Und morgen warten unsere Träume - Michelle C. Ahrens - E-Book
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Und morgen warten unsere Träume E-Book

Michelle C. Ahrens

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Beschreibung

Die Liebe beginnt mit dem ersten Schritt  Marie ist am Boden zerstört: Ihr großer Bruder Tim hat den Kampf gegen seine Krebserkrankung verloren. Wie kann sie einfach mit ihrem Alltag weitermachen? Sie klammert sich an die Aufgabe, die Tim ihr hinterlassen hat: Marie soll an seiner statt die Reise antreten, von der er immer geträumt hat. Und nicht nur das – sie soll auch noch Ben, seinen besten Freund und Mitbewohner, mitnehmen. Der schleppt allerdings seine eigenen Dämonen mit sich herum und treibt die strukturierte Marie zur Weißglut. Doch zwischen dem atemberaubenden Sternenhimmel über den Alpen und dem sanften Wellenrauschen des Mittelmeers kommen sich die beiden allmählich näher und lernen mit jedem Kilometer, den sie zurücklegen, was es heißt, wirklich zu leben ...  

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Und morgen warten unsere Träume

Die Autorin

Michelle C. Ahrens ist das Pseudonym zweier Schwestern, die mit ihren Familien, Hunden und Katzen in wunderschöner ländlicher Idylle leben. Wenn sie nicht gerade schreiben, verbringen sie am liebsten Zeit mit Freunden, mit denen sie bei einem Glas Wein und einer hausgemachten Lasagne über neue Ideen für ihre Bücher sprechen.

Das Buch

Die Liebe beginnt mit dem ersten Schritt 

Marie ist am Boden zerstört: Ihr großer Bruder Tim hat den Kampf gegen seine Krebserkrankung verloren. Wie kann sie einfach mit ihrem Alltag weitermachen? Sie klammert sich an die Aufgabe, die Tim ihr hinterlassen hat: Marie soll an seiner statt die Reise antreten, von der er immer geträumt hat. Und nicht nur das – sie soll auch noch Ben, seinen besten Freund und Mitbewohner, mitnehmen. Der schleppt allerdings seine eigenen Dämonen mit sich herum und treibt die strukturierte Marie zur Weißglut. Doch zwischen dem atemberaubenden Sternenhimmel über den Alpen und dem sanften Wellenrauschen des Mittelmeers kommen sich die beiden allmählich näher und lernen mit jedem Kilometer, den sie zurücklegen, was es heißt, wirklich zu leben ...  

Michelle C. Ahrens

Und morgen warten unsere Träume

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2021 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95818-649-1

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1: Darkness

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 2: On the road

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Teil 3: Finding home

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Epilog

Anhang

Danksagung

Leseprobe: Change of Heart

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1: Darkness

Widmung

Für alle, die an uns glauben und uns Flügel verleihen.

Teil 1: Darkness

Kapitel 1

Marie

Tim ist nicht mehr da. Einfach tot. Müsste der Tag, an dem der wichtigste Mensch aus dem Leben verschwindet, nicht dunkel sein? Aber nein, es ist ein strahlend schöner Sommertag im August. Ich friere trotzdem. Sitze frierend auf dem Plastikstuhl in einem kahlen Krankenhausgang und verstehe die Welt nicht mehr. Finde keine Antwort auf das Warum. Höre meine Mutter und meinen Vater weinen. Als ob irgendeine Träne etwas daran ändern würde. Keine Träne der Welt wird mir meinen Bruder wiedergeben. Mein Kopf dröhnt, und mir ist übel. Als heute Nacht das Telefon klingelte und die Klinik anrief, dass wir jetzt Abschied nehmen sollten, wusste ich nicht, wie. Wie soll man für immer Abschied von einem geliebten Menschen nehmen? Als wir ankamen, ging es schnell. Er starb um 8:40 Uhr. Warum war das relevant? Wen würde es interessieren? Ich bin jetzt allein. Mein Handy vibriert und zeigt mir eine WhatsApp von meinem Freund Julius an, es ist mir egal. Was kann schon noch wichtig sein? Um mich herum höre ich die Alltagsgeräusche eines Krankenhauses, eine Krankenschwester geht mit quietschenden Gummischuhen an mir vorbei. Die Tür zu Tims Zimmer steht offen, und die Sonne scheint durch das Fenster. Sie strahlt das inzwischen leere Bett an, und kurz kommt mir der Gedanke, dass Tim an dem Lichtstrahl nach oben in den Himmel geschwebt ist. Ich merke, wie Tränen auf meine ineinander verknoteten Hände fallen.

»Marie«, höre ich eine freundliche, warme Stimme. Sie gehört zu Ruth, der Krankenschwester, die sich am häufigsten um Tim gekümmert hat. Sie blickt mich mitfühlend an und berührt kurz meine Schulter. »Hast du eine Minute für mich?«

Ich nicke.

»Komm, wir gehen ins Schwesternzimmer, da ist gerade nichts los.«

Ich folge Ruth in das kleine mit grauem Linoleum ausgelegte Zimmer. Um einen kleinen Tisch herum stehen vier Stühle. Ruth deutet mir, mich zu setzen.

»Marie, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut! Ich weiß, wie nah ihr euch immer standet, er hat mir so viel von dir erzählt.«

Ich kann nicht sprechen, daher nicke ich bloß.

Ruth fährt fort: »Tim hat mich gebeten, dir etwas zu geben. Er wollte, dass ich es dir erst nach seinem Tod überlasse.« Sie steht auf, öffnet einen Schrank und holt aus einer Schublade, auf der ihr Name steht, einen Brief heraus. Ich nehme ihn so vorsichtig entgegen, als könne er sich in Luft auflösen. Dieser Brief ist ein Geschenk! Mein geliebter Tim hat ihn an mich adressiert. Ich kann ihn unmöglich hier lesen in der sterilen Umgebung der Klinik, auf der Tims Tod so schwer lastet.

»Vielen Dank«, krächze ich und treffe Ruths Blick.

»Lass mich bitte wissen, wie es dir geht«, bittet Ruth. Wir tauschen Nummern aus und vereinbaren, in ein paar Wochen miteinander zu telefonieren. Ein paar Wochen. Eine für mich unüberblickbare Zeitspanne im Moment. Ich verlasse das Schwesternzimmer und treffe auf dem Gang meine Eltern, den Brief habe ich in der Innentasche meiner Jeansjacke verstaut. Meine Mutter wirkt gebrochen, mein Vater ist ganz grau, eine stützende Hand an ihrem Arm. Wir treten aufeinander zu und umarmen uns. Meine Mutter und ich weinen hemmungslos. Die Schultern meines Vaters beben, aber er versucht, uns Halt zu geben. Gemeinsam verlassen wir die Klinik und fahren nach Hause. Als ob es jemals wieder mein Zuhause sein könnte, ohne Tim, nur mit den Erinnerungen an ihn, die mir alle Luft zum Atmen nehmen. Mein Handy vibriert erneut. Wieder ist es Julius. Ich kann jetzt nicht mit ihm sprechen, ich drücke das Gespräch weg.

