

Großmutter, ich bin´s.

Sie zieht noch immer Dornen heraus.

*

Sie ist nicht so alt, wie man annehmen würde. Doch da sie in den Augen ihrer Enkelin zu einer Welt gehört, deren Existenz zweifelhaft ist, nennen wir sie weiterhin »die alte Frau«, obwohl Alter, wenigstens in ihrem Fall, eine irrige Bezeichnung ist.

Tatsächlich ist in ihrem Fall die Kindheit ein fester Wert und nicht frei von Nostalgie.

Die alte Frau ist das Mädchen, das sie einmal war. Man muss sich allerdings davor hüten, den gegenwärtigen Körper in der Vorstellung mit kleinen Patschhänden zu versehen, mit Wangengrübchen und Milchzähnen. Und da das Ebenbild des kleinen Mädchens, das sie einmal war, nicht in diese weiche Süße getaucht ist, werden wir es vermeiden, sie »jenes kleine Mädchen« zu nennen. Wenn die alte Frau vor dem Spiegel steht, sucht sie – sie sucht immerfort – in der Hoffnung, das Gesuchte nicht zu finden.

*

Ich habe es verloren.

Ich habe alles verloren.

Nicht alles.

Fast alles.

*

Geduld, mein Mädchen. Jedem Erzähler fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, und dieser bestimmten Erzählerin fällt es besonders schwer, denn das Aufflackern der Erinnerung hat noch keine Übersetzung in die Erzählsprache gefunden.

Das war eine ausgezeichnete Ausrede, die Geschichte nicht der Mutter des Mädchens zu erzählen, die die alte Frau ebenfalls »das Mädchen« nennt, obwohl sie schon lange kein Mädchen mehr ist.

Sie nennt alle »Mädchen«, die sie geboren hat. Und auch jene, die von denen geboren wurden, die sie geboren hat.

Welchen Anfang soll ich wählen? Vielleicht den, der dem Anfang vorausgegangen ist?

Es war einmal – das ist die übliche, nette Form, mit einer Geschichte zu beginnen. Also, es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie lernten sich kennen. Sie liebten einander. Mehr oder weniger. Sie bekamen eine Tochter. Wurden eine Familie. Ein bekanntes, geordnetes Modell. Das ist ein vielversprechender Anfang.

Doch die Geschichte weigert sich, so erzählt zu werden.

*

Warum tut man mir das an?

Was habe ich getan?

Warum?

Das ist die ganze Geschichte in einem einzigen Wort.

*

Die alte Frau wehrt sich. Geschichte? Warum nennt man das überhaupt eine Geschichte? Das Wort macht aus ihr etwas Märchenhaftes, verändert harte Details in Anekdoten.

Aber das Mädchen gibt nicht nach. Es ist eine Geschichte. So hat sie es gelernt. Und nicht nur eine einfache Geschichte, sondern ein Zeugnis aus erster Hand. Sie hat sogar ein Heft mitgebracht, um alles aufzuschreiben. Auf dem Umschlag klebt ein Engel, ein bekannter Druck, der überall zu haben ist. Der Engel stützt das Kinn in die Hand. Seine Flügel sind bunt, und er blickt nach oben.

Das Mädchen, das der alten Frau gegenübersitzt, ist ihre Enkelin. Die alte Frau weiß, dass sie sich im Lauf der Geschichte vor den Augen des Mädchens verändern wird, und deshalb zögert sie. Es ist wichtig, das Mädchen nicht vor ihrer Zeit älter werden zu lassen. Sie hat Angst vor Veränderungen.

Was wäre gewesen, wenn …

Was wäre gewesen, wenn dieses Mädchen, das ihr gegenübersitzt, an Stelle des Mädchens gewesen wäre, das sie einmal war?

Das wäre eine ganz andere Geschichte.

Oder vielleicht auch nicht.

*

Ein Haus. Ihr Zimmer. Ein Fenster in der Wand. Ein Spitzenvorhang mit Rosenmuster. Eine Puppe mit Zöpfen. Sie ging schlafen, mit der Puppe unter ihrem Kissen. Mitten in der Nacht stand sie auf, zog die Puppe hervor, hatte Angst, sie könne ersticken. Sie bat die Puppe um Verzeihung.

Ihre Mutter lachte.

Die Enkelin ist enttäuscht. Das ist nicht der Anfang, den sie erwartet hat. Eines Tages, wenn sie selbst die Geschichte erzählen wird, falls sie es tut, wird sie einen anderen Anfang wählen. Ihren eigenen Anfang.

