Und jetzt alle noch mal aufs Klo - Judith Luig - E-Book

Und jetzt alle noch mal aufs Klo E-Book

Judith Luig

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Beschreibung

«Ach, und jetzt ist in Syrien – nein, Max, das gehört der Mama – jetzt ist in Syrien – nein, mein kleines Goldstück, gib das bitte der Mama, das ist ganz bäh – entschuldige, was war jetzt in Syrien?» So verlaufen normale Gespräche zwischen Freundinnen, von denen nur eine Mutter ist. Wenn Freundinnen Mütter werden, ändert sich alles. Für Verabredungen werden utopischste Zeiten vorgeschlagen, Ausflüge sonntagmorgens um acht, Abendessen gegen halb sechs, von den Orten dafür ganz zu schweigen: Spielplätze, Kinderrevuen, sündhaft teure Zoos, Legoland. Mit Müttern befreundet zu sein, ist ein Abenteuer. Eine Mutter als Freundin – geht das überhaupt? Judith Luig erzählt anhand der Geschichte ihrer ältesten Freundin, wie eine Freundschaft – trotz Mutterschaft – auch weiterhin funktionieren kann: selbstironisch und so, dass sich jeder, ob kinderlos oder nicht, darin wiederfinden wird.

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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Judith Luig

Und jetzt alle noch mal aufs Klo

Wie meine beste Freundin Mutter wurde

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ach, und jetzt ist in Syrien – nein, Max, das gehört der Mama – jetzt ist in Syrien – nein, mein kleines Goldstück, gib das bitte der Mama, das ist ganz bäh – entschuldige, was war jetzt in Syrien?»

So verlaufen normale Gespräche zwischen Freundinnen, von denen nur eine Mutter ist.

Wenn Freundinnen Mütter werden, ändert sich alles. Für Verabredungen werden utopischste Zeiten vorgeschlagen, Ausflüge sonntagmorgens um acht, Abendessen gegen halb sechs, von den Orten dafür ganz zu schweigen: Spielplätze, Kinderrevuen, sündhaft teure Zoos, Legoland. Mit Müttern befreundet zu sein, ist ein Abenteuer. Eine Mutter als Freundin – geht das überhaupt?

Judith Luig erzählt anhand der Geschichte ihrer ältesten Freundin, wie eine Freundschaft – trotz Mutterschaft – auch weiterhin funktionieren kann: selbstironisch und so, dass sich jeder, ob kinderlos oder nicht, darin wiederfinden wird.

Über Judith Luig

Judith Luig, Jahrgang 1974, begann ihre journalistische Karriere als Reporterin für Schützenkönigskrönungen, Karnevalsprinzessinnen und goldene Hochzeiten. Sie schrieb für die «taz» über Frauen, Männer und Paralleluniversen und unterrichtete Literaturwissenschaften an der Freien Universität und an der Humboldt-Universität Berlin. Für die «Welt am Sonntag» stieg sie auf in die Liga der Thronfolgerhochzeiten, Heavy Metal Festivals und Protestkulturen. Aktuell ist sie Reporterin der «Berliner Morgenpost». Judith Luig ist fünffache Tante und sechsfache Patentante. Mehr Erfahrung mit Kindern kann man als Nicht-Mutter kaum haben.

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Eingetütet2. Die frohe Botschaft3. Annas Mamamorphose4. Stress mit DITTs5. Natürlich verhüten mit der Eisprung-App6. Karriereziel Profigattin7. Apple-Eltern gegen Google-Eltern8. Das hochbegabte Kind9. Väter10. Noah hat sechs Namen11. Wer klingelt, verliert12. Homestorys13. Wettkampfzone Spielplatz14. Veganer Freitag mit Flirten15. Alle sind krank16. Mami-Dates17. Kinderwunsch im KühlregalEltern-AlphabetDank

Meinen wunderbaren Eltern

Prolog

Wenn die erste Freundin schwanger wird, fiebert man mit. Man kennt jeden Ultraschall-Termin, man ist dabei, wenn der Kinderwagen ausgesucht wird und die erste Schwangerschaftsbluse. Man betastet bewundernd den sich wölbenden Bauch, erfühlt kleine Fußtritte und streitet über Namen. Man sitzt abends zusammen auf dem Sofa und freut sich auf die Zeit, in der das Kind in ihren Armen liegt.

Aber sobald dieses Kind da ist, beginnt die Mamamorphose. Die Freundin geht unter in einem Meer aus Feuchttüchern, Windeln und Brei, und wenn sie wieder auftaucht, ist sie eine andere. Ich bin oft noch einmal mit zum Baby-Schwimmen gegangen, habe ein Foto für die Geburtsanzeige mit ausgesucht oder eine Kita von außen begutachtet, aber viel häufiger traf ich meine Elternfreunde auch nicht mehr. Vom zweiten Kind erfuhr ich oft erst über die übliche SMS zur Geburt und merkte mir gerade mal den Namen. Statt aufwendiger Karten mit Fotos begnügten sich die Eltern mit ein paar Schnappschüssen per Rundmail. Beim dritten kann man froh sein, wenn man überhaupt von seiner Existenz Nachricht bekommt, und meist tut man das auch nur, wenn man zufällig gemeinsame Freunde trifft, die ebenfalls Kinder haben und deswegen noch in Kontakt mit der Familie stehen. Name oder Geschlecht dieses dritten Kindes liegen im Verborgenen. Selbst, ob es das jüngste bleibt, weiß man nicht mit Sicherheit. Haben die nun drei oder vier? Für die Freunde ohne Kinder bleibt das ein Rätsel.

Seit zehn Jahren bekommen meine Freundinnen Kinder. Die meisten von ihnen habe ich dabei verloren. Geblieben sind mir Gesine, Ellen und Maja. An ihnen werde ich festhalten. Egal, was kommt. Außerdem habe ja noch Julia, meine letzte kinderlose Freundin und glücklicherweise meine beste. Bevor die nicht schwanger ist, muss ich mir keine Sorgen machen.

1. Eingetütet

WIE LUCYS EINSCHULUNG MICH KOMPLETT ÜBERFORDERT

Es klingt eigentlich nicht kompliziert. Die Frage, ob man die Schultüte für sein Patenkind besorgen kann, sollte eine Frau mit abgeschlossenem Studium und einem festen Job nicht überfordern. Eine konisch geformte Pappe mit Süßigkeiten und einem Federmäppchen drin – das ist nichts, was mein örtlicher Supermarkt nicht im Angebot haben würde. Nichts, was man nicht auf dem Weg in die Redaktion erledigen können würde. Das denke ich, als Anfang April meine Freundin Maja in ihrer Funktion als Mutter meines Patenkinds anruft.