Die Sonne scheint auf unser kleines Haus, aber es fühlt sich kalt und leblos an, als wir es betreten. Mama sinkt weinend auf die Couch, und mein Vater setzt sich neben sie. Sanft streicht er über ihren Rücken. »Margot, ich denke, wir sollten deinen Bruder anrufen. Er kann dann allen anderen Bescheid geben. Und dann müssen wir uns, so schrecklich das ist, über Tims Beerdigung unterhalten.«

»Thorsten«, sagt meine Mutter, »ich habe momentan einfach keine Kraft dazu. Lass uns bitte das Beerdigungsinstitut anrufen, sie sollen vorbeikommen und uns Vorschläge machen. Ich weiß nur, dass ich für meinen Tim einen weißen Sarg möchte mit einem Rosenbouquet«. Die Stimme meiner Mutter bricht, und sie lässt ihren Tränen freien Lauf. Ich lasse mich schwer auf einen der Esszimmerstühle fallen.

»Tim wollte nie herkömmlich auf einem Friedhof beerdigt werden«, protestiere ich. »Er hat mir erzählt, wie ruhig und würdevoll er den Friedwald findet. Er möchte dort seine letzte Ruhe finden, das hat er gesagt, und das wisst ihr auch!«

Meine Eltern sehen mich aus müden Augen an. Mein Vater räuspert sich. »Marie, das ist Quatsch, tut mir leid. Der Friedwald ist doch dreißig Kilometer weit weg. Unser Friedhof liegt gleich ums Eck, deine Mutter möchte ihren Jungen in ihrer Nähe wissen und die Gelegenheit haben, an sein Grab zu gehen, wann immer ihr danach ist!«

»Aber Tim hätte das nicht so gewollt! Wie könnt ihr das nicht respektieren?«, bringe ich vor Wut und Verzweiflung schluchzend hervor.

Meine Mutter sieht mich aus rotgeweinten Augen an. »Ich möchte, dass Tim hier bei uns in der Nähe bleibt! Du weißt, dass ich nicht Auto fahre, und ich habe das Recht, Tims Grab zu besuchen, sooft ich möchte, und damit ist dieses Thema für mich erledigt. Ich kann mich jetzt nicht darüber streiten, bitte verstehe das!« Sie legt ihre Hand auf meine, und ich ziehe sie unwirsch weg. Aber natürlich ist mein Widerstand schon wieder gebrochen. Wie immer eigentlich. Ich bin Marie, die Tochter, mit der es nie Probleme gibt, die immer den geraden Weg geht. Wie kann ich in einem solchen Moment einen Streit mit meiner Mutter beginnen? Aber ich kann mich so gut an ein Gespräch mit Tim erinnern. Damals war er schon vom Krebs gezeichnet gewesen, daher konnte ich das Thema seines Todes nicht mehr verdrängen. Also hatte ich mich zu Tim gesetzt, seine Hand genommen und zugehört, wie mein geliebter Bruder davon sprach zu sterben.

»Ich habe keine Angst, Marie, ich bin überzeugt, dass der Tod nicht das Ende ist. Denn ich werde immer in euch sein und in den vielen gemeinsamen Erinnerungen und Gesprächen von euch weiterleben. Daher wünsche ich mir wirklich, dass ihr an Orten der Freude an mich denkt. Zum Beispiel bei einem Glas Wein in der Toskana, auf der Couch mit einem guten Buch, das ich euch mal empfohlen habe. Zur Erinnerung braucht es kein penibel gepflegtes Grab mit einem Marmor-Engel, den Mama dann ständig putzen muss. Immer dort, wo ihr euch an mich erinnert, bin ich bei euch! Ich mag die Ruhe im Friedwald, die stille Präsenz der Bäume, die diesem Ort eine ganz besondere Atmosphäre verleihen. Vielleicht kann sich Mama ja mit dem Gedanken anfreunden, dass ich dort meine letzte Ruhe finde, was meinst du?«

Ich meinte gar nichts, denn ich wollte mir ein Leben ohne Tim nicht vorstellen. Es war schon schlimm genug für mich gewesen, als er zum Studieren nach Hamburg gezogen war. Damals hatte ich mich schon so gefühlt, als wäre ein Teil von mir, und zwar der lustige und liebenswertere Teil, gegangen. Dabei konnte ich Tim da noch anrufen oder einfach zu ihm fahren. Der Tod war für mich wie eine schwarze Mauer, hinter der mein Bruder verschwinden würde. Ich hatte Angst davor, mich eines Tages nicht mehr an den genauen Klang seiner Stimmer erinnern zu können oder an die Grübchen, die er bekam, wenn er lächelte.

»Marie, du musst was aus deinem Leben machen, das ist mein allergrößter Wunsch! Du bist fünfundzwanzig Jahre alt und kannst doch noch alles machen, was du möchtest.« Da war er wieder, mein wunder Punkt. Ich hatte doch alles gemacht, was ich wollte. Ich hatte eine grundsolide Ausbildung bei der Sparkasse gemacht und arbeitete nun in der Abteilung Kreditvergabe. Julius arbeitete ebenfalls bei der Sparkasse, finanziell ging es uns beiden gut. Vor einem Jahr hatten wir eine kleine Wohnung bezogen, und wir würden eines Tages ein Haus bauen, da es Wahnsinn wäre, bei derart niedrigen Zinsen dauerhaft Miete zu zahlen. Zweimal im Jahr fuhren wir gemeinsam in den Urlaub: Einmal mit dem Sportverein zum Skifahren und einmal im Sommer in einen Club irgendwo in den Süden. Mein Leben mochte vielleicht nicht aufregend sein, aber ich fand es gut so. Ich hatte seit diesem Gespräch so oft darüber nachgedacht, was ich denn anderes machen sollte, wie man denn sein »Leben lebt«. Definiert das nicht jeder für sich? Ist es nicht einfach wichtig, am Ende des Lebens darauf zurückzublicken und zu spüren, dass es gut war? Ich wusste, dass es bei Tim so gewesen war. Aber wie würde es bei mir sein? Würde ich irgendwann auf mein Leben zurückblicken und eine positive Bilanz ziehen? Oder würde ich bereuen, nicht viel mehr daraus gemacht zu haben?

Mein Kopf beginnt zu hämmern, ich kann und will mich heute nicht mit diesen Gedanken herumschlagen. »Ich muss an die frische Luft, ich mache einen Spaziergang«, verkünde ich meinen Eltern. Ich will Tims Brief lesen, und ich will der drückenden Stille meines Elternhauses entkommen, die nur durch die leisen Gespräche meiner Eltern unterbrochen wird, denen ich schon länger nicht mehr folge. Ich stehe auf, schlüpfe in meine Jeansjacke und verlasse mit Nico, unserem Hund, das Haus.

Nach fünfzehn Minuten bin ich im Wald und gehe geradewegs zu meiner Lieblingslichtung, die auf einer kleinen Anhöhe liegt, von der aus man auf das Dorf blicken kann. Ich lasse mich auf eine Bank fallen und nehme Tims Brief aus meiner Jackentasche. Fest drücke ich ihn an mich, mein Herz klopft laut. Kann ich den Schmerz ertragen, den dieser Brief in mir auslösen wird? Denn zum ersten Mal werde ich danach wirklich nicht mit Tim darüber sprechen können. Ich habe Angst. Mit zitternden Fingern öffne ich den Brief. Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich seine große, ziemlich chaotische Handschrift sehe. Mit Tränen in den Augen beginne ich zu lesen:

Meine liebe Marie,

ich schreibe Dir diesen Brief, weil mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Mein Körper ist zu meinem größten Feind geworden, und er wird diesen letzten Kampf gewinnen, das spüre ich ganz deutlich. Trotzdem stellt sich eine Art innerer Friede bei mir ein, ich werde diesen Weg gehen, auch wenn ich Dich unendlich vermissen werde. Dein Lachen und Deine Wärme haben mir immer alles bedeutet. Ich möchte, dass Du wieder richtig lachst, und ich möchte, dass Du Deine Träume, die wir früher hatten, verwirklichst. Kannst Du Dich daran erinnern, wie wir in den Sommerferien im Gästezimmer von Oma Anni gelegen sind, die Fenster standen weit offen, und der Duft von frisch gemähtem Gras war überall um uns herum? Wir haben stundenlang Pläne geschmiedet, was wir alles erleben wollen, wohin wir reisen, wie wir sein wollten. Du wolltest frei sein, frei von Zwängen und dem Druck, etwas tun zu müssen, bloß weil man es von Dir erwartet. Du wolltest Gedichte schreiben und Dich treiben lassen. Erinnerst du Dich?