*

Ich habe sie geliebt.

Sie haben mich geliebt.

Das ist der Anfang.

Nein, diese Geschichte kann man nicht mit Liebe beginnen.

*

Hätte man sie gebeten, einen Rechenschaftsbericht abzulegen, statt eine Geschichte zu erzählen, wäre es leichter. Ein vorformulierter Fragebogen. Sie hätte die trockenen Fakten liefern können, ohne eigene Klagen zu formulieren. Einzelne ausgewählte Fragen hätten ihr geholfen, die Kontrolle zu behalten, und alles, was sie nicht erzählen wollte, wäre verschlossen geblieben.

Sobald sie sich bereit erklärt hatte, den Wunsch ihrer Enkelin zu erfüllen, hatte sie erkannt, dass diese Geschichte zu erzählen bedeutete, sie herauszufordern. Jetzt hat sie keine Wahl, sie ist in die Falle gegangen.

Gegen ihren Willen, geschlagen, versucht sie einen neuen Anfang.

2

Eine große Stadt. Eine von vielen in Europa. Im Winter liegt hoher Schnee. Der See ist zugefroren. Zum Geburtstag bekam sie Schlittschuhe. In ihrem himmelblauen Cape fuhr sie im erlaubten Bereich, wo die Eisschicht ausreichend dick war. Die Leute sagten, es gebe Fische unter dem Eis. Sie sah keine.

Ein fünfjähriges Mädchen kann nicht alles mit seinen Sinnen erfassen.

Wer hielt ihre Hand, damit sie nicht fiel?

Ihr Vater. Auch ihre Mutter. Das Dienstmädchen? Vermutlich nicht. Das Dienstmädchen trug immer seine Uniform: ein dunkelblaues Kleid mit einem weißen Kragen und langen Ärmeln.

Oh ja. Das Dienstmädchen. Das scheint ein vielversprechender Anfang zu sein. Die Enkelin setzt sich gemütlich hin und breitet das Heft mit dem süßen Engel auf dem Umschlag auf ihren Knien aus. Das ist es, was sie sich vorgestellt hat: alles, was man für eine Geschichte braucht, sogar ein Dienstmädchen.

*

Sie schrie. Sie trat. Sie zerbrach Dinge.

Warum bringt ihr mich zu Leuten, die ich nicht kenne? Ich war doch ein braves Mädchen. Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat. Warum jagt ihr mich aus dem Haus? Mein Zimmer. Meine Puppe. Das Fenster mit dem Spitzenvorhang. Das Rosenmuster. Meine Mutter hat es gestickt.

Ich habe euch lieb. Wie kann es sein, dass ihr mich nicht auch lieb habt?

Ich gehe nicht. Ich will nicht. Nein.

Ihr seid ein böser Vater und eine böse Mutter.

Am Ende schlug sie nach ihnen.

Nun war sie wirklich ein böses Mädchen. Es geschah ihr recht.

So fängt die Geschichte wirklich an.

*

Die Enkelin duckt sich. Trotzdem ist sie entschlossen, fortzufahren. Ein armseliger Anfang deutet nicht zwangsläufig auf ein schlechtes Ende hin. Soweit es sie selbst betrifft, hat die Geschichte sowieso ein gutes Ende genommen. Die alte Frau ist schließlich ihre Großmutter.

»Und es endete mit dem Tod.« Die Enkelin schreibt diesen Satz nicht in ihr Heft, denn die Geschichte hörte nicht so auf, jedenfalls diese Geschichte nicht.

Aber die Drohung wurde von den Gebärenden zu den Geborenen weitergegeben und wurde zu einer ererbten Unzulänglichkeit. Eine Herausforderung für Wissenschaftler, die für einen Durchbruch in der Korrektur genetischer Defekte kämpfen. Die alte Frau nickt, resigniert vor der Unvermeidlichkeit genetischer Defekte. An einer Korrektur wird sie nicht teilhaben.

*

Sie gab nicht auf. Sie lehnte es ab, zu packen. Auch nicht die Puppe mit den Zöpfen. Am letzten Tag weigerte sie sich sogar, zu essen. Das Hungern wurde zu ihrer letzten Waffe. Auch zu diesem späten Zeitpunkt betont die alte Frau, dass sie nicht mitgearbeitet hat. Sie war wirklich das böseste Mädchen der Welt. Denn wenn man aus dem Haus gejagt wird, muss es einen Grund geben. Ihre Mutter sagte: Es ist nur zu deinem Besten, und ihr Vater sagte: Es ist nur für kurze Zeit.

