… und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels - Alois Springer - E-Book

… und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels E-Book

Alois Springer

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Beschreibung

Dies ist die wahre Geschichte eines großen Musikers und Dirigenten. Alois Springer erzählt seine eigene Geschichte wie eine Symphonie, jede Note benötigt die nächste. Der Dirigent geht mit seinem endlich wiedergefundenen Sohn auf die Suche nach den Ursachen seines dramatischen, zerrissenen, wahnsinnigen, umjubelten Lebens - auf den Grund des Meeres, seines Ursprungs. Er kehrt zurück an seinen Geburtsort Olkowitz, einem kleinen Dorf in Böhmen-Mähren, dem heutigen Oleksovice in Tschechien, aus dem er und seine Familie 1945 vertrieben wurden. Dabei durchlebt er noch einmal das Verlangen nach Schönheit, die Gewalten seines Meeres, die der Macht der Gefühle im Kampf mit der Vernunft gleichen: Qual und Lust der Liebe, Sucht nach Schönheit, höchste Höhen des Erfolgs, Überforderung, Absturz. Verlassenwerden, Verrücktheit, Abhängigkeit, Alkohol bis an den Rand des Todes, Gefängnis, psychiatrische Anstalten. Das Erkennen der Schönheit als "Teufelswerk", endlich die Begegnung mit Gott und sich selbst in der Musik und schließlich das Wunder seiner Auferstehung wie ein Phönix aus der Asche spiegelt sein Leben. Wenn du ganz unten bist, dann geh ins Nichts, geh ins Dunkel, aber geh, beweg dich - das ist das Geheimnis.

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Alois Springer

… und Olkowitz liegt doch am Meer

Schönheit ist des Teufels

Die Autobiografie eines Dirigenten

Springer, Alois: … und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels. Die Autobiografie eines Dirigenten, Hamburg, ACABUS Verlag 2011

Originalausgabe

ISBN: 978-3-86282-013-9

Die Print-Ausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-86282-012-2 und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Lektorat: Maike Roskamp, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Maike Roskamp, ACABUS Verlag

Fotos: Alois Springer

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2011

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Werde, was du bist

Es ist schon seltsam, meinem Namen auf dem Grab meines Vaters Alois zu begegnen, so, als würde er, der da unten liegt, mir die Möglichkeit geben, in meine Zukunft zu schauen und ich in seine Vergangenheit. Als würde er sagen: „Damit hast du im Augenblick die Schwierigkeit, mich zu verlieren.“

Ich erinnere mich: Immer hatte ich die Hoffnung, dass nichts verloren gehen möge durch den Alltag und ich irgendwann die Kraft aufbringen werde, die mündliche Überlieferung in Stein zu hauen, wenigstens in Buchstaben. Das tue ich jetzt und möchte mich im Augenblick verlieren.

1

1968

Von einem Empfang im Blair-House, dem Gästehaus des Weißen Hauses anlässlich meiner Preisverleihung zurückgekommen, war ich bereits wieder in der Philharmonic Hall New York bei der Probe zu Mahlers 5. Sinfonie, als am Times Square die Panzer auffuhren. Eine gespenstische Szene. Von den Amüsier-Clubs der 42th Street herab spiegelten sich im Stahl der bedrohlich aufgefahrenen Panzer die Silhouetten der animierend tanzenden Go-go-Girls. Alles war überflutet vom grell leuchtenden Neonlicht und Reklamegewitter Manhattans.

Welch ein Kontrast! Noch vor wenigen Stunden hatte ich an der Seite von Jacqueline Kennedy, der Gattin des Präsidenten, der in Dallas ermordet worden war, gestanden und aus ihrer Hand die Ehrung empfangen: Den 1. Preis mit Goldmedaille im Dimitri-Mitropoulos International Music Competition Award New York. Tage zuvor hatten Journalisten in der Carnegie Hall meine aufregende Preisnominierung und das darauffolgende Gala-Konzert miterlebt. Danach begleiteten sie mich nach Washington, da sie hofften, im besonderen Rahmen des Weißen Hauses ein Exklusiv-Interview zu erhalten.

Auf dem Rückflug nach New York unterhielt ich mich angeregt mit meinem Begleiter Claudio Abbado, einem jungen Dirigenten, dem ich zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte. Er hatte vom 2. - 6. November 1967 in Washington Konzerte gegeben und war ebenfalls auf dem Weg nach New York. Dabei stellte ich fest, dass Claudio Abbado als Preisträger mein Vorgänger war und bereits vor mir, nämlich 1958 den Koussewitzky-Preis am Berkshire Music Center in Tanglewood und 1963 den Dimitri-Mitropoulos-Preis in New York gewonnen hatte. Damals ahnte ich nicht, dass Claudio Abbado später Chefdirigent der Berliner Philharmoniker werden sollte.

Neben unserer gemeinsamen preisgekrönten Erfahrung sprachen wir über aktuell brisante Themen: Über kommende Entsorgungsprobleme und die in den Staaten gerade anlaufende Schulbus-Aktion von weißen und schwarzen Kindern. Dies war ein Versuch zur Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir diskutierten über das Civil Rights Movement, vor allem über die Black Power Bewegung unter Malcolm X. Wir waren uns einig über die gefährliche Militanz der radikalen Black Panther, die Überwindung des Rassismus durch Gewalt zu erreichen. Ein Gewaltpotential, das Martin Luther King veranlasste, seine Vision der Gewaltlosigkeit und Hoffnung im Sinne Mahatma Gandhis laut in die Welt hinauszuschreien: „Ich habe das gelobte Land gesehen. Ich habe einen Traum …“ Dabei ahnten wir nicht, welche Folgen diese Polarisierung für Martin Luther King haben sollte.

In New York und überall im Lande begann es zu brodeln. Die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg waren im vollen Gang, die Beatles hatten mit ihrer Musik die Staaten erobert und waren wichtiger als Beethoven. Robert Kennedy, Justizminister und Senator von New York, geriet gefährlich nahe ins Visier radikaler Strömungen wie dem des Ku Klux Klan. Der Flug von Apollo 11 zum Mond und das Rock-Festival Woodstock, Höhepunkt der Hippie-Bewegung mit seinen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft bahnten sich an.

Ich hatte gerade die letzten Takte des ersten Satzes Mahlers 5. Sinfonie mit dem pp Trompetensignal, dem dreifachen ppp der Flöte und dem letzten Streicher-Pizzikato C beendet, da ertönte in diese Pause hinein eine tiefe Männerstimme und füllte die Music-Hall.

„Martin Luther King ist ermordet worden“, kam es durch irgendeinen Lautsprecher, ohne Schnörkel, doch mit spürbar zurückgehaltener Wut.

„Soeben erhalten wir die Nachricht: Der King ist tot! Sie haben Martin Luther King ermordet.“ Die Worte schienen sich ständig zu wiederholen. Augenblicke, die niemand vergisst.

In diesem Moment fühlte ich mich, der sonst am Pult so Mächtige, am nutzlosesten Platz. Ich unterbrach die Probe, legte den Taktstock aus der Hand, sagte, zweifelnd am Sinn meines Tuns: „Draußen ist das Leben – und was machen wir hier?“ In der Philharmonic Hall war es totenstill. Nach einer Weile der hilflosen Betroffenheit hob ich wieder den Taktstock.

„Bitte das Adagietto.“

Sehr langsam begann die Harfe, dann folgten die Geigen espressivo, also ausdrucksvoll mit ihrem Auftakt das so bewegende Adagietto für Streicher und Harfe zu intonieren.

Zwei Monate vergingen. Die Betroffenheit über den brutalen Mord an Martin Luther King war allen noch gegenwärtig, als in den Morgenstunden des 6. Juni 1968 die Stimme wieder in der Philharmonic Hall ertönte. Diesmal während einer Probe zu „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss.

„Robert Kennedy ist in Los Angeles ermordet worden, Robert Kennedy ist in Los Angeles ermordet worden“, wiederholte die Stimme.

Fassungslos unterbrach ich die Probe und eilte hinauf ins Künstlerzimmer der Philharmonie. Dort saß Leonard Bernstein zusammengesunken vor einem Whiskyglas. Ich ergriff seine Hand.

„Ali“, sagte Lennie leise (so nannte er mich liebevoll seit unserer ersten Begegnung), „King, der König ist tot. Sie haben ihn ermordet. Was wird noch alles passieren? Nun haben sie auch Kennedy umgebracht. In Vancouver habe ich dich gefragt: ‚Glaubst du?‘ Warum hast du mit Nein geantwortet? Ich bin beunruhigt und bestätigt in meinem Pessimismus über die Zukunft der kultivierten Welt.“

Die Zeit mit und neben Leonard Bernstein und seinen New Yorkern ging für mich langsam zu Ende. Europa lockte. Am 27. Januar 1968 dirigierte ich noch einmal „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss in der Philharmonic Hall, noch einmal ein Konzert in der Reihe Young People’s Concerts, mit dem erst 14 Jahre jungen genialen Cellisten Lawrence Foster als Solisten. Das ergreifende Erlebnis eines musikalischen Wunders am Cello. Nachdem Leonard Bernstein mich als begleitender Dirigent dieses Wunders vorgestellt hatte, sagte er zum jungen Publikum: „Heute könnt ihr ein authentisches Genie am Cello erleben. Er spielt das Cellokonzert Nr. 1 a-moll op. 33 von Camille Saint-Saens. Macht die Ohren und Augen auf. Sein Instrument, das Cello, ist so groß wie er selbst. Ihr werdet es nicht glauben, was ihr heute zu hören und zu sehen bekommt! Lawrence Foster, erst 14 Jahre alt, spielt seine musikalische Botschaft für uns alle so, als würde der Himmel die Erde still küssen. Hört auf ihn, lasst euch bewegen von dem Geist, dem Feuer, der Poesie und der Liebe seines Spiels. Seht, ein Stern geht auf!“ Bei seiner Musik und diesen Worten fiel mir unwillkürlich der Satz ein: „Wen Gott liebt, den holt er früh zu sich.“

Im Gleichgültigen des Alltäglichen, das die Welt zusammenhält, sind die unvergesslichen Momente in der Kunst wie im Leben selten – das Wesentliche geschieht nur in den wenigen seltenen Augenblicke der Inspiration – es sind die Augenblicke der Geburt eines Sterns.