«Klar übernehm ich die Tüte», sage ich, «aber warum fragst du das jetzt schon? Wird Lucy denn im Frühjahr eingeschult?» – «Nee, erst im August», antwortet Maja. «Aber ich wollte dich rechtzeitig fragen, damit du es nicht auf den letzten Drücker erledigen musst.» – «Mach ich nicht», sage ich. Beschließe aber, genau das zu tun.

In den kommenden Wochen startet Maja mehrere Versuche, mich zum baldigen Erwerb der Schultüte zu bewegen. Sie sendet mir eine Bilderstrecke vom Kauf des Schulranzens, sie stöhnt am Telefon über die ersten Vorab-Elternabende, sie sagt Treffen ab mit der Erklärung, sie habe einfach noch zu viel zu tun mit der Planung für die Einschulung. Und jedes Mal baut sie einen kleinen Hinweis darauf ein, dass ich ja auch noch etwas dazu beitragen müsse zu diesem wichtigen Schritt in Lucys Leben. Ob ich schon mal nach einer Tüte geschaut hätte, was ich denn reintun wolle, ob sie vielleicht doch schon etwas für mich besorgen solle? Ich könne ruhig sagen, wenn es mir zu viel werde. Sie erreicht damit das Gegenteil: Je mehr Maja versucht, mich unter Druck zu setzen, desto mehr stelle ich auf Durchzug. Ich zeige mildes Verständnis für ihren Stress, lasse sie aber spüren, dass ich ihn für selbstgemacht halte. Was meine eigene Verpflichtung angeht, klar, die Tüte, dafür sei ja noch jede Menge Zeit.

Ich bin, zugegebenermaßen, ein bisschen bockig. Maja treibt mich mit dieser Einschulung noch in den Wahnsinn. Seit fast einem Jahr hat meine Freundin kaum etwas anderes besprechen wollen als die richtige Schule für Lucy. An einem Tag musste es unbedingt die bilinguale Elterninitiative sein («Mit weniger als drei Muttersprachen hat heute niemand mehr eine Chance auf dem Jobmarkt»), am anderen die konfessionelle Privatschule («Ich will, dass sie in einem geschützten Raum zu ihrem Glauben finden kann»), und zwischendurch kam absolut nichts anderes in Frage, als das Kind einfach auf die nächstgelegene Grundschule zu schicken («Diese ganzen Bemühungen der anderen Mütter, die Kindheit ihres Nachwuchses zu designen, sind doch furchtbar»). Sie hatte immer nach meiner Meinung gefragt, sie aber nur dann hören wollen, wenn sie ihre eigene Ansicht unterstützte. Es war aber ebenso sinnlos, sie in einer Entscheidung zu bestärken, denn spätestens beim nächsten Gespräch hatte sie längst eine neue gefällt und erklärte die andere für komplett indiskutabel. Wie ich denn auf diese Idee käme? Also bitte.

Das wohltrainierte Kind bestand glücklicherweise alle Aufnahmetests, sodass bis zum Schluss immer noch fünf Grundschulen in der engeren Auswahl waren. Dass sich Maja für die Dorfschule um die Ecke entschieden hatte, hieß nicht, dass wir über ein anderes Thema sprachen. Jetzt standen schließlich die Feierlichkeiten zur Einschulung an.

Ende Juli verschiebt Maja die Front gefährlich zu ihren Gunsten. Als ich von der Arbeit nach Hause komme, finde ich einen handschriftlich adressierten Brief in meinem Briefkasten. «Ich lade Euch herzlich zu meiner Einschulung am 10. August ein», steht da in mit Indigokarmin gefärbter Tinte auf einer handgeschöpften Karte. «Die Feierlichkeiten beginnen im Hof der Grundschule am Waldsee um 9 Uhr. Danach gehen wir gemeinsam in die Aula, wo ein Begrüßungsprogramm der Klassen 2–4 geboten wird. Im Anschluss servieren wir Sekt und Kaffee auf dem Schulhof, und ab 13 Uhr erwartet uns ein Mittagessen im Ristorante Giorgio. Für alle, die schon früher anreisen, gibt es am Abend vorher, am Freitag um 19 Uhr, ein festliches Essen bei mir zu Hause.» Unterschrieben ist die Einladung mit einem krakeligen Lucy in rosa Tinte. An den Rand der Karte hat Maja mit rotem Kuli ein Herz gemalt und geschrieben: «Spitze, dass du die Schultüte übernimmst. Du bist ein Schatz.»

Himmel. Wann hatte ich das letzte Mal so eine offizielle Einladung bekommen? Das muss zur Hochzeit von Maja und Thomas gewesen sein. Meine Freundin hat es geschafft, ich werde nervös. Ich drehe die Karte um, ob darauf vielleicht noch die Erwähnung eines Geschenketischs sei. Oder die Adresse von Trauzeugen, die man kontaktieren könne, falls man zum offiziellen Programm mit einer Rede oder einer Aktion beitragen will. Dann fällt mir ein, dass es ja gar keine Hochzeit ist, sondern eine Einschulung, und dass ich der Trauzeuge bin. Immerhin bin ich die Patentante. Die Schultüte hat eine neue Dimension bekommen. Sie ist mein Beitrag zur Lucys Vermählung mit ihrer zukünftigen Bildungskarriere. Das Brautkleid sozusagen. Verewigt im Fotoalbum, das Maja von diesem großen Tag anlegen wird, festgehalten in dem Video, das Thomas drehen wird. Falls sie nicht sogar jemanden dafür engagiert haben. Von meiner Schultüte scheint maßgeblich der Erfolg der Veranstaltung abzuhängen. Ganz schön viel Verantwortung. Ich mache mir erst mal einen Riesling auf.

Ich war bis elf Uhr abends in der Redaktion, die ich um neun Uhr morgens betreten hatte. Ich bin erledigt, die Läden haben zu, und eine fertig gepackte Schultüte werde ich wohl kaum online ordern können. Die Einladung ist nicht schlecht, denke ich, der Punkt geht an Maja, aber gewonnen hat sie noch lange nicht. Ich habe noch zwei Wochen.

Natürlich geht es Maja im Grunde nicht um die Schultüte. Genauso wenig wie mir. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Frage, die wir in unendlichen Stellvertreterdiskussionen verhandeln, seit Lucy sich zum ersten Mal ankündigte. Es geht um die Frage, wie man eine gute Mutter ist.

Die Mutter ist das große gesellschaftliche Reizthema unserer Zeit. Wie macht sie es richtig? Was macht sie falsch? Wie lange wird sie ihr Kind stillen? Wie lange wird sie arbeiten, wenn überhaupt? Ist eine Mutter noch eine richtige Frau, ist jemand, der keine Mutter ist, noch keine richtige Frau? Wie viel eigenes Leben darf eine Mutter neben ihrem Kind haben? Was muss sie opfern? Muss sie etwas opfern?