Alle Erwachsenen lügen.

Die Enkelin hebt den Blick vom Heft. Bis jetzt hat es ausgesehen, als schreibe sie alles sorgfältig mit.

Alle Erwachsenen lügen. Eine überflüssige Bemerkung.

Die alte Frau hält inne. Die Geschichte verlangt sowieso eine Pause. Sie fürchtet, die Enkelin könne glauben, ihre Großmutter sage nicht die Wahrheit.

Schließlich ist sie selbst erwachsen.

Ohne Vertrauen ist die Geschichte in Gefahr, zusammenzubrechen.

*

Wenn man aus dem Haus gejagt wird, muss es einen Grund geben.

Ein böses Mädchen.

Ein überflüssiges Mädchen.

Schade, dass sie geboren wurde.

Es geschieht ihr recht.

*

Noch nie hatte sie das Haus ohne ihre Eltern verlassen. Noch nie hatten ihre Eltern sie verlassen. Sogar wenn sie im Sommer ans Meer fuhren, nahmen sie sie mit. Jetzt muss sie ohne sie leben. Mit fremden Menschen an einem fremden Ort. Warum nehmen sie sie nicht mit?

Sie weinte die ganze Nacht. Ihre letzten Tränen. Die Mutter saß an ihrem Bett, versuchte sie in den Arm zu nehmen. Sie stieß sie weg. Der Zorn– das ist das Gerüst der Geschichte.

Die alte Frau wird alles tun, um zu verhindern, dass das Gift über ihre Zuhörerin verspritzt wird. Die alte Frau hatte sie sich nicht ausgesucht. Sie zweifelt nicht daran, dass ihre Enkelin nicht die ideale Adressatin für diese Geschichte ist. Könnte die alte Frau wählen, hätte sie sich einen gleichgültigen, unbeteiligten Partner gewählt, einen distanzierten, der frei wäre von ihrem vererbten Defekt. Vielleicht wäre die Geschichte dann etwas glatter herausgekommen. Aber in ihrem Alter ist es eine Dummheit, auf den vollkommenen Zuhörer zu hoffen.

Wenn man die Geschichte und ihre qualvolle Art, aus der Dunkelheit auszubrechen, beurteilt, wird man auch die Erzählerin sezieren. Vielleicht wäre ein anderes Vorgehen denkbar. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich mit dem Anfang zu begnügen und das, was danach geschah, auf ein unschädliches Minimum zu begrenzen.

Ohne alles gehört zu haben, wird auch die Mutter der Enkelin ihren Wert in Frage stellen, weil man ihrer Meinung nach manche Geschichten auf die beschränken müsse, die den zwielichtigen Bezirk, der die Kindheit von dem trennt, was danach kommt, schon hinter sich gelassen haben.

Nur schwer geht die Geschichte voran und zieht sich schnell wieder zurück.

*

Im Falle der alten Frau und aller, die ihr ähnlich sind, hat der erbliche Defekt seinen Höhepunkt erreicht. Ihre Tochter hatte sich beschwert, erst hinter ihrem Rücken, dann direkt ins Gesicht. Und auch das ist Teil der Geschichte, obwohl es vermutlich zu einer anderen gehört.

Auch die alte Frau würde sich wünschen, man würde ihre zügellose Geschichte mit den entstellenden Dornen durch eine andere, zahmere ersetzen. Und wenn die Mutter der Enkelin bei diesem Gespräch anwesend wäre, das an einem sonnenüberfluteten Nachmittag in Tel Aviv stattfindet, würde sie vermutlich strenger mit der Erzählerin umgehen als alle Sachverständigen der Erzählkunst.

Lass uns damit in Ruhe, würde sie sagen. Hör auf mit dieser Geschichte.

*

Was ist das, eine Jüdin?

Wenn es so schlimm ist, Jüdin zu sein, warum habt ihr mich zu einer gemacht?

Ihr seid schuld. Nur euretwegen bin ich, was ich bin. Vater und Mutter sind die bösesten Menschen der Welt. Schade, dass ich das nicht vorher gewusst habe. Ich hätte mir andere Eltern ausgesucht.

Vielleicht hatte sie schon einmal das Wort Jude oder Jüdin gehört, aber fünfjährige Kinder achten nicht auf jedes Wort, das durch die Luft fliegt, erst wenn es so lange wiederholt wird, bis es Angst einjagt.

