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Stillstand? Routine? Langeweile? Viele kennen das. Man tritt auf der Stelle, ist unzufrieden, sehnt sich nach Veränderung. Wenn es dann aber an die Umsetzung der eigenen Träume geht, macht sich ein unangenehmes Gefühl breit: Angst! In 5 konkreten Schritten beschreibt Emanuel Koch, wie es gelingt, die Energie der eigenen Ängste anzuzapfen, um endlich sein unerfülltes Leben abzustreifen und dem eigenen Lebenstraum eine Chance zu geben. Er inspiriert die Leser, sich selbst aus der Reserve zu locken und von der Angst ins Handeln zu kommen. Denn wo die größte Angst lauert, lockt immer auch die größte Chance.
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Seitenzahl: 254
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Emanuel Koch
Und täglich grüßt dein Lebenstraum
Mutig handeln und das Unmögliche schaffen
Patmos Verlag
Prolog: Walking on the Moon
Kapitel 1: Frau Kerner und die Spreewaldgurken
Wenn Sie aufwachen – und es ist gestern
Kapitel 2:Chancenfänger
Wer für den Stillstand verantwortlich ist
Kapitel 3: Im Tresor
Was nicht spruchreif ist, wird es auch nie werden
Kapitel 4: Verschossener Elfmeter
Was hinter dem Zögern steckt
Kapitel 5: Zementfüße
Wenn die letzte Chance auf Besserung verschwindet
Kapitel 6: Das Mädchen auf dem 5-Meter-Turm
Warum Ihre größte Angst auch Ihre größte Chance ist
Kapitel 7: Umkleide
Wie die Angst hilft, Ihre Absprungstelle zu finden
Kapitel 8: Parabelflug
So fassen Sie Mut und nehmen Anlauf
Kapitel 9: Countdown
So geben Sie sich den letzten Kick
Kapitel 10: Felix
Das Unmögliche erreichen
Epilog: Heb ja nicht ab!
Jedes Mal, wenn ich ihn höre, erinnert mich der Hit von The Police an die Mondlandung. An die gigantischen Schritte von Neil Armstrong, als er am 21. Juli 1969 den Mond betreten hat.
Was für eine verrückte Idee, beim damaligen Stand der Technik einen Menschen auf den Mond fliegen zu lassen! Anfang der 60er-Jahre gab es keine Mikrochips, ja, es gab nicht einmal richtige Computer! Vermutlich hat heute ein ganz normales Telefon mehr Schaltkreise als all die damaligen Geräte zusammen. Selbst die berühmten Apollo-Kapseln sind aus heutiger Sicht nichts anderes als aufgepeppte Kühlschränke.
Und mit diesen Maschinen verpflichtet sich Kennedy 1961 vor dem ganzen amerikanischen Volk, noch im selben Jahrzehnt einen Menschen zum Mond zu schicken. Wahnsinn!
Das war wirklich ein Giant Step!
Wenn ich mir die historischen Fakten vor Augen halte und dabei Stings Lied lausche, verstehe ich sehr wohl, warum er singt:
I hope my legs don’t break
Walkin’ on the moon
Das Vorhaben war nicht groß. Es war größenwahnsinnig. Und die Gefahr zu scheitern war nach damaligem Erfahrungsstand deutlich größer als die Chance des Gelingens. Aber der Erfolg kam. Er folgte auf diese großartige Vision, mit der sich jeder Amerikaner identifizierte.
Apropos Erfolg: Die Geschichte, wie Sting Popstar geworden ist, ist ungefähr genauso verrückt wie die der Mondlandung. Vor seiner Karriere als Musiker hieß Sting Gordon Matthew Thomas Sumner. Und er war kein Künstler, sondern der Sohn eines Milchmanns aus Wallsend, der seine Brötchen als Bauarbeiter verdiente, bevor er sich schließlich zum Englischlehrer ausbilden ließ.
Bauarbeiter. Englischlehrer. Ein einfacher junger Mann aus einer abgelegenen Kleinstadt an der Tyne entscheidet sich eines Tages, seinen mit viel Einsatz erarbeiteten und sicheren Job zu schmeißen, um was zu tun? Seinem Hobby zu frönen und Gigs mit seinen Kumpels zu geben. Ohne zu wissen, ob er damit jemals seinen Lebensunterhalt finanzieren kann oder ob er sich für immer in den Ruin stürzt. Sicherlich hatte er auch Zweifel bei der Verwirklichung seines Lebenstraums, vielleicht hatte er sogar schlotternde Knie. Bekannt ist nur das Ergebnis: Nachdem er 1977 mit Stewart Copeland und Andy Summers die Rock-Pop-Band The Police bildete, verging nur ein Jahr, und die Band war direkt mehrmals an der Spitze der Hitparade. Einige weitere Jahre später gewann The Police sechs Grammys. Und heute weiß jeder, wer Sting ist.
So verrückt wie das Unterfangen der Amerikaner, in den 60er-Jahren auf den Mond zu fliegen, so verrückt war auch Stings Schritt vom Lehrer zum weltweit gefeierten Popmusiker. Giant steps eben!