All diese Fragen werden längst nicht mehr nur an den Küchentischen und in den Schlafzimmern diskutiert. Sie sind zu einer politischen Debatte geworden. Jeder darf mitreden, und jeder hat eine ganz dezidierte Meinung, die keine andere zulässt. Auch die, die gar keine Kinder haben. Wie ich.

Meine Freundin Maja ist neuerdings Perfektionistin. Ein Kind kann nur dann gelingen, wenn seine Mutter hundert Prozent gibt, das ist ihre feste Überzeugung. Mit ihrem Druck in Sachen Schultüte will sie es mir beweisen. Ich soll begreifen, wie viel Aufwand sie schon um Kleinigkeiten machen muss, damit Lucy eine erfüllte Kindheit haben kann und später eine glückliche Erwachsene wird. Ich aber bin stur. Eine glückliche Kindheit hat nichts mit bunter Pappe und Süßigkeiten zu tun, und eine Schultüte lässt sich nebenbei besorgen, das wiederum will ich ihr zeigen. Majas neuer Perfektionismus geht mir auf die Nerven. Mutter zu sein, ist eine Möglichkeit, es ist ein Aspekt im Leben einer Frau. Zugegebenermaßen ein wichtiger. Aber es ist kein Vollzeitjob und keine Karriere. Wie viele Frauen unserer Generation lebt Maja ihr Muttersein wie eine Berufung. So, als sei sie in einen Orden eingetreten. Sie verfolgt hehre Ziele für eine bessere Welt. Das gibt mir wiederum das Gefühl, sie halte mein Leben, ein Leben ohne Kinder, für verschwendet und egoistisch.

Wir führen unsere Debatte mit Taten, nicht mit Worten. Wenn wir sprechen, dann sprechen wir über Nebenschauplätze. Zu artikulieren, was uns wirklich bewegt, trauen wir uns nicht. Maja hat Angst, ich könnte ihr sagen, dass sie sich durch die Kinder total verändert hat. Und sie würde wissen, dass ich recht habe. Ich habe Angst, sie könnte mir sagen, dass sich bei mir nichts verändert hat. Und ich würde wissen, dass sie recht hat.

Kinder zu haben ist nicht etwas, das passiert oder eben nicht passiert. Es wird durch die unendlichen Möglichkeiten, die uns Verhütung und Reproduktionsmedizin dieser Tage bieten, immer mehr als eine ganz bewusste Lebensentscheidung betrachtet. Als Ausdruck einer bestimmten Haltung der Welt gegenüber. Wenn Maja und ich darüber reden würden, müssten wir uns vielleicht eingestehen, dass Frauen mit Kindern im Grunde nicht mit Frauen ohne Kinder befreundet sein können, weil der Lebensentwurf der einen gegen den der anderen steht.

In den Vereinigten Staaten wurde bereits eine Theorie für meine Situation entwickelt. Was Maja praktiziert, ist die klassische «Motherhood», also ein Leben mit Kindern. Ich hingegen lebe die «Otherhood», ein – freiwillig oder unfreiwillig – kinderloses Leben. Beides hat es immer schon gegeben, heute aber verlangt die Gesellschaft jeweils Begründungen für das eine oder andere Lebenskonzept. Mit dem Begriff «Othering» hat die Wissenschaft eigentlich das Phänomen der Ausgrenzung von Menschen, die einer vermeintlichen Norm nicht entsprechen, beschrieben. Schwarze, Schwule, Frauen … Jetzt gehören anscheinend auch die Kinderlosen dazu. Wie sind da die Kausalitäten? Beschreibt der Begriff das Phänomen der «Otherhood» nur, oder erschafft er es?

Ich fühle mich tatsächlich manchmal ausgeschlossen aus dem neuen Leben, das meine Freundinnen mit Kindern führen. Bei vielen Fragen kann ich nicht mitreden, bei vielen ihrer Termine sieht man ohne Kinder lächerlich aus. Auch bei der Arbeit kommen solche Dichotomien vor: Es gibt die Kolleginnen mit Kindern und die ohne. Beide Lager verfolgen unterschiedliche Interessen. Bei Männern wäre so etwas undenkbar. Kinder oder keine Kinder, was heißt das schon für die Karriere? Nichts. Bei Frauen hingegen ist es omnipräsent.

Dieser Logik folgend, müssten Maja und ich eigentlich gegeneinander antreten. Aber wir wollen uns nicht verlieren. Also schweigen wir über uns, übers Anderssein und das Ausgrenzen und sprechen über Papptüten, Ponyreiten und PEKiP.

Maja ist eine meiner liebsten Freundinnen. Bevor sie das Kind bekam, habe ich sie sehr bewundert. Für ihren Freiheitsdrang, für dieses faszinierende Chaos, das sie innerhalb kürzester Zeit um sich herum verbreiten konnte, für ihre Abstürze und Höhenflüge, vielleicht auch dafür, dass sie einem immer zugehört hat. Bis Lucy kam.

Fünf Tage vor der Einschulung steht vor mir an der Supermarkt-Kasse ein Kind mit einem Schulranzen auf dem Rücken. O nein, die Einschulung. Jetzt hätte ich es doch tatsächlich fast vergessen. Das ist meine Chance. Maja hätte ich unmöglich fragen können, ohne mir einen Vortrag zum Thema Zeitmanagement und kindliche Erwartungen einzuhandeln. «Wo bekommt man eigentlich Schultüten?», frage ich die dazugehörige Mutter und versuche, möglichst beiläufig zu klingen. Sie scheint eine Sekunde lang zu überlegen, ob ich mich über sie lustig mache. So, als wäre es eine allgemeine Bürgerpflicht, zu wissen, wo man Schulbedarf erwirbt. «Im Schreibwarenladen», sagt sie dann. «Aha, danke.»

Ich traue mich nicht, ihr zu erklären, dass ich gar nicht weiß, wo sich so ein Schreibwarenladen üblicherweise aufhält. In meinem Leben nämlich gibt es keine Schreibwaren. Es gibt Stifte und Uhu und karierte Blöcke in allen DIN-Größen, aber die heißen Büromaterial und liegen in der Schrankwand im Sekretariat bereit. Eine Schultüte habe ich da noch nie angetroffen.

