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"Und sie lachten" – eine Novelle über das Zerbrechen und das Trotzdem Die Novelle "Und sie lachten" erzählt nicht bloß eine Geschichte, sie reißt eine Wunde auf. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das früh lernt, dass Schweigen sicherer ist als Vertrauen, dass Unsichtbarkeit manchmal das einzige Überlebensmittel ist. In einem System aus emotionaler Verwahrlosung, sozialer Kälte und permanenter Grenzüberschreitung verliert die Erzählerin Stück für Stück den Bezug zu sich selbst. Was als kindlicher Rückzug beginnt, verwandelt sich in eine stille Implosion: Die Ich-Stimme bricht auf, nicht nur in der Sprache, sondern im Selbst. Die Erzählstimme, anfangs klar und identifizierbar, beginnt zu flackern. Sprachlich, psychologisch, existenziell. Der Text vollzieht den Übergang von sozialer Unsichtbarkeit hin zur inneren Spaltung. Und dort, in den Rissen der Identität, taucht eine zweite Stimme auf. Eine andere. Eine, die schreibt, wenn die Erzählerin nicht mehr kann. Die Entscheidungen trifft, wenn das Ich am Boden liegt. Eine Stimme, die keine Einbildung ist, sondern Widerstand gegen Ohnmacht, gegen Stille, gegen das Verschwinden. Was folgt, ist keine klassische Krankheitsgeschichte. Es ist eine literarische Annäherung an das Unfassbare: eine akute psychotische Episode, erzählt aus der Innenwelt einer Figur, die nicht mehr sicher ist, wer sie ist. Der Text romantisiert nicht, dramatisiert nicht. Er zeigt. Roh. Nah. Echt. Und genau darin liegt seine Stärke. Die Symptome: Stimmen, Schreibzwang, Erinnerungslücken, Realitätsverschiebung, werden nicht pathologisiert, sondern eingeordnet in einen größeren Kontext: Trauma, Identitätsverlust, Selbstrettung durch innere Aufspaltung. "Und sie lachten" ist ein vielschichtiger Text über das Aufbrechen des Selbstbildes und den Versuch, sich selbst neu zu schreiben.
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Seitenzahl: 53
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jessica Krämer
„Und sie lachten“
Jessica Krämer
„Und sie lachten“
Dissoziation und Psychose im
narrativen Selbstbild
psychologische Langzeitnarrative
Text: © 2025 Jessica Krämer
Umschlaggestaltung: © 2025 Jessica Krämer
Verlag:
Jessica Krämer
Bexbacherstraße 85
66540 Neunkirchen
info(at)alchknd.de
www.alchknd.de
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH,
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
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Kapitel 1
Ich kann nicht mehr sagen, wann genau ich damit aufgehört habe, ehrlich zu sein. Vielleicht war es irgendwo zwischen dem dritten „Alles gut bei dir?“ und der vierten Antwort, die sich wie ein Pflaster über einen blutenden Mund legte. Oder schon viel früher. Vielleicht war ich nie wirklich ehrlich, zumindest nicht auf die Art, wie man es von Kindern erwartet, sanft, gefiltert, anständig. Ich war eher das, was man lieber nicht zu lange an-schaut, weil es etwas in einem berührt, das man besser weg-sperrt. Etwas, das stört. Das kratzt. Das schmutzig macht. Früher nannten sie mich „komisch“. Später dann „krank“. Und irgend-wann sagte einer dieser Pädagogen einfach nur, ich sei „still“. Als wäre das mein Zustand. Mein Defekt. Wenn ich gesprochen habe, war es zu viel. Wenn ich geschwiegen habe, war es zu wenig. Ich passte nie in die Formulare. Nie in ihre Raster. Ich war wie ein Strich durch ein aufgeräumtes Bild. Ich habe früh gelernt, dass Blicke töten können, nicht wie im Kino, nicht mit Explosionen, geballten Fäusten oder dramatischer Musik. Es war subtiler. Wie Schimmel, der langsam in die Ritzen eines zu oft übersehenen Badezimmers zieht. Wie das Wort „auffällig“, wenn es leise und dennoch messerscharf im Raum steht, ausge-sprochen von einer Lehrerin, die glaubt, sie hätte mich durch-schaut. Ich war nicht laut. Ich war keine dieser Klassenclowns, die sich mit Witzen Luft verschafft haben. Ich habe nicht ge-brüllt, nicht getrotzt, nicht gestört. Ich war einfach nur da.Un-spektakulär. Wie ein Stuhl, den niemand braucht, aber auch kei-ner wegräumt. Ich war da, weil ich da sein musste. Und trotz-dem, oder gerade deshalb, war ich falsch. Falsch, weil ich zu leise war, um als normal zu gelten. Zu ruhig, um nicht aufzufal-len. Und so wurde selbst meine Stille ein Makel. Ein Schatten, den man nicht benennen kann, aber spürt. Etwas, das bleibt, auch wenn der Raum längst leer ist.