Beide Geschichten haben aber noch etwas gemeinsam: Im Vorfeld erschien das Vorhaben wie eine unlösbare Aufgabe. Wie etwas Unmögliches. Etwas, für das man viel Mut und Durchhaltevermögen benötigt und bei dem man mit seinen Ängsten konfrontiert wird. Im Rückblick ist es aber erstaunlich, wie wenig es für den Erfolg wirklich gebraucht hat. Mit rudimentärer Technik sind die Amerikaner auf dem Mond gelandet und haben Weltgeschichte geschrieben. Und mit nichts außer dem Wunsch zu singen, ist Gordon Matthew Thomas Sumner der weltberühmte Popstar Sting geworden.
Wie so etwas geht, wie Sie das scheinbar Unmögliche erreichen und aus Ihrem Lebenstraum Realität machen, darüber habe ich ein Buch geschrieben. Sie halten es in Ihren Händen.
Ich wünsche Ihnen bei Ihrem gigantischen Schritt viel Erfolg. Und wenn Sie noch so die Hosen voll haben …
Ihr Emanuel Koch
Die jungen Männer arbeiten hart, damit die Zimmereinrichtung rechtzeitig fertig wird. Erst schleppen sie die Möbel hinein: das Bett, den Schrank, den Nachttisch, den Sekretär, die Lampen mit den altmodischen Schirmen, einen grauen Polsterhocker. Sie drapieren gerahmte Landschaftsbilder an der Wand, beziehen das Bett, hängen verblichene gelbe Gardinen auf.
Die Mutter kommt aus dem Krankenhaus zurück. Sie hatte einen Herzinfarkt erlitten und monatelang im Koma gelegen. Jetzt soll sie sich zu Hause erholen. Jegliche Aufregung muss vermieden werden, damit sie keinen Rückfall erleidet. Familie und Freunde begrüßen sie, als sie endlich daheim zu vollem Bewusstsein erwacht. Zwei Kinder singen ein traditionelles Lied.
»Es hat sich ja gar nichts verändert hier«, stellt die im Bett liegende Mutter halb dankbar, halb ungläubig fest.
»Was soll sich auch schon verändert haben?«, fragt der Sohn achselzuckend zurück.
Dem Zuschauer entgehen weder die verhaltene Erleichterung des Sohnes noch sein schelmisches Lächeln. Glück gehabt – die Mutter hat nichts gemerkt!
Als ich Good Bye, Lenin! zum ersten Mal sah, habe ich andauernd lachen müssen. Obwohl der Film eine tragische Geschichte erzählt, sind die meisten Szenen schreiend komisch. So wie die, als Alex Kerner, der Sohn der kranken Frau Kerner, im Müll nach alten Gläsern wühlt, um sie mit DDR-Etiketten zu bekleben und mit eingelegtem Gemüse zu füllen, das er im KaDeWe gekauft hat. Schließlich liegt die Wende schon fast ein Dreivierteljahr zurück. Aber was soll er machen, wenn seine nichtsahnende Mutter unbedingt nach Spreewaldgurken verlangt?
Unvergesslich auch die Szene, als Alex die versteckten Ersparnisse der Mutter, die endlich wieder aufgetaucht sind, vom Dach in den Wind streut – die Frist zum Umtauschen von Ostmark ist längst verstrichen. Abgesehen von diversen finanziellen Engpässen muss der Sohn immer größeren Aufwand treiben, um die Illusion einer weiterbestehenden DDR auf 79 Quadratmetern aufrechtzuerhalten. So dreht er zusammen mit einem Freund eigene Ausgaben der »Aktuellen Kamera«, die er per Videoband einspielt – während aus der Nachbarwohnung die »Tagesschau«-Fanfare herüber tönt. Völlig baff vermutet Frau Kerner, der Nachbar schaue illegal »Westfernsehen«.
All diese Irrungen und Wirrungen dienen nur einem einzigen Zweck: Frau Kerner soll ja nicht merken, dass sich die Welt vor ihrem Fenster nicht nur weitergedreht, sondern von vorne bis hinten umgekrempelt hat.
Um einen Film wie Good Bye, Lenin! zu machen, brauchen die Drehbuchschreiber, der Regisseur und nicht zuletzt die Schauspieler eine gehörige Portion Phantasie. Jemandem eine Scheinwelt vorzugaukeln, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört, darauf muss man erst mal kommen.
Skurril? Klarer Fall!
Unrealistisch? Zugegeben.
Abwegig? Ich fürchte, wenn Sie das glauben, dann tappen Sie in eine böse Falle. Die Scheinwelt der Frau Kerner aus Good Bye, Lenin! hat mit Ihnen, mit mir und mit uns allen mehr zu tun, als wir auf den ersten Blick glauben könnten.
»Ah, mein Schwager kann so toll kochen, das schmeckt wie im Nobelrestaurant!«
»Meine Cousine spielt umwerfend Geige. Sie hat sogar schon ein Streichquartett gegründet, und die vier gehen nächste Woche auf Konzerttournee durch Süddeutschland!«
»Ein Bekannter von mir ist der beste Stürmer seiner Fußballmannschaft – der könnte glatt in der Bundesliga spielen!«
»Meine Schwester ist ein wandelndes Lexikon, bei Wer wird Millionär? würde die ohne Joker 125.000 Euro abräumen!« Bestimmt haben auch Sie sich schon einmal bei einem ähnlichen Gedanken ertappt.
