Und jeden Morgen das Meer - Karl-Heinz Ott - E-Book

Und jeden Morgen das Meer E-Book

Karl-Heinz Ott

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Beschreibung

Dreißig Jahre war Sonja Chefin eines Hotels am Bodensee; ihr Mann Bruno bekam als Koch sogar einen Stern. Doch dann stirbt Bruno. Sein Bruder Arno ist bereit, alles, und damit auch einen Berg von Schulden, zu übernehmen – vorausgesetzt, sie verschwindet. Also reist sie nach Wales zu Mister Pettibone. Obwohl dieser sie gewarnt hat. Vor der abgetakelten Pension, dem Essen, seinem Onkel, und überhaupt vor diesem traurigen Land: zugige Fenster, zugige Türen, rundum Ödnis. Doch das Meer ist herrlich! Und ist Wales im Regen nicht allemal besser als ein Feinschmeckerhotel ausgerechnet am Bodensee? In Karl-Heinz Otts brillantem, bösem Roman entfaltet sogar das Unglück seinen ironischen, bissigen Reiz.

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Über das Buch

Dreißig Jahre war Sonja Chefin eines Hotels am Bodensee; ihr Mann Bruno bekam als Koch sogar einen Stern. Doch dann stirbt Bruno. Sein Bruder Arno ist bereit, alles, und damit auch einen Berg von Schulden, zu übernehmen — vorausgesetzt, sie verschwindet. Also reist sie nach Wales zu Mister Pettibone. Obwohl dieser sie gewarnt hat. Vor der abgetakelten Pension, dem Essen, seinem Onkel, und überhaupt vor diesem traurigen Land: zugige Fenster, zugige Türen, rundum Ödnis. Doch das Meer ist herrlich! Und ist Wales im Regen nicht allemal besser als ein Feinschmeckerhotel ausgerechnet am Bodensee? In Karl-Heinz Otts brillantem, bösem Roman entfaltet sogar das Unglück seinen ironischen, bissigen Reiz.

Karl-Heinz Ott

UND JEDEN

MORGEN

DAS MEER

Roman

Carl Hanser Verlag

JEDEN MORGEN steht sie auf den Klippen, bei jedem Wind und Wetter, und jedes Mal denkt sie, ich könnte springen. Denkt es, seit sie hier ist. Das Meer würde sie sofort verschlingen.

Seefahrer konnten früher nicht schwimmen, erzählen sich hier die Leute. Es hätte ihnen nichts genützt. Spätestens nach zwölf Minuten sei alles vorbei, heißt es, egal ob man schwimmen kann oder nicht. Die See nimmt sie alle.

Sie könnte sich rückwärts hinabstürzen, um nicht in die schäumende Gischt schauen zu müssen, mit Blick auf grünes Land und Schafe und in der Ferne bräunlich aufragende Berge.

Großmutter hatte nie das Meer gesehen. Sie starb, wo sie geboren wurde, in einem Dorf, das versunken war in seiner eigenen Vergangenheit. Nie hatte sein Rauschen sie in den Schlaf begleitet oder sie geweckt. Sie wusste nicht einmal, wie dieses Rauschen klingt. Oder kann man es sich vorstellen, ohne es je gehört und erlebt zu haben?

Wann hatte sie selbst eigentlich das Meer zum ersten Mal gesehen? Nicht einmal in Grimms Märchen gab es eins, nur Wälder und Wölfe, Zwerge und Hexen. Auch nicht in Bilderbüchern, soweit sie sich entsinnt. Lange Zeit kannte sie das Meer so wenig wie ihre Großmutter.

Und nun schaut sie schon seit drei Jahren auf das endlose Gewoge mit seinen wilden Winden und seiner wütenden Flut. Immer noch könnte sie stundenlang zum Horizont starren, obwohl einem dabei nicht bloß schöne Gedanken kommen. Was erwartet einen dahinter, fragt man sich, hinter diesem Horizont: Die Ewigkeit? Das Nichts? Beides zugleich? Die Antwort kennt niemand. Vielleicht ist es besser so.

