Und täglich grüßt der Tigervater - Thomas Derksen - E-Book
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Und täglich grüßt der Tigervater E-Book

Thomas Derksen

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Beschreibung

Als Thomas Derksen sich in die Chinesin Liping verliebt, rechnet er noch nicht mit seinem Schwiegervater in spe. „Ich kenne Ausländer aus dem Fernsehen. Den siehst du einmal unbekleidet und dann nie wieder“, warnt der seine Tochter, noch bevor er die Langnase getroffen hat. Mutig stellt sich der verliebte Rheinländer dem alten Tiger und stapft dabei charmant in die zahlreichen Fettnäpfchen, mit denen sein Weg im Reich der Mitte gepflastert ist.

Unglaublich liebenswert und unterhaltsam berichtet Afu, der glückliche Thomas, von seinem Leben und Lieben im Fernen Osten, von kulturellen und kulinarischen Eigenheiten, von Missverständnissen und so mancherlei Aha-Erlebnissen. Ein echter Kracher für alle, die mehr über China erfahren wollen!

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笑疯了 heißt »zum Brüllen komisch« auf Chinesisch

Als Thomas Derksen sich in die Chinesin Liping verliebt, rechnet er noch nicht mit seinem Schwiegervater in spe. „Ich kenne Ausländer aus dem Fernsehen. Den siehst du einmal unbekleidet und dann nie wieder“, warnt der seine Tochter, noch bevor er die Langnase getroffen hat. Mutig stellt sich der verliebte Rheinländer dem alten Tiger und stapft dabei charmant in die zahlreichen Fettnäpfchen, mit denen sein Weg im Reich der Mitte gepflastert ist.  Unglaublich liebenswert und unterhaltsam berichtet Afu, der glückliche Thomas, von seinem Leben und Lieben im Fernen Osten, von kulturellen und kulinarischen Eigenheiten, von Missverständnissen und so mancherlei Aha-Erlebnissen. Ein echter Kracher für alle, die mehr über China erfahren wollen!

Thomas Derksen

Und täglich grüßt der Tigervater

Als deutscher Schwiegersohn in China

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, MünchenUmschlagsfoto: Kay Blaschke, MünchenUmschlagsillustration: Shutterstock Images LLCInnenbilder: Kay Blaschke, München: Fließtext Seite 93 und 151; Farbteil: Seite 12, alle anderen Bilder: © privat.Redaktion: Dr. Angelika Winnen, BerlinSatz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, GermeringISBN: 978-3-641-23907-7V002
www.heyne.de

Für Liping

INHALT

明知山有虎,偏向虎山行

Man geht in die Berge, auch wenn man weiß, dass es dort Tiger gibt

女人能顶半边天

Frauen tragen die Hälfte des Himmels

海水不可斗量

Man sollte das Meer nicht mit Löffeln messen

赶鸭子上架

Die Ente auf den Ast treiben

刀子嘴,豆腐心

Messermund und Tofuherz

山中无老虎,猴子称大王

Ist kein Tiger in den Bergen, nennt sich der Affe König

计划赶不上变化

Plan und Wirklichkeit sind schlechte Freunde

一山不容二虎

Auf einem Berg können nicht gleichzeitig zwei Tiger leben

东方不亮西方亮

Wenn es im Osten nicht hell ist, dann eben im Westen

靠山吃山,靠水吃水

Wenn du am Berg lebst, isst du den Berg Wenn du am Wasser lebst, isst du das Wasser

金窝银窝不如自己的狗窝

Des Nachbarn Palast ist nichts gegen die eigene Hundehütte

放长线钓大鱼

Mit der langen Schnur den großen Fisch angeln

宁为太平狗,不做乱世人

Mögest du in interessanten Zeiten leben

多一个朋友, 多一条路

Ein Freund mehr, ein Weg mehr

Bildteil

明知山有虎,偏向虎山行

MAN GEHT IN DIE BERGE, AUCH WENN MAN WEISS, DASS ES DORT TIGER GIBT

»So war das alles doch nie geplant!« Ich raufe mir die Haare.

Als ich vor anderthalb Jahren angefangen habe, Chinesisch zu studieren, habe ich mir fest geschworen, nie etwas mit einer Chinesin anzufangen. Und nun stecke ich im Economysitz einer russischen Airline fest, auf dem Weg zu meiner Freundin Liping, einer Chinesin aus der Multimillionenmetropole Shanghai, und im Ohr klingt mir noch die musikalische Mitgift einer piccoloschwenkenden Mittfünfziger-Damengruppe aus dem Zug zum Flughafen: »Die Liebe ist ein seltsames Spieeeeeeel.« Dieses seltsame Spiel hat unsere Wege zueinander geführt, auch wenn es scheint, dass ich mich eher stolpernd als gehend vorwärtsbewege. Denn es werden sich so einige Hindernisse auf der Strecke zum gemeinsamen Glück auftun, vor allem Lipings Vater scheint nicht besonders begeistert von unserer Beziehung zu sein.

»Ich kenne mich aus mit diesen Ausländern, Liping«, hat er offenbar direkt vor meinem Abflug noch großspurig von sich gegeben. »Die kommen hierher, legen dir ein Ei ins Nest und sind dann auf und davon. Den Kerl siehst du einmal unbekleidet und dann nie wieder.«

»Papa, hast du jemals auch nur mit einem Ausländer gesprochen?«

»Und wenn schon, ich habe genug davon im Fernsehen gesehen, um mir ein Bild von denen zu machen. So einer kommt mir nicht ins Haus.«

Liping hat mich schon früh vorgewarnt, dass ihr Vater eine ganz bestimmte Vorstellung davon hat, wie sein Schwiegersohn aussehen soll: und zwar am besten wie ein Abbild seiner selbst. Also wie einer, der sein Geld mit undurchsichtigen Geschäften verdient, mit seinen Freunden kettenrauchend Mah-Jongg spielt und dabei Armbanduhr und Goldkettchen zur Schau stellt, während sein dickes Auto für alle gut sichtbar vor dem Haus steht. Von seinen Freunden wird er zwar »Alter Zhu« genannt, von allen anderen aber nur respektvoll Zhu Laoban, was soviel wie »Vorgesetzter Zhu« heißt.

Ich hingegen lebe von wenigen hundert Euro Bafög im Monat, kann weder Auto noch Goldkettchen vorweisen, und meine fünfzehn Jahre alte Casio-Armbanduhr kann diese Mängel sicher ebenso wenig wettmachen wie meine Bankausbildung.