Nein?
Wie wär’s damit:
»Ach, ich würde ja so gerne mal eigene Rosen züchten!«
»Auf der großen Bühne vor 1000 Opernbesuchern Puccinis Arie O mio babbino caro singen – das wäre episch!«
»Ich müsste endlich mal lernen, wie man schreinert! Mein antiker Schrank wartet seit Jahren im Keller darauf, restauriert zu werden. Wer soll es machen, wenn nicht ich? Wo ich doch eh so gern mit Holz umgehe …«
»Wär’ ich doch nur sportlicher – mein Tennisschläger verstaubt in der Ecke, dabei wollte ich schon so lange mal bei einem Turnier mitspielen!«
Sie schütteln immer noch den Kopf? Dann dürften Sie aber wenigstens zugeben, dass Sie irgendwann schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, was wohl wäre, wenn Sie plötzlich Zeit hätten, etwas ganz anderes zu tun als das, was Sie zu tun gewohnt sind.
»Wäre ich kein gut bezahlter Vertriebsmensch, würde ich alles hinschmeißen und als Ranger im Nationalpark Bayerischer Wald arbeiten!«
»Wenn ich jetzt nicht die Steuererklärung machen müsste, dann würde ich mein Teleskop aufstellen und nach unentdeckten transneptunischen Objekten suchen!«
»Wenn ich anstelle eines 40-Stunden-Jobs eine reiche Erbtante hätte, dann würde ich meine Wohnung auflösen, mir ein Boot zulegen und allein um die ganze Welt segeln!«
»Sobald ich im Ruhestand bin, werde ich die freie Zeit nutzen, um meine Memoiren zu schreiben. Wird bestimmt ein internationaler Bestseller!«
Falls Sie sich auch nur ein einziges Mal von Gedanken wie solchen heimgesucht fühlten: Dann haben Sie ganz viel mit Frau Kerner gemein. Dann sind Sie letztlich irgendwann auch auf der Stelle stehengeblieben.
Das muss nicht Ihren Beruf betreffen. Sie können sehr wohl als Selbstständiger oder auch als Angestellter eines Unternehmens eine steile Karriere hingelegt haben. Und doch gibt es in Ihrem Leben anscheinend Dinge, die auf der Strecke geblieben sind. Vielleicht kratzt Sie das im Alltag nicht mal sonderlich. Trotzdem sind da diese Wunschträume, an die Sie hin und wieder denken und die Sie bisher ums Verrecken nicht in die Tat umsetzen konnten oder wollten. Die Gedanken, die Sie sich darüber machen, sind im Grunde verschleierte Botschaften Ihres Gewissens. Meistens gibt es zwei dieser Botschaften. Lassen Sie mich dolmetschen.
Erstens: »Die Leute um mich herum sind viel weiter als ich. Sie verbinden berufliche und private Interessen und sind glücklich damit. Ich dagegen ackere und ackere, um Geld in die Kasse zu spülen, und meine Hobbys bleiben dabei auf der Strecke. Andere Menschen leben ihren Traum doch auch! Wieso kann ich das nicht?«
Und zweitens: »Im Gegensatz zu den Leuten um mich herum bleibe ich total unter meinen Möglichkeiten. Ich schaffe es einfach nicht, mein Potenzial voll auszuschöpfen, meine Begabungen zu fördern, meinen Leidenschaften nachzugehen. Und egal, wie ich es anstelle, ich kriege es nicht hin, mir den Traum einer glücklichen Beziehung zu erfüllen. Meine Kollegen sind verheiratet, haben Kinder, und ich … gerate immer wieder an den Falschen. Oder meine ureigenen Talente verkümmern, weil ich alle Zeit und Kraft zum Geldverdienen brauche.«
Anders gesagt: Sie sind zum Stillstand gekommen. Sie entwickeln sich nicht weiter. Wie Frau Kerner. Die Welt hat sich weitergedreht. Sie ist die Einzige, die jeden Tag aufwacht, ohne dass es jemals morgen wird. Es bleibt für immer gestern. Schlimm genug, dass sie es nicht mal merkt.
Und täglich grüßt dein Lebenstraum
»Lebensträume« sind Wünsche, die immer wieder in Ihrem Kopf auftauchen. Die Sie eine Zeit lang intensiv beschäftigen. Verdrängen Sie sie, ploppen sie sogar Jahre später wieder auf.
Die meisten Menschen werden in Momenten der Ruhe und Muße von ihren Träumen überfallen – wenn sie etwas Abstand zum Alltag gewonnen haben, etwa bei einem Wochenendausflug, beim Joggen, im Urlaub, in einer ungewohnten, fremden Umgebung. Andere wiederum werden plötzlich »geflasht« von einem Bild oder Gedanken, während sie etwas sehen oder tun, was sie an den Traum erinnert.