Mister Pettibone hatte sie gewarnt. Man kann dort ein paar Tage Ferien machen, aber nicht leben, hatte er gesagt. Lange hatte sie sich nicht getraut, ihn anzurufen. Auch jenen Brief hatte sie ihm nie geschickt, den sie ein paar Wochen später am Telefon ablas, um mit ihrem Englisch nicht ins Stottern zu geraten: My husband died two months ago. I have to close my hotel and the restaurant.

Er konnte es nicht glauben. Ihr Mann war doch noch nicht alt, hatte er immer wieder gesagt. Doch wozu sollte sie ihm die ganze Wahrheit auftischen? Sein Entsetzen legte sich erst, als sie mit ihrer Anfrage kam.

Er habe es nie ernst gemeint mit diesem Hotel. Was denken Sie!? Impossible! You have so many options, rief er. So many options! Sie müsse sich keine Sorgen machen, man werde sie überall mit Handkuss nehmen. Überall zwischen Sylt und Sils Maria.

Er wusste wie jeder andere, dass man in ihrem Alter nicht mehr vermittelbar ist. Es klang nicht nur lächerlich, sondern wie Hohn. Was dachte er eigentlich, als er einer Zweiundsechzigjährigen, die vor dem Nichts stand, eine rosige Zukunft versprach? Nie hätte sie gedacht, dass er so schlecht Theater spielt.

Die bereits ergangenen Absagen erwähnte sie mit keinem Wort. Man konnte das Kopfschütteln am anderen Ende der Hörer jedes Mal regelrecht sehen und es aus den Antwortschreiben herauslesen. Diese Leute mussten ihr Gelächter unterdrücken, wenn sie erklärten: Es tut uns leid, Frau Bräuning, doch Sie möchten sicherlich nicht unter einer Chefin arbeiten, die zwanzig Jahre jünger ist als sie! Manche sprachen sie mit gnädige Frau an.

Es waren nicht mehr viele, die sie und ihren Mann kannten. Die Jüngeren konnten mit dem Namen Bruno Bräuning ohnehin nichts mehr anfangen, von den Älteren glaubten die meisten, sie beide befänden sich im Ruhestand. Man hatte über die Jahre die Kontakte schleifenlassen, aus guten Gründen. Die wenigen, die sich noch erinnerten, wussten natürlich, dass ihnen der Stern längst weggenommen worden war. Doch darüber redete man nicht. Sie sei herzlich willkommen, das Haus stehe ihr jederzeit offen, als Gast natürlich, hieß es überall. Mit tiefstem Bedauern, ihr nicht weiterhelfen zu können.

Nur Mister Pettibone rief ins Telefon: Sie sind noch jung! Er schien zu fürchten, am Ende noch für ihr Schicksal verantwortlich zu sein, sollte es ihm nicht gelingen, ihr den Unsinn mit dem abgetakelten Hotel seines Onkels auszureden. Zwar hatte er schon früher gesagt: Das Essen ist schlecht, die Leute sind ärmlich, doch das Meer ist herrlich! Auf einmal jedoch malte er ihr alles Schreckliche aus: zugige Fenster, zugige Türen, eine wahre Bruchbude, rundum Ödnis.

Natürlich, das Meer! Doch was wollen Sie am Meer, wenn alles andere nicht stimmt? Urlauber gibt es dort so gut wie keine, im Sommer schauen ein paar Engländer vorbei, vielleicht steht irgendwo ein verlorenes Kino, in dem keine Filme mehr laufen! Sie werden auf eine leere Bühne blicken, hatte er sie gewarnt. Selbst im Sommer entdecken Sie am Strand keinen einzigen Liegestuhl! Niemand wartet auf Sie in Abydyr!