Grundschule. Vierte Klasse. Der Geruch von alten Turnbeuteln, matschigen Frühstücksbananen und irgendwo eingeschmolze-nem Wachsmalstift klebt schwer in der Luft. Wie eine Decke, die nie gewaschen wird, sondern einfach über allem liegt. Es klingt wie ein Klischee, ich weiß, aber genau so war es. Außer an den Tagen, an denen unser Religionslehrer, Herr Ludes, wie-der einmal viel zu großzügig mit diesem scharf stechenden Män-nerparfum umgegangen war, das so penetrant nach Rasierwasser und Verdrängung roch, dass man meinen konnte, er hätte sich darin gebadet, um etwas anderes loszuwerden als nur den Schweiß eines anstrengenden Schultages. Es ist warm im Klas-senraum, unangenehm warm, diese träge, stehende Hitze, die sich auf Haut und Gedanken legt, aber niemand macht das Fens-ter auf. Vielleicht weil draußen auf dem Schulhof einige Kinder Fangen spielen und ihr Lachen irgendwie zu lebendig klingt, als würde man daran erinnert werden, was einem fehlt, wenn man zuhört. Drinnen, in dieser schwer atmenden Klasse, sitzt Lena schräg vor mir und malt eine Sonne mit zwei Gesichtern, eines lacht, das andere weint, aber ich frage nicht warum. Ich frage nie etwas. Fragen sind gefährlich. Sie machen verletzlich. Sie lassen dich in Räume eintreten, aus denen man nur schwer ohne Krat-zer wieder zurückkommt.Ich sitze in der dritten Reihe am Fens-ter, ein Platz, der mir Sicherheit gibt, weil ich hinaussehen kann, ohne gesehen zu werden. Alle nennen mich Jessi, in der Hoff-nung, damit etwas in mir zu erreichen, dass sie verstehen kön-nen. Okay, alle außer Frau Keller, die sagt immer Jessica, in ei-nem Tonfall, als würde sie sich jedes Mal dabei die Zunge ver-brennen. Ich bin gut in Deutsch, weil ich zwischen Buchstaben verschwinden kann, und schlecht in Mathe, weil Zahlen sich weigern, mir zuzuhören. Ich bin auch katastrophal in allem, was mit Pausenhof, Gruppenarbeit oder echten Gesprächen zu tun hat. In der ersten Klasse hatte ich noch diesen kindlichen Wunsch, dazuzugehören. Ich habe gelacht wie sie, geübt im Spiegel, und dieselben diddl-sachen gesammelt. Ich habe meine Mutter so lange genervt, bis sie mir diddl-Zeug in Massen kaufte. Ich hatte diddl-Schuhe, diddl-Blätter, sogar ein diddl-Mäppchen mit glänzenden Herzen drauf, die sich beim Darüber-streichen warm anfühlten. Aber es war falsch. Es fühlte sich an, als würde ich mich in ein Kostüm zwängen, das auf jemand an-deren zugeschnitten war. Es hat aber alles nichts gebracht. Ich war trotzdem immer noch „die Komische“. Die mit dem Blick, der nicht gerade genug war.