Was könnten Lebensträume sein? Hier ein paar konkrete, reale Beispiele:
einmal im Leben Wale, den Turm von Pisa, die Freiheitsstatue, Koalas in der Wildnis sehennach Kairo auswanderneinmal zurück an meinen Geburtsort reiseneinen Oldtimer restaurierenXylophon spielen könnenin einer Band singeneinmal dem Nachbarn, den ich seit Jahren dulde, so richtig die Meinung geigenden kompletten Jakobsweg alleine geheneinen Monat lang Schweigemeditation schaffenein Haus selbst designen und bauenein Roadtrip durch alle Staaten der USAZaubern könnenGenauso viel Ferien haben wie meine Kindermit meinem Partner eine sechswöchige Cabrio-Tour durch Deutschland machenmit Kunst Geld verdienenein Modelabel aufmachennoch mal studierenals Comedian auftreteneinen Motor auseinandernehmen, verstehen und wieder zum Laufen bringenzwei Jahre in einem Krisenland im Team der Ärzte ohne Grenzen arbeitenein Buch veröffentlicheneinen tollen Garten anlegenSie sehen, Lebensträume können klein oder groß sein, materiell oder immateriell, langjährige Projekte oder von kurzer Dauer. Das Interessante daran: Sie sind höchst individuell. Was den einen berührt und erfüllt, ist für den anderen komplett unbedeutend. Was einer schon hat, ist für den anderen unerreichbar und extrem erstrebenswert.
Okay – was das betrifft, haben Sie Frau Kerner eine Sache voraus. Sie sind immerhin aufgewacht aus dem Märchentraum. Sie wissen: Beruflicher Erfolg und erreichte Ziele bewahren Sie nicht vor dem Stillstand. Oben auf der Karriereleiter zu sein, bedeutet nicht, am Ende der eigenen Entwicklung zu stehen. Und vieles im Leben erreicht zu haben, bedeutet nicht, dass Sie nicht noch anderes erreichen möchten. Der Mensch ist auf Weiterentwicklung schlichtweg ausgelegt; diesen natürlichen Impuls trägt jeder in sich.
Was also tun? Wie können Sie Ihre Entwicklung fördern, gegen den Stillstand steuern – und damit Ihre Lebensträume erfüllen?
Eins ist schon mal sicher: Nicht, indem Sie auf Weiterbildung setzen.
Wenn Sie dieses Buch aufgeschlagen haben, dann dürfte Ihnen das Lebenskonzept »Lernen, um irgendwann ausgelernt zu haben, endlich durchzustarten und dann nur noch die Früchte ernten« genauso fremd sein wie mir. Denn diese Vorstellung bedeutet nichts anderes, als dass wir uns mit Beendigung der Ausbildung oder des Studiums nicht mehr weiterentwickeln müssen.
Jeder, der mal eine Firma gegründet hat, kennt das Sprichwort: »Wenn ich alles auf dem Status quo belasse, stirbt mein Unternehmen einen Tod auf Zeit.« Und auch ohne es zu kennen, ist jedem Unternehmer klar, dass er seinen Betrieb von Zeit zu Zeit neu aufstellen muss, um mit den Veränderungen in der Welt um sich herum Schritt zu halten. Das gilt nicht nur für Firmen, sondern auch für jeden beruflich tätigen Menschen. Jeder von uns ist für seine Fähigkeiten und damit indirekt für den Wert seiner Arbeit selbst verantwortlich. Somit muss sich jeder selbst um seine entsprechende Weiterentwicklung kümmern – sei es in Form von Schulungen und Fortbildungen, sei es durch den Wechsel von Arbeitsbereich oder Job. Insofern ist die gesamte Berufslaufbahn eines Menschen ein Lernprozess. Lernen passiert das ganze Leben lang.
Dass es nicht die Aufgabe Ihrer Eltern, Lebenspartner, Freunde, Arbeitgeber oder Vorgesetzten ist, Ihre Zukunft in die Hand zu nehmen, sondern Ihre eigene, brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen. Das wissen Sie vermutlich genauso gut wie Yvonne. So nenne ich einfach mal die nette Dame, der ich ab und zu begegne, wenn ich ihren Chef berate. Sie ist Assistentin in einem großen Unternehmen und erzählte mir vor Kurzem beim Smalltalk von ihren mittelfristigen Zukunftsplänen.
Yvonne: »Ich mach’ neuerdings einen Kurs an der Volkshochschule. Eine berufsbegleitende Fortbildung zur Gewaltfreien Kommunikation. Samstags.«
Ich: »Super! Wie bist du da drauf gekommen?«
Yvonne: »Na ja, man muss doch irgendwas tun.«
Ich: »Wieso, was meinst du damit?«
Yvonne: »Na, um die Chancen zu verbessern.«
Ich: »Welche Chancen?«
Yvonne: »Mal was anderes zu arbeiten.«
Ich: »Was willst du denn arbeiten?«
Yvonne: »Weiß ich noch nicht!«
Einen Monat später begegnete ich ihr wieder. Nach dem üblichen Smalltalk fragte ich, wie der erste Kurstermin an der VHS gelaufen sei.