Nie wieder sollte ich das Cellokonzert von Camille Saint-Saens so authentisch interpretiert hören wie damals von diesem jungen Genie. Der tragische Grund des unverständlichen Schweigens: Erst 40 Jahre später erfuhr ich das Schreckliche durch eine Feuilleton-Pressenotiz anlässlich meiner damaligen Preisverleihung in der Carnegie Hall New York als Gewinner des 1. Preises mit Goldmedaille bei der Dimitri-Mitropoulos Competition:

„Heute vor 40 Jahren – am 27.01.1968 spielte Lawrence Foster, das junge Genie am Violoncello in der TV-Serie Young People’s Concerts, unter der Leitung von Alois Springer das Konzert für Violoncello und Orchester a-moll, op.33 …“ Lawrence Foster verlor, gerade 20 Jahre jung, auf tragische Weise sein Leben durch die Hände eines Autodiebs in Atlanta.

Die DVD-Aufnahme des Young People’s Concerts mit Lawrence Foster ist für mich eine Kostbarkeit, die ich zitternd bewahre, um sie in einer anderen Form allen Interessierten weitergeben zu können.

Bald nach diesen Ereignissen verließ ich New York, um als Chefdirigent die Leitung eines der bedeutendsten Sinfonieorchester, die Philharmonia Hungarica, zu übernehmen. Auf meine Frage, wo das Orchester beheimatet sei, erhielt ich die für mich schockierende Antwort: „In nowhere!“ Ich ahnte nicht, welche Katastrophe über mich selbst hereinbrechen würde.

An einem trüben Novembermorgen begleiteten mich Freunde und Journalisten zum J. F. Kennedy-Airport. Alle hofften, bald wieder von mir zu hören.

„Auf Wiedersehen und viva la musica.“

Young People’s Concerts: Die New York Philharmoniker, Alois Springer und Lawrence Foster am Cello

1969

Mein Aufstieg zum Gipfel des Olymps schien unaufhaltsam zu sein. Im Feuilletonteil der Zeitungen konnte ich es lesen:

„Bernstein ist von ihm begeistert.“ (Welt am Sonntag, 12.11.1967), „Sensation am Pult! Ein Dirigent, der mit seinen kontrollierten Ekstasen dem Abend ein Fluidum von Sensation einhauchte!“ (Berliner Morgenpost, 14.11.1968), „Seine Schlagtechnik ist verblüffend. Er übte mit seiner phänomenalen Technik eine magische Wirkung aus!“ (Die Welt, 15.11.1968), „Eine deutsche Dirigentenhoffnung.“ (Fuldaer Zeitung, 01.12.1970), „Nachhaltige Ovationen für Alois Springer.“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 26.05.1970)

Drei Jahre später, 1972, am Ende meiner dritten anscheinend erfolgreichen Konzertsaison hörte mein Publikum von einem Eklat, den ich mit meinem neuen Orchester im Saal der Festhalle Gürzenich in Köln verursacht haben sollte.

Der Eklat passierte, wie man lesen konnte, unverhofft, kam, so schien es, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Es war mein letzter öffentlicher Auftritt. Dieser Auftritt endete mit einer wütenden Konfrontation mit dem Publikum. Danach verschwand ich für alle, als wäre ich gestorben.

Ich hatte keinen Abschiedsbrief geschrieben. Eine Musikzeitschrift fragte in einer Rezension über meine Interpretation der Tschaikowsky-Sinfonien, den Dialog mit mir suchend:

„Nachtigall, warum singst du nicht mehr?“

„Weil die Frösche so laut quaken“, war meine knappe Antwort. Nach langer Zeit meines Verschwindens wurde Interpol eingeschaltet. Von mir keine Spur. Ich blieb verschwunden.

Hatte ich mit diesem unglaublichen Abgang meiner Karriere, meinem privaten Glück, ein abruptes Ende gesetzt, Vergangenheit und Zukunft ausgelöscht? Wie konnte es auf der Welle des Erfolges nur zu diesem Eklat kommen? Auf dem Höhepunkt meiner ungewöhnlich steilen Karriere?

War es die Bürde meines frühen Schwurs mit 20 Jahren „… bis dass der Tod euch scheidet“? War es die frühe Liebe und Bindung zu Julia, eine Leidenschaft, die mich in eine gefährliche Abhängigkeit führte bis hin zu der nun eingetretenen Katastrophe?

War es die Not des Dürstenden, dem das Erotische versagt bleibt, der Zuflucht sucht in einer Gegenwelt, die ihn beruhigt und ihm schlussendlich zum Verhängnis wird? Oder ist es gar die Musik, der Liebe Nahrung, die mein Verhängnis ist?

„… denn es bestehen geheime Beziehungen zwischen dem Schönen und dem Schrecklichen, an einer bestimmten Stelle ergänzen sich beide wie das lachende Leben und der nahe tägliche Tod!“

(„Der Drachentöter“, Rainer Maria Rilke)

2000

28 Jahre später

Es war die Stunde zwischen Hund und Wolf, Dämmerung, in der sich die große Stadt ihr prächtigstes Kleid anzieht, einer alten Dame gleich, in Erwartung des nächtlichen Tangos mit ihrem letzten Jüngling, als der Anruf kam.

Ich hatte ins Leere gestarrt wie an jenem späten Vormittag des Jahres 1979 vor mehr als zwei Jahrzehnten, damals, als es an meiner Tür klopfte und ich ebenso aufgeschreckt war wie in diesem Augenblick.

Jetzt, beim aufdringlichen Läuten des Telefons erinnerte ich mich an das Klopfen jenes denkwürdigen Vormittags vor 21 Jahren an meiner Tür, als ich in meinem eigenen Blut hilflos am Boden lag.

Damals, in jenem armseligen Zustand schien es mir, als sei das Pochen an der Tür das rhythmische Motiv der Schicksalssinfonie von Beethoven.

Ich erinnere mich: Ja, ich hatte mich nicht gerührt, aus Sorge darüber, doch noch mein Leben auf diese erbärmlichste Weise zu verlieren und zu verbluten. Gott weiß, wie lange ich schon so da gelegen haben mag. In meinem kranken Hirn jagten wirre Bilder von Mohnblumen in wogenden gelben Weizenfeldern, Mordgedanken, Themenfetzen aus Beethovens 9. und Nietzsches Zarathustra: „Kleine Leute haben kleine Türen.“ Und immer wieder das „Adagio molto e cantabile“, aus der Neunten von Beethoven.

„Ist es doch jemandem gelungen, mich zu finden?“, hatte ich in diesem Moment gedacht. „Ein Hausierer, Bettler? Noch ein Armseliger? Sicher nicht einer meinesgleichen!“

Es hatte nicht aufgehört, in ruhigen, gleichmäßigen, hartnäckigen Abständen an meiner Tür zu pochen. Blut, weiß Gott, woher es kam, rann meine Beine hinunter. Ich hatte die Hosenbeine mit Gummibändern abgeschnürt. So, dachte ich, konnte es nicht herausfließen und als Fährte meines jetzigen Daseins sichtbar werden. War ich etwa beim Bemalen der Wände mit meinen Phantasien zu Boden gestürzt? Wie lange hatte ich schon so gelegen? Ja, ich hatte meine wilden Phantasien in rasender Lust an die Wände gemalt, wähnte mich dabei in der Hochzeit meiner Kreativität. In dieser Verrücktheit war ich wohl von meinem wackligen Gerüst aus übereinander gestellten Stühlen in eine Whisky-Flasche, die am Boden lag, gefallen, hatte mich an ihrem Flaschenhals regelrecht aufgespießt. Lange scharfe Glassplitter steckten wie Geschosse in meinem Gesäß. Um mich herum lagen verschmierte Blätter des Manuskripts eines in meinem Kopf schon weit fortgeschrittenen Romans. Über dem schäbigen Klavier hingen beschriebene Notenblätter.

Es hörte nicht auf, in hartnäckigen Abständen an meiner Tür zu pochen.

„Gegen kleine Leute hat man’s leichter“, dachte ich, während ich mich zur Türe zog.