Es gab noch andere Beleidigungen. Sie spuckte ihren Vater sogar an. Er wischte sich den feuchten Fleck ab, ohne mit ihr zu schimpfen, was gar nicht zu ihm passte. Sie versuchte, ein Abkommen zu treffen. Sie versprach, ein vorbildliches Kind zu sein. In ihrem ganzen Leben würde sie um nichts mehr bitten. Sie schwor, zu jeder Mahlzeit Kohl zu essen, morgens, mittags und abends, und dabei hasste sie Kohl.

Sie wuschen ihr die Haare mit Wasserstoffperoxyd. Sie tobte. Das Dienstmädchen drohte, ihr die Hände zusammenzubinden, schließlich hielt sie sie mit Gewalt fest.

Das ist, damit du nicht zu jüdisch aussiehst.

Wenn es so etwas wie zu jüdisch gibt, muss es auch ein nicht jüdisch genug geben. Sie hatte sich schon entschieden: Sobald wie möglich würde sie aufhören, jüdisch zu sein.

Wenn es so schlimm war, jüdisch zu sein, dann war ein jüdisches Mädchen zu sein das Schlimmste auf der Welt.

*

Und noch ein Wort hörte sie zum ersten Mal. Sie spuckten das Wort »Krieg« aus, wie man einen abgebrochenen Zahn ausspuckt. Danach fingen sie an zu flüstern, als hätten sie die Stimmen verloren. Und obwohl zu diesem Zeitpunkt ihre Lungen noch angefüllt waren mit Schreien, fing sie schon an, sie nachzuahmen. Erst ihre Stimme zu maskieren, dann zu flüstern, und schließlich ganz zu schweigen.

Wenn ihr vorhabt, mich zu Fremden zu bringen, warum habt ihr mich dann auf die Welt gebracht?

Wo ist dieses Dort?

Wer wird mir dort bei den Hausaufgaben helfen?

Zu wem werde ich ins Bett gehen, wenn ich nachts aufwache?

Und wer wird dort mit mir zusammen sein?

Warum dort und nicht hier?

Die alte Frau rattert die Fragen heraus, eine nach der anderen, wie Kinder es machen, um zu erfahren, was sie als Nächstes erwartet. Jetzt wird ihr klar, dass dies ein Versuch ist, die Angst zu bezähmen, auch wenn sie selbst jetzt kaum zugeben kann, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war. Kann die Enkelin durch die Hülle der alten Frau die Fünfjährige sehen? Ihre kindliche Stimme blitzt durch die Ritzen der Geschichte, denn nachdem sie sie mit Gewalt zur nächsten Stufe gebracht hatten, hatte sie geübt, nie anders als mit einer erwachsenen Stimme zu sprechen.

*

Als ihre Kraft nachließ – wie viel Kraft hat ein fünfjähriges Kind? –, flüsterte sie, kommt ihr mich besuchen? Und sie schworen es.

Einen Moment, bevor sie das Haus verließen, als das Dienstmädchen ihre Hände in fleischige Fesseln hüllte, fragte sie fast tonlos, kommt ihr und holt mich wieder ab, sobald es möglich ist?

Und wieder versprachen sie es ihr.

*

Ihre Puppe nahm sie nicht mit. Deren Zöpfe waren schwarz wie ihre, es war eine jüdische Puppe.

*

Ein Geschichtenerzähler sollte auch etwas davon haben, wenn er erzählt. Denn Loslassen, so sagen die Fachleute, bringt Erleichterung. Dementsprechend könnte man sagen, die alte Frau wird von einer starken Motivation angetrieben. Dennoch bringt solch eine Geschichte keinen sichtbaren Vorteil. Der natürliche Akt, in die Vergangenheit zurückzukehren und in den Erinnerungen zu wühlen, bringt nur den Besitzern ganz anderer Geschichten etwas. Das wachsende Gewicht ihrer Geschichte lässt keinen Raum für Erleichterung. Und jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück.

Lass mich nicht im Stich, scheint die Geschichte mit fast menschlicher Stimme zu flehen. Je tiefer sie die Geschichte begraben hat, umso wilder ist diese gewachsen und hat Wurzeln getrieben. Jetzt muss sie ihre Erinnerung anflehen, sie freizulassen. Sie braucht eine Vollmacht, damit sie endlich ihr Versteck verlassen kann.

*

Sie standen mit dem Rücken zu ihr.

Ihre Mutter drehte sich nicht um, sagte kein Wort. Auch nicht auf Wiedersehen. Berührte sie nicht.