»Oh Mann«, stöhnte Yvonne genervt, »erinner’ mich bloß nicht daran. Der Dozent ist die größte Schlaftablette ever! Den ganzen Samstag hab ich investiert, nur um mir eine Binsenweisheit nach der anderen reinzuziehen. Und den Sonntag über lag ich mit Migräne im Bett. Wenn ich mir vorstelle, dass die nächsten vier Monate lang jedes Wochenende so aussieht … Aber was soll man machen? Jetzt quäl ich mich halt da durch.«
Merken Sie was?
Der Spaßfaktor an ihrem Kurs nähert sich bei Yvonne tangential dem Nullpunkt. Und zwar von unten. Das hat sie schon in der allerersten Sitzung festgestellt. Sie weiß: So kann es nicht weitergehen. Sie muss etwas unternehmen, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Offensichtlich ist sie auf ihrer Stelle nicht wunschlos glücklich, aber sie hat keinen blassen Schimmer, was sie glücklich machen würde. Also greift sie einfach nach der erstbesten Möglichkeit zur Weiterbildung. Genauso gut hätte sie eine Schulung zur Systemadministratorin, eine Fortbildung im Bereich Personalführung oder ein Seminar zum Thema E-Learning belegen können.
Yvonnes Strategie erinnert an einen Fisch, der ziellos in seinem Tümpel herumschwimmt und nach jedem Krümel schnappt, der ihm vors Maul treibt – egal, was genau das für ein Krümel ist. Exemplare anderer höher entwickelter Spezies, wie etwa Esel, machen es allerdings nicht großartig anders: Sie beißen in jede Möhre, die ihnen hingehalten wird.
Sie mögen mich für respektlos oder sogar zynisch halten, ich versuche jedoch nur klar zu sein. Leider ist es die bittere Realität. Yvonne ist absolut kein Einzelfall. Allein in meinem direkten Bekanntenkreis könnte ich spontan ein halbes Dutzend Leute nennen, die völlig orientierungslos durch ihr Leben schwimmen. Sie wissen nicht, was sie erreichen könnten – weil sie nicht wissen, was sie erreichen wollen. Das Leben hält vermeintlich nichts Besseres für sie bereit, also greifen sie nach dem erstbesten Möhrchen, das ihnen vor der Nase baumelt. Auch wenn es noch so mickrig ist und ihnen eigentlich gar nicht schmeckt.
Gut, und wer ist das, der uns da dauernd Möhren vor die Nase hält? Um diesem Übeltäter auf die Schliche zu kommen, möchte ich Sie bitten, sich Ihren letzten Supermarktbesuch ins Gedächtnis zu rufen.
Ready?
Steady?
Go!
Okay, Sie befinden sich gerade zwischen dem Süßwaren- und dem Feinkostregal. Warum sind Sie hier? Sie brauchen noch einen Snack für die nächste Mittagspause. Die Fächer quellen schier über vor bunten Tüten, bedruckten Dosen und Kartons. Eine Schokoladensorte reiht sich an die nächste. Die Keksauswahl umfasst ganze vier Regalmeter, die Bonbons gut das Doppelte. Gegenüber sieht es nicht anders aus: Konserven mit Oliven und eingelegten Tomaten stapeln sich bis weit über die Verstrebung des Regals hinaus. Die Menge an Senf- und Schraubgläsern mit Würstchen, Pilzen, sauren Gurken und Bambussprossen würde locker reichen, um den Vorrat einer ganzen Armee zu decken.
Schauen Sie sich in Ruhe um. Was sehen Sie?
Genau.
Möhrchen.
Ich scherze nicht!
Sie sind hier im Supermarkt, weil Sie im Grunde ziemlich genau wissen, was Sie wollen. Das Problem ist: Jetzt kriegen Sie auf einmal ein Überangebot an Zeug, das Sie eigentlich nicht brauchen, das aber irgendwie doch einen Reiz auf Sie ausübt. Manches passt Ihnen vielleicht sogar gut in den Kram; Sie hätten sowieso noch zwei Gläser Cornichons auf Vorrat gebraucht, also können Sie die auch gleich jetzt mitnehmen. Die Bambussprossen dagegen – was wollen Sie damit? Haben Sie vor, ein Wokgericht zuzubereiten? Gerade rechtzeitig erinnern Sie sich, dass Ihnen in nächster Zeit wegen Ihres Jobs gar keine Zeit bleibt, um groß zu kochen.
Sie drehen sich noch einmal um. Die Etiketten neben den Preisschildern der Süßwaren schreien Ihnen ihre wenig subtilen Werbebotschaften entgegen.
»Jetzt neu – mit extra viel Geschmack!«
»Cremig-zarter Schokogenuss!«
»Neue, verbesserte Rezeptur!«
»Extra viel Nuss und zart schmelzendes Karamell!«
»Mit natürlichem Vitamingehalt!«
Obacht – Sie könnten in eine gemeine Falle tappen. Kaufen Sie den ganzen Kram im Glauben, damit irgendwie glücklich zu werden, dann geht es Ihnen wie Yvonne mit ihrer Kurs-Möhre. Womöglich stellen Sie fest, dass Sie Karamell gar nicht mögen, erst recht nicht in Kombination mit Nüssen. Solange Sie abwägen, was an Süßkram zu Ihnen passt – sprich, solange Sie sich nicht jede x-beliebige Bonbontüte aufschwatzen lassen, sondern das Überangebot an Waren filtern –, solange haben Sie kein Problem im Supermarkt.