Wer keine Kinder hat, nimmt eine Stadt komplett anders wahr. Nehmen wir an, ich gehe mit einer meiner Mutter-Freundinnen die Straße entlang und uns kommt ein gutaussehender Mann mit einem Kind auf dem Arm entgegen. Dann sage ich: «Oh, der sah aber schnuckelig aus. Ob das wohl sein Kind ist?» Meine Freundinnen sagen: «Oh, das Kind hatte gar keine Mütze auf. Der ist sicher so ein Wochenendvater, die übernehmen ja keine Verantwortung.» Wenn eine neue Boutique aufmacht, dann sage ich: «Da hat eine neue Boutique aufgemacht.» Meine Freundinnen sagen: «Da, wo vorher dieser fade Kinder-Secondhandladen war?» Ich wünsche mir endlich wieder eine Kneipe in den Kiez, wo man nach elf Uhr noch ein großes Pils bestellen kann, ohne dass die Kellnerin einem Vorwürfe macht. Meine Freundinnen sehnen sich nach einem Drogeriemarkt. Den Franzosen mit dieser unglaublichen Käsetheke direkt neben dem Park hat außer mir noch gar keiner bemerkt. Wahrscheinlich, weil die Tische da so eng stehen, dass man mit einem Kinderwagen nicht reinkommt. Und weil man in der Schwangerschaft ja ohnehin gerade die leckeren Käsesorten meidet.

Majas unausgesprochener Vorwurf ist wahr. Wenn man keine Kinder bekommt, geht das Leben in der Regel einfach weiter. Man sucht sich einen neuen Job oder bekommt neue Aufgabenbereiche, man wird befördert oder degradiert, man verliebt oder entliebt sich, man entdeckt eine längst vergessene Bar wieder oder einen neuen Italiener, man entwickelt eine Vorliebe für Expressionismus, polnische Literatur oder Pilates, aber im Prinzip bleibt alles beim Alten. Positiv betrachtet könnte man sagen, das Leben besteht aus Vertiefungen, negativ gesehen wiederholt sich alles unendlich oft. Die einzige grundlegende Veränderung, die es gibt, wenn um einen herum alles Kinder bekommt und man selber nicht auf der großen Reproduktionswelle mitschwimmt, ist, dass man sich neue Freunde suchen muss, mit denen man all die Dinge tut, die das eigene Leben ausmachen.

Am Abend ruft Maja an und fragt, ob nicht doch lieber sie die Schultüte besorgen sollte. Sie hätte totales Verständnis dafür, dass ich nicht meine ganze Zeit darauf verwenden könne. Gerade jetzt, wo es beruflich bei mir etwas schwieriger sei. Bei mir ist es beruflich gar nicht schwieriger. Maja sagt das nur gerne, wenn sie das Gefühl hat, dass ich mich nicht genug um mein Patenkind kümmere. Dann erfindet sie eine Entschuldigung für mich und trägt sie praktischerweise gleich selbst vor. So suggeriert sie mir, dass sie eigentlich ein anderes Verhalten von mir erwartet.

Ich kenne Maja aus dem Studium. Erstes Semester, Einführung in die Italianistik. Wir sollten uns vorstellen und sagen, warum wir Italienisch studieren wollten. Einer nach dem anderen schwärmte von Italo Svevo, von Verdi oder Kalabrien. Als Maja an die Reihe kam, sagte sie: «Ich wollte eigentlich Französisch studieren, aber ich habe den Raum für die Einführung nicht gefunden.»

Mit Unzulänglichkeiten anderer Menschen ist Maja früher sehr großzügig gewesen. Es gab kaum ein Fehlverhalten, das sie aufgeregt hätte. Das war außerordentlich gut für unsere Freundschaft, da ich einen gewissen Hang zu Unzulänglichkeit und Fehlverhalten habe. Sie hat das immer toleriert.

Aber seit Maja Mutter ist, ist sie auch meine Mutter. Sie ist übergriffig. Sie macht sich Sorgen, wenn ich mal wieder etwas auf die lange Bank schiebe, sie gibt mir gute Ratschläge in allen Lebenslagen, sie kümmert sich um mich. Ob ich ordentlich angezogen bin, ob ich gesund esse, ob ich auch alle meine Ziele verfolge. Die Hälfte ihrer Sätze fängt mit den Worten an: «Dann musst du einfach mal …» Ich habe das Gefühl, dass sie mich nicht mehr ernst nimmt. So, als wäre sie mit der Geburt von Lucy Expertin für alles geworden, und ich hätte im Gegenzug sämtliche Kompetenzen verloren. Vor ein paar Wochen, da habe ich mit ihr und ihrer Familie einen Ausflug unternommen. Ich stehe mit den Kindern im Gang und ziehe Emma die Schuhe an, da kommt Maja dazu. Sie hebt den Finger, schaut mich an, zeigt auf das Bad und sagt: «So, und jetzt alle noch mal aufs Klo.»

Eltern tendieren dazu, alle Welt wie Kinder zu behandeln. Wer die ganze Zeit für ein paar kleine Menschen mitdenken muss, verliert eben das Gefühl für Grenzen. Meine Mutter-Freundinnen fragen mich gerne mal, ob ich auch genug esse, sie legen mir im Café unaufgefordert eine Decke über die Knie oder sagen: «So willst du nicht rausgehen, oder?» Eine Freundin hat mich mal aufgefordert, doch bitte häufiger «Scheiße» zu sagen, weil sie gerade dabei sind, den Begriff gegenüber Chloe zu enttabuisieren. Eine andere hat mich gebeten, überhaupt nicht mehr zu fluchen, weil sie möchte, dass ihr Kind eine geschützte Kindheit hat. Meine Väter-Freunde fragen, ob ich mir den Karriereschritt auch wirklich gut überlegt habe, ob es nicht langsam mal Zeit für mich wird, in eine Wohnung für Erwachsene zu ziehen, und ob ich die Sache mit meinem neuen Freund auch wirklich ernst meine. Eltern neigen dazu, erziehen zu wollen. Sie sind jetzt eben Eltern. Aber leider vergessen sie dabei oft, dass sie gar nicht meine Eltern sind.

Wenn ich wie ein Kleinkind behandelt werde, benehme ich mich auch so. Nach der Klo-Nummer war ich zwei Stunden lang beleidigt, was leider in der Kinderlieder-CD unterging, die wir im Auto anhören mussten. Jetzt aber kann ich mich wehren: «Das kann ich schon alleine», antworte ich knapp und beleidigt auf ihr Angebot, die Schultüte zu besorgen. Und dann erkläre ich, dass ich jetzt leider keine Zeit hätte, mit ihr zu reden, ich hätte ja schließlich einen Job.