Er konnte nicht begreifen, dass sie aus genau diesem Grund an einen solchen Ort wollte, an eine Küste ohne Hafen, ohne Boote, ohne alles Südliche.

In London hatte sie am Bahnhof ein paar Zeitschriften gekauft, um sich sofort wie angekommen zu fühlen. Doch sie konnte nicht herausfinden, auf welchem Gleis ihr Zug abfuhr. Jemanden anzusprechen hatte sie nicht gewagt, aus Angst, keinen einzigen englischen Satz herauszubringen. Sie wusste nicht einmal, wonach sie hätte fragen sollen. Man musste mehrmals umsteigen. Auf den vielen Anzeigetafeln war kein einziger Ort zu entdecken, der auf ihrem Ticket stand. Und nirgends ließ sich ein Schaffner blicken.

Auf das kurze Hochgefühl, bereits hierherzugehören, folgte die Bodenlosigkeit. Über Jahrzehnte hatte sie Tausende von Gästen begrüßt, nun blickte sie hilflos in einem Bahnhof umher, der die Kälte einer Lagerhalle besaß. Am liebsten hätte sie alles rückgängig gemacht und wäre zu Großmutter nach Hause gerannt, die seit bald fünfzig Jahren tot war. Alles, was danach kam, erschien ihr nun wie ein einziges Unglück. Hätte sie Bruno nie kennengelernt, wäre sie auch nie seinem Bruder begegnet.

Es ist ein schlechter Traum, du wachst gleich auf, neben dir liegt die Großmutter, auf der anderen Seite schaut dich der Schutzengel an, malte sie sich in einem Anfall sinnloser Hoffnung aus. Sie hätte das Schutzengelbild bei sich behalten und Großmutters Welt nie verlassen dürfen. Eine Welt, die mit dem Angelusläuten begann, aus deren Häusern mittags Essensgerüche drangen und wo abends die Läden zugeklappt wurden. Eine Welt mit Eisblumen am winterlichen Abortfenster und Obstwiesen hinterm Haus. Eine Welt, über der eine wohlige Müdigkeit schwebte, mit verblassten Tapeten, dämmrigen Fluren, knarrenden Stiegen, zerfallenden Scheunen und Kruzifixen an den Feldwegen.

Ein grauhaariger Rastamann mit faulen Zähnen und zottligem Bart sprach sie an. Sie war den Tränen nahe. Hatte Angst vor ihm. Wusste gar nicht, dass es alte Rastamänner gibt. What are you looking for? Sie hatte die Frage zuerst nicht verstanden. Dachte, er wolle Geld. Aus seinem furchigen Gesicht schauten sanfte Augen. Vielleicht lebte er im Bahnhof oder auf der Straße. Er musste sie beobachtet haben. Fünf Minuten später saß sie in ihrem Zug. Er wollte nicht einmal den Schein nehmen, den sie ihm hingehalten hatte.

Als die Ausläufer von London ins Land übergingen, querten stille Flüsschen mit Hausbooten die Strecke. Und dann stundenlang saftiges Grün und Schafe. Überall Schafe. Nie zuvor hatte sie so viele Schafe gesehen. Zwischen Gebüsch und Bäumen lugte hin und wieder ein Landschlösschen hervor. Je näher sie ihrem Ziel rückte, desto einsamer wurde die Gegend und fast menschenleer. In den spärlicher werdenden Dörfern waren die Häuser farbig gestrichen, was das Gefühl der Verlorenheit nur verstärkte. Die Ortsnamen auf den Bahnhofsschildern ließen sich kaum noch aussprechen. Sie bestanden aus endlosen Konsonanten, oft ohne jeden Vokal. Llanfairpwllgwyngyll, LLwydcoed, Ngwnfa, Ffydd. Man verschwand wirklich in ein fremdes Land, dessen Sprache kein Mensch verstand, der nicht von dort kam.