Yvonne dagegen umso mehr. Ihr ginge es womöglich besser, wenn sie nicht die Kurspalette der Volkshochschule aufgeschlagen und blind mit dem Zeigefinger auf irgendeine Stelle getippt hätte, um sprichwörtlich ihr Jodeldiplom nachzuholen.
Warum hat sie das wohl getan?
Weil die Gesellschaft ihr das Angebot gemacht hat. Die Gesellschaft ist wie ein großer Supermarkt. Man kauft halt irgendwas. Werbeschilder an jeder Ecke. Kursmöhrchen. Schnapp!
Nur damit kein Missverständnis aufkommt: Ich habe absolut nichts einzuwenden gegen das Bedürfnis, Neues hinzuzulernen. Wer will schon dauerhaft auf der Stelle treten? Oder gar stehen bleiben? Oder ewig im Gestern verharren, wie Frau Kerner es gezwungenermaßen tut. Der Drang von uns Menschen, unsere Fähigkeiten zu erweitern und uns weiterzuentwickeln, ist allzu natürlich. Er ist sogar elementar wichtig. Wir können darüber froh sein! Die Frage ist nur: Was bringt uns wirklich weiter?
»Weiterentwicklung«, das klingt wie »Fortbildung«. Wie »Zusatzseminar«, »Abenduni«, »Training« oder »berufsbegleitende Weiterbildungsveranstaltung«. All das sind Bildungsformate, die auf Vermittlung von Fachwissen, Know-how und sicher auch zum Training von Soft Skills ausgelegt sind.
Wer »Weiterentwicklung« etwas weiter versteht, der zählt auch Töpferkurse, Yoga, verschiedene Bewegungslehren oder eine Mitgliedschaft wie zum Beispiel bei den Pfadfindern dazu. Schließlich entwickelt sich der Mensch auch in Bereichen weiter, die auf die Produktivität im Job keinen direkten, messbaren Einfluss haben.
Für mich ist echte Weiterentwicklung allerdings ein noch weiteres Feld. Sie hat in erster Linie etwas damit zu tun, den eigenen Wünschen zu folgen – ob sie vernünftig sind oder nicht, ob sie lohnenswert erscheinen oder nicht, ob sie gesellschaftsfähig sind oder nicht. Ich bin jedenfalls überzeugt: Die größte Triebfeder der Persönlichkeitsentwicklung sind weder Fachwissen oder Know-how noch Soft Skills, noch sogenannte »ausgleichende Tätigkeiten«, die helfen, den Kopf vom Berufsstress freizumachen. Die größte Triebfeder der persönlichen Entwicklung eines jeden Einzelnen sind die individuellen Impulse, die sich jedem aufdrängen. Damit meine ich nicht den Impuls, sich abends aufs Sofa zu setzen und eine Tüte Chips aufzumachen. Ich meine Impulse wie zum Beispiel einen Oldtimer zu restaurieren. Ideen, Träume, Wünsche, die einen beinahe erotischen Reiz auf Sie haben.
Diese Impulse haben oftmals einen Mix folgender Merkmale:
1. Sie sind attraktiv – Die Vorstellung, diesen Impuls umgesetzt zu haben, erfüllt Sie mit Stolz, Zufriedenheit und innerer Ruhe. Schon der Gedanke daran, die Idee in Angriff zu nehmen, lässt Sie in Tagträumen schwelgen.2. Sie scheinen sinnlos und unnütz – Ein Auto selbst zu restaurieren würde zehnmal mehr Zeit in Anspruch nehmen, als es einen Profi machen zu lassen. Die Arbeit selbst ist völlig unrentabel und scheinbar sinnlos. Doch auf einer übergeordneten Ebene ergibt das sehr viel Sinn. Sinn in Form von Zufriedenheit, das getan zu haben, wonach Sie sich so tief sehnen.3. Sie scheinen unmöglich – Den Impuls umzusetzen ist nicht trivial. Dafür bräuchten Sie besondere Fähigkeiten und Voraussetzungen, die Sie beide noch nicht haben. Als Vollzeitangestellter einige Monate im Schweigekloster zu verbringen, ist nicht nur eine Frage des Durchhaltevermögens, sondern auch der Kosten und des Lebensentwurfs.Ich glaube, die meisten Menschen nehmen sich nicht die Zeit und Muße, um auch nur einmal in sich hineinzuhören und mit sich selber abzuklären: Was macht mich eigentlich wirklich zufrieden? Wie kann ich mich selber entwickeln – und dabei auch noch glücklich werden?
Dabei wäre genau diese Strategie für Leute wie Yvonne so heilsam! Sie würde zufriedener werden, wenn sie – um ein Beispiel zu erfinden – eines Tages feststellte, dass die Muster, die sie beim Telefonieren immer auf den Zettelblock kritzelt, richtig toll aussehen. Dass sie womöglich nur Zeichenpapier und eine Tuschefeder in die Hand zu nehmen bräuchte, um faszinierende abstrakte Kunst zu schaffen.