Die alte Frau bekommt fast keine Luft. Die Geschichte ist zwischen Kehle und Mund stecken geblieben. Sie konnte nicht wissen, dass alles auseinandergefallen wäre, hätte ihre Mutter eine Bewegung gemacht, auch nur die kleinste, hätte sie einen Finger ausgestreckt, geblinzelt, die Lippe gekräuselt.

Die Enkelin steht auf. Der alten Frau kommt es vor, als wolle das Mädchen sie berühren, aber wie von einem unbeherrschbaren Impuls getrieben, dreht sie ihr den Rücken zu.

In diesem Moment scheint es zu Ende zu sein, dabei handelt es sich noch nicht einmal um die Mitte.

3

Sie wurde in ein Loch unter der Erde gebracht. Die fremde Frau, die sie später »die Bäuerin« nannte, zog sie die Leiter hinunter und sagte, hier wirst du bleiben.

Das Mädchen, das sie einmal war, hatte geglaubt, nur die schlimmsten Tiere würden unter der Erde leben, Maulwürfe, Schlangen, Würmer. Und die allerschlimmsten, die Ratten. Sie muss böser sein als alle, wenn man sie von den Menschen über der Erde trennte.

Die alte Frau glaubt, dass sie das damals gedacht hat. Doch statt der Geschichte etwas hinzuzufügen, wie es üblich ist, lässt sie etwas aus.

*

Der Nachmittag in Tel Aviv ist eine schwere Zeit. Das Licht ist aggressiv. Die alte Frau gibt sich ihm nur selten hin. Im Allgemeinen verdunkelt sie die Fenster. Lässt die Rollläden herunter, um die Dunkelheit hereinzulassen, ihre vertraute Verbündete.

Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihr nicht gesagt, dass das Dort dunkel und unter der Erde war. Sogar das Dienstmädchen, das Bescheid wusste, hatte es vor ihr verborgen. Hätte die alte Frau von vornherein gewusst, was sie erwartete, hätte es ihr die Sache leichter gemacht? Kann sich ein Mensch auf die Möglichkeit vorbereiten, dass er in ein Loch unter der Erde gebracht wird?

Das Mädchen, das sie einmal war, dachte: Vielleicht sterbe ich, denn nur die Toten werden so tief unter die Erde gebracht.

*

Warum nennt man die Hauptfigur einer Geschichte »Held«? Naive Menschen nehmen vielleicht an, dass man es deshalb tut, weil die Hauptfigur der Geschichte ihre Kraft verleiht, aber die Tatsache, dass eine Figur im Zentrum der Geschichte steht, verspricht nicht, dass sie die Geschichte heldenhaft trägt.

Der Stil der alten Frau passt eher zur heutigen Zeit: Er ist abgehackt, springend, atemlos. Aber das liegt nicht daran, dass sie nicht genug Zeit hat oder es sie drängt, zu einem Punkt zu kommen, der besonders lohnend wäre. Auch nicht aus Rücksicht auf die Ungeduld eines Lesers.

Die Enkelin sitzt ihr verwirrt gegenüber.

*

Die Dunkelheit.

Hier gerät die Geschichte in eine Sackgasse. Der alten Frau fällt es schwer, die Dunkelheit jemandem zu erklären, für den sie eine Selbstverständlichkeit ist, ein Teil des Tag-Nacht-Zyklus, verbunden mit sicherem Schlaf, mit Traumleben.

Und an diesem Scharnier der Geschichte neigt sie dazu, aufzugeben. Ihre Dunkelheit ist nicht das Fehlen von Licht und auch nicht das Gegenteil von Licht, sondern ein subkutanes Material mit Masse und Gewicht, dem es gelungen ist, die Gesetze der Natur aufzuheben und in jede Öffnung ihres Körpers einzudringen. Auch als sie in sich den Drang verspürte, sie zu beleuchten, vor allem dem gegenüber, mit dem sie Kinder bekommen hatte, erlosch diese Absicht sehr schnell, weil ihr klar wurde, dass ihre Dunkelheit sich jeder Formulierung widersetzte.

Deshalb begnügt sie sich damit: Ich war im Dunkeln. Ein Brei aus Zeit. Ich weiß nicht, wann es begann und wann es endete.

Falls es endete.

*

Und das sind die Details der Geschichte, die vorgeben, gewöhnlich zu sein. Die Kreaturen, die in der Dunkelheit lebten, erfassten ihre Anwesenheit. Eine Ratte trippelte auf sie zu, beschnupperte sie erst, dann biss sie zu. Sie schrie nicht, schließlich war sie es, die den Alltag der Ratte störte. Dann gewöhnten sie sich aneinander. Sie streichelte die Ratte, und diese wurde dick. Das Glitzern ihrer Augen war ihr einziges Licht.