Vielleicht besitzt dieses Unaussprechliche etwas Befreiendes, dachte sie. Vielleicht ist es gut, wenn gar nicht erst das Gefühl aufkommt, dass man dazugehört und mit allem zusammenklebt. Wenn alles offenbleibt und man kaum etwas versteht.

Das Einzige, was ihr der Onkel über Mister Pettibone ausrichten ließ, lautete: You will manage the daily affairs! Genauere Anweisungen gab es nicht. Dieser Onkel schien sich für das Ocean Bay tatsächlich nicht sonderlich zu interessieren. Er habe es bereits verkaufen wollen, behauptete Mister Pettibone. Aber vielleicht ist man ja noch einmal froh über ein Hotel am Meer, habe er sich schließlich gesagt.

An manchen Tagen stehen alle Zimmer leer, dann wieder sind drei oder vier belegt. Länger als eine Nacht bleiben die meisten nicht, zur Hälfte Leute mit Rucksack, die von den Schneebergen im Norden kommen und Richtung Cornwall weiterwandern. Zuweilen sind dabei auch Deutsche, mit denen sie Englisch spricht, oder bei denen sie so tut, als habe sie Deutsch ein wenig verlernt. Gegen freies Logis und ein besseres Taschengeld verwaltet sie den schieren Stillstand. Ein Metzger füllt mit vorgekochten Eintöpfen regelmäßig die Gefriertruhe, den Rest erledigt die Mikrowelle. Essen wie im Zug. Die meisten Gäste frühstücken lediglich. Daily clean of rooms!, steht an der Tür, was hier nicht selbstverständlich zu sein scheint.

Beim ersten Betreten ihres Zimmers kam ihr im Dämmerlicht eine Gestalt entgegen, die so erschrocken wirkte wie sie selbst. Fast hätte sie aufgeschrien, so wie die andere auch. Es war ihr Spiegelbild, das mehr über ihren Zustand verriet, als ihr bewusst war. Auf der Fahrt hatte sie sich ein wenig betäubt gefühlt, doch nicht wie aufgelöst. Beim Blick in den Spiegel sah sie, wie viel Schrecknis in ihr steckte. Ihr bisheriges Leben war nun endgültig vorbei.

Zur Begrüßung peitschte die ganze Nacht Regen gegen ihr Fenster. Wales bedeutet Regen, hatte Mister Pettibone sie gewarnt. Er sollte unrecht behalten. In Wahrheit beherrscht hier der Wind das Leben. Auf dem Hochland mag es wochenlang schütten, am Meer ziehen die Wolken vorbei und bescheren einem in wenigen Stunden vier verschiedene Jahreszeiten. In ihrem ersten Sommer stiegen die Temperaturen in eine Höhe, die halb England ans Meer pilgern ließ. Von heut auf morgen war es vorbei mit der leisen Langeweile, die hier sonst das Leben prägt. Es schien nicht zu stimmen, was Mister Pettibone immer behauptet hatte.

Liegestühle waren angekarrt worden, von weiß Gott woher. Sogar afrikanische Händler waren mit Kettchen und Hawaiihemden die Küste rauf und runter gezogen. Die Leute trauten ihren Augen nicht. Man sprach bereits vom neuen Saint-Tropez des Nordens. Nur der Wind ließ keine wirklich südliche Stimmung aufkommen. Fiel gelegentlich ein Platzregen, rannten die Leute auf die Straße und hopsten herum wie Kinder. Die Bucht hatte ihre gewohnte Ruhe verloren. Manchen gefiel dieses Treiben, vor allem Geschäftsleuten. Das Hotel war ausgebucht, auch Deutsch und Holländisch war rundum zu hören. Schon wuchs in ihr die Angst, es könnten alte Bekannte in der Tür stehen. Sie spielte bereits mit dem Gedanken, diesen Flecken wieder zu verlassen. Doch Mitte August zogen Wolken auf und die Liegestühle verschwanden.