Am nächsten Morgen frage ich den Hausmeister nach dem Schreibwarenladen. Norbert ist Hausmeister von einem ganzen Block, er ist der Chef im Kiez. Norbert weiß alles über alle. «Das glaube ich jetzt nicht», sagt er. «Wie kann man nicht wissen, wo der Schreibwarenladen ist.» – «Das ist nicht schwer», antworte ich, «ich habe es ohne große Mühe geschafft. Also, wo ist er?» – «Ach, die Kleene», sagt Norbert und streicht sich vergnügt mit der Hand über seinen Blaumann-Bauch, «findet den Schreibwarenladen nicht. Glaubt man es denn.» Es war vielleicht doch keine so gute Idee, Norbert zu fragen. Dass ich noch nicht mal weiß, wo man Stifte und Hefte kauft, wird er jetzt unter Garantie im Haus herumerzählen. Ich bin die einzige Kinderlose im Vorderhaus. Sogar die Lesben im Dachgeschoss kriegen gerade das zweite Mädchen. Norbert selber ist schon vierfacher Opa, mit sechsundvierzig. Jetzt, wo klar ist, dass ich noch nicht mal weiß, wo ein Schreibwarenladen ist, wird Norbert endgültig denken, ich sei verrückt.

Als ich zwei Tage vor der Einschulung endlich im Schreibwarenladen auftauche, präsentiert sich mir der komplette Horror. Gleich die Hälfte des Ladens ist voll davon. Auf glänzenden achteckigen Schultüten traben rosa Pferde mit wehenden Mähnen im hellrosa Himmel über hellblaue Wolken, hell- und dunkellila Bonbons begleiten silberne Glitzerstreifen. Es gibt Spongebob und Barbie und Spiderman und sämtliche Kitschhelden, die die Kinderzimmer bevölkern. Was es nicht gibt, ist eine Schultüte, mit der ich meiner Freundin unter die Augen treten kann. Das Foto, das Maja sich vom ersten Schultag ihrer Tochter gewünscht hat, ist mit Sicherheit frei von Figuren aus der kommerziellen Spielzeugwelt, die sie einwandfrei als genderpolitisches No-Go identifizieren würde. Thorsten, der bereits zwei Kinder eingeschult hat, hatte mir das mal genau erklärt: Die Schultüte ist das erste Distinktionsmerkmal des Schulkindes. Die Eltern schauen sich am ersten Schultag auf dem Schulhof um und machen sich mental Notizen. Rosa Sechsecktüte mit Einhörnern drauf? Mit der spielt Ava schon mal nicht. An der Schultüte erkennt man den Anspruch der Eltern an die Zukunft ihres Kindes.

Ich durchforste also den Laden, vorbei an Ständern voller Sticker und Regalen voller Blöcke, Büroklammern und Stempelkissen. Ganz hinten in der Ecke halten sich unifarbene Schultütenrohlinge in Waldorf-Schul-Optik versteckt. Es sind nur noch wenige Farben übrig. Die unansehnlichsten natürlich. In einem Moment von Panik kaufe ich ein oranges Ungetüm aus Pappe, das auf dem Fahrrad extrem unpraktisch zu transportieren und deswegen sofort leicht angedötscht ist.

Auf dem Weg zur U-Bahn rufe ich meine Mutter an. Seit ich von Müttern umzingelt bin, frage ich sie immer häufiger um Rat im Umgang mit anderen Müttern. Schließlich hat sie da die längste Erfahrung. Und sie hat das alles selbst schon mal durchgespielt mit meinen Schwestern. «Die Einschulung ist ein wichtiger Schritt für Maja», sagt meine Mutter. «Sie will, dass du dich daran beteiligst. Ich würde ihr da entgegenkommen.» – «Habt ihr bei mir damals auch so ein Theater gemacht?», frage ich. Meine Mutter überlegt kurz. «Ich glaube, nicht», sagt sie dann.

Heute aber sei das anders. «Schultüten bastelt man jetzt selbst», sagt meine Mutter. Und dann erklärt sie mir, dass orange leider die scheußlichste aller Farben sei und ich jetzt dringend in den Bastelladen huschen müsse und etwas Folie kaufen, damit ich dann die Tüte bekleben könne. Was meine Mutter sagt, hört sich sehr überzeugend an. Außerdem hatte ich in Textilarbeit/Werken durchgängig eine Eins auf dem Zeugnis. Die einzig konstante Leistung meiner Schulkarriere. Die werde ich jetzt also meinem Patenkind durch mein Werk weitergeben. Mir gefällt die Idee. «Wo ist denn bei mir in der Nähe ein Bastelladen?»

Auf dem Weg rufe ich meine Chefin an und nuschele etwas von Kolumne und Späterkommen ins Smartphone. Glücklicherweise habe ich ein neues Gerät, mit dem versteht man nur die Hälfte. Dann rufe ich bei Maja an. Lucy ist direkt selber dran. Als sie das zweite Kind bekommen haben, sind Maja und Thomas auf die andere Seite des S-Bahn-Rings gezogen. In den extremen Westen. Das macht man jetzt so. «Es dauert mit der S-Bahn nur fünfzehn Minuten bis zum Zoo», haben sie gesagt. «Und vom Zoo aus ist es noch mal eine halbe Stunde, bis du wieder in der Zivilisation bist», habe ich gesagt. Aber das haben sie nicht gelten lassen. Die City West sei die neue Mitte, das wisse jeder. «Du wirst schon noch draufkommen, wenn du auch mal Kinder hast», sagte Maja. Ich hasse diesen Satz.

Allerdings nutzen Maja und Thomas ihre Fünfzehn-Minuten-Strecke nie, denn seit sie zwei Kinder haben, ist Thomas’ R4 verschwunden und an seine Stelle ein VW Touareg getreten, der ausschließlich für Fahrten in den Kindergarten und wieder zurück genutzt wird. Anscheinend gab es da bei VW einen Rabatt für Eltern mit Kindern unter fünf Jahren. Der Parkplatz vor der Kita sieht auf jeden Fall aus wie die Verkaufsfläche eines Volkswagenhändlers. Maja steht also wie jeden Morgen im Stau, Emma schreit in ihrem Kindersitz, und Lucy kann ans Telefon gehen.

«Na, Lucy», frage ich, «was ist denn deine Lieblingsfarbe?» – «Momentan Türkis und Mint», sagt Lucy, «und Gold und Silber.» – «Ah», sage ich und versuche, mich auf sichereres Terrain zu retten. «Aber Schokolade magst du immer noch so gern, oder?» – «Nee», sagt Lucy, «jetzt mag ich lieber Salami.» Eine Zirkustüte mit Bifi – unterschätz nie die Wünsche einer Sechsjährigen.