Vielleicht findet sie eines Tages eine Möglichkeit, ihre künstlerische Begabung mit ihrem Job zu verbinden. Selbst wenn sie das bloß in ihrer Freizeit täte, wäre das ein erster Schritt in Richtung Zufriedenheit und Weiterentwicklung. Was in diesem Moment mit Yvonne passieren würde, ist etwas höchst Erstaunliches. Ich nenne es Selbstentfaltung. Und die ist etwas völlig anderes als die bloße Selbstentwicklung, die sie sich von ihrem verhassten VHS-Kurs erhofft.
Der fundamentale Unterschied ist der: Entwicklung kommt von außen, meist im Rahmen beruflicher Interessen und in Form von Fortbildungsangeboten. Nicht umsonst haben Unternehmen Programme zur »Personalentwicklung«. Entfaltung dagegen ist eine Entwicklung, die von innen kommt. Aus uns selber heraus. Und sie bezieht sich nicht nur auf den Beruf, sondern auf das gesamte Leben, Partnerschaft und Beziehungen miteingeschlossen.
Jeder Mensch, Sie eingeschlossen – auch wenn Sie es nicht zu jeder Zeit zu spüren glauben! –, hat den Drang zur Selbstentfaltung in sich. Immer. Das Dumme ist nur: Wir tun alles Mögliche, aber wir geben diesem elementaren Drang nicht nach.
So erkennen Sie, dass Sie in der Entwicklungsfalle stecken:
Sie lassen sich ausbilden, um einen guten/sicheren/lukrativen Beruf auszuüben, obwohl Sie lieber eine andere Ausbildung machen würden.Sie sammeln zusätzliche Erfahrungen in Ihrem Bereich, um beruflich weiterzukommen, obwohl Ihr Herz Sie in eine andere Richtung zieht.Ihre Hobbys haben zu wenig Platz in Ihrem Leben.Sie können Ihren Leidenschaften nicht nachgehen und ordnen diese immer den Muss-Themen unter.Ihr Privatleben und Berufsleben erscheint Ihnen öde und monoton, und Sie können nicht das tun, was Sie wollen.»Ihr lernt nicht für die Schule, ihr lernt für euer Leben!«, pflegte uns unser Mathematiklehrer noch in der Oberstufe einzuimpfen. Ganz ehrlich, wissen Sie heute noch, wie man den Radius eines Schnittkreises zwischen zwei Kugeln im Raum berechnet? Ich nicht. Und ich wüsste auch nicht, was mir dieses Wissen in meinem jetzigen Leben bringen sollte. Insofern ist auch so manche Mathe-Klausur ein kleines Jodeldiplom.
Die Gesellschaft gaukelt uns systematisch vor, diese Jodeldiplome wären das Großartigste für uns. Die Frage ist, ob das stimmt. Ich glaube, Diplome und Zertifikate, sprich Qualifizierungen und Weiterbildungen können zur Selbstentfaltung beitragen, aber sie tun es nicht automatisch. Wenn sie nicht mit unseren ureigenen Wünschen in Einklang sind, fordern sie uns, aber sie fördern uns nicht. Beides, fordern und fördern, können diese Angebote nur manche von uns. Im Fall des Schnittkreises nämlich diejenigen, deren Herz einzig und allein für Zahlen schlägt. Die schon früh im Leben wissen, dass sie Mathematiker werden wollen, und womöglich zwanzig Jahre später ganz nebenbei den Leibniz-Preis einheimsen. Die anderen bleiben auf der Strecke – mit ihren Begabungen und Talenten, die sich leider den Schnittkreisen und der Mathematik unterordnen müssen.
Aber warum tun wir alle nicht einfach das, was unserer Persönlichkeit entgegenkommt? Das, was wir gerne tun, weil wir es tun wollen? Das, was unsere Potenziale fördert und entfaltet? Das, wofür unser Herz schlägt, wofür wir »brennen«?
Der häufigste Grund, den ich dafür höre ist: Geld. Finanzielle Zwänge bestimmen unser Leben. Der Tag hat nur 24 Stunden, und die Woche nur sieben Tage. Die gilt es zu nutzen, um den Möhrchen nachzujagen. So die weitverbreitete Auffassung. Wir stellen unsere ureigenen Interessen hintenan, um unsere Brötchen zu verdienen. Nach dem Motto: »Ich hab’ schließlich einen Kurs belegt! Jetzt bin ich zertifizierter Möhrchenjäger. Das kann ich wie kein anderer! Auf zur Möhrchenjagd!«
Na dann, Waidmannsheil!
Spaß beiseite – das Thema ist ein ernstes. Schließlich macht Selbstentwicklung im Möhrchentakt niemanden wirklich glücklich. Das Einzige, was dauerhaft glücklich machen kann, ist das, was ich unter Selbstentfaltung verstehe. Und die ist hochindividuell. Niemand kann Ihnen sagen, wie Sie sich am ehesten selbst entfalten. Das müssen ganz allein Sie herausfinden. Aber ich kann Ihnen ein paar Hinweise geben, wie Sie sie finden.