Im Herbst schlugen haushohe Wellen zu ihr unters Dach. Noch heute steht sie in solchen Nächten mit der schaurigen Hoffnung am Fenster, eine Woge würde hereinbrechen und alles überspülen. Eine Spur von Seligkeit mischt sich dann in die fast panische Angst, in den eigenen Wänden von der Wucht dieser Fluten niedergerissen zu werden. Müsste sie zurück an den Bodensee, würde sie diese Naturgewalten inzwischen vermissen. Manchmal kann sie es kaum erwarten, bis das Meer anschwillt und mit seinen Brechern auf die Promenade einstürzt.

Im letzten Winter wurde ein Junge beim Filmen der tosenden Wogen hinausgespült. Zehn, zwölf Schritte vom Küstengeländer entfernt befand er sich auf halber Höhe bis zu den Klippen. Warum die Wellen ihn nicht bergauf gespült haben, bleibt bis heute ein Rätsel. Sie hatte ihn vom Fenster aus beobachtet. Plötzlich war er weg. Anfangs dachte sie, er sei zurückgewichen und den Berg hinaufgerannt. Am nächsten Morgen fand man ihn tot, ein wenig nordwärts in einer Bucht.

Wäre Bruno auf solche Weise verschwunden, man hätte ganz anders um ihn trauern können.

Wenn das braune Gewoge nach Sturmnächten mürrisch hin und her schwappt, hinterlässt es den Eindruck, es habe sich übernommen. Doch man fühlt sich wie erlöst, und sei es, weil der Weltuntergang noch einmal an einem vorübergegangen ist. Aber auch, weil Wind und Wetter einem die eigene Unruhe abnehmen.

Seit einiger Zeit träumt sie von ihrer früheren Katze. Man sieht sie nicht im Traum, sondern hört sie nur, aus weiter Ferne, vom anderen Ende des Meeres, das unter dräuenden Nachthimmeln gespenstisch schimmert. Ein klägliches, forderndes, vorwurfsvolles Maunzen. Vielleicht kommt es gar nicht von ihrer Katze, doch sie denkt sofort an sie. Es steigert sich zu einem Greinen wie von kleinen Kindern.

In den ersten Monaten dachte sie ständig an ihr Zuhause, das kein Zuhause mehr war. Je mehr sie alles vergessen wollte, desto mächtiger drängten sich ihr die immer gleichen Bilder auf, zu denen auch der Blick dieser Katze gehört. Von der Holzbeige herab hatte sie ihr nachgeschaut, als sie zum allerletzten Mal in ihrem Cabrio zum Hof hinausfuhr. Wie alle Katzen tat sie meist so, als existierte man überhaupt nicht, trotz allen Rufens. Doch als sie an diesem Morgen in ihren Wagen stieg, starrte sie ihr richtiggehend nach, so lange, bis sie um die Kurve bog. Als hätte sie gewusst, dass sie nie wiederkommt.

In ihren besseren Zeiten würde sie nicht bloß der Bürgermeister mit großem Trara verabschiedet haben, wenn sie den Lindenhof für immer verlassen hätte. Staatspräsidenten waren einst ihre Gäste und alles, was Rang und Namen hatte. Doch an diesem Tag hatte ihr nur die Katze zugeschaut, wie sie im frühen Morgenlicht für immer verschwand. Das Hoftor ließ sie zum ersten Mal in all den Jahren wagenweit offen. Sollten sie doch alle hereinspazieren, die Wunderfitzigen, die Diebe und Landstreicher, es ging sie nichts mehr an. Sie hatte immer gemocht, wie das Tor ins Schloss fiel und nachzitterte. Es machte den Lindenhof zu einer mittelalterlichen Trutzburg, in der man sich ganz anders beschützt wähnte als in gewöhnlichen Häusern.