„Wäre da ein Großer, der da klopft, oh Gott! Das Alleinsein ist doch Gift. Argwohn taucht da auf im Alleinsein und der Verdacht, dass es niedere Menschen geben könnte mit niederen Türen. Orpheus, das Feuer auf der Erde und die Wünschelrute: Irgendwo für meine Seele muss doch ein Leuchten und Klingen sein, ein wundersames Klingen“, redete ich zu mir selbst und wunderte mich über die blutige Spur, die ich trotz meiner Vorsichtsmaßnahme hinter mir her zog. „Wenn ich zu mir rede, rede ich zum lieben Gott“, tröstete ich mich, wiederholte es immer wieder. „Wenn ich zu mir rede, rede ich zum lieben Gott. Klarheit wird es geben müssen.“

Der Weg zur Tür im dunklen, fensterlosen Flur, der Main Street in der Unterwelt meiner Schrecken wurde immer länger. „Verflucht sei diese Mansarde, in der ich endlich Geborgenheit und junge Liebe zu finden glaubte, ja lange Zeit auch fand“, murmelte ich. War es nicht vor Jahrzehnten in lauen Mainächten, als ich, der junge Musikstudent, unterm duftenden Magnolienbaum stand und an diesem Haus hier hinaufpfiff. „Leise flehen meine Lieder, durch die Nacht zu dir“, als endlich hoch oben just in der verdammten Mansarde, die jetzt der Tempel meiner wirren Phantasien ist, still ein Licht aufleuchtete, ein Licht, als wäre es das Ewige Licht. Als sich dann zögernd neugierig ein gar wunderschöner blonder Mädchenschopf am Fenster zeigte. Die Silhouette bewegte sich kaum, aber sie bewegte sich. War diese leichte Neigung des Kopfes zur Seite eine Ablehnung oder eine Aufforderung? Mutig und vorsichtig pfiff ich ins nicht Erreichbare hinauf: „Leise flehen meine Lieder.“

War es etwa diese Macht, die mich den Satz vergessen ließ: „Du gehörst der Welt, sonst niemandem. Vergiss das nie!“

Damals rund um den Magnolien-Blütenduft, ich erinnere mich, begann die Erde zu wackeln. Und jetzt, wo es in diesem Augenblick so hartnäckig an meine Tür klopft, liege ich in derselben Mansarde in meinem eigenen Blut? War es die Absicht des Schicksals, mich an diesen Ort zurückzubringen, nach einer glanzvollen Karriere? Nicht meine war’s.

„Der Zufall ist der liebe Gott. Der Zufall hat mich damals an diesen Ort geführt.“ oder „Unser Leben ist vom Zufall bestimmt, ja, der Zufall.“

Jetzt, beim aufdringlichen Läuten des Telefons erinnerte ich mich an das Klopfen jenes denkwürdigen Vormittags.

Damals hatte ich endlich mühsam die Tür erreicht, mich an ihr aufgerichtet und ärgerlich geöffnet. Vor mir hatte ein hochgewachsener, schlanker, breitschultriger junger Mann gestanden und mich angeschaut.

„Was wollen Sie? Ich nehme nichts von Bettlern, bin selber einer. Gehen Sie!“

Der junge Mann rührte sich nicht, schaute mich nur unentwegt an.

„Ja, was wollen Sie denn noch? Sie sehen es doch: Ich nehme nichts, ich habe nichts, ich gebe nichts für Bettler und Hausierer. Verschwinden Sie! Scheren Sie sich zum Teufel!“

Der Mann rührte sich nicht, schaute mich nur an.

„Ja, um Gottes willen, nun sagen Sie schon etwas!“

In meinem Ärger nahm ich zunächst nicht wahr, dass der Blick des Mannes sowohl Intelligenz als auch innere Kraft verriet. Nach einer unendlichen Weile ohne Worte sagte der schlanke, blonde, hochgewachsene Mann ruhig, als müsste er die lange ohne Erwiderung gebliebenen Worte aus den Tiefen des Meeres holen wie ein Perlenfischer die einzige Perle:

„Ich bin dein Sohn!“

In diesem Moment blieb alles stehen, rührte sich nichts. Schweigen. Aus der Nachbarwohnung drang undefinierbarer säuerlicher Geruch herüber, vielleicht das Ergebnis eines Streits, als hätte es böses Blut gegeben. Nur das Eichenholz des elegant gewundenen Treppenaufgangs mit seinem dunklen Glanz schien sich in den morgendlichen Sonnenstrahlen gähnend zu recken und ächzend zu stöhnen. Irgendwo in der Ferne zwitscherte ein Vogel. Aus dem obersten Stockwerk, noch eins über meinem, begann der hoffnungslos sehnsüchtige Versuch einer gequälten Frauenstimme die Arie „O mein Väterchen, teures …“ aus Puccinis Oper „Gianni Schicci“ zu probieren. Immer wieder die ersten Takte: „O mio babbino caro.“ Es war früh. Halb zehn.

Endlich, nach langem Schweigen, nachdem aus dem Dämmerlicht des Treppenhauses die klaren, scharfen, kantigen Gesichtszüge mit dem blonden kurz geschnittenen Haar meines Gegenübers näherkamen und ich mich nur schwer lösen konnte von dem bohrenden, stechenden Blick dieser Augen, die mich seltsam berührten und bekannt vorkamen, sagte ich fast tonlos: „Rafael?“

War es Mangel an Emotion oder das Gegenteil? Floh ich vor dem Schmerz, konnte mich nichts mehr bewegen?

„Ja!“, antwortete der junge Mann und schaute mich unentwegt an.

Pause! Mein Gott, mein Sohn! Zwölf Jahre alt war er, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Und jetzt? Mein Gott.

„Dann komm herein!“

„Dann komm herein“, hatte ich damals nach 20 Jahren des Verlorenseins nur gesagt, nichts weiter. In diesem Augenblick hatte ich mich nur gewundert, dass die Fluten des Meeres mich nicht verschlangen. Genau so hätte ich sagen können: „Wir haben uns schon lange nicht gesehen“, und der Himmel wäre nicht eingestürzt. Es war wie beim Tod meiner Mutter. Damals hatte ich ihr nur die Augen zugedrückt, als es soweit war, bin dann ruhig ins andere Zimmer hinübergegangen und hatte in ausdruckslosem Tonfall zu meinem Vater gesagt: „Deine Frau ist tot.“ Es war dieselbe für mich selbst erschreckende Sachlichkeit wie bei der ersten Begegnung mit meinem Sohn nach 20 Jahren.

2

Jetzt, in der Stunde zwischen Hund und Wolf, beim hartnäckigen Läuten des Telefons, war ich tatsächlich über das bewegende Ereignis jenes Vormittags ins Sinnieren gekommen, musste ich an die erschütternden Worte Rafaels denken – „Ich bin dein Sohn“ – und daran, dass es an der Zeit wäre, auf den Grund zu gehen, auf den Grund des Meeres, wo alles begann.

Seitdem wissen wir beide voneinander, Rafael und ich. Wir stellen keine Fragen. Es sind die seltenen Begegnungen, wortlosen Umarmungen, meist beim Billard oder bei Rafaels Gemälde-Ausstellungen in Luxemburg, Brüssel, Paris oder Frankfurt am Main, die uns immer enger zusammenführen. Rafael ist ein Besessener, gleichzeitig ein Philosoph – er malt und malt, schreibt Gedichte, wirre Prosa, entwirft mit einem Achselzucken provokanten Schmuck, dreht Filme, agiert als männliches Mannequin, lässt sich anheuern als Taxifahrer in ganz Europa, ist Tankwart, Türvorsteher, Innenausstatter, Zeitungsausträger, Vorstandsmitglied, freischaffender Künstler.

Irgendwann hatte ich erfahren, dass der Philosoph Rafael sich das Leben nehmen wollte. Ursache war die Liebe. Er wurde gerettet. Die Wunden an seinem Körper blieben sichtbar. Seitdem sehe ich Rafael noch fokussierter, mit anderen Augen. Ich stelle immer noch keine Fragen, sollte es tun. Warum tue ich es nicht? Sicher hätte ich gerne gewusst, wie es damals passieren konnte und warum. War es die Folge meiner Katastrophe, das Mitgerissenwerden im Fallen eines mächtigen, großen Baumes. Warum frage ich nicht Rafael: „Wie konnte es dazu kommen? Sag es mir, damit ich besser leben kann.“

Rafael würde antworten: „Was gräbst du in der Vergangenheit? Ich male jetzt!“

Vielleicht wird es der Zufall an den Tag bringen.

Nun war Rafael, mein Sohn, am Apparat und redete ohne Umschweife.

„Ich habe einige Tage Zeit. Lass uns gemeinsam wegfahren, nur wir beide, endlich einmal wir beide alleine.“

„Wo willst du denn mit mir hinfahren? An die Côte d’Azur? An die Riviera?“, tat ich erstaunt, um meine Bewegung zu verbergen.

„Ja, lass uns doch ans Meer fahren!“

„Ans Meer? Wo bist du?“, versuchte ich, Zeit zu gewinnen. „Von wo rufst du an? Aus Brüssel?“

„Nein, aus meinem Atelier in Luxemburg. Ich male ununterbrochen, leiste mir dabei den Luxus, Menschen zu meiden, die mir den Tag verderben könnten. Deshalb … es wäre wunderbar, mit dir ans Meer zu fahren, mit dir irgendwo am Strand Billard zu spielen, dich dabei endlich zu besiegen, mit dir zu reden, über dies und das!“

„Du bist in Luxemburg? Seltsame Fügung. Ja, Rafael, das wäre wunderbar. Wenn das so ist, dann lass uns nach Olkowitz fahren!“

„Liegt Olkowitz denn am Meer?“

„Ja, ich zeige es dir.“

„Ich zweifle an deinen geografischen Kenntnissen! Du bist dort zwar geboren, in Böhmen-Mähren, aber …“

„Zweifle nur! Du wirst es sehen: Olkowitz liegt doch am Meer! Vielleicht liegt am Grunde dieses Meeres mein Geheimnis.“

Ich wusste, dass es an der Zeit wäre, auf den Grund zu gehen, auf den Grund des Meeres, wo alles begann.