Allgemein gesagt, hat Selbstentfaltung mit Sinn zu tun. Und zwar mit einem höherwertigen als nur dem Sinn, das monatliche Bruttoeinkommen auf dem Konto eingehen zu sehen. Ich bin überzeugt, jemand, der dreißig Jahre lang am Fließband steht, sucht diesen höherwertigen Sinn nicht am Fließband. Sondern woanders. Vielleicht engagiert er sich nach Schichtende um 17 Uhr als Trainer im Fußballverein. Und wird immer besser dabei.
Wenn Sie nach Selbstentfaltung streben, dann sind Sie gut beraten, danach zu suchen, was Ihnen im Leben etwas bedeutet. Wie gesagt, das ist eine hochindividuelle Sache. Nur Sie selbst können abschätzen, wo Ihre Persönlichkeit am ehesten wachsen kann. Das können durchaus Dinge sein, die Sie in Ihrer jetzigen Situation noch für unmöglich halten. Was zählt, ist das Bestreben, diese Dinge erst einmal zu finden – Dinge, die für Sie ganz allein wichtig und bedeutsam sind. Diese Entdeckung kann sich unglaublich lohnen. Auch wenn das Ergebnis nicht jeder nachvollziehen mag.
Was bringt zum Beispiel jemanden dazu, um vier Uhr morgens aufzustehen, im Nebel an den See zu fahren und mit dem Fernglas Vögel zu beobachten? Was immer es ist – ich persönlich kann es nicht nachvollziehen. Beim besten Willen nicht. Und trotzdem gibt es Menschen, die sich genau dafür begeistern können.
Mein alter Chemielehrer, Dr. Reddig, war exakt so ein Hobbyornithologe. Eines Morgens kam er bestens gelaunt in die Schule und pfiff vergnügt vor sich hin.
»Stell dir vor, Emanuel«, sagte er mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen, »heute sind mir endlich brauchbare Tonaufnahmen und tolle Bilder von einem Pirol gelungen! Schau, das klingt ungefähr so …«
Nur dank ihm weiß ich seit dem damaligen Tag, wie sich Pirolgesang anhört – das war es nämlich, was Dr. Reddig die ganze Zeit über gepfiffen hatte. Er spitzte die Lippen und gab extra für mich noch ein paar Zugaben.
Interessierte sich sonst irgendwer dafür, außer ihm selbst? Nein!
Hatte er berufliches Interesse daran? Nein!
Hatte ihn jemand damit beauftragt, Pirole aufzunehmen? Nein!
Konnte ich seine Begeisterung nachvollziehen? Minus 100 Prozent! Bis heute nicht. Ornithologie ist einfach nicht mein Ding.
Aber sie war sein Ding. Der hatte da einfach Bock drauf.
Für den Pirol hatte er sich drei Wochen lang Morgen für Morgen vor dem Unterricht am See auf die Lauer gelegt. Nur um eines Tages zu jubilieren, weil ihm endlich die Aufnahmen geglückt waren, um die er sich so bemüht hatte.
Der Erfolg verwandelte den »alten« Chemielehrer in einen »neuen« Chemielehrer. Einen, der eine ganz besondere, vielleicht sogar eine historische Aufnahme gemacht hatte. Einen, der an sich selbst gewachsen war. Der eine neue Selbstsicherheit gewonnen hatte. Eine Souveränität in Bezug auf das, was manche – mitunter sogar abfällig – sein »Hobby« nennen. Er hatte an innerer Stärke hinzugewonnen.
Drei Dinge möchte ich damit verdeutlichen.
Erstens: Selbstentfaltung bezieht sich nicht allein auf den Beruf, den Job, die Karriere. Dort ist es am augenfälligsten, wenn Sie sich von Ihren ureigenen Wünschen entfernen. Sie werden unzufrieden, unmotiviert, eventuell leisten Sie auch wenig, und werden zwangsläufig unter Ihren Möglichkeiten bleiben. Aber die Entfaltung der Persönlichkeit kann sich auch in der Freizeit, oder im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen äußern.
Zweitens: Es gibt nicht einen Bereich für die Selbstfaltung. Es gibt nicht das eine Entwicklungsziel fürs Leben. Überhaupt haben Ziele, die Sie sich rein rational setzen, wenig mit Entfaltung zu tun, sondern eher mit Entwicklung. Entfalten werden Sie sich dann, wenn Sie den vielfältigen Impulsen, die Sie im Laufe der Zeit spüren, folgen. Immer wieder aufs Neue. Wenn Sie sich davon vertrauensvoll leiten lassen. Auch wenn Sie noch nicht wissen, wofür das alles gut ist.
Und drittens: Egal, wo Sie sich gerade am meisten entfalten, es wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Die Tatsache, dass Sie ein Stück weiter sind als zuvor, wird Spuren hinterlassen. Und sei es nur, weil Sie Zufriedenheit und Selbstbewusstsein ausstrahlen. Oft aber gewinnen Sie auch neue Fähigkeiten, neues Know-how oder Wissen, das sich in andere Lebensbereiche übertragen lässt. Und weil der Impuls, diese zu erwerben, von innen kommt, ist die Motivation, den Transfer in die anderen Bereiche herzustellen, am größten.