Als sie das letzte Stück am See entlangfuhr, zur Linken die Reichenau, zur Rechten ansteigende Wälder, dachte sie: Dreh um und nimm sie mit! Doch etwas in ihr hatte auch eine gemeine Freude, dass für die Katze nun niemand mehr sorgte. Warum sollte nur sie selbst sich mutterseelenallein fühlen? Warum nicht ein bisschen Rache üben, und sei es an ihr?

Schon als sie zum Dorf hinausdüste, überkam sie ein wüstes Triumphgefühl. Sie wünschte nicht nur dem Lindenhof den Untergang, sondern dem ganzen Ort. Auf einmal mochte sie diese Gegend nicht mehr, mit ihrem behäbigen See und ihrem träge machenden Wohlstand, den herausgeputzten Häuschen mit ihren niedlichen Zäunen, den Geranienfenstern, den zufriedenen Leuten und den Alpen im Hintergrund, die in ihrer großmächtigen Starre auch noch fürs Majestätische sorgten.

Das Auto stank nach Hundescheiße. Tags zuvor war sie nach ihrem letzten Gang über die Felder vor dem Einsteigen in einen Haufen getappt. Es stank so bestialisch, dass sie fürchtete, der Händler werde ihr in Basel den Wagen nicht abnehmen oder den Preis herabdrücken. Als vom See nichts mehr zu sehen war, fing sie an zu heulen und hielt auf einem Ackerweg. Übers Lenkrad gebeugt schüttelte es sie am ganzen Leib, so heftig, dass ans Weiterfahren kaum zu denken war. Über den Feldern verscheuchten wild krächzende Krähen einen Bussard, von dem sie nicht einmal lassen wollten, als er in die Wälder abbog. Auf einmal tat ihr die Katze leid.

Warum war sie nicht zu ihr hingegangen, um sie ein letztes Mal zu streicheln? Und jetzt schreit sie im Traum.

Ein paar Stunden später stieg sie in London in ein Taxi, das tatsächlich so aussah wie auf Bildern und in Filmen, nur dass man sich nicht wie in einem Leichenwagen fühlte und nicht durch nächtlichen Nebel fuhr. Sie war noch nie in London gewesen, war überhaupt wenig herumgekommen, hatte ihre Ecke am Bodensee jahrzehntelang kaum verlassen. Wenigstens ein einziges Mal wollte sie die Themse und Big Ben gesehen haben, bevor sie für immer wegging ans Ende der Welt. Mister Pettibone hatte sie gewarnt. Auch die Stirn des Taxifahrers runzelte sich, als sie auf seine Frage, ob es ihr hier gefalle, antwortete: I go to Wales. Er verstummte kurz, drehte sich zu ihr um, zuckte mit den Schultern und fragte halb ungläubig, halb vorwurfsvoll: Why Wales?

Früher hatte Mister Pettibone von Abydyr geschwärmt und lediglich über seinen Onkel geklagt, der dort ein herrliches Hotel verkommen ließ. Jedes Jahr fing er damit an, wenn er um Ostern bei ihnen einkehrte, auf dem Weg zu seinen Zürcher Verwandten, die vermutlich aus Bankkonten bestanden. Waren die anderen Gäste aufgebrochen, blieb sie mit ihm meist noch bei einer guten Flasche sitzen und ließ sich von seiner Kindheit in Wales erzählen, wo er mit seinen Eltern die Sommer verbracht hatte, auf dem Hochland mit Meerblick, in einem Häuschen, das man nur über holperige Wege erreichte und vollkommen einsam lag, mit einer quietschenden Wetterfahne auf dem Dach, einem knarrenden Holztor und tausend Gespenstern. Sein leiser Witz, seine angeborene Eleganz und die Sicherheit des Weltmanns machten Mister Pettibone zum Inbild des Engländers, der mit seiner Filzmütze, karierten Jacke und seinem Einstecktuch einen famosen Landadligen in Filmen abgegeben hätte, die von seltsamen Verbrechen handelten, dabei aber ganz lustig waren.