Drei Tage später saß ich mit Rafael in einem klapprigen 89er Japaner und war guten Mutes, von Frankfurt aus ans Meer zu fahren. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass diese Fahrt in ein Labyrinth führen würde, außerdem wäre es die erste gemeinsame lange Zeit miteinander seit der dramatischen Katastrophe vor mehr als einem Vierteljahrhundert.

Die ersten Kilometer fuhren wir mit den Ohren, jedes Geräusch abtastend, sei es das merkwürdig nagelnde, hämmernde, trockene vom Motor oder die möglicherweise eintretende erste Gefühlsäußerung des Nachbarn. Eine wirklich ungewohnte Situation. Nach einer Weile, bis zur Geburt des ersten Satzes, begannen die Augen, ohne Worte, mitzufahren. Die Nadel des Temperaturmessers stieg ebenso bedrohlich wie ein Crescendo in Beethovens „Eroica“ zum Höhepunkt.

„Das ist nur die heiße Außentemperatur“, schauten wir beide uns aufmunternd an.

Die drohende Gefahr ignorierend, fuhren wir solange weiter, bis unsere Nasen einen beunruhigenden Geruch aufnahmen, alle Sinne koordinierten, alarmierten und die erste treffsichere Äußerung Rafaels veranlassten: „Es qualmt!“

„Ja, es qualmt, sogar zunehmend!“

Schweigen.

„Wie weit ist es noch ans Meer?“

„1200 km hin, 1200 km zurück, siehst du das Schild nicht?“

„Ach ja! Wir sind schon weit gekommen, bravo!“

„Ja! Die ersten 25 km! Und es ist Samstagnachmittag!“

„An deiner Stelle würde ich zurückfahren …“

„Aber ich fahre doch schon zurück.“

„Du fährst schon zurück? Ich könnte meinen Freund in Luxemburg, der auch ans Meer …“

„Vor fast genau 55 Jahren bin ich die gleiche Strecke in umgekehrter Richtung gefahren.“

„Ich verstehe dich nicht! Wie meinst du das?“

„Damals schaute ich aus der kleinen Luke eines Viehwaggons, das Symbol jeder Vertreibung, zusammengepfercht mit verängstigten Menschen, der uns vom Meer wegbrachte und staunte über all die unverständlichen Ereignisse, die um mich herum geschahen. Jetzt, nach 55 Jahren, fahre ich mit dir zurück. Auf den Spuren meiner Vergangenheit. Der Viehtransport mit nach Schweiß und Urin riechenden Menschen hielt damals schlussendlich an einem grauen frühen Morgen in STERBFRITZ. Die knappe Äußerung deiner Großmutter dazu war: ‚Das ist der Anfang vom Ende.‘ Großvater sagte nur, das hätte er sich nicht träumen lassen, von Sibirien bis Sterbfritz. Und wahrhaftig: was für ein Weg!“

„Wieso Sibirien? Großvater hat mir von Sibirien nie etwas erzählt.“

„Das ist auch eine lange Geschichte, die sich lohnen würde, sie in Stein zu hauen. Er erzählte sie manchmal, aber immer wieder, bei guter Laune und in seinem lebensfrohen Humor: Er erzählte dann von seinem heldenhaften Einsatz in den ersten Tagen des Krieges 1914 als österreichischer Gebirgsjäger. Sein Pech war: an der russischen Front gab es halt kein Gebirge. So wurde er bei der ersten Feindberührung als Spähtrupp prompt gefangen genommen und nach Sibirien gebracht. Da erlebte er das blutige Hin und Her zwischen den Roten und den Weißen, eine zufällige Begegnung mit Trotzki, das Abschlachten der Grundbesitzer, den Mord an der Zarenfamilie, schließlich die Oktoberrevolution 1917-18. Er wurde verschleppt nach Nowosibirsk – Semipalatinsk – Omsk – Tomsk. Hier beginnen seine Geschichten von ganz hinten in Sibirien, die uns Kinder in Staunen versetzten. Mit seinen leuchtend verschmitztblauen Augen erzählte er dann von Balalaika-Klängen, der russischen Seele und seinen Liebesabenteuern mit der Müllerstochter auf dem warmen Samowar und davon, wie er erfuhr, dass er zu Hause für tot erklärt worden ist – nach zehnjähriger Gefangenschaft.“

„Eine seltsame Parallele zu deiner Geschichte. Auch für uns warst du verschwunden, als wärest du gestorben …“

Rafael hielt erschrocken inne, als hätte er sich bei etwas Ungeheuerlichem ertappt. Nach einer Weile des Schweigens fragte er weiter.

„Und wie ist er wieder auferstanden?“

„Meinst du, wie ich wieder auferstanden bin?“

„Auch. Aber dein Vater …“

„Es war für ihn ein langer Marsch von Tomsk nach Hause, nicht zuletzt mit Elsa von Lindströms Hilfe, einer schwedischen Diplomatin, die sich für die vergessenen deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien einsetzte. Endlich zu Hause angekommen, war er von den Seinen nicht mehr gewünscht und um sein rechtmäßiges Erbe betrogen. So schnürte er sein Bündel, zog die Bachläufe entlang bis Olkowitz. Und jetzt …“

„Bis Sterbfritz.“

„Ja. Bis Sterbfritz. Sein nahes Ende – für mich der Anfang einer großen Karriere.“

„Wie konnte das zugehen, aus dem Nichts?“

„Wir werden genug Zeit haben, darüber zu reden.“ Der Qualm aus der Motorhaube wurde immer dichter.

„Also fahren wir zurück, aber an deiner Stelle würde ich umkehren!“

„Hier, diese Ausfahrt nehmen wir!“

Es war Samstagnachmittag. Kaum dass wir unsere Fahrt begonnen hatten, hielten wir an einer gottverlassenen Reparaturwerkstatt nahe der Autobahn mit dampfendem Motor. Mit Mühe fanden wir durch polizeiliche Absperrungen und Barrikaden hindurch den Eingang.

„Sterbfritz, trostlos! Weit und breit kein Mensch zu sehen. Wochenende! Es sieht nach einer Polizeiaktion aus, fast nach Kriegszustand.“

„Du meinst, wie damals?“

„Ja, nur damals war Kriegsende, jetzt ist Wochenende!“

„Sterbfritz? Was hat der Name zu bedeuten?“

Der Thermostat, dieses kleine Ding, machte der Superwerkstatt an einem Samstagnachmittag mitten in Europa nahe einer Weltstadt die größten Schwierigkeiten.

„Nicht zuständig – nicht zuständig, nur der Chef ist zuständig, aber der ist nicht mehr im Haus.“

„Sterbfritz – der Name passt zu unserer Situation. Man sagt, das Pferd vom Friedrich dem Großen, dem ‚Alten Fritz‘, hieß auch Fritz. An dem Ort, wo wir ankamen, musste er seinen müden Gaul erschießen lassen. So sagte er zu diesem treuen Tier: ‚Sterb, Fritz.‘ Von da an heißt nun dieser Ort Sterbfritz.“

„Das fängt ja gut an. Was für eine Fahrt!“

Aus einer der Hallen kam schlürfenden Ganges über den sauber gefegten Hof ein buckliger, irgendwie vergessener Alter auf uns zu. Er schien aus einer anderen Zeit zu kommen, aus einer, in der Improvisation und Nachbarschaftshilfe noch geschätzt wurden. War das unser Fährmann, der uns ans andere Ufer bringen konnte?

„Was haben diese Absperrungen zu bedeuten, guter Mann?“, fragte Rafael den Alten.

Ohne ein Wort zu sagen, geschweige denn, uns beide eines Blickes zu würdigen – möglicherweise, um sein vernarbtes Gesicht zu verbergen – öffnete er die Motorhaube und begann, als gebe es für ihn nichts anderes auf der Welt als diese Arbeit, unter ihr zu hantieren. So, wie er sich völlig konzentriert dem Motor widmete, alle Geräusche um sich herum vergessend, nach dem Motto: wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich gehe, gehe ich, wenn ich trinke, trinke ich und wenn ich repariere, repariere ich, erinnerten seine Bewegungen an Qi Gong-Übungen.

In regelmäßigen Abständen tauchte sein verquollenes, großporiges Gesicht mit der auffallenden Nase wieder auf, als müsste er nach bestimmter Art frische Luft schnappen.

„Was glauben Sie, guter Mann, wird es wieder werden?“

Keine Antwort. Immerhin, der Qualm hatte nachgelassen. So überließen wir ihn seiner Bestimmung.

Nach beruhigend langer Zeit kroch der Mann mit der vernarbten Nase unter der Motorhaube wieder hervor.

„Sie wollen wissen, was diese Absperrungen bedeuten, junger Mann?“

„Ja!“

„Sie werden es nicht glauben: Morgen wird hier eine Fliegerbombe, ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft. Alle in der Umgebung sind evakuiert.“

„Nach über 50 Jahren gibt es noch gefährliche Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg? Ich kann es nicht glauben.“

„Wo wollen Sie hin? Habe ich richtig gehört?“, wechselte der Alte das Thema.