Im Bastelladen sind bereits zwei Mütter damit beschäftigt, den Verkäufer mit irrwitzigen Materialanforderungen in den Wahnsinn zu treiben. Meine Frage nach der optimalen Farbe zum Bemalen von Schultüten scheint ihn nicht glücklicher zu machen. Ich geh also selbst auf Jagd, was relativ lange dauert, denn der Bastelladen hat mehrere Etagen voller Bastelwunder. Als ich mit meiner Wunschfarbe endlich wieder an der Kasse angelangt bin, hat sich dort auch gerade eine der Mütter eingefunden. «13,66 Euro» will der Verkäufer haben. «Das ist lustig», sagt die Mutter an der Kasse, «mein Sohn hat letztens herausgefunden, warum man eigentlich Schnapszahl sagt.» – «Ach ja», sagt der Verkäufer. Er hört sich nicht so an, als interessiere er sich sonderlich für die Antwort. Aber er muss in seinen langen Jahren im Bastelladen die Erfahrung gemacht haben, dass nichts eine Mutter stoppt, die von der Heldentat ihres Kindes erzählen will. «Er meinte, Mama, wenn man einen Schnaps trinkt, dann sieht man doppelt, also sieht man dann Schnapszahlen.» – «Ich Idiot», platze ich dazwischen. Ich hatte gerade festgestellt, dass ich die Goldfolie vergessen habe. «Na.» Eh ich mich’s versehe, hat die Mutter sich zu mir umgedreht und boxt mich in den Oberarm. «Nenn dich nicht Idiot», schimpft sie mit mir. «Du musst nett zu dir sein.» Aha, eine alleinerziehende Mutter, vermutlich Abonnentin der Zeitschrift «Emotion» und Besucherin von Frauengruppen. Wo lernt man sonst so etwas – fremde Frauen einfach zu boxen. Sie lächelt mich an, als habe sie mir einen großen Dienst erwiesen. Klar, sie ist Mutter. Und somit Fachfrau für alles Zwischenmenschliche.

Als ich mit Goldfolie und Farbe wieder an der Kasse erscheine, steht die Alleinerziehende immer noch da. Die Extremerfahrung, aus dieser Materialansammlung auf zwei Etagen die passende Farbe herauszufischen, hat mich jedoch milder gestimmt. Ich will gelobt werden. «Ich habe meinem Patenkind eine türkisfarbene Schultüte versprochen», erkläre ich den beiden stolz. Schließlich kann man für seine Bemühungen um den akademischen Nachwuchs ruhig mal Anerkennung einfordern, auch als Tante. «Das ist doch kein Türkis», sagt der Verkäufer. Ich drehe das Töpfchen um. Da steht eindeutig «Türkis» auf dem Etikett. «Ja, aber wenn ein Kind Türkis sagt, dann meint es damit ein eher blaues Türkis», erklärt der Verkäufer. «Also, ich wäre als Kind von so einem grünen Türkis enttäuscht gewesen.» – «Und was machst du mit der Goldfolie?», will die Alleinerziehende wissen. «Das passt doch gar nicht.» Die beiden sind eindeutig erfahrener als ich. Ich beschließe, auf sie zu hören.

Zu dritt durchforsten wir den Laden nach Kindertürkis. Aber weder auf Pappe noch in Sprühfarben finden wir, was uns alle drei überzeugt. «Weißt du was», sagt die Alleinerziehende, «nebenan nähen sie Schultüten, das ist jetzt Trend! Schau da doch mal.» Der Verkäufer ist einverstanden.

Ich hatte noch nie etwas von einer genähten Schultüte gehört. Mittlerweile ist es fast zwölf, ich habe mich seit drei Stunden mit nichts anderem beschäftigt, aber vorzuweisen habe ich nur einen zu erwartenden Bluterguss von dem Alleinerziehenden-Schlag und einen auffällig orangen und schwer zu transportierenden Tüten-Rohling. Maja scheint nicht komplett unrecht zu haben. Es ist wohl doch nicht so leicht, ein Kind glücklich zu machen.

Bei «Kleine Habseligkeiten» neben dem Bastelladen gibt es in der Tat genähte Schultüten. Man kann verschiedene Stoffe und Bordüren bestellen und natürlich auch den Namen des Kindes eingestickt bekommen. Wenn die Inhaberin eine Verkäuferin gewesen wäre, dann hätte sie es vielleicht auch innerhalb von drei Tagen geschafft, so einen Tütenschlüpfer für mich anzufertigen. Aber die «Kleinen Habseligkeiten» werden von einer Frau geführt, die diesen Laden eher als Selbstverwirklichung betreibt. «Ich kann die Tüte zwar nähen», sagt sie, «aber Samstag wollte ich gar nicht in den Laden kommen.» – «Kann ich sie dann vielleicht irgendwo abholen?» – «Eher nicht, ich wollte da wahrscheinlich ausschlafen.» In der Marienburger Straße aber nähten sie auch, da sollte ich mal vorbeischauen.

In dem Laden in der Marienburger sitzt eine strickende Asiatin hinter einer Theke inmitten von rosa Lillifee-Puppen und Diddl-Mäusen. Hinter ihr auf dem Regal türmen sich selbstgenähte Schultüten. Auf einer steht sogar «Lucy» gestickt. Türkisfarben sind sie nicht, aber schön. Das Ziel ist zum Greifen nahe. «Die sind bestellt», sagt die Asiatin, als sie meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt. Ihr Deutsch ist eher gebrochen, ihre Aussage jedoch ist unmissverständlich. «Ah», sage ich, «haben Sie noch andere?» – «Heute ist Donnerstag», sagt die Asiatin. «Einschulung ist Samstag. Zu spät. Soll lieber andere Schultüte besorgen.» Mir ist nicht hundertprozentig klar, was sie mir sagen will. Das Einzige, was ich verstanden habe: Hier werden meine Kompetenzen angezweifelt. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mir jetzt von dieser Tiger-Mom erklären lassen muss, was ich bei der Einschulung von meinem Patenkind falsch mache.

Es ist mittlerweile halb zwei, und ich habe immer noch keine Tüte. Ich rufe im Sekretariat an und erkläre, dass ich den Tag im Nachhinein freinehmen wolle, überhöre das «Dachte ich es mir doch gleich» von der Sekretärin und fahre zurück zum Bastelladen. Der Verkäufer und die Alleinerziehende haben schon mit mir gerechnet. Die Alleinerziehende hat für mich silberne Sprühfarbe ermittelt, die sie mir ans Herz legen will, der Verkäufer hat aus dem Sortiment bestellter Rohlinge einen herausgefischt, der seiner Idee von Kindertürkis am nächsten kommt. Dass auf den jemand wartete, darauf wolle er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, schließlich hätte die betreffende Mutter ja den Vormittag über Zeit gehabt, das Ding abzuholen. Und überhaupt kenne er die Frau ja auch gar nicht.