Sonja, Sie müssten dort das Regiment führen!, hatte er immer gesagt, wenn er auf seinen Onkel zu sprechen kam. Es könnte eine Goldgrube sein, nur lässt er das Hotel verkommen!

Womit Mister Pettibone keineswegs recht hatte. Zwar kümmerte sich der in London lebende Onkel kaum um das Haus, doch es ging dort alles seinen gewohnten Gang. Man hätte es renovieren, umbauen, schicker machen können. Doch wozu? Als sie Mister Pettibone fragte, ob sie dort unterkommen könnte, wurde er nicht nur unwirsch, sondern tat so, als gäbe es dieses Hotel schon fast nicht mehr. Weil sie nicht lockerließ, machte er die ganze Gegend schlecht und rief: Man zieht nur nach Wales, wenn man vom Leben nichts mehr will!

Ihr war vollkommen klar, dass es sich um kein St. Moritz handelte und auch um kein englisches Landschloss, wo man um Punkt fünf die Teezeit zelebrierte und beim Dinner adlige Herrschaften in noblem Tweed bediente. Sie sehnte sich auch nach keiner besseren Gesellschaft mehr. Lange genug hatte sie sich mit dem schleichenden Niedergang kaum abfinden können, inzwischen dachte sie nur noch an Flucht. Die Träume von einer Rückkehr zu den glorreicheren Zeiten waren schon ausgeträumt, bevor Bruno jede Nacht in den Keller hinabstieg. Nicht Stürme waren über sie hinweggefegt, es waren züngelnde Wellen, die alles unmerklich wegbrechen ließen. In drei Jahrzehnten hatte sie mit dem Lindenhof drei gleich lange Akte durchlebt: Aufbruch, Höhepunkt, Niedergang.

Sie hatte gehofft, der Wind würde alle Erinnerungen aus ihr hinausblasen, hinausfegen, hinauswehen. Fing es nachts an zu stürmen, rannte sie in ihrer übers Schlafhemd geworfenen Regenjacke nach draußen und stemmte sich dem heulenden Wind entgegen. Ans Küstengeländer geklammert genoss sie in Todesangst sein Toben, während links und rechts sich Fahnenmasten krümmten und Mülleimer über die Promenade flogen. Sie hoffte, von niemandem gesehen und erkannt zu werden.

Außer ihr rannte nie jemand hinaus, am allerwenigsten nachts, wo jede Hilfe zu spät käme, würde man ins Meer hinausgerissen. Doch immerhin, dieser Wind schüttelt einen durch, nicht nur außen, auch innen, und treibt einem Tränen ins Gesicht, die sich keiner Trauer verdanken. In seiner Raserei verscheucht er die schwersten Wolken und verjagt Gedanken, die einem ständig durch den Kopf gehen. Er kennt nur die Gewalt des Hier und Jetzt und keine Vergangenheit und keine Zukunft. Er erinnert auch an keinen anderen Wind, so wie auch dieses Ufer an kein anderes Ufer erinnert.

Manchmal klang es am Bodensee nachts nach Meeresrauschen, morgens sah man, dass es bloß vom Geraschel der Blätter herrührte. Müsste sie zurück, käme ihr vermutlich alles kleiner vor als früher, der See, die ganze Gegend, selbst das Wetter. Fast wie in Bilderbüchern. Allein die Möwen sind dort bloß halb so groß, und weder zerreißt ihr gellendes Klagen die Luft, noch hallt es wie hier hinaus in unendliche Weiten. Am Bodensee halten sie sich meist in Ufernähe auf, am Meer lassen sie sich mit weiten Schwingen von unbändigen Böen hochjagen und im Sturzflug hinabfallen, in stundenlangem Hin und Her, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, der das Auge kaum folgen kann, kreuz und quer, als müssten sie unablässig zusammenprallen und in die Fluten hinabtaumeln, nur dass nicht das Geringste passiert und rätselhafte Gesetze jede Kollision, jeden Krieg, jeden Konflikt verhindern.