„Ans Meer!“

„Mit dem hier? Und ohne Lotsen?“ Er zeigte ungläubig auf den Wagen. Dabei fingerte er ein kleines Fläschchen aus einer seiner Taschen hervor, als würde das seine Situation verbessern.

„Ja! Ans Meer!“

Diese Auskunft traf ihn.

„Wollen Sie etwa auch etwas entschärfen?“, murmelte ich mit einem Anflug von hämischen Lachen in mich hinein. Seine Qi Gong-Bewegungen gerieten für einen Moment ins Stocken.

„Na dann“, sagte er und verschwand wieder in seiner sicheren, schützenden Höhle unter der Motorhaube.

„Der Wagen ist, wie mir scheint, in erfahrenen Händen“, meinte Rafael.

Nach einer Weile tauchte der Unheimliche unter der Motorhaube wieder hervor.

„So, das wär’s.“ Er schaute uns beiden so merkwürdig in die Augen, als wüsste er bereits von dem Geheimnis und von dem was auf uns zukommen würde. War das ein Blick in unsere Zukunft?

„Es ist gefährlich, nach mehr als 50 Jahren eine Bombe zu entschärfen, die vergessen tief in der Erde lag. Sie hat darauf gewartet, vergessen zu werden, nur umso heftiger explodieren zu können“, kicherte der Alte. „Blindgänger werden mit den Jahren noch gefährlicher. Je vergessener, desto gefährlicher! Man hat ja alles schon vergessen. Aber die Bombe hat nichts verloren von ihrer Gefährlichkeit.“

Er wischte sich das Motoröl von den Händen.

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen. Ja, ja, bis zur nächsten Stadt, diese paar Kilometer, werdet ihr wohl kommen. Na dann, gute Fahrt!“

Er sagte es so, als wäre er tatsächlich der Fährmann, der uns ans geheimnisvolle, verbotene andere Ufer bringen würde.

„Ja, ja, es ist gefährlich, eine vergessene Bombe …“, hörten wir ihn noch vor sich hin murmeln. „Tretminen als Gruß aus der Vergangenheit“, wandte er sich noch einmal kichernd um und verschwand.

Wir machten uns auf den Weg, froh und ungläubig staunend zugleich über jeden zurückgelegten Kilometer ohne Komplikationen. Die letzten Sätze des Alten blieben zäh in unseren Köpfen haften: „Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen …“

Es war, als würden wir ins nebelumhangene dunkle Niemandsland fahren, ohne Lotsen und Leuchtturm, als würde der geheimnisvolle Alte uns nachschauen. Diesen langen, stummen Blick, der wohl sagen sollte: „Fahrt nur, was geschehen soll, geschieht!“ Wir konnten ihn nicht abschütteln.

Der Motor nagelte immer noch, aber beruhigend beständig. Die Temperatur blieb konstant. All unsere Sinne waren aufs Äußerste angespannt, wir nahmen jedes kleinste Geräusch, ja sogar die nicht vorhandene Unregelmäßigkeit wahr, aber wir waren merkwürdig zuversichtlich.

Und doch: Wann würden wir abstürzen, der Motor aufhören zu nageln, der Qualm wieder aufsteigen?

Wir fuhren zum größten Teil schweigend, Rafael jetzt am Steuer. Nur hin und wieder wies ich ihn auf bestimmte Orte hin, die sich mir so oder so eingeprägt hatten.

Rafaels empfindsame Art und Weise, liebevoll den Wagen durch das Abenteuer der Ungewissheit zu steuern, war wohltuend, ähnlich dem ruhigen Fließen eines breiten Stroms, der ohne Ehrgeiz und unbeirrbar in seinem Bett dahin zieht, sich geduldig allen Hindernissen anpassend und sicher, dass er sein Meer erreichen wird.

„Es ist merkwürdig“, sinnierte Rafael nach den ersten 150 Kilometern vor sich hin. „Ich weiß sehr wenig über dich! Dass du ein großer Spieler bist zum Beispiel.“

„Was weißt du über mich?“

„Das meiste aus Zeitungen, von Überschriften über einen großen Mann.“

Er schwieg, wie es seine Art war, lange zu schweigen. Die Straße rollte unter uns weg. Landschaften kamen uns entgegen, blieben kaum wahrgenommen zurück.

„Nicht, dass ich dich nicht mochte“, nahm er das Gespräch behutsam wieder auf. „Im Gegenteil. Ich muss dich sehr geliebt haben, damals, als ich noch jung war und dich noch kannte.“

Wieder machte er eine Pause, deren Länge genau auf die darauffolgende Selbstbefragung bemessen war, ihr ein besonderes Gewicht gebend.

„Wieso hätte ich dich denn nicht mögen sollen?“

Ich schwieg und war betroffen. Welches Abenteuer kam da auf mich zu? In welchen Strudel geriet ich da?

„Nicht, dass ich dich nicht mochte? Aber …?“

„Was konnte diese Frage bedeuten?“, grübelte ich. Da schwang doch ein beunruhigendes „aber“ nach, blieb zwischen uns hängen!

Rafael ließ für einen Moment die Straße aus den Augen, blickte mich an, schmunzelte verlegen.

„Aber komisch war das schon mit dir!“

Ich, der so plötzlich und unerwartet mit sich selbst Konfrontierte, der Betroffene hatte keine Wahl. Vielleicht gab es ein Bild von mir, das ich noch nie gesehen hatte. Längst vergessen geglaubte Ereignisse, von der Zeit und dem Alltag verschüttet, die jetzt an die Oberfläche stiegen. In die eigene Vergangenheit zurückgehen, ist gefährlich, dachte ich. Wer war der Betroffene, ich oder Rafael, der sich endlich äußerte?

„Es war nicht leicht mit mir, Rafael, sagst du? Erzähl!“, drängte ich.

Fern am Horizont tauchte zu unserer Linken, in zartes rötlichsilbermattes Dämmerlicht gehüllt, die grandiose Silhouette des Stift Melk auf, eine dramatische Etappe in meinem damals noch jungem Leben.

Ohne Rafael darauf hinzuweisen, tastete ich mich behutsam weiter.

„Was war nicht leicht mit mir?“

„Also gut, wie du willst! Einmal nahmst du mich auf eine Reise mit, eine Tournee“, begann Rafael langsam zu erzählen und legte dabei wieder eine dieser spannungsgeladenen höchst wirkungsvollen Pausen ein.

„Ich war mächtig stolz auf dich, bestimmt! Als wir im Auto auf der Autobahn fuhren und ich allmählich anfing, zu gähnen, drehtest du mir den Sitz runter, damit ich etwas schlafen konnte. Dann stellte ich mich auch schlafend, aber ich konnte um nichts in der Welt auch nur ein Auge schließen. In Gedanken, unter meiner Jacke, glaubte ich, zu sehen, wie du mich mit einem Schlachtermesser wecktest und mir den Kopf langsam abhacktest. Oft ließest du dir einen Bart wachsen, und wenn dieser schön voll war, rasiertest du ihn wieder ab. Ich muss dich einfach geliebt haben, wie ein Sohn seinen Vater nun einmal liebt. Und außerdem war ich noch zu jung, um dich zu verachten!“

In diesem Augenblick war es gut, sich den Windungen der Donau, die sich durch das romantische Waldviertel ihren Weg bahnte, hingeben zu können, scheinbar schweigend den Schiffen nachzusehen, betroffen und ratlos aus dem Fenster zu schauen in das allmähliche Dunkelwerden hinein. Ja nicht aus der Fassung kommen nach den letzten Worten Rafaels!

„Jetzt, da wir alle getrennt sind, denke ich oft daran, wie es gewesen wäre, wenn ich einen Vater gehabt hätte!“, sinnierte Rafael weiter.

Der Motor nagelte immer noch, nur aufdringlicher, die Nadel des Thermostats war fast bis ins verbotene Rot gestiegen. Oder schien es mir nur so?

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen …“ Da war er wieder, der Fährmann, der irgendwie vergessene Alte, und schaute uns nach.

„Ist das alles, was du über mich weißt, Rafael?“

Orte und Menschen begannen plötzlich wie in einer Geisterbahn an uns vorbei zu huschen. Die Dämmerung saugte sich bereits in Bäumen, Sträuchern, Fensterhöhlen und Nischen fest, machte Worte und Landschaften noch unwirklicher. In dieses Zwielicht hinein hörte ich Rafael sagen:

„Du warst für uns tot.“ Endlich war es heraus. Nach einer dieser langen Pausen fügte er in wirkungsvoller Agogik hinzu: „Inzwischen weiß ich mehr über dich, aber nicht alles! Was ist dein Geheimnis?“

Es hatte mich schon lange gedrängt, alles aufzuschreiben, festzuhalten, nach 55 Jahren Schweigen. Jetzt aber glaubte ich, dass im Erzählen der Ereignisse die größere Chance läge, meinem Sohn das Geschehene mit all den Schrecken und tödlichen Augenblicken, aber auch großartigen Höhepunkten zu erzählen und dadurch von Generation zu Generation lebendig zu erhalten.

„Sag mir: Was war das für ein Dorf, in dem du geboren bist? Und was glaubst du, da zu finden?“, begann Rafael wieder, als hätte er meine Gedanken erraten.