Ihre Arme oder Beine konnte sie nicht sehen. Um sich zu vergewissern, dass es sie gab, betastete sie sich, und so entdeckte sie die Läuse. Sie wusste nicht, dass man sie so nannte. Die winzigen Geschöpfe nisteten sich in ihren Haaren und an ihrem Körper ein, waren fruchtbar und vermehrten sich. Sie zupfte sie von ihrem Körper und zerdrückte sie. Das einzige Geräusch in der Dunkelheit, außer ihren eigenen Atemzügen, die sie im Lauf der Zeit immer leiser auszustoßen lernte.

Ihre Sinne, die fast mit einem Schlag sehr scharf geworden waren, begannen, die unterirdischen Prozesse zu registrieren. Das Faulen der Kartoffeln. Das langsame Ausschlagen der Wurzeln. Das Stöhnen der Leiter, die in das Erdloch herunterführte. Das Rascheln der Samenkörner, die sich bemühten auszuschlagen. Das Tropfen des Regens, der in die Erde sickerte.

Auch die Geräusche über der Erde lernte sie zu erkennen. Das Muhen und Knurren. Die Schritte der Kühe. Das Quaken der Frösche aus dem fernen Teich.

Sie konzentrierte sich auf jedes Rascheln, entzifferte seine Auswirkung auf die obere Welt. Dann übersetzte sie die Geräusche in Bilder. Das Heu, das sich in der Scheune türmte. Das Aufschlagen der Mistgabel. Das Schnauben des Pferds, wenn der Bauer das Getreidefeld überquerte. Wenn er über seine Frau herfiel: Wer hat diese Last gebraucht. Du dumme Kuh. Für so wenig Geld. Jesus, diese kleine Jüdin bringt uns alle in Gefahr.

Vögel hörte sie nie, vielleicht weil sie zu weit entfernt waren. Doch die Flugzeuge hörte sie genau. Jedes Mal, wenn sie das ohrenbetäubende Brummen wahrnahm, musste sie an Vater und Mutter denken und klammerte sich an ihr Versprechen. Auch wenn sie die grausamsten Eltern von der Welt waren, Eltern, die ihre Tochter im Stich gelassen hatten, wollte sie bei ihnen sein. Jedes Glied ihres Körpers sehnte sich danach, gestreichelt zu werden. Der Zorn und die Sehnsucht mischten sich. Niemals würde sie sie voneinander unterscheiden können.

Die Bäuerin kam die Leiter herunter, stellte einen Teller Essen auf das Stroh, einen Löffel und einen Eimer, um ihre Notdurft zu verrichten, und verkündete: Bis du es nicht weißt, kommst du nicht rauf.

Doch das Mädchen, das sie einmal war, wusste nicht, was es wissen sollte.

*

Zweimal am Tag Suppe und zwei Scheiben Brot. Das war ihre Zeittafel. Wenn der Hunger zurückkam – und er überfiel sie mit Macht – begann sie, Kartoffeln zu nagen. Später hatte sie Angst, die Bäuerin könnte die Kartoffeln abgezählt haben und feststellen, dass die abgenagten fehlten. Sie lernte, nur die schimmligen zu nehmen.

In einem seltenen Moment des Muts fragte sie, wenn ihr die Juden so hasst, warum wart ihr dann einverstanden, dass ich unter eurer Erde bin?

Die Bäuerin sagte: Bete, dass das Geld kommt, und spuckte auf den dunklen Boden.

Ave Maria, gratia plena, dominus tecum, benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Sancta Maria, mater dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Das Mädchen das sie einmal war, stammelte lautlos, hatte Schwierigkeiten mit den Worten. In der Dunkelheit zielte die erfahrene Hand der Bäuerin nach ihrer Wange und schlug sie. Sie sagte, kleine Sünderin, sprich laut, nur so wirst du es lernen. Wir hätten mehr verlangen sollen, so viel wie du uns kostest.

Sie hob die kleine Hand und schlug das Kreuz, einmal und noch einmal, bis sie zufrieden war.

Oben zischte der Bauer, es reicht, ich habe die Nase voll. Ich verrate sie, Schluss mit dieser Geschichte.

Genau wie ihre Eltern, wenn sie über sie gesprochen hatten, senkten sie die Stimmen.

Sie möchte nicht erwachsen werden, nie.

*