Es dauert noch drei Stunden und vier weitere Läden, bis ich schwarze Schmetterlinge gefunden habe, die ich mit dem silbernen Lack besprühen kann, um sie dann auf die Tüte zu kleben, bis ich mich für türkisfarbene Pompons in drei verschiedenen Schattierungen, ein Set Kinderschminkmasken Tiger, Löwe und Gepard und vier Bögen Glitzer-Sticker zur Tütenfüllung entschieden habe. In jedem der Läden habe ich Mütter getroffen, die mir Ratschläge gegeben haben, was in so eine Schultüte reingehört und was von den Dingen, die ich in einem anderen Laden bereits erworben hatte, ich doch besser schnellstens zurückbringen sollte, falls ich weiterhin Interesse an Lucys Zuneigung hätte. «Was? Nein! Also Buntstifte? Die hat doch jedes Kind längst, die würde ich nicht reintun.» – «Pack das Kuscheltier gern dazu, aber du solltest wissen, dass das eher für Vierjährige ist.» – «Sticker? Wirklich? Wenn du meinst.» Die Welt scheint voller Menschen zu sein, die bestens über Lucys Wünsche Bescheid wissen. Ganz ohne sie zu kennen. Mittlerweile hatte die Aktion über hundert Euro gekostet. Noch ist keine einzige Süßigkeit drin, geschweige denn eine Mini-Salami.

Eigentlich hatte ich abends noch bei meiner besten Freundin Julia auf ein Glas Wein vorbeischauen wollen. Julia ist mein Happy-Place. Sie ist nicht nur meine beste, sie ist auch die letzte Freundin, die mir geblieben ist, um ein gemeinsames Erwachsenenleben zu führen. Die letzte, deren Tag nicht nach dem Babysitter getaktet ist und die auch nach einem Glas Wein wach bleiben kann. Die einzige wirkliche Freundin, mit der ich noch ganze Sätze und Gedanken austauschen kann.

Leider muss ich ihr jetzt absagen. Stattdessen knie ich auf dem Boden, besprühe Schmetterlingsaufkleber mit Silberspray, schneide eine große LUCY-Schablone aus und bastele eine Glückwunschkarte. Das Parkett im Flur wird leicht in Mitleidenschaft gezogen. Wie sich rausstellt, lässt sich das Spray aber mit Nagellackentferner beseitigen. Was anderes hätte ich auch gar nicht im Haus gehabt.

Ich bin glücklich. Ich wäre eine Super-Mutter. Ich kann aus ganz einfachen Dingen schöne Sachen basteln und verursache dabei noch nicht mal bleibende Schäden in der Wohnung. Am liebsten würde ich sofort zum Bastelladen fahren und mein Werk präsentieren. Aber es ist bereits nach elf Uhr. Daniel kann ich sie auch nicht zeigen, denn mein Freund baut gerade ein Haus in der Nähe von Frankfurt. Es ist sein erstes größeres Projekt in dem neuen Architektur-Büro. Ich fürchte, gegen sein Haus würde mein Glück über die Schultüte etwas jämmerlich aussehen.

Also rufe ich Julia an, um von meinem Abenteuer zu berichten, für das ich sie ja immerhin versetzt habe. Leider kann ich sie nicht entflammen. «Fängst du jetzt auch noch mit dem Quatsch an?», ist ihr erster Kommentar. Ich hätte es mir denken können. Julia ist ja eigentlich – genau wie ich – eher genervt von den endlosen Gesprächen unserer Freundinnen über die Herausforderungen des Mutterseins. Es war zu erwarten, dass meine Leihmutterschaft sie nicht mitreißen würde. Als ich sie dann endlich zu einem Kommentar kriege, stellt sie mich gleich vor die nächste Herausforderung. «Weißt du noch», sagt sie, «in meiner Schultüte war ganz unten ein Waschlappen mit einem Pony drin. Der war so toll. So was brauchst du unbedingt, wenn du willst, dass deine Tüte besonders ist. Die anderen Kinder haben alle was Besonderes.» Ich erinnerte mich in der Tat an den Waschlappen. Die Idee war spitze. Aber wo soll ich jetzt einen Waschlappen mit einem Pony herkriegen?

Ich hatte es Maja zeigen wollen. Ich wollte ihr beweisen, dass man mit links eine tolle Tüte besorgen könnte. Es hat nicht funktioniert. Sobald man in die Welt der Mütter eintaucht, wird man in den Strudel von Tausenden Erwartungen gezogen. Jeder hat eine andere, aber sehr genaue Vorstellung davon, was richtig und gut für ein Kind ist und was nicht. So hat man eigentlich permanent das Gefühl, man macht etwas falsch.

Diese Schultüte herzustellen und zu füllen, war tausendmal anstrengender, als ich gedacht hatte. Aber toll war sie. Am Ende habe ich noch ein türkisfarbenes Haarband mit Glitzersteinen bestickt gefunden, das ich anstelle des Pony-Waschlappens ganz unten unter den Süßigkeiten und Überraschungen verstecken kann. Ich nehme sie zur Probe selber in die Hand und stelle mich vor den Spiegel. Die Tüte wiegt mindestens zehn Kilo. So ein Mist. Die Bonbons müssen wieder raus, an ihre Stelle kommen Chips und Flips. Jetzt ist alles perfekt. Wenn man vom Aspekt der gesunden Ernährung absieht.

Es hat sich gelohnt. Ich freue mich darauf, wie Lucy damit vor der Schule stehen wird. Auf dem Foto von ihrer Einschulung wird Lucy in alle Ewigkeit diese Schultüte in der Hand halten. Meine Schultüte.

Zum Festakt hat Maja an die dreißig Leute eingeladen, also umgerechnet fünf Familien und mich. Der Schulhof ist so voll wie Köln an Karneval. Großeltern, Tanten, Nachbarn, Cousinen, Freunde, jedes Schulkind ist durch Hundertschaften verstärkt. Ich trage mein puderblaues Kleid, von dem die Verkäuferin geschworen hat, dass auch Prinzessin Rania von Jordanien es sehr gerne trägt, und fühle mich wunderbar. Ein Familienvater dreht sich nach mir um und wird von seiner Frau zurechtgewiesen. Das wird ein guter Tag.

Daniel trägt den dunkelblauen, leicht glänzenden Boss-Anzug, den ich so an ihm liebe. Er sieht traumhaft aus. Wir beiden sind das einzige Paar, das unbespuckt und windelfrei den Pausenhof betreten hat und das keine heulenden Geschwister-Kinder auf dem Arm wippt. Ich nehme seine Hand und freu mich auf das, was kommt.