Oft denke ich daran, wie es damals war, und was passiert wäre, wenn mein Unfall nicht gewesen wäre und Omas Schlaganfall. Hättest Du dann weiter Deine Träume verfolgt, hättest Du dann auch die Banklehre begonnen? Ich hatte immer wieder das Gefühl, als wären Deine Träume mit Oma beerdigt worden. Aber warum? Ich weiß, dass Du immer alles richtig machen wolltest, und ich weiß, dass Du Dir Vorwürfe machst, dass ich trotz Deiner Stammzellenspende nicht gerettet werden kann. Aber es zählt der Versuch und die Mühen, die Du auf Dich genommen hast. Ich möchte, dass Du lebst, nicht, dass Du Dich fragst, was gewesen wäre, wenn es funktioniert hätte.

Mein Leben ist vorbei, aber Deines nicht. Ich kann mir einige Träume, die ich hatte, nicht mehr erfüllen – aber Dir steht die Welt offen. Darf ich mir von Dir wünschen, dass Du einen meiner größten Träume für mich verwirklichst? Wie sagt Albert Camus? »Das Leben ist kurz und seine Zeit verlieren eine Sünde.«

Tims chaotisch geschwungene Handschrift verschwimmt vor meinen Augen, und ich lasse schluchzend den Brief in meinen Schoß sinken. Denn bereits bevor ich die nächsten Zeilen gelesen habe, weiß ich, was er von mir verlangen wird. Und dieses Wissen macht mir Angst. Ich habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, es allen recht zu machen, habe meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer denen meiner Familie und später dann auch Julius’ untergeordnet. Tim wird von mir verlangen, genau diese Komfortzone zu verlassen, auch einmal etwas zu tun, für das ich mich auflehnen muss. Davor fürchte ich mich, denn ich weiß nicht, ob ich die Kraft dafür habe. Gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, an dem ich mich so schutz- und wehrlos fühle wie niemals zuvor. Ich wische mir die Tränen aus den Augen, und nachdem ich noch mal tief durchgeatmet habe, mache ich mich an den Rest des Briefs.

Wie Du weißt, wollte ich sechs Monate reisen, eine Europatour machen, die das alte, klassische Europa, wie wir es aus dem Geschichtsunterricht kennen, und das neue Europa vereint, und auf dieser Reise wollte ich Dinge machen, über die ich ein Gedicht des Lebens und der Freiheit schreiben wollte. Für Dich mögen viele Dinge trivial klingen, aber Freiheit zeigt sich manchmal im Trivialen. Mehr als alles auf der Welt würde ich mir wünschen, dass Du diese Dinge erlebst. Dass Du auf einem Berggipfel stehst, voll Stolz über Deinen Aufstieg ins Tal schaust, Dir aus einem Fluss eine Forelle fängst und sie grillst. Mein Traum ist es, dass Du in einem Schlafsack unterm Sternenhimmel liegst und merkst, dass die Welt wundervoll ist, es Millionen von Sternen gibt und Millionen von Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Dass Du erkennst, dass es viele Wege gibt, und Du sie ausprobierst.

Bitte schau Dir meine Wunschliste für Dich an, und mach das, was Du schon so lange machen solltest – finde heraus, was Dich glücklich macht.

Fahr nach Italien! Dieses wundervolle Land, das mich schon in der Schulzeit wegen der Römer fasziniert hat. Dein erster Stopp soll in Südtirol sein. Wandere auf das Stilfser Joch, genieße die Freiheit, die Dich umgibt. Verbringe dort eine Nacht unter freiem Himmel mit Lagerfeuer und gegrilltem Fisch.

Reise nach Rom. Lass Dich dort einfach treiben. Rom ist dazu da, um genossen zu werden! Arbeite nicht einfach die Sehenswürdigkeiten ab, wie du es sonst tun würdest! Lebe nicht nur Dein Leben, sondern er-lebe es. Erlebe Rom. Ich will, dass Du Dich in eines der unzähligen Cafés setzt, die Menschen beobachtest, ich will, dass Du mindestens acht Kugeln Eis bestellst – und sie genießt. Nimm die wilden Sorten, Marie! Probiere, wie Rosmarin-Bergamotte schmeckt! Erlebe Rom mit allen Sinnen! Iss, bis Du zu platzen glaubst.

Fahr nach Griechenland und wandere auf Kreta durch die Samaria-Schlucht, stöbere durch das Nikos Kazantzakis-Museum und verstehe, warum er in der Ägäis das Paradies sah.

Fahre nach Frankreich auf den Spuren von Victor Hugo, den Du so magst, und reise in die Bretagne an die Côte de Granit Rose. Lauf durch die Gassen von Saint-Malo und versuche zu verstehen, warum es in Alles Licht, das wir nicht sehen so beschrieben wurde.

Erlebe in Irland den Zauber der Grünen Insel und wandere an den Klippen entlang.

Lies einen Sherlock Holmes Roman im Nebel und erlebe ihn, spüre den Geist darin.

Unternimm diese Reise, denn ich kann es nicht mehr. Der Rest von mir »ist leider Schweigen!« – ich denke, Du weißt als kleine Leseratte, dass das nicht von mir, sondern von Shakespeare stammt. Aber Du hast noch so viel Leben vor Dir, Marie.

Mein größter Wunsch ist, dass Du dieses Abenteuer zusammen mit meinem besten Freund Ben erlebst, der in seinem Leben genauso seine Träume verloren hat wie Du. Sei sein Kompass auf der Suche nach sich selbst.

Ihr zwei seid die wichtigsten Menschen auf der Welt für mich, und so wäre es mein größter Wunsch, dass Ihr beide diesen Weg zusammen geht. Und ich verspreche Dir, ich werde bei Euch sein, in Euren Herzen, an jedem Tag dieser Reise.

Ich liebe Dich, mehr als alles auf der Welt!

Dein Tim

Kapitel 2

Marie

Ich weiß nicht, wie lange ich nach der Lektüre des Briefs einfach nur dasitze und den Tränen freien Lauf lasse, die meine Wangen hinunterströmen, während mein Hund Nico winselnd versucht, mich zu trösten. Wie stellt sich Tim das vor? Was hat er sich dabei gedacht? Klar, er wollte diese Reise nach dem Studium unternehmen, er hat mir oft genug davon vorgeschwärmt. Tim wollte die Freiheit kosten, wollte einmal ohne Zeit- und Erfolgsdruck Europa erleben, sich dafür sechs Monate Zeit nehmen. Meine Eltern hielten das für eine schwachsinnige Idee, ihr Plan für meinen Bruder war, dass er erst einmal eine Stelle als Lehrer finden sollte, eine Festanstellung oder besser noch: erst einmal verbeamtet werden. Es gab vor Tims Krankheit keinen Tag, an dem sie ihm nicht damit in den Ohren lagen. Als Tim dann krank wurde, hatten meine Eltern schon mehr Verständnis für seine Träume. Sie sagten immer, er müsse erst wieder gesund werden, um seine Traumreise zu machen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Wieso macht er es mir so schwer? Wieso kann er mir nicht eine einfachere letzte Bitte stellen? Und warum überhaupt mit Ben? Natürlich weiß ich, dass Tim und er zusammen in einer WG gewohnt haben, dass beide gute Freunde waren, aber warum soll ich ausgerechnet mit ihm durch Europa reisen? Hat Tim mal daran gedacht, dass Julius bestimmt nicht begeistert davon ist? Bei diesem Gedanken schlägt sofort mein schlechtes Gewissen zu. Julius hat mir mittlerweile schon fünf WhatsApp-Nachrichten geschickt und einmal versucht mich anzurufen, Punkt zwölf Uhr, in der klassischen Mittagspausenzeit. Als ich heute Nacht völlig aufgelöst unsere Wohnung verlassen habe, hat er angeboten, mich zu begleiten. Aber ich wusste, dass er um 8:30 Uhr ein wichtiges Meeting mit seinem Chef hatte, und sein Angebot, mich zu begleiten, daher nicht wirklich ernst gemeint war. Tim und er waren nie warm miteinander geworden. Mein Bruder hielt Julius für einen gewaltigen Spießer, Julius dagegen betitelte Tim gerne als einen Träumer, der in den Tag hineinlebte und nie etwas erreichen würde. Dieses Meeting war wichtig für Julius. Er wollte Abteilungsleiter in der Kreditvergabe werden, hatte hart dafür gearbeitet, diese Chance wollte ich ihm nicht kaputt machen. Und was hätte es auch gebracht? Es hätte nichts am Verlauf des Vormittags geändert. Die Anwesenheit von Julius hätte Tim nicht gerettet.

Zum Glück habe ich im Wald Empfang und deshalb schreibe ich ihm schnell eine Antwort. Ich weiß, dass er es nicht mag, wenn man ihn während der Arbeit anruft. Tim ist gestorben, bin bei meinen Eltern, komme später heim, tippe ich kurz. So kurz wie möglich, Julius hasst lange Nachrichten, seiner Meinung nach soll man sich aufs Wesentliche konzentrieren. Seine Nachrichten sind nie länger. Die erste heute Morgen war: Und, wie geht es ihm? Geh jetzt in die Bank. Drück mir die Daumen für das Meeting! Der letzte Satz macht mich immer noch wütend! Was dachte er sich dabei? An alles habe ich bis jetzt gedacht, bloß nicht an dieses dämliche Meeting.

Im Krankenhaus habe ich Tims Handy eingesteckt. Mir kommt der Gedanke, dass ich Ben anrufen muss. Zitternd nehme ich Tims Handy aus meiner Hosentasche, entsperre es – der Code ist immer noch mein Geburtstag – und suche im Verzeichnis nach Bens Nummer. Sie ist nicht schwer zu finden: Offensichtlich hatten sie fast täglich Kontakt.

Schnell tippe ich die Nummer auf meinem Handy ein, auf keinen Fall will ich von Tims Handy aus anrufen, schließlich würde das falsche Hoffnungen in Ben auslösen, und das wäre grausam.

Ich drücke die Anruftaste.

Kapitel 3

Ben

Mein Schädel wummert, und dazu dudelt auch noch mein Handy. Wer bitte will um diese Zeit schon was von mir? Mit verklebten Augen schaue ich auf die grell orangefarbene Zeitanzeige meines Radioweckers. 13:30 Uhr, doch schon so spät. Ich taste auf meinem Nachtkästchen nach meinem Handy. »Ja?«, krächze ich ins Telefon. Meine Stimme ist vom gestrigen Abend immer noch mitgenommen. Der Club, in dem wir waren, war laut, und es gab viel Alkohol. Wie jeden Abend.

»Hallo! Ist da Ben?«, fragt eine dünne Frauenstimme. Schnell gehe ich in Gedanken die letzten Tage durch, und versuche mich zu erinnern, wem ich meine Handynummer gegeben habe. Genervt bin ich schon jetzt.

»Klar, du hast ja meine Nummer gewählt«, erwidere ich deshalb ziemlich ruppig.

»Hier ist Marie, Tims Schwester.«

Mit einem Schlag bin ich hellwach. Mir wird kalt, und ich weiß sofort, dass ihr Anruf kein gutes Zeichen ist. Tim hat mich in den letzten zwei Wochen nicht mehr wirklich oft angerufen. Zweimal hat eine Krankenschwester für ihn meine Nummer gewählt und ihm anschließend das Handy hingehalten. Seine Stimme klang furchtbar schwach.

»Wie geht es Tim?«, ist das Einzige, was ich Marie fragen kann. Und da höre ich sie schluchzen, und mir ist klar, dass dieser Anruf derjenige ist, vor dem ich mich seit Wochen gefürchtet habe. Man merkt, dass Marie versucht, sich zu fangen, um mir eine Antwort zu geben. Die Antwort, die ich leider schon längst kenne.

»Er ist heute Morgen gestorben.«

Wieder höre ich sie weinen. Ich merke, wie mir selbst die Tränen in die Augen schießen. Am liebsten würde ich das Handy in die Ecke werfen, nur weg, als ob das etwas ändern könnte. Nichts wird es ändern. Aber ich weiß, was Marie jetzt durchmacht. Das ist das Schlimmste daran.

»Kann ich irgendwas für dich tun?«, frage ich sie deshalb. Auf keinen Fall will ich, dass sie mit dieser Trauer allein ist. Das schafft man nicht. Klar weiß ich, dass Tim Eltern hat und dass Marie im selben Ort wie ihre Eltern lebt. Wo genau, erinnere ich mich nicht mehr.

»Nein, danke. Ich wollte dir nur Bescheid geben, weil er doch dein Freund war und ihr auch zusammengewohnt habt. Du musst es ja wissen, wegen … allem und so.«

Ich kann spüren, wie ihr die Worte fehlen. Spüre ihre Einsamkeit, ihre Trauer. Am liebsten würde ich mir jetzt ein Glas Whisky holen.

»Könntest du mir sagen, wann die Beerdigung ist? Ich würde mich gerne von ihm verabschieden«, bricht es aus mir hervor. Meine Augen brennen von den Tränen, die ich zurückzuhalten versuche.

»Natürlich, heute Nachmittag kommt der Bestatter, und danach kann ich es dir schreiben«, antwortet sie mit rauer Stimme.

Das Wort Beerdigung schafft sie nicht auszusprechen. Natürlich nicht, was gibt es Endgültigeres als das?

»Mach das. Bis dann.« Ich muss sofort raus aus diesem Gespräch. Was bin ich doch für ein Arschloch, aber ich kann das nicht. Kann niemandem Trost spenden.

»Tschüss, ich melde mich später«, sagt Marie noch und legt auf.

Jetzt hält meine Tränen nichts mehr zurück, wütend wische ich sie weg. Tim war krank, sehr krank, das wusste ich. Aber egal, wie lange man es wusste, wie lange man auch Abschied nehmen konnte, es kann einen nichts darauf vorbereiten. Dass ich mich von ihm, anders als von meiner Mutter, verabschieden konnte, sollte es leichter machen. Aber trotzdem, Tim ist nicht mehr da.

Wie ferngesteuert gehe ich in die Küche, schnappe mir ein Glas und fülle es mit Whisky. Vielleicht keine gute Idee, schon mittags mit dem Saufen anzufangen. Aber, hey, was soll’s? Mein bester Freund ist tot. Der einzige Mensch, der sich wirklich für mich interessiert hat.

Aus irgendeinem Grund gehe ich in sein Zimmer und setze mich auf sein Bett. Seine Sachen sind noch da. Zu Beginn der Krankheit wollte er sie nicht mit nach Hause nehmen, weil er meinte, er würde es schaffen, würde wiederkommen, und dann brauche er sie ja. Seine vielen heiß geliebten Bücher. Noch nie habe ich einen Menschen kennengelernt, der so viele Bücher hatte. Die eine Wand ist voller Billy-Regale und ich betrachte das linke, das wir zusammen kurz vor Weihnachten bei IKEA gekauft und gemeinsam zusammengebaut haben. Damals habe ich Tim das Versprechen abgenommen, dass er nur noch so viele Bücher kauft, wie in diese drei Bücherregale passen. Und wenn die voll sind, verkauft er seine Schätze wieder. Natürlich hat er das niemals übers Herz gebracht. Ich wusste die ganze Zeit, dass er alte Bücher lieber in Kisten gepackt und in unserer Abstellkammer gehortet hat. Eine Bücherkiste steht sogar noch auf seinem Schreibtisch. Aus irgendeinem Grund will ich sie dort nicht stehen lassen. Deshalb trete ich an den Tisch heran und stelle überrascht fest, dass auf der Kiste »Für Marie« steht. Verwundert starre ich auf Tims Schrift. Eigentlich geht mich die Kiste nichts an, aber ich kann mich nicht beherrschen und öffne sie trotzdem. Ordentlich sind darin mehrere Bücher verstaut, darauf ein Brief. Erst einmal nehme ich einen tiefen Schluck, er brennt in meinem Rachen. Aber egal, wie viel man trinkt, kann man doch die Welt um sich herum nicht vergessen. Man kann lediglich ihre Konturen verwischen und etwas weicher zeichnen. Gut genug für den Moment.

Obwohl ich weiß, dass es falsch ist, schaue ich mir die Bücher an. Jedes einzelne ist mit einem farbigen Post-it markiert, auf dem ein Land und eine kurze Nachricht von Tim sichtbar ist. Mir fällt es plötzlich wie Schuppen von den Augen: Das ist eine Zusammenfassung von Tims Europareise. Von nichts anderem hat er lieber gesprochen. Nach seinem Studium wollte er durch Europa reisen, zu Orten, die in seinen Büchern beschrieben waren, wollte träumen, lesen, die Welt entdecken. Oft gab es deshalb Zoff mit seinen Eltern, seit der Krankheit natürlich nicht mehr. Da haben sie ihm diesen Traum sogar als Silberstreifen am Horizont verkauft.

Mein Schädel pocht und mein linkes Auge beginnt zu flimmern. Wie immer, wenn die Kopfschmerzen stärker werden. Übelkeit steigt in mir auf, und ich merke, wie mir alles hochkommt. Schnell renne ich ins Bad und übergebe mich in die Kloschüssel. Was für ein armseliger Mensch ich doch bin. Kotze mir die Seele aus dem Leib, während mein bester Freund nie mehr da sein wird und seine kleine Schwester sich die Augen aus dem Kopf weint.

Die Kopfschmerzen werden immer schlimmer, also werfe ich mir erst einmal eine Tablette ein. Ich rolle mich auf den kühlen Badfliesen zusammen und schließe die Augen. Mag nicht mehr aufwachen. Das Schmerzmittel macht mich benommen und hilft mir, diesem Albtraum zu entfliehen. Doch selbst in diesem halbschläfrigen Zustand weiß ich, dass ich unbedingt mein Handy bei mir haben muss, falls Marie anruft. So dämmere ich weg, versuche zu vergessen, drifte ab, sehe Tim vor mir und weiß, dass, wenn ich schon sonst nix auf die Reihe bekommen habe, ich wenigstens das richtig machen muss: Ich muss Tims Sachen packen, sie zu seinen Eltern bringen, auf seine Beerdigung gehen und versuchen, für Marie da zu sein. In meinen Träumen sehe ich sie, wie sie mit Einsamkeit und Verlust kämpft. Mit Einsamkeit und Verlust kenne ich mich aus.

Wieder vibriert mein Handy, benommen schaue ich darauf. Schon so spät! Achtzehn Uhr. Durch die Triptane bin ich völlig benommen. Schnell nehme ich den Anruf entgegen.

»Marie?«

»Ja, ich wollte dir nur kurz Bescheid geben: Tims Beerdigung ist am Samstag hier in Gräfenberg um vierzehn Uhr.«

Ihre Stimme ist vom Weinen rau, und ich merke, wie sie sich zusammenreißen muss, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. »Könntest du mir die Adresse schicken?«, frage ich vorsichtig. »Ich komme auf jeden Fall und bringe Tims Sachen mit. Außerdem hat er eine Kiste mit Büchern für dich gepackt. Ich denke, es ging um seine Reise.«

Am Ende der Leitung höre ich Marie schlucken. »Oh, er hat sogar Bücher dazu rausgesucht? Er will, dass wir beide diese Reise machen … wollte, meine ich.«

»Wie, dass wir die Reise machen?«

Stockend erwidert Marie: »Ja, er hat mir einen Brief geschrieben, in dem steht, dass wir beide diese Reise gemeinsam antreten sollen, quasi stellvertretend für ihn.« Sie zögert und spricht dann hastig weiter, als wollte sie es, so schnell wie möglich, hinter sich bringen: »Natürlich weiß ich, dass das nicht so einfach ist. Du studierst, ich arbeite, mein Freund wird auch nicht begeistert sein, aber es war Timms großer Traum.«

Marie klingt, als wäre es für sie ein ungeschriebenes Gesetz, dass man den letzten Wunsch eines Menschen erfüllt. Natürlich habe ich es ernst gemeint, als ich ihr gesagt habe, dass sie sich melden kann, wenn sie etwas braucht, aber das heißt doch nicht gleich, dass ich mit ihr durch Europa toure. Das fehlt mir gerade noch. Mein Leben ist das reinste Chaos: Seit drei Wochen weiß ich, dass ich durch die Zwischenprüfung meines Jurastudiums gefallen bin. Zum zweiten Mal. Und ich bin mir sicher, dass mein Vater mich umbringen wird, wenn er davon erfährt.

»Bist du noch dran?«, fragt Marie vorsichtig.

»Klar … Es ist aber so, dass ich momentan viel um die Ohren habe.« Was für eine Lüge! Es würde stimmen, wenn ich wirklich studieren würde, wenn ich nicht nur Party machen und trinken würde, damit ich mein beschissenes Leben vergesse. Wenn ich nicht Zeit schinden würde, bevor ich meinem Vater, dem ach-so-tollen Juristen und Partner in einer schicken Anwaltskanzlei, sagen werde, dass ich ein Versager bin. Dass ich niemals bei ihm einsteigen werde, weil ich dieses beknackte Studium einfach nicht auf die Reihe bekomme und jede Sekunde davon hasse.

»Das verstehe ich natürlich … aber können wir wenigstens darüber reden? Tim war sogar während dieser letzten Wochen total fokussiert auf diesen Traum, mit mir hat er zum Schluss fast ausschließlich davon gesprochen. Es war fast so, als hätte nur diese Idee ihn so lange durchhalten lassen.«

»Das hat ja prima funktioniert mit der Fokussierung und dem Durchhalten«, blaffe ich sie an und denke mir gleich darauf, was für ein Idiot ich doch bin. »Sorry, war nicht so gemeint«, schiebe ich hinterher.

Sie weint, und ich fühle mich wieder einmal wie der größte Versager. Ein Typ, der jedem, egal ob er ihn kennt oder nicht, wehtut, der alle enttäuscht, weil er einfach nix auf die Reihe bekommt.

»Weißt du, wir beide sollten darüber nachdenken und dann in Ruhe darüber sprechen, wenn wir uns sehen. Heute kommen wir eh nicht weiter«, sagt sie mit dünner Stimme, in der Enttäuschung und Müdigkeit mitschwingen.

Eigentlich wundere ich mich selbst über meine Antwort, die könnte eher von meinem Vater stammen. Aber was hat Tim sich nur dabei gedacht? Dennoch bemerke ich, dass ich Marie irgendwie nicht enttäuschen will. Schließlich weiß ich, wie man sich fühlt, wenn ein wichtiger Mensch plötzlich aus dem Leben verschwindet. Ich weiß, wie schlimm es ist, sich vollkommen allein zu fühlen. »Lass uns beide mal darüber nachdenken, wie wir das realisieren könnten«, schlage ich vor, um sie zu besänftigen. »Mal abgesehen von allem: Du kennst mich gar nicht! Nach allem, was Tim erzählt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass deine Eltern zulassen würden, dass du mit einem Typen, den du noch nie gesehen hast, monatelang allein durch Europa reist. Und wenn ich dein Freund wäre, fände ich die Idee auch nicht wirklich toll.«

»Versteh schon«, murmelt Marie. Plötzlich klingt ihre Stimme trotzig: »Es ist nur so, dass ich es machen werde, ob du nun mitkommst oder nicht. Meine Eltern wollen Tim auf dem Friedhof beisetzen und nicht im Friedwald, wie er es sich gewünscht hatte. Meine Mutter will ihn jederzeit besuchen gehen, sagt sie. Keiner denkt an das, was Tim wollte, nur daran, was jetzt für uns alles leichter macht.« Ihre Stimme ist noch lauter geworden. »Eine Stunde lang haben wir irgendwelche Särge, Blumengestecke, ja sogar Klamotten rausgesucht, die er im Sarg trägt. Aber das ist nicht Tim! Tim wollte das nicht! Und jetzt soll ich ihm seinen letzten Wunsch auch noch verwehren? Das kann ich nicht!« Sie weint jetzt hemmungslos. Am liebsten wäre ich jetzt bei ihr, würde sie in den Arm nehmen, sie trösten.

»Sind deine Eltern und dein Freund bei dir? Du solltest jetzt nicht allein sein«, werfe ich vorsichtig ein. Unglaublich: Ich, der sich sonst nie Gedanken macht, ist jetzt besorgt. Aber ich glaube zu wissen, wie sie sich jetzt fühlt, möchte eine Brücke zu ihr schlagen: »Lass uns morgen noch mal reden, ja? Oder ich komme schon früher. Wäre das eine Lösung? Wir überlegen uns, wie wir das hinbekommen könnten, und treffen uns am Abend vor der Beerdigung. Ich bring euch Tims Sachen, und natürlich die Bücherkiste für dich.«

»Danke für das Angebot – das klingt gut. Ich will dich auch nicht zwingen, schließlich weiß ich, dass es wirklich viel verlangt ist. Ich hab es auch noch gar nicht meinen Eltern und Julius gesagt. Ich fahre jetzt nach Hause, weil ich bis vor Kurzem bei meinen Eltern war. Wenn er daheim ist, rede ich mit ihm.«

Wer ist dieser dämliche Julius, von dem sie spricht? Muss ja ihr Freund sein. Warum, verdammt noch mal, ist er an so einem schrecklichen Tag nicht bei ihr?

»Okay, dann sehen wir uns in drei Tagen. Solltest du noch was brauchen, melde dich!«, antworte ich und verdrehe im nächsten Moment die Augen: Warum sollte sie etwas von mir brauchen? Was genau sollte das sein, ein Tipp, mit welchem Drink man sich am besten die Birne wegknallt?

Sie verabschiedet sich mit einem leisen »Bis dann«, das Gespräch ist beendet.

Ich fühle mich leer und ausgelaugt. Warum zur Hölle macht es mir Tim so schwer? Langsam stehe ich auf, hole die Umzugskartons, die noch von Tims Einzug dort gestapelt sind, aus dem Kellerabteil und beginne, sein Studentenleben in Kisten zu packen.

Ist das alles, was von einem bleibt? Ein paar Umzugskisten voller Klamotten, Bücher, Ordner, Hausarbeiten und Skripte? Wer würde meine Wohnung leerräumen? Was würde von mir bleiben? Aber ich habe es Tim versprochen, ich werde versuchen, wenigstens dieses eine Mal alles richtig zu machen. Dieses Mal darf ich es nicht vermasseln. Wenn ich das verkacke, wird aus Marie vielleicht so ein kaputter Mensch, wie ich es bin. Und das kann ich Tim nicht antun.

Mein Handy vibriert und teilt mir den Eingang einer Nachricht mit:

Hey, Bock auf Party? Treffen uns um 22 Uhr. Du bist doch dabei, oder? 😘 Anja

Erst einmal ist mir heute definitiv nicht nach Party, schon gar nicht mit Anja, die aufdringlich wird, nur weil wir zweimal Sex hatten. Außerdem muss ich Tims Sachen packen: In drei Tagen muss ich in Süddeutschland sein. Und das ist ein Termin, den ich auf keinen Fall versauen darf. Schon wieder vibriert das Handy.

Dieses Mal ist die Nachricht nicht von Anja, sondern von Marie. Sie hat mir ihre Adresse geschickt. Ich seufze und lese den Rest der Nachricht:

Soll ich versuchen, ein Zimmer für dich zu finden? Du kannst aber auch gerne bei uns schlafen, allerdings kann ich dir da nur die Couch anbieten.

Schnell tippe ich:

Couch ist völlig okay. Bin am späten Nachmittag bei dir.

Kapitel 4

Marie

Es ist schon spät, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe. Es fühlt sich verrückt an, alles ist mir vollkommen vertraut und sieht noch genauso aus, wie ich es heute Morgen zurückgelassen habe. Und trotzdem ist in meinem Leben kein Stein mehr auf dem anderen. Ich lasse meine Schuhe achtlos neben dem Schuhschränkchen stehen und gehe ins Wohnzimmer. Julius, der gerade irgendein Fußballspiel schaut, springt von der Couch auf und nimmt mich fest in den Arm. Ich lasse meinen Kopf an seine Brust sinken.

»Schatz, es tut mir so leid! Kann ich dir etwas Gutes tun?« Ich schüttle den Kopf und bin froh, dass Julius mir Halt gibt. Wir kennen uns seit der Grundschule, damals habe ich ihm oft geholfen, wenn er partout nichts ausmalen wollte. Nach der vierten Klasse ging ich aufs Gymnasium und Julius auf die örtliche Realschule. Auf einer Party haben wir uns dann Jahre später zufällig wiedergetroffen. Seitdem sind wir ein Paar. Ich weiß, dass Tim nicht viel von Julius hielt, er dachte immer, Julius wäre ein schrecklicher Langweiler. Ich löse mich aus Julius’ Umarmung, und gemeinsam setzen wir uns auf die Couch.

»Ich bin völlig fertig«, beginne ich. »Heute war der schmerzhafteste Tag in meinem ganzen Leben. Tims Hand zu halten, als er gestorben ist und nichts mehr für ihn tun zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwann wieder glücklich zu sein, ehrlich gesagt.« Ich wische mir ein paar Tränen aus dem Gesicht, und setze mich ein wenig auf, als mir wieder einfällt, warum ich vorhin so sauer war: »Stell dir vor, Mama und Papa werden ihn tatsächlich hier auf dem Friedhof beisetzen lassen, obwohl sie genau wissen, dass er in den Friedwald wollte!« Ich schnäuze mich geräuschvoll.

Julius sieht mich ruhig an. »Aber, Marie, das ist doch auch viel vernünftiger. Margot fährt nicht Auto, und so kann sie jederzeit zu Tims Grab gehen. Ich verstehe ja, dass dich das im ersten Moment ärgert, aber, sei mir nicht böse, es kann Tim doch egal sein, wo er bestattet ist. Manchmal muss man einfach vernünftig denken und rational handeln, auch wenn einem das schwerfällt.«

Ich sehe Julius an. Er scheint es wirklich nicht zu verstehen, und ich weiß, dass ich ihn auch nicht davon überzeugen kann, dass er in diesem Fall unrecht hat. Er nimmt seine Brille ab und reibt seine Nasenwurzel, was er jedes Mal macht, wenn er erschöpft ist. Er gähnt. »Entschuldige bitte. Heute war ein langer Tag – aber mein Gespräch ist super verlaufen, ich denke, ich bekomme den Job. Das ist aber heute nicht wichtig, wir reden ein anderes Mal darüber.«

»Ich möchte dir gern noch etwas erzählen«, sage ich schnell. »Tim hat mir einen Brief hinterlassen, in dem er mich bittet, die Europareise zu unternehmen, die er immer machen wollte, und …«

»Wie bitte?«, unterbricht Julius mich. »Er will, dass wir monatelang sinnfrei durch Europa gondeln? Wozu soll das denn gut sein? Du weißt, dass wir nur noch achtzehn Tage Resturlaub haben. Das ist doch viel zu stressig für dich – und ich werde mir den Stress sicher nicht antun! Sorry, dass ich das sage, aber das ist echt typisch für Tim. Er hat keine Ahnung, wie dich das unter Druck setzt. Leider hat er nie verstanden, dass deine und auch meine Vorstellungen vom Leben sich von seinen ganz gewaltig unterscheiden!«

»Jetzt lass mich doch mal ausreden«, bitte ich ihn, und versuche, meine Irritation zu unterdrücken. »Tim hat sich gewünscht, dass ich diese Reise für ihn mache.« Julius rollt genervt mit den Augen, unterbricht mich aber nicht. »Außerdem«, fahre ich fort, »wollte er gar nicht, dass ich diese Reise gemeinsam mit dir unternehme. Er möchte, dass ich seinen Freund Ben mitnehme.«

Julius sieht mich fassungslos an. »Marie, tut mir leid, ich weiß, dass dein Tag schrecklich war, aber hast du völlig den Verstand verloren? Sprichst du von diesem reichen Deppen, bei dem Tim gewohnt hat? Dem, den du noch kein einziges Mal gesehen hast? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich oder deine Eltern dich mit einem Wildfremden durch Europa tingeln lassen.«

»Ich wusste gar nicht, dass ich deine Erlaubnis brauche«, gebe ich matt zurück, »wir leben nicht mehr im Mittelalter. Fakt ist, dass ich sehr wohl darüber nachdenke, diese Reise anzutreten, und ich werde mich übermorgen mit Ben treffen. Er kommt zur Beerdigung, und dann werden wir uns darüber unterhalten. Ich habe früher immer davon geträumt, ein Sabbatical einzulegen. Ich weiß, das hört sich alles verrückt an, aber vielleicht ist es im Grunde eine Chance … «

»Eine Chance«, ätzt Julius. »Denkst du dabei auch mal an mich? Und an deine Karriere? Wir wollten doch im November nach Ägypten zum Schnorcheln fliegen. Ich finde es scheiße, dass du mit einem fremden Typ losziehen willst, und glaubst, dass ich ein halbes Jahr hier sitze und drauf warte, dass du wieder zur Haustür reinspazierst!«

So wütend habe ich Julius selten erlebt. Er ist sonst eher der ruhige Typ. Jetzt steht er auf und geht im Wohnzimmer auf und ab. »Deine Eltern tun mir echt leid. Erst verlieren sie Tim, und ausgerechnet jetzt drehst du durch. Die sollten sich jetzt nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen! Ganz schlechter Moment für einen Egotrip, Marie.«

Das hat gesessen. Julius weiß genau, dass ich mich mit niemandem anlegen möchte, und natürlich liegt es mir fern, meine Eltern jetzt noch zusätzlich zu belasten. Vielleicht hat er recht?

Was soll diese Europareise noch bringen? Tim wird dadurch nicht mehr lebendig, und ich kann ihm ja noch nicht einmal davon erzählen. Und klar, es ist vollkommen irre, das mit einem Fremden zu machen. Tim hat immer große Stücke auf Ben gehalten, aber ich kenne ihn nicht. Wahrscheinlich hat er auch eine Freundin, die das Ganze nicht so prickelnd findet. Ich merke, wie ich Kopfschmerzen bekomme.

»Komm Marie«, lenkt Julius ein, »lass uns jetzt erst einmal schlafen. Sortier deine Gedanken, und dann wirst du schon merken, dass das einfach keine besonders gute Idee ist. Lass uns heute nicht streiten.« Er hält mir seine Hand hin, an der ich mich von der Couch hochziehe. Gemeinsam putzen wir unsere Zähne, und als ich wenige Minuten nach Julius mit meinem Nachthemd ins Bett komme, nimmt er mich in den Arm.

»Versuch zu schlafen, Marie, du brauchst deine Kräfte noch.«

Er löscht das Licht. Ich aber liege noch stundenlang im Dunkeln, an Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Bin ich wirklich egoistisch und rücksichtslos, wenn ich diese Reise mache? Ich habe eine Heidenangst davor, allein zu reisen. Was wenn Ben ein totaler Idiot ist? Oder enttäusche ich am Ende mich am meisten, wenn ich mal wieder den Weg des geringsten Widerstands gehe und einfach daheimbleibe? Erst als schon langsam die Dämmerung hereinbricht, falle ich erschöpft in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Als um 6:15 Uhr der Wecker auf Julius’ Nachtkästchen piept, fühle ich mich wie gerädert. Julius schaltet den Wecker aus und marschiert ins Bad. Irgendwie schaffe ich es nicht aufzustehen. Normalerweise mache ich in der Zeit, in der er duscht, immer Frühstück und koche Kaffee. Aber heute erscheint mir alles vollkommen sinnlos. Grübelnd starre ich an die Decke. Warum will Tim nur, dass ich diese Europareise mache? Irgendwie kann ich Julius verstehen: Wie soll das zeitlich gehen? Und natürlich kann ich auch verstehen, dass er es nicht gut findet, wenn ich mich für so lange Zeit einfach verdrücke, und das noch dazu mit einem anderen Mann.

Aber auf der anderen Seite hatten Tim und ich so viele Pläne, die wir letztlich nie umgesetzt haben, weil es bei mir immer etwas gab, was dagegensprach: Schon nach meinem Abi wollten wir zusammen mit einem Interrail-Ticket durch Europa reisen. Nach Lissabon, Madrid, Paris, Strasbourg, Rom und Athen. Das war das Jahr, in dem ich kurz vorher Julius wiedergetroffen habe, der mit der Banklehre schon fast fertig war. Mein Ausbildungsplatz in der Sparkasse wartete ebenfalls ab Anfang September auf mich. Und meine Eltern waren damals schon nicht begeistert von der Idee, dass ich mit Tim einfach so losziehen wollte. Und je öfter ich mich mit Julius getroffen habe, desto häufiger hat er mir gesagt, dass so ein Urlaub ja überhaupt nicht sein Ding sei. Dass man doch schließlich wissen müsse, in welchem Hotel man am Abend übernachtet, und dass ein Urlaub, bei dem man immer nur von einem Ort zum anderen hetzt, überhaupt kein Urlaub sei. Tim hatte seine letzten Prüfungen in der ersten Augustwoche an der Uni in Hamburg. Und weil ich auf einmal viel zu feige war, mich auf diesen Trip einzulassen, viel zu sehr beschäftigt war, Julius zu imponieren und ihn für mich zu begeistern, hatte ich damals kurzerhand Tim abgesagt. Er war darüber maßlos enttäuscht – wollte aber ohne mich nicht fahren, weil er immer die Hoffnung hatte, dass wir den Trip vielleicht ein Jahr später machen würden. Wir fuhren in diesem Sommer dann lediglich fünf Tage gemeinsam nach Korfu. Irgendwie habe ich deshalb immer noch ein schlechtes Gewissen. Wenn ich damals mehr Mut gehabt hätte, und es mir nicht so verdammt wichtig gewesen wäre, es allen recht zu machen, hätte Tim seine Europareise unternommen. So sehr ich es auch leugnen wollte, aber im Grunde ist es meine Schuld, dass Tim seine Europareise verpasst hat.

Julius kommt aus dem Bad und schaut mich verstört an: »Willst du nicht langsam mal aufstehen? Es hilft doch keinem, wenn du jetzt depressiv die Decke anstarrst. Komm, geh unter die Dusche – ich koche schon mal Kaffee. Danach fühlst du dich gleich besser. Außerdem kommst du zu spät in die Arbeit, wenn du noch länger trödelst«, fügt er nüchtern hinzu.

Es stimmt: Ich hatte gestern meinen Chef lediglich informiert, dass ich aufgrund eines familiären Trauerfalls nicht kommen würde und dass ich meine Überstunden dafür abbauen würde. Aber was soll ich bei der Arbeit?

»Glaub mir, Marie, die Ablenkung in der Bank wird dir guttun! Daheim grübelst du doch nur!«, lässt Julius eine weitere seiner pragmatischen Weisheiten vom Stapel, als hätte er meinen letzten Gedanken gehört.

Ich lasse mich in mein Kissen zurückfallen. Vielleicht hat Julius recht? Vielleicht ist meine lieb gewonnene Routine jetzt der Rettungsanker, der mich vor dem Ertrinken rettet, da er mir Halt gibt? Doch während ich mich nach dem Duschen mechanisch schminke, spüre ich einen Druck auf der Brust, der mich zu Boden zwingt. Still weine ich vor mich hin, bis Julius’ energisches Klopfen mich unterbricht.

»Marie, bitte, es wird Zeit – ich will dich nicht drängen, aber das bringt doch nichts …«

Ohne zu antworten, rapple ich mich hoch und bringe vor dem Spiegel mein Gesicht in Ordnung. Mit geraden Schultern öffne ich die Badezimmertür und nehme den Kaffee in Empfang, den Julius mir mit leicht vorwurfsvoller Miene in die Hand drückt.

Kapitel 5

Ben

Ich hatte mir vorgenommen, heute früh aufzustehen, und bereue dies, sobald mein Handywecker um neun Uhr loslegt. Aber ich habe einiges vor heute – noch bin ich nicht fertig damit, Tims Sachen zu packen. Gestern, als ich versucht habe, seinen Schreibtisch aufzuräumen, habe ich eines dieser alten Fotoalben gefunden. Richtig oldschool, aber irgendwie auch rührend. Der Schrift nach zu urteilen, könnten es seine Großeltern angelegt haben: Seitenweise Fotos von Tim und Marie als Kinder und Teenager. Sie müssen ungefähr vierzehn und sechzehn gewesen sein, als das Fotoalbum endete. Davor: Fotos von den Geschwistern, strahlend auf Kinderspielplätzen, am Baggersee, auf einem Volksfest oder klassisch im Planschbecken, als sie noch ganz klein waren. Ein Fotoalbum, wie es nur glückliche Familien besitzen. Familien, in denen sich irgendjemand die Zeit nimmt, Fotos entwickeln zu lassen, Daten mit einem Vermerk unter die Fotos zu schreiben und diese dann spießig, aber irgendwie auch wertvoll, in Fotoecken zu heften. Diese Zeit hatten sich weder mein Vater noch meine Mutter jemals genommen. Zumindest weiß ich jetzt, wie Marie aussieht. Sie sieht Tim ähnlich. Hat die gleichen rotblonden Haare, die gleiche Nase und die gleichen braunen Augen wie er. Ich atme tief durch. Ich vermisse Tim. Er wurde in den letzten Jahren mein bester Freund. Ich konnte einfach immer auf ihn zählen. Egal, was los war, er hatte immer eine Idee. Damals, als ich durch die Klausur in Öffentlichem Recht gerasselt bin, hat er mich geschnappt und ist mit mir erst einmal ans Meer gefahren.

»Wer braucht schon Öffentliches Recht? Glaub mir, davon haben echt viele keinen blassen Schimmer! Klar, als so ein spießiger Anwalt braucht man das schon, aber bist du dir sicher, ob du das überhaupt werden willst?«, hatte er mir gegen den Wind zugerufen und so ansteckend gelacht, dass ich schließlich einstimmen musste. Er hatte mich längst durchschaut, lange bevor ich mir richtig eingestanden habe, dass das, was ich tat, Quatsch war. Dass ich nie wirklich Jura studieren wollte und alles nur machte, weil mein Vater das von mir erwartete. Tim hat gemerkt, dass ich nicht ständig feiern gehe, weil ich so gerne Party mache, sondern nur, um keine Entscheidung treffen zu müssen. So brutal das klingt, ich habe mich einfach nur durch Saufen, Party und One-Night-Stands davon abgelenkt, mir einzugestehen, dass das, was ich seit mehr als vier Jahren mache, absolut nicht mein Ding ist.

Tagträumend schlurfe ich in Tims Zimmer und gehe die Bücherkiste und Post-its für Marie durch. Auf dem Buch Alexis Sorbas klebt ein gelbes Post-it, auf das Tim geschrieben hat:

Springt ins blaue Meer am Palmenstrand von Vai, wandert durch die Samaria-Schlucht und lasst Euch in Knossos vom Zauber der Antike einfangen! Lass dabei Ben sein Trauma des humanistischen Gymnasiums vergessen. Genießt das Meer, die Ausgrabungen und macht einen Stadtbummel durch Chania. Setzt Euch am Abend an den Strand und trinkt eine Flasche Xinomavro. Schließlich kennt Ben sich mit Alkohol aus. P.S.: Marie, pass auf, dass es bei dieser einen Flasche bleibt!

Ich muss schmunzeln. Typisch Tim, sogar wenn er nicht mehr da ist, muss er sich Sorgen um mich machen.