„Ich will nicht, dass die Vergangenheit Macht über mich gewinnt. Aber ich werde dir vom Ort meiner Anfänge, der ersten Stille, des ersten Geräusches, der ersten Freude, der ersten Tränen erzählen:

Es war ein stilles Dorf. Das Lauteste waren die Flüche der Bauern. Ein Auto im Jahr konnte bereits große Unruhe verursachen. Flugzeuge gab es überhaupt nicht am Himmel, dafür später um so mehr mit todbringender Fracht. Die Menschen säten, ließen es wachsen, ernteten und lebten davon. Sonntags stritten sie sich aus Langeweile. Es war ein Dorf so nach deinem Geschmack, glaube ich, das war ein echtes Dorf mit …“

„Mit echten deutschen Schweinen …?“

„Ja, mit deutschen Schweinen. Und alle katholisch, also die Einwohner, alle deutschstämmig! Ja, das war noch ein bäuerliches Leben! Jeder hatte Kühe, Schweine, Pferde. Wir selber hatten Schweine, Gänse, Hühner, Ziegen …“

„Das muss schön gewesen sein für dich als Kind!“

„Einen Garten mit Äpfeln, Birnen, Maulbeerbäumen, einen Weinkeller. Jeden Morgen wurden die Gänse zusammengetrieben am Skalitz-Bach – da haben sich 5000, vielleicht auch mehr Gänse versammelt – das war ein weißes Meer.“

„Ein malerisches Bild! Hast du die Gänse gehütet?“

„Nein“, lachte ich. „Abends sind die Gänse von alleine heim gelaufen oder heim geflogen. Die wussten immer, wohin sie gehörten. Nur eines Abends, ich erinnere mich genau – es gab eine furchtbare Aufregung – waren alle unsere Gänse weg. Sie hatten einfach einen Ausflug gemacht so zehn Kilometer weit weg. Nach acht oder zehn Tagen sind sie wiedergekommen, reumütig, mit hängenden Hälsen, angeführt vom Gänserich – nur, um gestopft, im Herbst geschlachtet und gerupft zu werden. Karriere einer Gans. Aus den Federn wurden Daunen gemacht und dabei Geschichten erzählt.“

„Hattet ihr auch Pferde?“

„Ja. Es gab noch den Hufschmied mit der Esse, dem offenen Feuer, mit dem Blasebalg. Noch heute habe ich den Geruch in der Nase, wie er seine Hufeisen, die feurigen, glühenden, den Pferden anpasste.“

Rafael staunte.

„Für Kinder muss es ideal gewesen sein! Was habt ihr denn gespielt?“

„Im großen Flur, am Eingang, wo wir oft spielten, haben wir uns beispielsweise Papier in die Nase gesteckt, woraufhin ich in Wien ins Spital kam. Dort wurde mir das Trommelfell durchstochen. Die Älteren haben viel Schlagball am Binderplatz gespielt, dem größten Platz der Welt. Er wird wohl jetzt zusammengeschrumpft sein. Bei Gewitter haben wir schön das Wasser gestaut, sonst haben wir im Sand Murmeln gespielt, Eisenreifen geschoben. Es war ja ein sandiges Weingebiet mit vielen Akazienwäldern, das sonnigste Gebiet im Windschatten der Sudeten. Alles, was aus der Gegend von Luxemburg herüberkam, hatte sich vorher ausgeregnet.“

„Es war wohl ein fruchtbares Land?“

„Es war die Kornkammer Böhmen-Mährens. Zu Ostern ratschten wir den himmlischen Gruß und im Sommer haben wir auf dem Feld die Neuner, die Zehner, die Garben gestellt. Im Herbst wurde gedroschen.“

„Habt ihr auch Weinfelder gehabt?“

„Ja, auch die. Wir waren überall und immer dabei. Im Herbst mit dem Kartoffelfeuer, dem Federn-Schleißen. Da wurde der Mais gerebelt, der Kukuruz und die Kürbisse geerntet. Anstatt Fernsehen gab es beim Federlesen Geschichten zu erzählen.“

„Das klingt ja wie in einem Heimatfilm. Eine heile Welt. Wo aber liegt die Ursache des späteren Geschehens? Kannst du mir das sagen?“

Ich tat so, als hätte ich die Frage nicht gehört und fuhr in meiner nostalgischen Erzählung fort.

„Es war aber die Wirklichkeit. Oft denke ich, dass ich mir diesen Platz ausgesucht habe, dieses Stück Erde im Einklang und Rhythmus mit der Natur, in vollkommener Harmonie. Diese Landschaft, übersät mit Sonnenblumen, Akazienwäldern, im Wind klingenden Weizenfelder soweit das Auge reicht. Diese Landschaft, ich und meine Musik, glaube ich, gehören zusammen. Im Grunde bin ich überall fremd geblieben seit der Vertreibung aus diesem Land.“

„Ich kann mir das alles gut vorstellen. Seid ihr barfuß über die Felder gelaufen?“

„Ja, vom Frühling bis zum Spätherbst. Von meinen Großeltern will ich dir auch erzählen. Jeden Tag ging mein Großvater zu seinem Weinkeller, setzte sich unter die Akazien, schnitt das Brot, bestreute es mit Salz und trank seinen Wein. „Dich haben wir noch gebraucht“, schimpfte er damals und versuchte mich, mit seinen Stöcken einzufangen. Und wenn es ihm gelungen war, begann er kopfnickend von Kaiser Franz-Joseph zu erzählen, von ’66, oder von ’70/71, Österreich gegen Preußen, von einem Münchner Abkommen und ’38, dem ‚schlimmen 38er Jahr‘, dem Einmarsch der Deutschen, der ihn überhaupt nicht begeistern konnte. Von alledem verstand ich so gar nichts, sondern fing lieber mit einer Glasscherbe die Sonne ein. Nein, er war auch darum nicht begeistert vom ‚Reich‘, weil für Hitler das Sudetenland ein Vorspiel zum 2. Weltkrieg war“, beharrte ich auf dem Thema.

Rafael schwieg. Dachte er etwa, wie merkwürdig das alles sei?

„Was du mir da alles erzählst von euch und deinem Dorf! Und ich dachte, du seiest in New York oder Luxemburg oder Zürich groß geworden. Jetzt bin ich neugierig. Hattet ihr denn elektrisches Licht?“, fragte er aufgregt.

„Wir hatten sogar Radio, das einzige im Dorf. Das haben wir ins Fenster gestellt und die Bauern haben es draußen gehört. Sie wollten wissen, was um sie herum im Gange ist. Mein Vater hörte Beromünster, den Landessender in der Schweiz oder London mit Beethovens dumpfem Schicksalsmotiv aus seiner 5. Sinfonie. Ich bedaure es jetzt, damals nicht mehr gesehen und wahrgenommen zu haben, ich war noch zu unbeteiligt an allem. Dieses dumpfe ‚Bum-Bum-Bum-Bumm‘ kam mir vor, als würde Rübezahl mit Macht an die Tür klopfen, Einlass begehrend. Wie du weißt, später habe ich dieses Klopfen, dieses Schicksalsmotiv, noch oft in meinen Konzerten mit großen Orchestern wiedergegeben.“

„War das die Stimme der Freiheit in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs?“

„Ja, sozusagen. Es gab Krieg und dadurch wurden auch unsere Spiele anders. Die Größeren rotteten sich zusammen, bekämpften sich und sammelten ‚Ritterkreuz-Träger‘. Ein ‚Rommel‘ gegen zwei ‚Galland‘ oder drei ‚Mölders‘.“

„Wann hast du denn angefangen, Geige zu lernen?“

„Die ersten Bomberpulks kamen bereits zu Hunderten aus Italien, von Nordafrika und luden ihre Fracht ab, dazu donnerten die Tiefflieger über unsere Felder. Das letzte Aufgebot der alten Männer wurde zum ‚Volkssturm‘ und den Übungen an den Panzerfäusten zusammengezogen, als wehrhafte Verteidigung gegen die Untermenschen. Auch Vater. Während alle anderen Schutz in den Kellern suchten, fuhr ich mit dem Fahrrad übers Land zu meinem ersten Geigenunterricht bei einer Nonne. Ich war noch sehr klein und habe fast nichts verstanden, aber die Spannung des ersten Halbtonschritts von der leeren E-Saite zum F bewegte mich und die Dur-Terz, die ich beim Spiel mit der Nonne zum ersten Mal bewusst hörte.“

„Warum bewegte dich das so sehr?“

„Ich weiß es nicht. Es war ein Staunen wie beim ersten Anblick des Meeres, es war die Welt für mich.“

Inzwischen hatten wir uns Wien genähert. Es war Nacht geworden und höchste Zeit, Quartier zu machen. Der Motor hatte standgehalten und wir waren inzwischen an sein Nageln gewöhnt.

„‚Mayerling‘, dies ist der Ort, wo der Thronfolger Österreichs, Kronprinz Rudolf seine Geliebte Mary Vetsera tötete und dann selbst sein Leben beendete. Lass uns hier nächtigen.“

„Wie bist du geworden, was du bist? Warum wolltest du Geige spielen?“, war Rafaels letzte Frage an diesem Tag.