Lucy steht in einem Grüppchen von aufgeregten Mädchen, und ich stelle mit Stolz fest, dass mein Patenkind mit weitem Abstand das entzückendste ist. Als sie mich sieht, rennt sie zu mir und streckt ihre Arme nach der Tüte aus. «Oh, ist die schön.» Ich bin sehr glücklich. Zum Dank fasst Lucy mit zwei klebrigen Händchen in mein Gesicht und drückt mir einen Himbeereis-Kuss auf die Wange. Dann verschwindet sie mit ihrer Beute in der Menge.

Die Darbietung in der Aula ist sehr lustig. Zweit- und Drittklässler haben Lieder und Turnübungen vorbereitet. Überall wuseln kleine Kinder durch die Gegend. Die anderen Schultüten, das sehe ich auf den ersten Blick, können sich nicht mit meiner messen. Pseudoindividualisierte Massenware. Ich bin sehr zufrieden. Ein Kind bewundert auch gleich gebührend die Schmetterlinge auf Lucys Tüte. «Die kann man nachher abziehen und dann an die Wand zu Hause kleben», kläre ich sie auf.

Was für ein schöner Tag. Ich bin sehr stolz auf Lucy. Mein Patenkind. Das erste Mal, dass sie ohne ihre Eltern unterwegs war, war mit mir. Da waren wir im Zoo. Und auch wenn sich Lucy nur für die Perlhühner im ersten Käfig gleich am Eingang interessiert hat, war es doch ein Erfolg. Patenkinder sind anders als Kinder anderer Freunde. Man begeistert sich mehr für ihre Entwicklung, man freut sich über ihre kleinen Glücksmomente, und man kann gemeinsam Abenteuer erleben. Toll sind auch Geburtstage und Weihnachten, da kann man den Kindern Geschenke machen, die man selbst als Kind gerne gehabt hätte und die ihre Eltern ihnen nie kaufen würden.

 

Heute, bei der Einschulung, bin ich allerdings nicht so wichtig. Es sind Massen von Verwandten und Freunden da. Daniel und ich sind leicht überfordert mit der Situation.

Gehören die alle zu Lucy? Leider fällt Daniel zuerst eine gute Ausrede ein. «Ich muss noch mal dringend telefonieren», sagt er, «es gibt Stress mit der Haustechnik.» Und dann verabschiedet er sich für eine «halbe Stunde». Er gibt mir noch einen Kuss. «Ich komm später nach, okay?»

Die Abreise von der Schule wird komplett chaotisch, weil eine Hundertschaft auf Autos verteilt werden muss. Das Foto vor der Schule, die historische Aufnahme mit der historischen Tüte, geht im allgemeinen Wirbel unter. Vielleicht macht man das auch gar nicht mehr. Als ich Thomas quengelnd darauf hinweise, ist Lucy bereits von ihrer Mutter abtransportiert worden. Zu Hause wartet ja das Kinderfest. Also fahren wir auch.

Maja hat wirklich alles gegeben. Die beiden Apfelbäume sind mit weißen Pompons geschmückt, die Büsche mit Girlanden verziert. Lucy hat zur Einschulung einen aufblasbaren Mini-Pool mit eigener Wasserrutsche bekommen, der jetzt neben dem Trampolin steht.

Die ersten Mütter, die bereits im Garten angekommen sind, haben sich in eine Diskussion über die Frage vertieft, ob es sinnvoll für die kindliche Entwicklung sei, ein Trampolin und einen Mini-Pool gleichzeitig zur Benutzung zu haben. Es haben sich bereits zwei Lager gebildet. Die Gesundheitsfraktion, der es vor allem um den physiologischen Aspekt ging (Wie viel Wasserturnen und Hüpfen ist gut für das Kind?), gegen die emotionalen Mütter, die sich fragten, was es mit der Psyche des Kindes mache, wenn es so ein Überangebot an Sportgeräten im Garten hätte. Die Lager sind natürlich auch untereinander gespalten.

Als ich dazukomme, verstummt die Diskussion. Es scheint klar, dass ich nichts zu der Thematik beitragen könne. «Tja», sage ich. «Also mit dem Wetter hat Maja wirklich Glück gehabt.» Die anderen lächeln mich milde an. Dann gehe ich wieder ins Haus. Ich weiß nicht so recht, mit wem ich reden kann. Meine einzige mir verbliebene Nicht-Mütter-Freundin ist nicht da. Julia verspätet sich aus irgendeinem Grund. Wahrscheinlich ist der Grund ihre Abneigung gegen Mutti-Partys, auf denen alle nur über ihre Goldstücke reden.

Zur großen Einschulungsparty ist natürlich auch Ellen mit ihren Kindern gekommen. Ellen ist ihrem Ruf der Super-Mutter mal wieder gerecht geworden: Ihr Ältester, Lukas, hat eine eigene, sehr bunte und sehr schöne Schultüte gebastelt für Lucy. Auch sein Bruder, zwei Jahre alt, überreicht Lucy ein rosa-silbernes Ungetüm mit Einhorn drauf. Zweimal Konkurrenz für meine Tüte. Und bedauerlicherweise ernsthafte Konkurrenz. Im Laufe des Nachmittags kommen noch zwei andere Tüten von Ex-Kita-Muttis dazu. Später bringt die Nachbarin eine dieser bunten, sechseckigen Tüten mit Phantasiefohlen vorbei, und Sarah, die neue Freundin von Kai, die sich offensichtlich beliebt machen will, präsentiert auch eine eigene Tüte. Auch ihre ist ziemlich gut: Die Oberfläche sieht aus wie ein Meer, in dem sich glitzernde Fische tummeln. Ein paar springen mit Hilfe von Draht sogar aus den Wellen. Sarah gefällt mir. Die hat Ideen, das merkt man sofort.

Irgendwann liegt der Tisch voller Schultüten. Fast alle, die Lucy eine Schultüte geschenkt haben, haben auch eine kleinere Version für ihre kleine Schwester Emma mitgebracht. Ich kann die Tüten auf dem Tisch gar nicht mehr zählen. Lucy kramt in zwei Schultüten rum und geht dann mit den anderen Kindern zum naturwissenschaftlichen Kinder-Animationsprogramm, das Maja für das Fest gebucht hat.

Ich hatte Angst davor gehabt, das Kind mit meiner Tüte zu enttäuschen, jetzt bin ich selbst enttäuscht. Ich habe gehofft, dass Lucy die Tüte genauso viel bedeuten würde wie mir. Nun tue ich mir auch noch selber leid. Es ist ein bisschen erbärmlich. Geht es mir jetzt eigentlich um Lucy oder um mich selbst?

Die Sache ist mir aus der Hand geglitten. Wem hatte ich hier eigentlich etwas beweisen wollen? Vielleicht vor allem mir. Dass ich, auch wenn ich kein eigenes Kind habe, jederzeit eine phantastische Mutter sein könnte.