Wenn man Fotos vom Alten Zhu und mir betrachtet, drängt sich einem das Bild von Yin und Yang auf. Die Haut meines muskulösen Schwiegervaters in spe ist von seiner früheren Tätigkeit beim Militär und der Polizei sonnengebräunt, und sein Blick versprüht die Selbstsicherheit derer, die es von ganz unten nach ganz oben geschafft haben. Ganz anders bei mir: Von den Jahren, die ich im Neonlicht der Sparkassenfiliale verbracht habe, bin immer bleicher im Gesicht und immer runder um die Hüften geworden. Auch meine knappen 1,70 m tragen nicht gerade dazu bei, mich besonders respekteinflößend wirken zu lassen. Es heißt also David gegen Goliath, wenn ich Lipings Vater zum ersten Mal begegne.

Aber so wie das alte chinesische Sprichwort sagt, sollte man sich von den Tigern auf dem Berg nicht abschrecken lassen, wenn man die gute Aussicht genießen will. Die Aussicht darauf, bald mit Liping zusammen zu sein, lassen mich die Gefahren, die vom Tiger namens Alter Zhu ausgehen, für einen Moment vergessen.

»Liping, wir schaffen das schon«, habe ich vor dem Abflug betont selbstbewusst versprochen. »Wir haben jetzt zehn Stunden Zeit, um uns etwas zu überlegen, und wenn ich in Shanghai bin, werden wir den alten Tiger schon zähmen.«

Trotz stundenlangem Haareraufen ist außer einer total ruinierten Frisur nichts dabei herausgekommen. Aber ich brauche unbedingt eine Idee für die erste Begegnung mit dem Tiger und bald wird der Captain den Sinkflug einleiten. Von den Nudeln mit Rindfleisch in der Aluschale, die man bei näherer Betrachtung geruchlich und geschmacklich auch ohne Weiteres für Reis mit Hühnchen halten kann, habe ich kaum einen Bissen herunterbekommen. Außer ein paar hastig wiederholten Chinesischvokabeln ist mein Kopf wie leergefegt. »Huhn« heißt auf Chinesisch offenbar auch »weibliche Prostituierte« und »Ente« auch »männliche Prostituierte«. Ich blicke skeptisch auf das Rindfleisch oder eben Huhn in meiner Aluschale. Jetzt bekommt meine Abneigung gegen das Essen nochmal eine neue Dimension.

Als sich wenig später die Pforten der Gepäckhalle öffnen, blendet mich die gerade aufgehende Shanghaier Sonne, die durch die große Glasfront des Flughafengebäudes ihre Wärme verstrahlt. Ich blinzele kurz, und als ich im Sonnenlicht Liping ganz vorne in der Reihe der Wartenden erblicke, ist in meinem Hirn nur noch Platz für sie. Ich will ihr durch die kurzen Haare streicheln und die kleinen Lachfältchen betrachten, die besonders dann hervortreten, wenn sie mich böse anguckt. Jetzt allerdings reißt sie ihre tiefschwarzen Augen auf und winkt hektisch.

»Thomas!«, ruft sie aus vollem Herzen.

»Liping!«, schmettere ich genauso erfreut zurück.

»Wo ist dein Gepäck?«, stößt sie hervor. Da merke ich, dass sie nicht nur vor Freude so laut gerufen hat. Ich blicke sie an, dann meine leeren Hände. Vor lauter Aufregung habe ich meine Koffer auf dem Gepäckband liegen lassen.

»Komm her, mein kleiner Dicker«, sagt Liping später im günstigen, aber sauberen Hotelzimmer und drückt mich fest an sich. Dann breitet sich auf ihrem Gesicht ein Wir-schaffen-das-schon-Grinsen aus. Auf dem Briefpapier des Hotels zeichnet sie mit Bleistift energisch ihren Plan für unsere Eroberung der Familie Zhu auf, den sie in den letzten Stunden entwickelt hat. Dieser steht den Plänen Dschingis Khans zur Eroberung Asiens und Europas in Sachen Taktik und Cleverness in nichts nach.

Meine zaghaft vorgebrachte Idee, mich mit Perücke und Sonnenbrille erstmal als Chinese in die Familie einzuschleusen und dann später, nachdem ich durch meinen mir angeborenen Charme alle für mich gewonnen habe, die Verkleidung abzuwerfen und meine wahre deutsche Identität zu präsentieren, lehnt Liping augenrollend ab.

»Als Erstes müssen wir meine Mama von dir überzeugen. Ich habe ihr gesagt, dass wir heute zum Abendessen kommen. Mein Vater isst zum Glück heute außerhalb mit seinen Freunden.«

Vom Bett aus beobachte ich, wie sie am schmalen Schreibtisch sitzt und Notizen auf das Papier kritzelt.

»Zunächst einmal sollten wir überlegen, wie du sie anredest.«

»Vielleicht einfach mit ihrem Namen?«

»Untersteh dich, jemals eine ältere Chinesin mit dem vollen Namen anzureden. Das ist sehr respektlos!«, sagt sie streng. Da sind sie wieder, die schönen Lachfältchen.

Die vielen chinesischen Anreden können für einen unbedarften Deutschen ganz schön verwirrend sein. Man kann Leute mit »Lehrer«, »Meister«, »Bruder« ansprechen oder in Kombination mit dem Familiennamen, also z.B. »Kleiner Wang«. All dies kommt jetzt für mich nicht infrage.

»Wie wäre es denn mit ayi, also Tante?«

»Auf keinen Fall! Wenn du meine Mutter als alte Frau darstellen möchtest, dann kannst du gerne ayi sagen. Wenn wir aber den kleinsten Hauch einer Chance haben wollen, sie von dir zu überzeugen, dann lass es lieber bleiben.«

Wenn es bei Lipings Mutter ein Tabu gibt, dann ist es offenbar das Alter. Wie ich höre, investiert sie Unmengen an Geld in Hautpflegeprodukte, schützt sich im Sommer mit einem Schirm vor schädlicher Sonneneinstrahlung, geht nur im Ganzkörperbadeanzug ins Meer und hat eine Figur, die, ihren Fotos nach zu urteilen, so manch eine Mittzwanzigerin neidisch machen könnte.

Nach langem Hin und Her entscheiden wir uns für die Anrede »Große Schwester«. Das bringt den nötigen Respekt mit und schmeichelt auch ihrem Alter.

Die Verwandtschaftsbezeichnungen im Chinesischen finde ich noch komplizierter als die Anreden. Innerhalb der Familie gibt es nicht nur Bruder und Schwester, sondern es wird auch nach Reihenfolge und Alter unterschieden. So heißt der große Bruder gege und der kleine Bruder didi.

Um die Sache noch komplizierter zu machen, hat Liping die glorreiche Idee, dass ich die Begrüßung auf Shanghainesisch machen soll.

»Warum denn das?«, frage ich verzweifelt. Ich habe schon Schwierigkeiten, mir die normalen chinesischen Vokabeln ins Gehirn zu prügeln. Und Shanghainesisch hat mit Mandarin genauso viel Überschneidung wie Hamburger Platt mit Niederbayrisch. Nämlich praktisch keine.

»Sie wird begeistert sein! Nicht einmal die kleinen Kinder hier können mehr vernünftig Shanghainesisch sprechen. Und wenn du das als Ausländer einigermaßen hinbekommst, dann haben wir sie sofort auf unserer Seite.«

»Na gut, dann machen wir das halt so.« Mit ein wenig Magengrummeln stimme ich zu. Ich ahne bereits, dass sich diese Idee als fatal herausstellen könnte.

Der zweite Schritt ist die Auswahl der Geschenke. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr, die ich als typisch deutsches Geschenk mitgebracht habe, entsorgen wir im nächsten Mülleimer. Geduldig erklärt mir Liping, dass man das Verschenken von Uhren in China, insbesondere an ältere Menschen, folgendermaßen in Worte fassen könnte: »Hey Alter, hier eine Uhr für dich zur Erinnerung daran, dass deine Zeit bald abgelaufen ist. Also, genieß die restlichen paar Jahre, die dir noch geblieben sind!« Das wäre in anderen Worten exakt das Geschenk, das mich genauso schnell aus der Wohnung meiner Freundin heraus befördern würde, wie ich hineingekommen bin.

Zu meinem Erstaunen machen wir uns auf den Weg zu dem einzigen geöffneten lokalen Markt in der Nähe. Es ist Anfang Februar und das wichtigste Fest des Jahres steht vor der Tür: Chinesisch Neujahr oder auch Frühlingsfest genannt. Die meisten Straßenstände und Geschäfte sind bereits geschlossen, da die Händler zurück in die Heimat gefahren sind, um das Fest mit ihren Familien zu begehen.

In dem grauen Betonbau, den wir ansteuern, knubbeln sich unzählige Markstände, die alles anbieten, was die Shanghaier Hausfrau so braucht. An den Gemüseständen gibt es neben den auch uns Deutschen bekannten Kartoffeln, Karotten und Brokkoli unzählige Arten von grünem Gemüse, die mich alle an Spinat erinnern, aber unterschiedliche Namen haben. Da ich seit der Ankunft in Shanghai vor lauter Verliebtheit (oder ist es doch Nervosität?) noch nichts zu mir genommen habe, macht mir der Geruch, der uns aus dem Gebäude entgegenwabert, zu schaffen. Vor allem aus der Ecke, in der frisches Geflügel und Fisch verkauft werden. Das ist genau die Ecke, auf die Liping zielsicher zusteuert.

»Frisch« hat in China eine ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Für mich ist die Forelle auf dem deutschen Wochenmarkt schon das höchste aller Gefühle in Sachen »frisch«. Hier in China werden Hühner lebend gekauft und dann vor Ort geschlachtet, gerupft und ausgenommen. »Frischer« Fisch wird lebend aus dem Becken entnommen, in eine Tüte verpackt und mit einem gezielten Schlag auf den Kopf küchenfertig gemacht. Daher weht mir der Geruch von Innereien, tierischen Ausscheidungen und Schlachtabfällen entgegen, als Liping mich entschlossen zu dem Stand mit den Hühnern und Enten zieht.

»Liping, was machen wir hier? Wollten wir nicht Geschenke für deine Mama kaufen?«

Sie zwinkert mir zu, und mein Versuch, ihr cool und gelassen zurückzuzwinkern, scheitert an dem sauren Geschmack, der mir plötzlich aus der Kehle aufsteigt.

»Eine Taube bitte und das Huhn dahinten, das sieht schön fett aus.«

»Das gibt eine schöne Hühnersuppe«, sagt die Marktfrau, die, ihren kräftigen Oberarmen und dem rotwangigen Gesicht nach zu urteilen, nicht nur Hühnern, sondern wahrscheinlich auch Schweinen und Ochsen ohne Weiteres den Hals umdrehen könnte. So schnappt sie sich beherzt das zappelnde und gackernde Huhn und fängt vor unseren Augen an, es hühnersuppenfertig zu machen.

Das gibt mir den Rest. »Ich warte draußen auf …« Weiter komme ich nicht und erbreche meinen dürftigen Mageninhalt vor den Markstand. Die Marktfrau reicht mir lachend ein Tuch: »Du bist nicht der erste Ausländer, der den Besuch hier nicht verträgt.« Und zu Liping gewandt feixt sie: »Hühner mag dein Liebster schon mal nicht. Wenn das kein gutes Zeichen ist.«

Huhn, Prostituierte, schon klar. Den Witz habe ich immerhin verstanden, denke ich ermattet. Und wie aus weiter Ferne höre ich Lipings Stimme:

»Komm Schatz, heute ist der Tag, da musst du dich schon ein bisschen zusammenreißen. Aber gut, dass dein Magen jetzt leer ist. Wenn Du willst, dass meine Mutter dich mag, musst Du alles aufessen, was sie dir vorsetzt. Und glaub mir, sie ist sehr großzügig.«

Wenig später sitzen wir im Auto auf dem Weg zu Lipings Familie, und während ich auf die Geschenke blicke, beschleicht mich das Gefühl, dass ich die Kuckucksuhr doch nicht hätte wegschmeißen sollen. Neben dem Huhn haben wir noch eine frische Taube und zwei frische Dorsche erstanden. Ein Kilo weniger frische Bananen vervollständigt diesen ungewöhnlichen Geschenkkorb.

»Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Papa ist nicht da. Da können wir uns ganz auf meine Mutter konzentrieren. Wir ziehen sie auf unsere Seite, und dann heißt es: drei gegen einen!«, plappert Liping fröhlich und manövriert uns an unzähligen Hochhäusern vorbei durch volle Straßen in Richtung Zuhause.

»Super Plan, was ist denn meine Aufgabe?« Ganz unauffällig klammere ich mich an den Türgriff.

»Du sagst am besten so wenig wie möglich, aber einige Sachen musst du dir merken. Meine Mama ist die jüngste 50-Jährige, die du je gesehen hast, ihre Haut ist so weiß, dass jede Perlenkette gelb vor Neid wird, und ihre Figur ist sogar hübscher als meine.« Sie beugt sich zu mir herüber und warnt mich mit blitzenden Augen: »Meine Mutter ist die einzige Frau, der du solche Komplimente machen darfst, besonders das mit der Figur.«

Immer wieder murmele ich die geplante Begrüßung auf Shanghainesisch vor mich hin. »Hallo, große Schwester. Du bist heute besonders hübsch. Hier sind ein paar Geschenke für dich.« Das ist der wichtigste Teil, alles andere wird schon funktionieren. Aber dieses Shanghainesisch ist verflixt schwierig. Wenn es nicht mal die Kinder hier hinbekommen, wie soll ich das dann schaffen? Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe und beobachte Liping unauffällig. Trotz unseres großartigen Planes kann ich ihr die Nervosität ansehen, und da sie sowieso im Shanghaier Verkehr darauf achten muss, immer im richtigen Moment anderen die Vorfahrt zu nehmen, will ich sie nicht noch mit Nachfragen nach der richtigen Aussprache belästigen. »Huhn« hallt es in meinem Kopf nach, »Prostituierte« und »Hühner mag er schon mal nicht«. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, Thomas, Konzentration! »Hallo, große Schwester! Hallo, große Schwester!«

In einer dunklen Ecke der Tiefgarage finden wir einen Parkplatz und gehen von dort aus zum Aufzug. Dieser ruckelt gemächlich hoch in den 15. Stock. »Hallo, große Schwester! Hallo …« Wir treten aus der Aufzugstür und stehen im Flur vor der Wohnung.

»Wie war das nochmal mit …?«, flüstere ich Liping zu. Doch bevor ich die Frage zu Ende stellen kann, fliegt die Wohnungstür auf und Lipings Mutter steht leibhaftig vor mir. In meinem Gehirn flattern Hühner und Enten aufgeregt durcheinander. »Ladies first«, schießt es mir durch den Kopf. Also schiebe ich Liping vor mich in Richtung Wohnung und halte mit der anderen Hand ihrer Mutter den Geschenkkorb samt Hühnchen vor die Nase. Als keiner etwas sagt, kann ich nicht mehr an mich halten und es platzt aus mir heraus: »Hallo, älterer Bruder! Du bist heute aber hübsch. Hier ist dein Huhn!«

Lipings Mutter sieht erst mich und dann ihre Tochter fassungslos an. Dann verzieht sich ihr Gesicht zu einem breiten Lachen. »Hat man sowas schon mal gehört!«, bricht es aus ihr hervor, ›Hier ist dein Huhn‹. Der Ausländer hat Humor. Komm rein!«

Neben Lipings Mutter sind noch drei andere Damen mittleren Alters anwesend, die sich offenbar köstlich über mich amüsieren.

»Das sind meine Tanten«, raunt Liping mir zu. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie kommen.« Wahrscheinlich hat ihre Mutter sie zum Auswahlkomitee einberufen, um gemeinsam mit ihnen meine Tauglichkeit zum möglichen zukünftigen Schwiegersohn zu beurteilen.

Als erste drückt mich eine vollbusige, untersetzte Dame mit dick aufgetragenem roten Lippenstift und einer Herzlichkeit, die ich bei Chinesen gegenüber Fremden nie für möglich gehalten hätte, an sich. Sie stellt sich als guma vor, was die Bezeichnung für die ältere, verheiratete Schwester des Vaters ist. Die Frau des jüngeren Bruders der Mutter, die jiuma, schüttelt mir distanziert die Hand und die dayima, die ältere Schwester der Mutter, winkt mir von ihrem Platz aus zu und zeigt einladend auf ein Schälchen mit getrockneten Bohnen und gesalzenen Rindfleischstückchen.

»Dayima heißt auch Menstruation, exakt in der gleichen Schreibweise und Aussprache.« Glucksend klärt mich die guma über dieses Wortspiel auf, während sie mit Blick in den kleinen gold-verzierten Taschenspiegel ihren roten Lippenstift nachzieht. Ach du Schande, denke ich. Wenn Liping mal zu mir sagt: »Meine dayima ist gekommen«, wie soll ich dann künftig wissen, ob ich das Teewasser für den Besuch aufsetzen oder für sie zum Drogeriemarkt fahren soll?

Da reißt mich die jiuma aus meinen Gedanken, indem sie sich mir zuwendet, sich räuspert und scheinbar beiläufig fragt: »Wie viel verdienst du denn im Monat so?«

Vor Schreck bleibt mir eine Bohne im Hals stecken, und ich spüre, wie ich rot anlaufe. Einerseits habe ich mit so einer Frage wirklich nicht gerechnet und außerdem keine Ahnung, wie ich mit meinen rudimentären Chinesischkenntnissen den Tanten erklären soll, dass ich von 378 Euro Bafög im Monat lebe (ich weiß ja nicht einmal, was Bafög ausgeschrieben auf Deutsch heißt, geschweige denn auf Chinesisch). Andererseits bekomme ich wirklich keine Luft mehr, weil die getrocknete Bohne in meiner Luftröhre steckt. Das erkennt nun die guma. Sie klappt den Spiegel zu, springt für ihren Körperbau erstaunlich behände vom Sofa auf, schleudert mich einmal um die eigene Achse, hebt mich von hinten an und drückt so fest sie kann zu. So findet nicht nur die Bohne ihren Weg wieder hinaus, sondern auch die zwei Liter warmen Wassers, die ich seit meiner Ankunft aus Höflichkeit zu mir genommen habe.

Soviel habe ich bei meinen Aufenthalten in China schon gelernt. Heißes Wasser ist das Allheilmittel. Es hilft gegen Erkältung, Depression und auch bei Menstruationsbeschwerden. Es ist einfach die beste Wahl zu jeder Tages- und Jahreszeit, davon ist jeder Chinese fest überzeugt. Auch all meine ausländischen Freunde in China lernen früher oder später das ungewöhnlich einfache und doch so befriedigende Getränk lieben. Jetzt aber verfluche ich es. Der teure Seidenbezug des Sofas ist völlig durchnässt und ich würde am liebsten durch eine Klappe im Boden verschwinden. Die Tanten strahlen: »Schnell, hol dein Handy raus, das muss ich meinem Enkel zeigen, der wird sich totlachen!«

Liping, die eben noch zusammen mit ihrer Mutter in der Küche zugange war, aber die Frage wohl gehört hat, kommt herbeigelaufen, baut sich vor den Tanten auf, die inzwischen ihre letzten Lachtränen weggewischt haben, und sagt resolut: »Damit das ein für alle Mal klar ist: Thomas ist ein armer Student, hat keine Arbeit, keine Wohnung, fährt weder BMW noch Mercedes, sondern meistens Fahrrad. Aber wir lieben uns, egal was ihr denkt!«

Nach einer peinlichen Stille fangen die Tanten an, wild durcheinander zu reden.

»Aber ja natürlich!«

»So war das auch gar nicht gemeint!«

»Hauptsache, ihr seid glücklich!«

Triumphierend grinst mich Liping an, als die guma noch nachsetzt: »Und so wie ich Thomas einschätze, ist er fleißig genug, dass es auch irgendwann für einen BMW reichen wird.«

Inzwischen ist aus meinem Huhn in der Küche tatsächlich eine leckere Hühnersuppe geworden. Wir setzen uns an den Holztisch und schlürfen die warme Brühe mit Genuss. Die Taube hat meine Schwiegermutter in Sojasauce gedünstet und sie direkt vor meine Schale mit Reis gestellt.

»Hier, die ist sehr nahrhaft. Ich tu dir direkt etwas in die Schale. Woher wusstest du, dass ich so gerne Taube mag?«

Liping blinzelt mir zu und sagt: »Thomas hat von Anfang an darauf bestanden, dir eine Taube zu kaufen. Er meinte, die wird dir bestimmt schmecken.«

»Wie lieb, Thomas«, strahlt Lipings Mutter. »Los, greif zu.«

Ich hatte insgeheim gehofft, dass sie die Taube selbst essen und ich lediglich ein bisschen an der Sojasauce nippen würde. Denn bisher waren Tauben für mich nur die Ratten der Lüfte und damit auf der Liste meiner Lieblingsessen ganz weit unten. Das lasse ich mir natürlich nicht anmerken, als Lipings Mama die halbe Taube samt Kopf auf dem Reis in meiner Schale platziert. Um mich von dem sauren Geschmack abzulenken, der schon wieder meine Kehle hochsteigt, kneife ich mich selber in den Oberschenkel und sage mir innerlich:

»Thomas, es dient höheren Zielen. Gib dir einen Ruck.«

Und so mache ich mich daran, die halbe Taube auseinanderzunehmen. Da ich dazu weder Messer noch Gabel zur Verfügung habe, sondern nur zwei Holzstäbchen und einen Porzellanlöffel, sorge ich mit meinen Essversuchen für Heiterkeit bei der versammelten Damenrunde. Wider Erwarten schmeckt die Taube allerdings ganz gut. Das Dünsten hat das Fleisch zart gemacht. Die salzige Sojasauce und der Zucker, der in keinem Shanghaier Gericht fehlen darf, geben dem Fleisch einen eigenartigen, aber durchaus würzig-leckeren Geschmack.

»Schau mal, Thomas hat alles aufgegessen, Mama«, ruft Liping ihrer Mutter zu, die schon wieder in der Küche hantiert. Das stimmt – fast. Den Taubenkopf habe ich unauffällig in zwei Taschentücher gewickelt und beim Toilettengang in den Mülleimer entsorgt. Lipings Mutter kommt zurück aus der Küche an den Esstisch, wischt sich ihre Hände an der Schürze ab und nickt mir wohlgesonnen zu:

»Wenn du Taube so gerne magst, koche ich beim nächsten Mal zwei. Eine für uns und eine für dich ganz alleine.«

Nachdem die Schüsseln abgeräumt sind, kramt die guma raschelnd in ihrer roten Plastiktüte und zieht eine Flasche mit klarem Inhalt hervor. Mit einem Knall stellt sie diese in die Mitte des Holztisches.

»Das ist unser Nationalgetränk, baijiu, ›weißer Alkohol‹«, verkündet sie stolz. »Er ist gut für die Verdauung und gut für die Stimmung.« Dann gießt sie den Klaren, dessen Geruch mich stark an Korn erinnert, so beherzt in kleine Schnapsgläser, dass sich viele Pfützen auf dem Tisch bilden. Erwartungsvoll blitzen mich vier Augenpaare an, und mir will der kalte Schweiß ausbrechen. Ich bin nicht gerade der Typ Mann, der durch seine Trinkfestigkeit glänzt. Jede Einzelne der anwesenden Damen wird mich mit Leichtigkeit unter den Tisch trinken. Flehentlich blicke ich zu Liping.

Noch bevor alle Schnapsgläser gefüllt sind, erhebt sie sich feierlich und setzt eine traurige Miene auf:

»Ich muss euch noch etwas Wichtiges sagen. Für mich ist Thomas der perfekte Mann. Doch von klein auf hat er ein körperliches Leiden. Seine Leber hat eine eingeschränkte Funktionalität, der kleinste Tropfen Alkohol könnte ihn ins Koma versetzen. Ich hoffe, ihr könnt das verstehen.« Theatralisch wischt sie sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel, und ich kann sie nur mit offenem Mund anstarren. Genauso wie die Tanten habe ich heute zum ersten Mal von dieser Unverträglichkeit gehört. Als ich verstohlen in die Runde äuge und die mitleidigen Blicke der Tanten ernte, applaudiere ich Liping innerlich. Wie kann sie nur so clever sein?

»Eingelegte Tausendfüßler!«, ruft auf einmal die guma so eifrig, als hätte sie soeben beim Bingo gewonnen. »Die sind das Beste, was die Chinesische Medizin für die Leber zu bieten hat. Hier, zufällig habe ich ein Pfund dabei. Du musst täglich eine Handvoll mit Ingwer und Knoblauch aufkochen und zwei Gläser von dem Saft trinken. Mein Mann, der alte Säufer, trinkt das jeden Tag und hat wieder eine Leber wie ein 20-Jähriger. Bis zu eurer Hochzeit wird alles wieder gut, und dann holen wir das nach, was du heute verpasst.«

An »Hochzeit« habe ich bisher noch gar nicht gedacht. Ich bin schon froh, dass der erste Abend im Kreise von Lipings erweiterter Familie bisher glimpflich verlaufen ist. Doch wenn die guma von Hochzeit spricht, heißt das ja, dass sie mich gewissermaßen akzeptiert. Oder? Während ich noch mit gemischten Gefühlen über die Bemerkung nachgrübele, drückt die guma mir auch schon den gelben Plastikbeutel mit den Insekten in die Hand. Dann schnappt sie sich ein Schnapsglas und stößt mit den anderen Tanten an. Im Nu ist die Flasche geleert und Liping will mich zurück ins Hotel bringen.

»Große Schwester, vielen Dank für das fantastische Essen!«

»Ach Quatsch«, winkt Lipings Mutter erfreut ab. »Das war heute das schlechteste Essen, das ich je gemacht habe. Warte mal, bis ich einen guten Tag habe, dann zeige ich dir, wie gut ich wirklich kochen kann. Es tut mir leid. Ich hoffe, du bist wenigstens ein bisschen satt geworden.«

»Satt ist gar kein Ausdruck, Schwester. Und außer, dass du gut kochen kannst, siehst du auch umwerfend aus. Liping hat wirklich nicht zu viel versprochen. Du bist sogar viel jünger, hübscher und schlanker als auf allen Fotos, die ich von dir gesehen habe.«

»Ach was, jetzt hör aber auf. Jeden Morgen erschrecke ich mich zu Tode, wenn ich die alte, dicke Frau im Spiegel sehe. Naja, dann macht’s mal gut!«

Liping zeigt nochmal wortlos in Richtung Wohnzimmer, wo die Tanten mit mittlerweile geröteten Gesichtern sitzen und plaudern.

»Macht’s gut!«, rufe ich ihnen zu.

»Auf Wiedersehen!«

»Wiedersehen!«

»Fahrt vorsichtig!«

»Machen wir!«

»Soll ich euch noch etwas für den Weg einpacken?«

»Nein Mama, das brauchst du nicht!«

»Entschuldigt nochmal!«

»Alles gut!«

»Es ist kalt, macht die Jacken zu.«

»Ja, machen wir.«

»Ich mach euch noch einen Tee für den Weg.«

»Das ist wirklich nicht nötig, Mama.«

»Naja, gut, dann fahrt vorsichtig. Fahrt langsam. Es ist schon dunkel.«

So langsam verliere ich die Geduld und zupfe Liping am Ärmel.

»Sag ihr nochmal, wie lecker das Essen war«, flüstert sie mir ins Ohr. Da fällt plötzlich jegliche Scheu von mir ab, und ohne die geringste Sorge, ich könnte es vielleicht übertreiben, gebe ich alles:

»Große Schwester, ich wünschte, dass ich meinen Verdauungsmechanismus für zwei Tage aussetzen könnte, nur um von den Delikatessen zu zehren, die ich heute zu mir genommen habe. Nie wieder im Leben werde ich solche Gaumenfreuden erleben können.«

»Du alter Heuchler«, mahnt mich meine innere Stimme. Aber Lipings Mutter winkt beschämt ab und lächelt geschmeichelt, während ich erschöpft in den Aufzug sinke. Als sich dessen Tür mit einem Piepen schließt, höre ich die guma uns noch hinterherrufen: »Denk an die Tausendfüßler! Jeden Morgen zwei Tassen!«

Liping strahlt mich an. »Das ist ja wirklich gut gelaufen. Hast Du bemerkt, wie sehr sie dich alle mögen? Jetzt haben wir vier Verbündete mehr im Kampf gegen den Tiger!«

In der Tiefgarage ist die Beleuchtung inzwischen ausgefallen, abgesehen von zwei schummrigen Glühlampen, die an einem vereinsamten Kabel von der Decke baumeln. Außer dem Quietschen unserer Gummisohlen auf dem feuchten Tiefgaragenboden und dem Klirren der Autoschlüssel in Lipings Hand ist alles still. Plötzlich hören wir raue Männerstimmen, und einige Schatten bewegen sich langsam in unsere Richtung. Ohne uns abzusprechen, bleiben wir auf der Stelle stehen und versuchen im Dunkeln auszumachen, wer uns da entgegenkommt. Es müssen mindestens vier, fünf Männer mittleren Alters sein. Ein kräftiger Typ mit dunklem Haar und ebenso dunkler Haut scheint die Gruppe anzuführen. Als sie uns so nah sind, dass man die Stimmen deutlich vernehmen kann, drückt Liping meine Hand so fest, dass ich aufschreien möchte. Sie presst aber ihre andere Hand auf meinen Mund und versucht, mich hinter einen schwarzen amerikanischen Geländewagen zu schieben. Doch bevor wir hinter dem Wagen abtauchen können, zeigt einer der Männer mit seinem kurzen, dicken Zeigefinger in unsere Richtung. Es ist ein untersetzter Glatzkopf, der trotz der begrenzten Sichtverhältnisse in der Tiefgarage seine Sonnenbrille nicht abgenommen hat.

Jetzt marschiert der Anführer der Gruppe direkt auf uns zu. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob das schnelle Pochen das Geräusch seiner Stiefelabsätze auf dem Betonboden ist oder das Schlagen meines Herzens.

Als er sich uns bis auf einen halben Meter genähert hat, blicke ich zu ihm auf. Die Glühbirne über uns wirft ihr fahles Licht direkt auf ihn. Es spiegelt sich in der Goldkette wider, die um seinen Hals baumelt. Er hat seinen Mund leicht geöffnet und die weißen Zähne aufeinandergebissen. Doch am markantesten ist sein durchdringender Blick, der mich spontan mit einem leichten Anflug von Übelkeit an das grausige Schicksal des Huhns am Morgen denken lässt.

»Was zum Teufel machst du hier mit meiner Tochter?«

女人能顶半边天

FRAUEN TRAGEN DIE HÄLFTE DES HIMMELS

Sechs Monate vorher

Nein, als ich im August des Vorjahres in Shanghai ankam, hätte ich nie gedacht, dass ich mich einmal hier verlieben würde – mit all den Gefahren, die das mit sich brachte.

Dass ich überhaupt auf dieser Studentenparty war, grenzte an ein Wunder. Ich, der ich am liebsten zu Hause meine Nase in Bücher stecke, sollte auf einmal mit Leuten aus anderen Ländern und womöglich auch des anderen Geschlechts Small Talk halten? Außerdem kommt hinzu, dass in den Shanghaier Sommermonaten eine unglaublich schwüle Hitze herrschte. Ich trug weite T-Shirts und kurze Hosen, die außerhalb meines klimatisierten Studentenzimmers sofort völlig durchnässt waren.

»Anja«, wimmerte ich meine Bochumer Kommilitonin an. Obwohl sie laut Hausregeln natürlich nicht hier in dem Männertrakt sein dürfte, hatt sie sich mit einem Lächeln an dem Portier vorbeigeschlichen. Ihr Ziel war es, mich zu überzeugen, mit auf die Party zu kommen und bei der Gelegenheit ungestört mein Badezimmer zu benutzen. Ihre Zimmergenossin hatte sie, nachdem sie eine Stunde ihr Bad blockiert hatte, rausgeworfen. »Ich habe kein einziges Kleidungsstück dabei, das für eine Party geeignet wäre.« »Nichts da«, rief sie ungerührt herüber, »ich kann da unmöglich allein aufkreuzen. Also stell dich nicht so an!«

Ich zog ein zerknittertes Hemd hervor und versuchte es erfolglos glattzustreichen. Zusammen mit einer kurzen dunkelblauen Hose war das karierte Kleidungsstück das schickste, womit ich aufwarten konnte. Jetzt brauchte ich nur noch vernünftige Schuhe. In den Sommermonaten hatte ich tagtäglich nur ein einziges Paar Schuhe an: meine Plastik-Flipflops, das einzige Schuhwerk, das die schwüle Hitze Shanghais erträglich machte. Aber mit denen konnte ich unmöglich auf einer Party aufkreuzen. Zu meinem Glück gab es vor unserem Wohnheim unzählige Straßenstände. Neben dem Stand mit dem gegrillten Knoblauch-Tintenfisch und dem gebratenen Reis fand ich einen Händler, der einen Berg Schuhe vor sich aufgetürmt hatte. »Nur die beste Qualität!«, versicherte er mir. Auch wenn ich ihm das bei dem Preis von umgerechnet 3,50 Euro keineswegs abnahm, entschied ich mich für ein Paar grüne Sneakers. Wir liefen zu Fuß zur Party und leider merkte ich erst viel zu spät, wie schlecht durchlüftet mein neues Paar Schuhe war.

Als wir bei der Party ankamen, dünsteten meine Füße bereits Gerüche aus, die denen eines Limburger Käses in nichts nachstanden. Anja verschwand gleich zwischen den trinkenden und im Takt der Musik wippenden Partygästen. Ich ärgerte mich über sie. Wofür hatte sie mich denn überhaupt hierhin gezerrt? So strolchte ich allein zwischen den Feiernden durch die Partywohnung. Ich steckte abwechselnd jeweils einen Fuß durch die offene Balkontür in der Hoffnung, der Wind würde die ausströmenden Düfte davontragen. Als ich dort an der Balkontür auf einem Bein stand, sah ich sie: Sie war wunderschön, mit wildem, kurzem Haar, dessen glänzendes Schwarz sich gegen das leuchtende Gelb ihres Kleides abhob. Ihre Hüften wirkten schmal, doch nicht zerbrechlich, und ihre Augen leuchteten jeden an, den ihre Blicke trafen.

Ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf schoss, und wusste sofort, dass dessen Farbe nun auf Rot umgesprungen war wie eine Ampel. »Mann, ist das eine tolle Frau. Einfach der Wahnsinn«, dachte ich. »Schade nur, dass jemand wie ich nie das Herz von einer Frau wie ihr erobern kann.« Im selben Moment schaute sie mich an und kam direkt auf mich zu.

»Lass uns tanzen!«, forderte sie mich auf Englisch auf.

Ich stellte mich auf beide Beine, räusperte mich und krächzte: »Schau mich mal an, ich kann noch nicht einmal vernünftig geradestehen, geschweige denn tanzen.«

»Ach was«, winkte sie ab. »Da gibt es keine Regeln. Du musst einfach deine Hüften schwingen. Ich zeig’s dir!«

Mit diesen Worten packte sie mich ungewöhnlich kräftig am Arm und wir suchten uns eine freie Stelle zwischen den tanzenden, trinkenden und lachenden Partygästen. Sie schloss die Augen und fing an zu tanzen. Ich stand da wie versteinert. Dann versuchte ich, sie zu imitieren. Hüften schwingen. Wenn das nur so einfach wäre! Ich musste mich doch ganz darauf konzentrieren, diesen Moment in mich aufzusaugen, da ich so einer fantastischen Frau gegenüberstand, die sich morgen ohnehin nicht mehr an mich erinnern würde.

Irgendwann bemerkte ich, dass sie meine Hand nicht mehr losließ. Den ganzen Abend wirbelte sie um mich herum, erzählte mir Witze und war einfach nur bezaubernd. Auch wenn andere, in meinen Augen deutlich attraktivere Männer versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wich sie nicht von meiner Seite. Das verwirrte mich, bis mir ganz schwummrig wurde.

Aber unsterblich verliebte ich mich in sie erst, als wir die Hausparty verließen. Mittlerweile hatte sie mir ihren Namen verraten. Liping. Sie hatte sich lachend über ihre Eltern beschwert, die ihr diesen altmodischen Namen verpasst hatten, der in etwa das chinesische Pendant zu »Gertrude« war. Doch in meinen Ohren klang er wie Musik. Liping. Und außerdem war er für mich Deutschen (im Unterschied zu den meisten anderen chinesischen Namen) einfach auszusprechen. Nach der Party machten wir uns auf den Weg in einen der vielen Clubs der Stadt. Kurz bevor wir die Wohnung verließen, verschwand Liping in der Toilette und kam wie verwandelt wieder heraus. Das Kleid hatte sie gegen eine kurze Hose und ein T-Shirt ausgetauscht, die hochhackigen Schuhe gegen bequeme Sneakers. Mit einem Lachen sagte sie: »So, jetzt habe ich alle Männer beeindruckt, da kann ich mir auch was Gemütliches anziehen.« Da war es um mich geschehen. Ich hatte schon gelernt, dass die Chinesen den Frauen zutrauten, die Hälfte des Himmels zu tragen. Doch ich war mir sicher, dass Liping mindestens den ganzen Himmel, wenn nicht sogar die Erde stemmen konnte. Sie war einfach perfekt.

An die nächsten Stunden kann ich mich nur noch verschwommen erinnern. Wir tanzten in einem der vielen Kellerclubs Shanghais, bis uns schwindelig wurde, und lachten über Dinge, die man nur zu später Stunde und unter Alkoholeinfluss witzig findet. Als sie mich am frühen Morgen mit dem Taxi vor meinem Wohnheim absetzte, verabschiedete sie sich mit einem Kuss auf meine schweißnasse Stirn. Dann verschwand der grüne VW Santana mit ihr in der Dunkelheit, und ich stand wahrscheinlich noch eine Stunde lang regungslos da. Auch wenn die roten Rücklichter des Taxis längst nicht mehr zu sehen waren, starrte ich unentwegt in die Richtung, in der sie davongefahren waren.

Der Straßenfeger, der vor der Morgendämmerung die Straße vom Müll der Nacht befreite, beäugte mich von allen Seiten. Dass ein untersetzter weißer Ausländer morgens in der Frühe am Straßenrand steht und wie ein Ochse unentwegt in eine Richtung glotzt, erlebte er wahrscheinlich nicht alle Tage. Er kramte in der Tasche seines einteiligen blauen Stoffanzuges, der mit neongelben Streifen überzogen war, und förderte eine weiße Packung »Bambus«-Zigaretten zutage, die man am Kiosk um die Ecke für knapp einen Euro erstehen konnte. Dass ich dankend ablehnte und immer noch keine Anstalten machte, meinen Wachposten mitten auf einer dunklen Straße Shanghais aufzugeben, schien ihn zu beunruhigen. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck schraubte er quietschend den Deckel seiner Thermoskanne auf und bot mir einen Schluck heißes Wasser an.

»You o.k.?«

Ich nahm dankbar einen großen Schluck, verbrannte mir die Zunge, gab ihm aber mit einer höflichen Verbeugung die kleine metallene Kanne zurück. Das heiße Wasser, das glühend durch meine Kehle rann und sich im Magen zu dem Alkohol des vergangenen Abends gesellte, hatte mich zurück in die Realität befördert. Ich rieb meine Augen und klatschte mir rechts und links einmal auf die Wange. Auf einmal spürte ich die Erschöpfung. Das stundenlange Tanzen an der Seite dieser chinesischen Schönheit hatte mich ziemlich geschlaucht. Ich brauchte jetzt Schlaf.

Die ereignisreiche Nacht besiegelte ich damit, dass ich meine Sneakers samt Socken in hohem Bogen in den fahrbaren Mülleimer des Straßenfegers beförderte. Unter den verständnislosen Blicken meines nächtlichen Kompagnons machte ich mich barfuß auf den Weg in mein Bett. Trotz unzähliger flatternder Schmetterlinge in meinem Bauch fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

……

Mit leichten Kopfschmerzen wachte ich am Nachmittag auf und tastete verschlafen nach meinem Handy. Ich wollte mir die Fotos des gestrigen Tages anschauen und in Erinnerungen schwelgen. Die waren wahrscheinlich das Einzige, was mir von dieser Nacht bleiben würde.

Während alle in Shanghai um mich herum die neuesten iPhones zur Schau trugen, war ich immer noch Besitzer eines urzeitlichen Klapphandys. Die Zeiten, in denen man damit beim anderen Geschlecht Eindruck schinden konnte, waren längst passé, doch das war, wie so vieles andere, an mir vorbeigegangen. Immerhin hatte es eine Fotofunktion, mit der man etwa 50 verpixelte Aufnahmen machen konnte, bevor der Speicher voll war. Mit jahrelang geübtem Schwung klappte ich das Handy auf. Mit der anderen Hand traktierte ich meine linke Schläfe, um der Kopfschmerzen Herr zu werden. Diese Schläfenmassage hatte unsere Chinesischlehrerin uns beigebracht für den Fall, dass wir mal wieder nicht die Aussprache von »Huhn« und »Taube« auseinanderhalten könnten. Schläfenmassierend tippte ich meinen Pin-Code ein, und bevor ich mir die unscharfen Bilder auf dem Display anschauen konnte, sah ich, dass ich eine SMS bekommen hatte. Plötzlich waren alle Kopfschmerzen wie verflogen und ich hatte wieder beide Hände frei. Beidhändig umklammerte ich mein Handy und zog es näher an mein Gesicht.

»Wodimaya – Meine Mutter!«, murmelte ich das chinesische Pendant für »Oh mein Gott!« in mein Doppelkinn. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich hatte tatsächlich eine SMS von Liping bekommen. Als sie mir beim Abschied ihre vermeintliche Nummer in mein Handy eingetippt hatte, war ich mir sicher gewesen, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder würde ich die nette Dame von der chinesischen Telefonauskunft an der Strippe haben, die mir im Gegensatz zu ihrer sehr effektiven deutschen Kollegin (»Kein Anschluss unter dieser Nummer«) weitschweifend mitteilen würde: »Hochverehrter Anrufer, wir bitten Sie allerhöflichst, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Die Nummer, die sie gewählt haben, ist nicht vergeben. Sollten Sie weitere Hilfe …« Bisher hatte ich nie die Muße gehabt, mir den Ansagetext bis zum Ende anzuhören, es ging aber das Gerücht um, dass diese Aktivität gut und gerne einen Nachmittag füllen könnte. Oder aber die Nummer gehörte einer ihrer Tanten, die mir gehörig den Marsch blasen würde, wenn sich eine männliche Stimme mit ausländischem Akzent nach Liping erkundigen würde.

Doch es sollte zu keinem Rendezvous mit einer der beiden Damen kommen, denn die Vorschau der SMS zeigte eindeutig den Namen Liping an. In freudiger Erwartung drückte ich die OK-Taste. War es vielleicht ein einfaches »Dankeschön«? Oder vielleicht eine Einladung zum zweiten Date? Oder gar – bei dem Gedanken fing mein ohnehin schon rotes Gesicht an zu glühen – vielleicht eine Liebeserklärung?

Als ich die SMS öffnete, fand ich folgende Nachricht vor:

Enttäuscht pfefferte ich das Handy zurück aufs Bett. Nun hatte ich wieder beide Hände frei, um mir die Schläfen zu massieren.

Jetzt hatte ich einmal im Leben die Gelegenheit, Konversation mit der Frau meiner Träume zu führen, und dann das: Es scheiterte ausgerechnet daran, dass ich all die technischen Trends der letzten Jahre verschlafen hatte und mein blödes Klapphandy keine chinesischen Zeichen anzeigen konnte. Was sollte ich nur machen? Sie anrufen und zugeben, dass ich ein rückständiger Hinterwäldler war und deshalb ihre Nachricht nicht empfangen konnte? Oder einfach so tun, als wüsste ich genau, wovon sie redet?

Es war bestimmt eine Liebeserklärung…

»Ja, Liping! Ich konnte auch die ganze Nacht nicht schlafen und musste unentwegt an dich denken. Wann können wir uns wiedersehen?«

Was aber, wenn sie genau das Gegenteil geschrieben hatte?

»Ich weiß zwar, dass dein Chinesisch nicht besonders gut ist, aber wie du ›Du bist zwar nett, aber nicht mein Typ. Schönes Leben noch‹ dermaßen falsch übersetzen und interpretieren kannst, ist mir schleierhaft.«

Nein, das wäre eine Blamage. Inzwischen waren meine Schläfen dunkelblau angelaufen vom ganzen Rumgereibe. Ich musste einfach anrufen und fragen, was sie mir geschrieben hatte.

Mit leicht zitternden Händen klappte ich mein Handy auf und wählte ihre Nummer. »Hochverehrter Anrufer, …«

Besetzt!

Puh! Erleichtert ließ ich mich aufs harte Bett fallen, nur um gleich wieder aufzustehen und mir eine Tasse heißes Wasser aufzusetzen. Es gab doch gar keinen Grund, erleichtert zu sein. Diese Gelegenheit wollte und durfte ich mir nicht entgehen lassen. Nie wieder würde ich die Chance haben, mit so einer Wahnsinns-Frau etwas anzufangen. Also stürzte ich in aller Eile das heiße Wasser herunter, verbrannte mir abermals die Zunge und wählte die Nummer erneut.

Dieses Mal ein Freizeichen. Mein rasender Herzschlag machte sich besonders an dem pulsierenden Schmerz meiner inzwischen dick angeschwollenen Zunge bemerkbar.

»Hallo?«

»Hallo, Liping, hier ist Thomas«, sagte ich langsam und deutlich, um meine schmerzende Zunge zu schonen.

»Thomas! Hast du meine SMS bekommen?«

»Ja, habe ich!«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln, da ich mal in einem Ratgeber gelesen hatte, dass man dies durchs Telefon hören könnte.

»Und?«, fragte Liping, ohne sich anmerken zu lassen, wie ihre Stimmung war.