„Ich weiß es nicht. Warum malst du und schreibst?“

Pastellfarben-silbrig lag die tiefe Ebene vor uns und dehnte sich in sanfter Melancholie in den erwachenden frischen Morgen hinein. Ein flageolettartiger Klang zwischen Dur und Moll lag in einem südlich milden Sonnenlicht über der Weite. Wer es wollte, konnte mit dem Intervall der fallenden Quarten das hohe langgezogene Flageollet der Geigen am Anfang von Gustav Mahlers 1. Symphonie und die fernen Trompeten aus den Kasernen von Leitmeritz hören – als seien es Signale einer unheilvollen Zukunft. Eine seltsam still-klingende Farbe vibrierte unerklärlich erotisierend in der Luft.

„Es ist, als wären wir bei van Gogh in Arles, bei den Sonnenblumen“, meinte Rafael. „Dieses verrückt gelb mild strahlende Licht, mein Gott, ein Zustand, keine Aktion, was für eine Landschaft! Was für eine Sonne! Hier würde ich gerne meine Bilder malen.“

„Du sprichst als Maler – ich höre den Klang der Gräser, den Gesang der Blumen, Halme, den Sound des Lichts in dieser Landschaft. Es ist für mich eine Vielfalt von Stimmen, die in einer gewaltigen Polyphonie zusammen erklingen. Aber spürst du nicht? Wir nähern uns dem Meer!“

„Ja, es wird immer flacher, heller, gelber. Es verschwimmt alles in nicht messbarem Licht. Meinst du das mit dem Meer?“

„Es ist die Heimkehr, Rafael! Wir alle liegen am Meer! Irgendwann kehrt jeder zurück zum Holunderbaum seiner Kindheit, zu seinem Klang.“

Nach einer Weile fügte ich hinzu: „Willst du mit mir auf den Grund des Meeres gehen, Rafael? Muscheln suchen und Perlen fischen?

„Ja, Vater!“

Langsam fuhren wir die weizengelbe Ebene hinab in die Unendlichkeit der mährischen Tiefebene, in das Labyrinth meiner Vergangenheit. Lag hier die Ursache der späteren Katastrophe?

„Die Akazien, Rafael, schau doch nur, die Akazien!“

Dabei hätten wir es beinahe übersehen, das verwitterte, vermoderte Holzschild auf einem maroden Pfahl. Es wies von der schottrigen Hauptstraße altersschwach, verschämt verlassen in einen kleinen Feldweg hinein, hinunter in den Grund. Da stand es, kaum leserlich, unfassbar: OLKOWITZ. Es war in fremder Sprache geschrieben.

Es gibt wenige solcher Augenblicke im Leben, in denen alles still zu stehen scheint.

55 Jahre einmal Olkowitz – New York – und zurück! Ein Weg mit tausend Namen, Blumen und Blut.

Da begannen für mich die Lerchen zu singen, hoch über den Feldern. In das Singen mischte sich der Klang der böhmischen Musikanten, der Schmelz der Zigeunergeigen und Zimbals, der wundersam klagende Wechsel von Dur und Moll der Kindertotenlieder von Gustav Mahler, die klirrenden, quietschenden Klarinetten und betrunkenen Trompeten der Bauernhochzeiten, das Lied vom fahrenden Gesellen und der „Winterreise“: „Fremd bin ich ausgezogen, fremd zieh ich wieder ein.“

„Die Akazien, siehst du, hörst du die Akazien mit ihren weißen Blütenkerzen, wie sie heute Nacht aufgegangen sind, Rafael? Du wirst mein Geheimnis erfahren. Es ist Zeit!“

„Nein! Es ist gut, ein Geheimnis zu haben. Aber ich möchte mehr wissen, damit ich besser sehen kann!“

Von diesem Zeitpunkt an schwieg Rafael.

3

Behutsam, als würden wir absinken in lang Vergessenes, näherten wir uns dem Dorf unten auf dem Grund. Der Motor schnurrte nur noch wie eine zufriedene Katze, aber die Sandkörner auf dem Weg schienen einzeln zu explodieren. Allmählich, im Diminuendo wichen die Akazien mit ihren weißen Blütenkerzen links und rechts respektvoll zurück, als hätten sie sich auf diesen Empfang lange vorbereitet. Vorsichtig wie Archäologen, die gerade im Begriff sind, einen Jahrtausende alten, unberührten Schatz zu heben, glitten wir den Sandweg hinab auf den Grund. Erste Häuser tauchten auf, grau, leblos, tot.

Die lange Brunnsuttenstraße hinunter zum Glockenturm an der Kreuzung lag wie eine Schlange vor uns, eingerahmt von Häusern nach Art der Straßendörfer, dicht aneinandergedrängt nebeneinander, ihre Fronten der einzigen Straße zugewandt, mit dahinterliegenden Wirtschaftsgebäuden, Scheuern, Gärten und Feldern.

Sollte ich mich an diese trostlose Straße erinnern, auf der damals Panzer siegessicher nach Osten zogen und einige Zeit später ganz andere Panzer siegreich heranrollten? Wie viele Völkerschaften mochten bereits diesen Weg gegangen sein, hin und zurück? Um 1250 herum, das hatte ich gelernt, sollen sie von Westen hergekommen sein, um in dieser Gegend sesshaft zu werden, denn es ist belegt, dass dieser Ort schon im Jahre 1192 eine Pfarre war. Die frühe Besiedlung ging der späteren Katastrophe von Unrecht und Vertreibung voraus.

Immer wieder rücksichtslose Wechsel nationaler Machtansprüche, plündernde, brandstiftende Hunnen, Kelten, römische Legionen, Slawen, kaiserliche Truppen und ungarisches Kriegsvolk prägten diesen Landstrich, zerstörten und befruchteten es gleichzeitig.

Mit diesen Gedanken beschäftigt erreichten wir den Glockenturm, bogen scharf links in die Moßkowitzer Straße ein, gelangten zum Markplatz, dem Binderplatz, und ließen die Räder ausrollen. Der Wagen blieb mitten auf dem größten Platz der Welt einfach stehen. Aus. Stille.

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen“, hatte der Unheimliche von der Tankstelle gesagt. Wir aber waren am Ziel angekommen.

Es war später Vormittag und strahlender Sonnenschein. Nichts bewegte sich um uns herum, das Dorf schien verlassen worden zu sein, wirkte wie ausgestorben. Aber wir hatten das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, misstrauisch, ängstlich, hinter zugezogenen Gardinen und mit gespitzten Ohren.

Mein „größter Platz der Welt“, in der Form eines unregelmäßigen Vierecks, als Marktplatz das lebhafteste Zentrum meiner Kindheit, Ursprung all meiner grundlegenden, prägenden Kindheitserlebnisse, war geschrumpft auf 15 mal 15 m und lag ohne Leben vor uns.

Erinnerungen an langhalsige Gänse und zweispännige Leiterwagen mit starken Rössern, an das Hüh und Hott von pfeifenrauchenden Bauern auf dem Kutschbock, ihr Peitschen in der Luft, an Kühe und Ochsenfuhrwerke mit ihrer Last, an das Aroma der Maulbeerbäume und an hochfliegende Schwalben wurden in mir lebendig.

Nichts davon regte sich jetzt.

Nur aus dem Schulgebäude kam, als wäre ich es selbst, ein etwa siebenjähriger Knabe, schaute kurz zum Lindenbaum hinauf – was suchte er da wohl? – lief dann verträumt, verspielt über die Straße zum Feuerwehrdepot hinüber, dann zur Milchgenossenschaft daneben, hinauf zum Kirchberg, dem abenteuerlichsten Hügel der Welt von mindestens zehn Meter Höhe, auf dem sich die altgotische Kirche von anno 1220, das massive, schlossähnliche Pfarrhaus von 1776 und der schon annähernd 700 Jahre alte, ummauerte Friedhof mit romanischem Beinhaus befanden. Hier, auf dem höchsten Berg der ganzen Gegend, setzten wir uns nieder und schauten auf den uns gegenüberliegenden Akazienhügel mit der darunterliegenden Mühle, dem letzten Gebäude vor den beginnenden Weinkellern, auf das Haus Nr. 94.

Ich hatte den Weg des Knaben mit heftigster Anteilnahme verfolgt, und auch meine Blicke blieben an der Mühle haften. Mir war, als sei ich es selbst, der gerade aus der Schule käme, hätte sehnsüchtig zum Lindenbaum hinaufgeschaut nach meiner ersten Uhr, die Frau Lehrerin vor Zorn aus dem Fenster geworfen hatte mit den Worten: „Du träumst schon wieder, Alois. Damit ist jetzt Schluss!“ Die Uhr, mein kostbarster Besitz, war für ewig im Duft des Lindenbaum hängen geblieben. Eine solche Uhr hatte ich nie wieder bekommen!

„Lass uns zur Mühle hinübergehen“, unterbrach ich das Schweigen.

Der Weg über den Platz war im Zeitraffer von 55 Jahren die Überquerung bis zu jener Tür, durch die ich zuletzt als Neunjähriger gegangen war, ehe wir vertrieben wurden.

Hatte ich mir diesen geschichtsträchtigen, von vielen Völkern und Kulturen befruchteten Ort zwischen Ost und West ausgesucht, um hier geboren zu werden, um mich zu dem, was ich geworden war, entfalten zu können? War der sich verströmende Geruch dieser Erde in mein Musizieren eingeflossen und so die Faszination der Menschen zu erklären? Zu lange hatte ich gebraucht, um zum Grund des Meeres, von dem ich aufgetaucht war, zurückzufinden! In diesem Haus war ich geboren, hier erlebte ich meine Kindheit zwischen Mehlsäcken, dem Geräusch der mahlenden Mühlsteine, Akazienblüten und meinen drei Ziegen, die ich auf dem Kirchberg täglich hütete, zusammen mit einem Freund, den ich nie mehr wieder sah und dennoch nicht vergessen konnte.

Wir waren vor dem Haus stehengeblieben. Ich zögerte, an diese Tür zu klopfen. Sollte ich es überhaupt tun? Wer war hinter dieser Tür? Die Gardinen hatten sich schon länger bewegt.

Ich klopfte an. Das ganze Dorf schien es zu hören. Welche Ungeheuerlichkeit war da im Gange? Es tat sich nichts. Dann hörte ich schlürfende Schritte. Die Tür öffnete sich. Eine missmutige Alte mit ängstlichem Ausdruck und geduckter Haltung stand vor uns.

„Einen schönen guten Tag, ich komme aus …“, sagte ich. Weiter kam ich nicht. Die Alte schaute mich ungläubig an. Das auch für sie Unfassbare und doch zu lang Erwartete, Befürchtete, Unvermeidliche war nach 55 Jahren eingetreten. Als käme sie aus einem langen quälenden Alptraum, zeigte sie fassungslos mit ihrer Rechten auf den Boden, hielt inne, schaute mich an und deutete zweifelnd die Größe eines etwa neunjährigen Knaben an. Dann fragte sie zögernd: „Bist du der kleine Alois?“

Ich aber schaute über sie hinweg in den gekachelten, langen Flur und sah mich auf dem Flurboden spielen, draußen im geräumigen Hof herumtollen, hinübergehen zum Schweinestall mit meinen drei Schweinen und erinnerte mich an den beißenden Geruch. Nichts hatte sich verändert: der geschlossene Innenhof, vorne das Wohnhaus, auf der Rückseite die Ställe, mitten im Hof der Brunnen und hinten in die Ecke gedrückt, das Plumpsklo, und der Weg zur Küche und direkt in die Mühle.

Hier, in diese Küche trat ich nun ein. Die Alte machte mir fast untertänig, heuchlerisch Platz.

„Alles ist geblieben, wie es früher war …“, beeilte sich Maria, die Alte, ohne Aufforderung zu erklären. „Alles! Sogar dieselben Möbel stehen noch am gleichen Platz – wie damals! Hier, siehst du, die Kredenz, den Ofen mit den Ringen!“

Wie in Trance streiften meine Blicke durch den Raum. Meine Kindheit kam langsam auf mich zu, wurde gegenwärtig. Die dramatischen Ereignisse kurz vor der Vertreibung.

„Wir mussten alles bezahlen, alles hier“, redete die Alte auf mich ein. „An den Staat, an diesen Staat!“ Sie meinte damit wohl, dass sie die Mühle, den Garten, die Felder nicht geraubt hätten, sondern erworben durch harte Arbeit und eigenes Geld.

Ein weißhaariger Alter, Marias Mann, kam vom Hof her in den Flur. Wir sahen uns an, abtastend. Dieses hasserfüllte Gesicht, jetzt faltig und zermürbt, hatte ich schon einmal über mir gesehen, ja, die Mordlust und der stumme Schrei in diesen Augen – „Kreuzigt sie!“

Je länger ich die beiden Ergrauten ansah, desto deutlicher trat die Erinnerung hervor. Waren es nicht dieselben Menschen, inzwischen voller Angst gealtert, von denen meine Familie aus der Mühle in den hintersten Schweinestall zu den Schweinen gesperrt wurde, in den Kot der Schweine, während sie vorne als Herren lachend einzogen?

„Wir sind bettelarm, Alois, schau dich um! So ist es uns ergangen. Inzwischen sind wir alt und schwach“, jammerte der Weißhaarige.

„Unsere Rente reicht nicht einmal für das Grab.“ Und er fügte hinzu: „Wir mussten dem Staat alles bezahlen. Und ihr – ihr seid reich!“

Maria, die Alte, seine Frau, nickte. Sie stand an demselben Herd wie meine Mutter damals, schob ein Holzscheit in die Glut und rückte die Ringe auf der Herdplatte zurecht. Betroffen bemerkte ich, wie sich ihr Bild in mir veränderte und das besorgte Gesicht meiner Mutter auftauchte. Sie bot mir den Platz an, auf dem ich mit meinem größeren Bruder Hubert um die besten Happen auf dem Tisch gekämpft hatte – wie so oft in den glücklichen ahnungslosen Tagen meiner Kindheit zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 und dem daraus folgenden lang anhaltenden Trauma der Vertreibung aus Olkowitz und Südmähren am 18. August 1945.

„Setz dich, Alois. Und wie du wieder ausschaust. Warst wieder auf den Feldern mit deinem Freund Ludwig. Und immer barfuß. Weißt du überhaupt, wie Schuhe aussehen? Vater wird bald aus der Mühle kommen. Vorher gehst du dich aber waschen.“

„Mutter, ich habe keinen Hunger.“

„Weil du immer Germ isst und Akazienblüten mit all dem Ungeziefer drin!“

Ja, ich schaute mich um und erinnerte mich an den Duft der Mehlsäcke, spürte die Wärme des frisch gemahlenen Mehls, hörte das Geräusch der mahlenden Mühlsteine und jenes aus den Schwalbennestern in den Dachrinnen, lauschte dem Gurren der Tauben im Hof, schmeckte auf der Zunge die süßen weißen Blüten der Akazienbäume, die ich beim Ziegenhüten vom Stengel saugte und als Köstlichkeit genossen hatte. Ich erinnerte mich der Marillenbäume, an Ribisel und Erdäpfel im Garten, an die Kopftücher der Frauen und das sonntägliche Vor-dem-Haus-Sitzen und das Nachbarn-Grüßen, denn man zog den Hut vor allem, was sich vorbei bewegte. Ja, ich schaute aufmerksam um mich.

Hier, in der Küche, der Keimzelle meiner Träumereien, Phantasien und Sehnsüchte, saß ich, als wäre keine Zeit vergangen, am Tisch meiner Kindheit, sah, wie mein Vater aus der Mühle kam, die mit bunten Bändern geschmückte geheimnisvolle Geige von der Wand nahm und mit klobigen Fingern und verklärten Augen anfing, darauf zu spielen: Josef Lanner, Johann Strauß, den Schlittschuhläufer. Damals ergriff mich dasselbe Staunen, das ich zum ersten Mal spürte, als ich vierjährig an der Hand meiner Mutter hinüber zum Kirchberg ging und die betäubenden, alles bewegenden Klänge in der Kirche hörte. Verwirrt und hingerissen von dem überwältigenden Klang hatte ich mich nach diesem Brausen umgedreht. Es war mein erster Rausch! Meine Seele hatte begonnen, zu schwingen. Prompt hatte ich die Quittung dafür bekommen: eine Ohrfeige vom Herrn Pfarrer, dem Dechanten des Dorfes.

„Schönheit ist des Teufels, mein Junge!“, hatte der Pfarrer mit gerunzelter Stirn und erhobenem Zeigefinger gesagt. „Da vorne spielt sich die Hauptsache ab, nicht da oben. Schreibe dir das hinter die Ohren, Amen!“

War das der Anstoß alles Kommenden, der Katastrophe, die mich ereilen sollte?

„Da vorne spielt sich die Hauptsache ab, nicht da oben!“

Die geheimnisvolle Geige

„Schönheit ist des Teufels. Siehe den für uns Gekreuzigten da vorne. Schreibe dir das hinter die Ohren – Amen – Amen – Amen!“

Der männliche tiefe Klang der Bass-Stimme des Dechanten hatte Ähnlichkeit mit dem mächtigen Brausen der Orgel. Das von allen Seiten darauf antwortende, weich reagierende Echo dieser Worte füllte in versöhnender Wiederholung den Kirchenraum, türmte und wölbte sich für mich wie eine anschmiegsame Welle über das Kirchengestühl an Bildern und Statuen entlang hinauf zur Orgel, senkte sich wieder herab hin zum Altar, da, wo es in Stille im Tabernakel zu verschwinden angekommen schien, da, wo die eigentliche Musik spielt.

Nicht nur meine Seele, mein ganzer Körper hatte zu schwingen begonnen und, als ich längst schon mit meiner Mutter über den Kirchhof gegangen war, schwang es in mir weiter.

Es war jener Urklang, der mich nicht mehr los ließ.

Von diesem Augenblick an machte ich mich auf den Weg nach dem Ursprung des Klangs und der Schönheit, ins Labyrinth der Sehnsucht und des Unfassbaren.

Die Musik hatte begonnen, mich zu machen, bevor ich Musik machte.

Jahrzehnte sollten vergehen, bis ein leibhaftiger Engel und Bote der Schönheit mir die einfache Frage stellte: „Glaubst du?“, und ich darauf die falsche Antwort gab.

Einige Zeit später wurde die alte Orgel mit Manual, Pedal und zehn Registern aus dem Jahre 1780 von einem Blitz getroffen und völlig zerstört. Zur Anschaffung einer neuen Orgel war es nicht mehr gekommen. Hatte sie zu schön geklungen?

Nach diesem einschneidenden Erlebnis der rauschenden Orgel und der strafenden Worte des Dechanten hatte sich mein Alltag verändert. Der sorgenvolle Dialog zwischen Vater und Mutter wird sich daraufhin öfter sicher so angehört haben: