Kartoffelbrei mit Stäbchen - Thomas Derksen - E-Book

Kartoffelbrei mit Stäbchen E-Book

Thomas Derksen

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Beschreibung

Zum Verlieben komisch! Wenn zum Honeymoon die gesamte chinesische Verwandtschaft mitreist

Chinesen auf Europatrip – ein Phänomen, das Thomas Derksen bisher nur aus sicherer Entfernung kannte: Busladungen von Touristen, die mit ihren Selfie-Sticks wie aus dem Nichts vor Sehenswürdigkeiten auftauchen und anschließend fröhlich schnatternd in Einkaufsmeilen und All-you-can-eat-Restaurants einfallen.

Aber jetzt, wo der Rheinländer seiner Liping das Ja-Wort gegeben hat, wollen die chinesischen Schwiegereltern zusammen mit dem jungen Paar einen Kurztrip durch halb Europa machen: 5 Länder in 7 Tagen – ein perfektes Angebot. Ungemein liebenswert und unterhaltsam berichtet Derksen, wie er sich durch Mode-Outlets und Designerläden quält, seine chinesische Sippschaft mit Rindsrouladen und anderen kulinarischen Eigenarten traktiert und überhaupt so mancherlei Aha-Erlebnisse hat, wenn sich die eigene Heimat, durch die chinesische Brille betrachtet, plötzlich so wahnsinnig fremd anfühlt. Und die Frage auftaucht: Kann man solche Flitterwochen überstehen und trotzdem ein Liebespaar bleiben? – Da hilft nur eins: ganz viel Humor. Zum Glück ist Derksens zweiter Name »Afu«, der glückliche Thomas…

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Honeymoon mit der chinesischen Verwandtschaft

Chinesen auf Europatrip – ein Phänomen, das Thomas Derksen bisher nur aus sicherer Entfernung kannte: Busladungen von Touristen, die mit ihren Selfie-Sticks wie aus dem Nichts vor Sehenswürdigkeiten auftauchen und anschließend fröhlich schnatternd in Einkaufsmeilen und All-you-can-eat-Restaurants einfallen.

Aber jetzt, wo der Rheinländer seiner Liping das Ja-Wort gegeben hat, wollen die chinesischen Schwiegereltern zusammen mit dem jungen Paar einen Kurztrip durch halb Europa machen: 5 Länder in 7 Tagen – ein perfektes Angebot. Liebenswert und unterhaltsam berichtet Derksen, wie er die lustige Reisegruppe geschickt an Mode-Outlets und Designerläden vorbei lotst, seine Sippschaft aus dem Reich der Mitte mit Rindsrouladen und anderen kulinarischen Eigenarten traktiert und überhaupt so mancherlei Aha-Erlebnisse hat, wenn sich die eigene Heimat, durch die chinesische Brille betrachtet, plötzlich so wahnsinnig fremd anfühlt. Und die Frage auftaucht: Kann man solche Flitterwochen überstehen und trotzdem ein Liebespaar bleiben? – Da hilft nur eins: ganz viel Humor. Zum Glück ist Derksens zweiter Name »Afu«, der glückliche Thomas…

Thomas Derksen, geb. 1988 im rheinländischen Gummersbach, hat nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und anschließend in Bochum und Shanghai Wirtschaft und Politik Ostasiens sowie Chinesisch studiert. Inzwischen lebt er als Blogger und Influencer in Shanghai und betreibt zusammen mit seiner Frau Liping einen sehr erfolgreichen Social-Media-Kanal, auf dem er regelmäßig von seinem Leben als Deutscher in China berichtet.

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Originalausgabe 07/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Angelika Winnen, Berlin

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

Umschlagillustrationen und Illustrationen im Innenteil: Isabel Klett Illustration, Barcelona

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27026-1V001

www.heyne.de

Für meine Eltern und Schwiegereltern

INHALT

Vorwort

KAPITEL 1Flitterwochen mit Schwiegervater

KAPITEL 2Gestern Shanghai, heute Marienheide

KAPITEL 3Die Friedenstaube in der Suppe

KAPITEL 4Wie Rinderrouladen auf den Hund kommen

KAPITEL 5Und wo ist jetzt eure Mauer?

KAPITEL 6Europa in sieben Tagen

KAPITEL 7Zum Geburtstag kein Glück

KAPITEL 8Kommt ein Chinese zum Arzt

KAPITEL 9Kartoffelbrei mit Stäbchen

KAPITEL 10Küsschen, geht sterben und kommt bald wieder

VORWORT

Diese Geschichte fängt dort an, wo andere normalerweise aufhören. Mit einer Hochzeit. Das ist der Tag, an dem sich Liebende schwören, sich ein Leben lang treu zu bleiben, gemeinsam durch gute und durch schlechte Zeiten zu gehen. Der Tag, an dem die junge Liebe so unschuldig ist wie das Brautkleid weiß. Der Tag, an dem aus zwei Familien eine wird, an dem sich Kinder und Eltern harmonisch die Hände reichen und gemeinsam die neue Verbindung feiern.

In romantischen Märchen besiegen Held und Heldin den Drachen, heiraten und leben glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage (und essen Rebhühner, wie man in Spanien sagt). Ich jedoch habe mich vor langer, langer Zeit (vor etwa acht Jahren) in ein wunderschönes Mädchen aus Shanghai verliebt. Unser größter Gegner war kein Drache, sondern ein Tiger – der traditionsbewusste Vater meiner Angebeteten.

In vielen Kämpfen haben wir ihn zwar gebändigt, doch manchmal kommt er auch heute noch ganz unvorhergesehen aus dem Hintergrund gesprungen und beißt ein paar Mal kräftig zu.

Nach unserer chinesischen Hochzeit zogen wir aus der Wohnung der Schwiegereltern aus und mieteten im 27. Stock eines Hochhauses eine winzige Wohnung an. Dort genossen wir ein Weilchen in trauter Zweisamkeit unser deutsch-chinesisches Familienleben.

Um das Glück dieser länder- und kontinentübergreifenden Liebesverbindung perfekt zu machen, wollten wir noch einmal in Deutschland im Kreise meiner deutschen Familie und Freunde heiraten. Dann, so meine naive Vorstellung, würden wir alle, das Brautpaar, die chinesischen und deutschen Eltern und alle drum herum glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage leben (und Rebhühner essen).

PS: Der Großteil der Geschichten in diesem Buch hat sich so oder so ähnlich zugetragen. Aber natürlich habe ich, wie man in China so schön sagt, auch hier und da ein wenig Öl und Essig hinzugefügt. Guten Appetit!

KAPITEL 1

FLITTERWOCHEN MIT SCHWIEGERVATER

»5 Länder in 7 Tagen! Erleben Sie Europas schönste Städte in entspannter Atmosphäre. Maximale Gruppengröße: 88 Teilnehmer.«

Das ist die perfekte Reisegruppe für meine Schwiegereltern. Meine Schwiegereltern sind Shanghaier Geschäftsleute und meine Frau Liping, so wie fast alle in ihrer Generation, Einzelkind. Vor einiger Zeit haben wir in China sehr traditionell in Rot mit Löwentanz und allem, was sonst noch zu einer klassischen chinesischen Hochzeit gehört, geheiratet. In wenigen Monaten werden wir noch mal in Deutschland Hochzeit feiern, diesmal nach den Traditionen bei mir zu Hause. In der Kirche, in Weiß und in Anwesenheit aller rheinischen Freunde und Nachbarn.

Im Anschluss daran werden wir meine Schwiegereltern in Köln in einen Reisebus mit chinesischsprachiger Reiseleitung setzen, während Liping und ich in den Flieger Richtung Flitterwochen steigen. Endlich einmal echte Zweisamkeit! In den letzten zwei Jahren haben wir zeitweise mit meinen Schwiegereltern zusammengelebt und selbst jetzt, wo wir eine eigene Wohnung mieten, schlagen sie beinahe täglich bei uns auf. Primär, um sich zu erkundigen, wie fortgeschritten unsere Pläne bezüglich des von ihnen heiß ersehnten Nachwuchses sind. Das wird ihnen unmöglich sein, wenn Liping und ich ungestört und hoffentlich ohne Handyempfang am Strand liegen und Dinge tun, die frischvermählte Ehepaare nun mal so tun. Dann geht auch ohne ihr Zutun vielleicht in nächster Zeit ihr Wunsch, Großeltern zu werden, in Erfüllung.

Noch sitzen wir aber in einem der unzähligen Wohntürme Shanghais und vor uns vieren steht jeweils eine Schüssel mit dampfendem, duftenden Klebereis. Mit den Holzstäbchen befördere ich etwas von der sautierten Aubergine und eine zartrosa Garnele in meine Schüssel.

»Die vier Kilo, die ich nach der Hochzeit zugelegt habe, gehen alle auf dein Konto, Mama«, lobe ich meine Schwiegermutter für ihre Kochkünste.

Bescheiden streicht sie sich eine Strähne aus der Stirn und lächelt zufrieden.

»Greif zu, wenn’s dir schmeckt.«

Das scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um mit meiner Überraschung herauszurücken. Mit dem linken Zeigefingerrücken reibe ich mir drei Mal über die Nase, krame aus meiner Jackentasche die Reisebestätigung hervor und halte diese meinem suppeschlürfenden Schwiegervater hin.

»Schau mal, das ist für euch!«

Er lässt seinen Blick auf das Papier fallen, auf dem groß in gelben chinesischen Zeichen mit roter Umrandung steht: »Die Jodel-Troubadoure – Eine musikalische Reise durch Europa.« Troubadour. Wo der Reiseveranstalter dieses Wort wohl ausgegraben hat? Wahrscheinlich ein Asterix-Fan. Wie dem auch sei, es ist die perfekte Reisegruppe.

Mein Schwiegervater, den seine Freunde alle nur respektvoll Alter Zhu nennen, singt für sein Leben gern. Überhaupt singen fast alle Chinesen gern. Wenn man durch die Straßen Shanghais flaniert, ist es keine Seltenheit, dass ein Essensbote, den neuesten Gassenhauer schmetternd, gebratene Nudeln und Milchtee ausliefert. Und niemand außer Ausländern wie mir würde ihn auch nur eines Blickes würdigen. Denn wenn er Liebeskummer hat, dann muss es eben raus. Liebeskummer und Herzschmerz – darum geht es sowieso in 99 Prozent aller chinesischen Lieder. Ich denke da nur an die bekannten Schmonzetten »Der Fremde, der mir so nah ist« oder »Das Mädchen mit den Flügeln«. Der Herzschmerz ist hier wahrscheinlich deshalb eine verbreitete Krankheit, weil man viele Ehen in China im weitesten Sinne noch als arrangiert bezeichnen kann. Auch wenn es in den meisten Fällen nicht mehr so ist, dass das Brautpaar sich am Hochzeitstag zum ersten Mal sieht, so spielen Gefühle doch häufig eine untergeordnete Rolle. Oft werden junge Leute einander von älteren Verwandten vorgestellt, weil man »ja so gut zueinanderpasst«. Die Kriterien hierbei sind meist Immobilienbesitz, Einkommen und Alter. In genau dieser Reihenfolge. Und dann wacht man plötzlich jeden Morgen nicht neben dem Mädchen mit den Flügeln auf, sondern neben der Fremden, die einem so nah ist.

In dieser Hinsicht bilden meine Schwiegereltern eine Ausnahme. Sie waren Klassenkameraden in der Grundschule und dazu auch noch Tischnachbarn. Das lag nicht daran, dass sie sich von Anfang an sonderlich sympathisch waren, sondern daran, dass meine Schwiegermutter die Klassenbeste war und mein Schwiegervater im Englischunterricht nicht einmal ein E von einem F unterscheiden konnte und die rote Laterne der Klasse jahrelang gepachtet hatte. Die Klassenlehrerin dachte, es wäre eine gute Idee, den Kleinen Zhu neben die Kleine Wang zu setzen, damit er sich von der fleißigen Schülerin inspirieren ließe. Doch der Kleine Zhu interessierte sich nicht im Geringsten für englische Vokabeln und Grammatik, sondern verbrachte seine Zeit lieber damit, die roten Haarbänder seiner strebsamen Tischnachbarin in das Tintenfass zu tunken und mittags ihren Mantou, das gedämpfte Weizenbrot, zu stehlen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die Englischkenntnisse meiner Schwiegermutter sich über die Jahrzehnte auf den Satz We study English for the revolution reduziert haben. Mittlerweile wird sie nicht mehr Kleine Wang, sondern aufgrund ihrer Tätigkeit als Fahrschullehrerin Lehrerin Wang genannt, oft auch von uns Familienmitgliedern. Trotz oder vielleicht gerade wegen des ganzen jungenhaften Schabernacks hatte sie sich als Jugendliche den Avancen des jungen Zhu ergeben. Dieser trug mittlerweile eine adrette Polizeiuniform und mit Anfang 20 heirateten die beiden. Auch auf Hochzeiten in China wird viel gesungen – damals wie heute. Alle paar Monate holt der Alte Zhu die altmodische VHS-Kassette aus der Schublade und schaut sich an, wie er im schicken Anzug das Lied »Der weinende Ozean« (»Der Abschiedsschmerz ist so tief wie der Meeresboden«) zum Besten gibt. Für meinen Geschmack schaut er dabei auffällig oft zur Brautjungfer neben ihm, aber diese Beobachtung habe ich noch nie laut ausgesprochen.

Das ist nun mittlerweile mehr als 30 Jahre her und ich bin mir sicher, dass eine musikalische Reise durch Europa die ideale Abwechslung zum Shanghaier Alltagstrott für die beiden ist. Währenddessen werden Liping und ich uns in Griechenland die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Mir kribbelt es schon auf der Haut, wenn ich daran denke, wie nach den stressigen Monaten voller Hochzeitsvorbereitungen gutes Wetter, frische Meeresfrüchte und eine fantastische Landschaft auf Liping und mich warten.

»Hier ist die Buchungsbestätigung. Ich habe alles schon erledigt. Nach unserer Hochzeit werdet ihr am Kölner Hauptbahnhof abgeholt und könnt eine Woche lang Europa genießen.«

Mein Schwiegervater schaut mich fragend an. Als ich in die Runde blicke, sehe ich, dass Liping und ihre Mutter das gleiche Gesicht aufgesetzt haben. Das geschäftige Klappern der Porzellanlöffel und Holzstäbchen ist verstummt und ich stehe wie so oft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich laufe leicht rot an und frage mich, was ich wohl schon wieder falsch gemacht habe. Von klein auf war das eine meiner größten Ängste: etwas falsch zu machen und damit andere Leuten vor den Kopf zu stoßen. Und ausgerechnet ich bin in einer deutsch-chinesischen Familie gelandet. Hier reiht sich ein badewannengroßes Fettnäpfchen hinter das andere und ich versuche auf Stelzen unbeschadet drum herum zu manövrieren. Abgesehen davon gibt es noch zwei Kräfte, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Zum einen ist da mein chinesischer Schwiegervater. Ich bin ein so ganz anderer Schwiegersohn als Lipings Vater es sich erhofft hat. Ich bemühe mich, ihm dennoch irgendwie zu gefallen, ohne mich komplett zu verbiegen. Und dann sind da die wöchentlichen Anrufe meiner eigenen Mutter, in denen ich sie regelmäßig beschwichtigen muss, dass ich immer noch ihr liebster jüngster Sohn bin und sie im fernen China ganz bestimmt nicht vergessen habe. Dabei hat sie noch fünf andere Kinder, die alle im Umkreis von 5 Kilometern von ihr leben. Für meine Mutter bin ich der ins Ausland weggelaufene verlorene Sohn und für Lipings Vater ein aus dem Ausland dahergelaufener Schwiegersohn.

»Was meinst du damit, dass meine Eltern am Bahnhof abgeholt werden? Was ist denn mit uns?«

»Na, wir fahren in die Flitterwochen.«

Liping studiert eingehend das Papier in ihrer Hand.

»Ja, schon klar. Aber hier auf der Buchungsbestätigung stehen nur die Namen meiner Eltern.«

Jetzt juckt mir nicht nur die Nase, sondern auch die gesamte Kopfhaut. Ich unterdrücke ein Kratzen und versuche, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Langsam bewege ich meine Essstäbchen in Richtung Garnelen, wähle eine besonders große aus und beginne, bedächtig auf ihr herumzukauen. Das ist wieder so ein Moment in unserer deutsch-chinesischen Ehe, in dem wir für den Betrachter zwar barrierefrei miteinander kommunizieren, ich aber das Gefühl habe, dass meine Frau einem Rind etwas auf der Harfe vorspielt, wie die Chinesen so schön sagen. In diesem Fall bin ich das Rind. Was sollen die komischen Fragen? Liping steht auf und winkt mich ins Wohnzimmer. Ich folge ihr, während meine Schwiegereltern sich wieder schlürfend ihrer Schweinshaut-Wintermelonen-Suppe widmen.

»Du hast also eine Reise für meine Eltern gebucht. Und was machen wir?«

»Wir fliegen nach Griechenland.«

»Aber wieso denn? Wenn meine Eltern eine Europareise machen, dann fahren wir doch mit? Das ist doch viel praktischer und außerdem viel interessanter. Zu zweit werden wir uns zu Tode langweilen.«

Sie sagt es mit so einer Selbstverständlichkeit, dass sogar ich einen Moment lang an dem Konzept »Flitterwochen zu zweit« zu zweifeln beginne. Vor wenigen Minuten hatte ich mir noch ausgemalt, wie wir gemeinsam im gemütlichen Hotelbett ausschlafen, am Nachmittag ins kühle Nass der Ägäis springen und am Abend bei romantischem Kerzenschein gefüllte Calamares gepaart mit einem leichten kretischen Weißwein verspeisen. Abgeschlossen wird der Tag mit einem langen Abendspaziergang in der lauwarmen Meeresbrise. Bei den Worten meiner Frau hat sich das Hotelbett plötzlich in eine harte Pritsche verwandelt, das griechische Essen schmeckt sehr fad und ich stelle mir vor, wie wir gemeinsam durch die staubigen Straßen Santorinis trotten und uns nach wenigen Monaten Eheglück kein Wort mehr zu sagen haben. Doch sofort reiße ich mich zusammen und protestiere. So etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Ich will die Hochzeitsreise mit meiner Frau verbringen und damit basta!

»Aber Flitterwochen sind für Paare gedacht, da nimmt man die Eltern nicht mit.«

Oft hören sich Argumente im Kopf viel überzeugender an, als wenn sie tatsächlich ausgesprochen werden.

»Ja, in Deutschland vielleicht. Aber in China heiratest du nicht nur die Frau, sondern die Familie gleich mit.«

Das ist leider nichts Neues für mich, selbst nach der Hochzeit mischen die Eltern im Familienleben ihrer Kinder und Schwiegerkinder hier mächtig mit. Viele chinesische Bräuche habe ich kennen- und lieben gelernt – diesen sehe ich allerdings recht kritisch. Der Gang der Natur ist, dass die Vögel irgendwann aus dem Nest geschmissen werden und lernen, selber zu fliegen. Auch wenn wir Menschen uns meist 18 Jahre Zeit mit dem Flüggewerden lassen, muss es irgendwann doch so weit sein. Das führt zwar dazu, dass es in Deutschland gefühlt mehr einsame alte Menschen als in China gibt. Wir hören oft von deutschen Bekannten und Freunden, dass die Kinder mittlerweile nicht mal mehr Zeit haben, an Weihnachten vorbeizuschauen. Aber man muss ja nicht gleich in Extreme verfallen. Man kann getrennt voneinander leben und sich trotzdem gut verstehen und häufig treffen. Liping und ich leben zumindest in einer eigenen Wohnung. Auch im Shanghai des 21. Jahrhunderts haben wir viele Freunde, die sich mit den Eltern (meist des Mannes) eine Wohnung teilen. Das hat natürlich den Vorteil, dass, wenn Nachwuchs ansteht, die Großeltern den frischgebackenen Eltern kräftig unter die Arme greifen können. Wenn das Kind nach drei Monaten abgestillt ist, geht die Mama meist wieder arbeiten, weil sonst ihr Arbeitsplatz nicht mehr sicher wäre. Die meisten Familien können aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten in Chinas Großstädten nicht auf ein Gehalt verzichten. Für all das habe ich vollstes Verständnis, aber bei dem Konzept Flitterwochen hänge ich an meiner westlichen, in den Augen meiner chinesischen Frau recht egoistischen Sichtweise. Ich sehe meine Hochzeitsreise mit dem Schwiegervater vor dem inneren Auge wie einen Film ablaufen. Allerdings stehe ich eigentlich nicht auf Horrorfilme. Leider ist meine Frau mir im Debattieren auf Chinesisch naturgemäß meilenweit voraus und verkündet:

»Ganz davon abgesehen kannst du doch meine armen, alten Eltern nicht alleine mit Wildfremden in eine Reisegruppe stecken. Was ist, wenn das verdeckte Menschenschlepper sind? Bei euch in Europa weiß man nie. Was man so alles in den Nachrichten sieht …«

Das ist ein Totschlagargument. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass meine Schwiegereltern von Schlepperbanden nach Osteuropa entführt werden, um dort unter sklavenähnlichen Bedingungen bis an ihr Lebensende Spreewaldgurken in Gläser einzulegen. Erschreckt ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ein Urlaub mit meinen Schwiegereltern vielleicht sogar lustig und interessant werden könnte.

»Na gut. Dann halt Flitterwochen mit Schwiegereltern.«

Irgendwie kann ich selber nicht fassen, was ich da gerade gesagt habe. Aber da mein Chinesisch inzwischen so fließend ist, dass ich nicht mehr vor dem Sprechen überlegen muss, ist es nun mal so rausgerutscht. Als unverbesserlicher Optimist versuche ich, das Positive dabei zu sehen. So eine gemeinsame Reise ist eine gute Gelegenheit, dem Alten Zhu und Lehrerin Wang meine deutsche Heimat etwas näherzubringen und natürlich auch meine Familie vorzustellen. Das könnte, vor allen Dingen für meinen Schwiegervater, eine gute Lektion in Sachen Toleranz werden.

»Und du bist Chauffeur, damit das klar ist.«

Spielerisch kneift mir Liping in die Wange. Sie weiß genau, dass ich ihr keinen Wunsch abschlagen kann. Ich seufze und blicke in Richtung Esszimmer, wo ihr Vater sich mittlerweile eine Zigarette angezündet hat und genüsslich den Rauch in unsere Richtung pustet. Wahrscheinlich freut er sich schon sehr auf unsere gemeinsamen Flitterwochen.

***

Nachdem ich schweren Herzens die Dame im Reisebüro aufgesucht und die Tour meiner Schwiegereltern storniert habe, mache ich mich an die Reiseplanung. Die erste Woche wird ganz im Zeichen unserer deutschen Hochzeit stehen. Nachdem wir standesamtlich sowie mit einer traditionellen Zeremonie in China geheiratet haben, ist es nun an der Zeit, dass meine gesamte deutsche Familie Zeuge unserer deutsch-chinesischen Vermählung wird. Die traditionelle chinesische Feierlichkeit mit Fruchtbarkeitstränken, zentnerschweren Kostümen und unzähligen Verbeugungen in alle Himmelsrichtungen war zwar super interessant, aber auch extrem anstrengend. Ich freue mich sehr auf eine einfache Hochzeit im familiären Rahmen in der schönen weißen Kirche in Marienheide. Und im Gegensatz zu den unzähligen verschiedenen Outfits hier wird ein Hochzeitsanzug bzw. Brautkleid es auch tun.

Die komplette Organisation der deutschen Hochzeit bleibt natürlich an mir oder eben an meinem verlängerten Arm in Deutschland, sprich: meinen Eltern, hängen. Um noch präziser zu sein: an meiner Mutter. Denn mein Vater hat nur die Aufgabe, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen, alles andere, von Kindererziehung über Behördenkram bis zur Haushaltskassenverwaltung, ist dem Regime meiner Mutter unterstellt.

»Wollt ihr nicht doch ein bisschen früher heiraten? Wir können es alle gar nicht erwarten.«

Die Hochzeitsvorbereitungen sind eine gute Ausrede für meine Mutter, nicht nur einmal die Woche, sondern alle zwei Tage anzurufen. Und da es wichtig sein könnte, kann ich die Anrufe leider nicht ignorieren. Sie freut sich ganz offensichtlich riesig darauf, auch ihren jüngsten Sohn unter die Haube zu bringen.

»Der Pfarrer ist im Mai sehr beschäftigt, da sind einige Taufen und zwei andere Hochzeiten.«

Wenn es nach ihr ginge, sollten wir wohl am besten schon am nächsten Wochenende den Gang zum Altar antreten.

Ich höre, dass sie die Zeit am Telefon nutzt, um gleichzeitig die Wohnung zu staubsaugen. Eventuell hat sie sogar den Hörer zwischen Schulter und Ohrmuschel geklemmt, um mit der anderen Hand noch die Suppe auf dem Herd umzurühren oder die Hosenbeine von Vaters neuer Sonntagshose zu kürzen.

»Nein, Mama, wir heiraten im Mai. Und wenn der Pfarrer nicht kann, dann nehmen wir halt einen anderen, genug haben wir ja bei uns auf dem Land.«

Das Staubsaugergeräusch verstummt und es wird so leise, dass ich kurz überlege, ob die Leitung komplett zusammengebrochen ist. Doch da höre ich schon ein sehr geräuschvolles Räuspern am andern Ende.

»Du hörst mir jetzt mal gut zu, mein Jung.« Dieser Satz ist mir aus meiner Kindheit nur allzu geläufig. »Pfarrer Odenthal ist ein ehrenwerter Mann. Er hat euch alle – alle! – getauft und alle deine Geschwister getraut. Denk ja nicht daran! Womöglich soll euch der Pfarrer Wirth aus Engelskirchen trauen, oder was? Der kommt aus Hessen! Bei seiner letzten Traupredigt habe ich nur die Hälfte -«

»Ja, Mama, die Leitung ist schlecht. Ich rufe die Tage nochmal an.«

Es gibt tatsächlich Leute, die fünf oder sechs Mal heiraten. Mir wächst jetzt schon alles über den Kopf, dabei heirate ich beide Male dieselbe Frau. Da klingelt das Telefon schon wieder.

»Ja?«

»Ach, siehst du, die Leitung ist wieder ausgezeichnet.« Hätte ich doch nur den Starrsinn meiner Mutter geerbt. »Wir müssen noch so vieles besprechen. Die Hochzeit muss perfekt werden. Ich habe den Nachbarn die Bilder von eurer chinesischen Hochzeit gezeigt und die fanden das alle sehr komisch. So viel Rot und Gold, und die vielen Menschen und das Essen erst!« Egal, was die deutschen Nachbarn meiner Eltern sagen, unsere chinesische Hochzeit war fantastisch. »Und was hältst du davon, wenn die Cäcilie an einem Tisch mit der Familie Kramer sitzt?« Das ist mir in etwa so egal, wie wenn in den Vereinigten Staaten ein Sack Hamburgerbuletten umfällt. »Die verstehen sich zwar nicht so wahnsinnig gut seit der Sache mit ihrem Pudel Marilyn. Davon hatte ich dir doch erzählt, oder?«

Nein.

»Ja.«

»Aber die Cäcilie versteht sich ja auch mit niemandem so richtig.«

»Mama, entscheide das doch einfach alleine. Solange ich am Brauttisch neben Liping sitze, ist mir alles andere egal.«

Auch wenn sie einen Moment lang nichts sagt, höre ich, wie sie sich klammheimlich über die gewonnene Freiheit freut.

»Und wir haben im Kaufhaus in Gummersbach einen Geschenketisch reserviert.«

»Aber wir haben doch schon alles hier in China, Mama. Wir werden keine Toaster und Bügeleisen im Koffer hierherschleppen.«

»Nun, ewig werdet ihr ja nicht da bleiben. Ihr könnt die Sachen bei uns zwischenlagern und wenn ihr endl…, also, äh, ich meine, wenn ihr irgendwann mal nach Deutschland zieht, dann habt ihr bereits alles hier.«

Ob ihre Hoffnung, ihren jüngsten Sohn möglichst bald wieder in ihrer Nähe zu haben, so schnell in Erfüllung geht, weiß ich nicht.

»Hast du denn einen ordentlichen Anzug? Im Schrank hängt noch der von Opas Beerdigung. Denn kann ich noch mal aufbürsten.«

»Nein, Mama, darum hat sich Liping schon gekümmert.«

Tatsächlich hängen das Brautkleid und mein Hochzeitsanzug schon seit einiger Zeit reisefertig eingepackt im Kleiderschrank.

»Zweieinhalbtausend Euro? Und ohne Verhandlungsbasis? Ihr Deutschen lasst euch wirklich gerne über den Tisch ziehen.« Liping hatte es nicht glauben können, als meine Schwester Olga ihr am Telefon mitteilte, was in Deutschland für Hochzeitskleider verlangt wird. »Danke für die Info, Olga.«

Im Gegensatz zu mir und meinen Interkontinentalgesprächen verschwendete Liping keine Sekunde mit unnötiger Kommunikation. Ohne sich zu verabschieden legte sie auf und keine zwei Minuten später saßen wir im Taxi zum Shanghaier Perlen-Center, in dem Schneider, Juweliere und andere Händler ansässig sind.

»Ja, wir liefern maßgeschneiderte Hochzeitskleider und -anzüge in alle Welt«, bestätigte der Schneider unseres Vertrauens mit dem selbst gewählten mondänen Namen Tony Lee.

Er stand in seinem etwa zehn Quadratmeter großen Ladengeschäft, umgeben von Hemden, Hosen, Stoffresten und allen möglichen Ausstellungsstücken. Mit einer Nähnadel zwischen den Lippen und einem Maßband, das er sich wie eine Krawatte um den Hals gebunden hatte, klärte er uns über die Geschäftspraktiken seiner Branche auf.

»Die Deutschen nehmen Maß vor Ort, schicken uns die Daten, wir fertigen das Brautkleid an und schicken es dann nach Deutschland. Dort hängen die Läden eine Null an den Euro-Einkaufspreis hinten dran und alle sind zufrieden.«

Ich blickte auf den Preis. Etwa 150 Euro für meinen Anzug und 250 Euro für das Kleid. In Deutschland würde ich für den Preis nicht einmal einen Dreiteiler von der Stange im Kaufhaus bekommen, geschweige denn einen gut sitzenden Anzug für meinen fülligen Körper. Während Tony das Maßband über meinen Bauch spannte, warf ich einen Blick auf meine Braut. Lipings Kleid war ein Traum. Sie hatte sich ein cremefarbenes Modell ausgesucht, das in seiner Gesamtheit sehr schlicht gehalten war, aber einige romantisch verspielte Details hatte. Es war lang und ausladend und selbst das Ansichtsmodell saß schon fast makellos. Es betonte sehr deutlich ihre weiblichen Rundungen und schloss am Hals mit einem feinen gewellten Kranz ab. Der Kragen ging nahtlos in zwei kurze Satinärmel über, die dezent die Schultern bedeckten. Wenn sie am Tag der Hochzeit noch die Turnschuhe gegen ein weißes Paar Brautschuhe und die Plastikperlen gegen ein Echtperlen-Collier eintauschen würde, wäre sie wochenlang Gesprächsthema bei uns im Dorf. Zufrieden war ich auch darüber, dass Lipings Geschäftssinn uns mehrere Tausend Euro an Ausgaben erspart hatte.

In zwei Monaten gehen also mein Anzug und Lipings Brautkleid mit uns und ihren Eltern auf große Reise nach Europa.

Ich mache mir Gedanken, wie es meinen Schwiegereltern in Marienheide gefallen wird. Die Einwohner Marienheides würden allesamt in einen Wohnblock Shanghais passen und außer zwei Talsperren, vielen Wäldern und Wiesen sowie einer Handvoll Kühe und Schafe haben wir nicht viel zu bieten. Aber so ist das Leben: Gerade die Gegenpole machen es interessant. Metropole und Dorf, laut und ruhig, beengt und weitläufig oder eben Yin und Yang.

***

»Ich habe mich informiert«, schallt es aus dem Hörer meines Handys.

Wenn es in diesen Tagen klingelt, dann kann es nur entweder meine Mutter oder der Alte Zhu sein. In Deutschland ist es noch mitten in der Nacht, also ist es letzterer. Mein Schwiegervater scheint sich, wie so oft, seiner Sache sehr sicher zu sein. Ich halte das gelbe Leihfahrrad am Straßenrand an, und während die leisen Elektroroller und dreirädrigen motorisierten Rikschas voll beladen mit Stapeln von Altpapier und Kartons an mir vorbeirauschen, erklärt der Alte Zhu, worüber er sich informiert hat.

»Ich weiß jetzt alles über Deutschland.«

Na, das kann ja heiter werden. Wenn er sich über etwas »informiert«, dann gibt es normalerweise zwei Quellen: das Fernsehen oder einer seiner Freunde. Ich tippe auf Ersteres. Eines der größten Hobbys meines Schwiegervaters ist es, Zigarette rauchend und Tee trinkend auf den harten Rosenholzstühlen im Wohnzimmer zu sitzen und die Verkaufsshows des lokalen Shoppingsenders Östliche Morgenröte zu verfolgen. Durch die Rauchschwaden hindurch schaut er, wie die aufgedrehten Moderatoren in ihren bunten Kostümen Massagesessel, Diätpillen und Kloschüsseln verkaufen. Immer wenn es um Kochutensilien und Küchengeräte geht, sind die angepriesenen Marken mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit »aus Deutschland«. Da gibt es Messer, die »nach der hohen Kunst germanischer Schmiedearbeit gefertigt wurden« und Kochtöpfe einer »jahrhundertalten deutschen Marke«! Das ist etwas, was die meisten Chinesen gerne hören und besitzen. Auch wenn es sich dabei meist tatsächlich um deutsche Marken handelt, sind diese im Allgemeinen in Deutschland völlig unbekannt. Oft sind es Marken von kleinen Hinterhofwerkstätten, die in Deutschland kurz vor der Insolvenz standen und von einem findigen chinesischen Geschäftsmann für einen Spottpreis aufgekauft wurden. Dieser hat nun die Rechte an einer deutschen Marke und lässt unter deren Namen Woks, Schnellkochtöpfe und Messerblocks günstig in China produzieren. Dann verkauft er diese unter deutscher Flagge an seine Landsleute. Wenn »dieses 12-teilige Kochtopfset für 588,- statt für 5888,- RMB« angeboten wird und (»ich muss verrückt sein«) man eine Heizdecke gratis dazubekommt, dann wird nicht nur mein Schwiegervater schwach, sondern Zigtausende Rentner Shanghais ebenfalls. Diese »ausländischen Produkte« werden oft begleitet von einer zwei- bis dreiminütigen »Doku« mit viel Halbwissen über das vermeintliche Herkunftsland. Unter Garantie gibt es Aufnahmen vom Schloss Neuschwanstein aus der Vogelperspektive.

»Im Fernsehen haben sie gesagt …« – Bingo! – »dass die deutsche Geschichte allerhöchstens 1000 Jahre zurückreicht. Das ist ein Witz! Also, in Deutschland möchte ich so wenig Zeit wie möglich verbringen, da gibt es ja wohl nichts zu sehen. Im Vergleich zu unserer großartigen 5000-jährigen chinesischen Geschichte habt ihr kein bisschen Kultur …«

Trotz des Verkehrslärms auf der viel befahrenen Straße im Zentrum Shanghais halte ich das Handy ein bisschen weiter weg von meiner Ohrmuschel. Denn den Vortrag, der jetzt kommt, habe ich schon oft gehört. Nicht nur von meinem Schwiegervater, sondern auch von Taxifahrern, Arbeitskollegen und Sitznachbarn im Zug. Der Ausdruck »die 5000-jährige chinesische Geschichte« ist in aller Munde und Herzen.

»… und deswegen sollten wir lieber mehr Zeit in Italien und in ein paar anderen Ländern mit Hochkultur verbringen.«

Auch wenn ich gerade nicht radele, steht mir der Schweiß auf der Stirn. Wir haben nach der Hochzeit ungefähr sieben Tage Zeit für unsere Europareise. Eigentlich möchte ich die komplett in Deutschland verbringen. Doch wie die meisten Chinesen, die den zehnstündigen Flug nach Europa auf sich nehmen, will meine chinesische Familie anscheinend in kürzester Zeit vor so vielen europäischen Sehenswürdigkeiten wie möglich Fotos machen, um dann, zurück in Shanghai, mächtig damit zu prahlen. Ich halte das Handy ans andere Ohr und schaue zu, wie die Ampel an der Kreuzung vor mir zum mittlerweile siebten Mal von Rot auf Grün springt.

»Ich muss wieder los, Papa. Ich habe mich mit meiner Mama zum Skypen verabredet.«

Ohne große Verabschiedungsworte, wie es hier bei Telefonaten üblich ist, lege ich auf und radele weiter Richtung Wohnkomplex.

»Und wir haben ja noch den Aussichtsturm und die vielen Talsperren, außerdem die Tropfsteinhöhle! Die Zeit hier bei uns wird wie im Flug für deine chinesische Familie vergehen.«

In der letzten Woche sind wir von normalen Anrufen auf Videotelefonie umgestiegen, da meine Mutter mir so viel besser die Farbe der Servietten zeigen kann, die es in die engere Auswahl geschafft haben. Die Internetverbindung des Gesprächspartners ist nicht stabil, teilt mir die Telefon-App mit. Selbst deutsches WLAN auf dem Land kann nicht mit dem mobilen chinesischen Internet mithalten. Ich nutze die wackelige Verbindung und schweige, um ein bisschen Bedenkzeit rauszuschlagen. Als meine deutschen Eltern für unsere Hochzeit extra nach China gereist sind, haben meine Schwiegereltern sie durch halb Shanghai geschleppt und alles sehen und schmecken lassen, was die Metropole so zu bieten hat. Und das ist eine Menge. In Marienheide gibt es außer den genannten Talsperren, Hügeln und Höhlen wenig, was Großstadtchinesen länger als 48 Stunden in den Bann ziehen kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass genau zwei Tage Tannenwälder, Stalaktiten und Seen genug Fotomaterial fürs Erste bieten.

»Ja klar. Die freuen sich riesig. Ich habe bereits einen Plan, was wir alles machen.« Ich räuspere mich kurz. »Und mein Schwiegervater will, wenn wir schon den weiten Weg auf uns nehmen, noch ein bisschen was von Europa sehen«, sage ich ganz beiläufig.

Das Bild meiner Mutter verschwindet kurz, um dann umso verpixelter wiederaufzutauchen.

»Ach so? Ich dachte, ihr seid sowieso schon im Stress, wenn ihr hier seid, wegen der Hochzeit und allem. Und deine Geschwister, Tante Änni und die Margarete von Hausnummer 13 wollen euch alle zum Essen einladen. Aber zwei, drei Tage Zeit für eine Kurzreise habt ihr bestimmt.«

Na, wenn sich meine Mutter da nicht gewaltig täuschen sollte. Bisher hat ja nur der Alte Zhu seine Reisewünsche angemeldet, meine Frau und meine Schwiegermutter haben mich diesbezüglich noch nicht informiert. Und als hätte sie telepathische Fähigkeiten, sehe ich auf meinem Handybildschirm einen eingehenden Anruf von Lehrerin Wang.

»Sämtlichen Nachbarn und Tanten kannst du schon mal absagen, Mama. Wir haben wahrscheinlich nicht einmal Zeit, alle Geschwister zu besuchen.«

»Aber das könnt ihr doch nicht …«

»So, ich muss jetzt auch wieder. Schöne Grüße an Papa.« Ich verabschiede mich schnell von meiner Mutter und mit einen kurzen Seufzer nehme ich den Anruf meiner Schwiegermutter entgegen.

»Thomas, ich habe eine Liste gemacht, wo ich unbedingt überall hinwill.« Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verschwenden, kommt Lehrerin Wang direkt zum Punkt. »In Deutschland müssen wir unbedingt nach Mei-Qing-Gen und Ying-Ge-Er-Shi-Ta-Te, in Holland nach Lu-Er-Meng-De und in der Schweiz nach Yin-Te-La-Ken, da sind die Uhren besonders günstig.«

Ich betrachte mein undeutliches Spiegelbild im gegenüberliegenden Schaufenster und richte mich auf dem Fahrradsitz ein wenig auf. Was hat meine Schweigermutter da gerade gesagt, wo will sie hin? Ich habe inzwischen keine Verständnisprobleme im chinesischen Alltag mehr, habe aber dennoch keinen blassen Schimmer, was sie da gerade gesagt hat. Das Übersetzen ausländischer Eigennamen ins Chinesische bringt so einige Schwierigkeiten mit sich. In der chinesischen Sprache gibt es nur eine festgelegte Anzahl an Lauten, man kann also nicht, wie im Deutschen, Buchstaben beliebig kombinieren, um neue Worte zu erschaffen. Man muss sich der vorhandenen Lauten bedienen. So wird aus Köln zum Beispiel Ke-Long, das sind die beiden Laute, die für chinesische Ohren am besten die Aussprache der Domstadt imitieren. Und tatsächlich erinnert Ke-Long sehr an das englische Cologne. Auch Ba-Li (Paris) Luo-Ma (Rom) und Bo-Lin (Berlin) kenne ich. Aber was bitte soll Ying-Ge-Er-Shi-Ta-Te sein?

***

»Ingolstadt, du Esel! Das musst du doch kennen.« Verschwitzt stürme ich durch die Wohnungstür und überfalle Liping, die auf dem Sofa sitzt und gerade eine säuberliche Gepäckliste für unsere Europareise auf ihrem Laptop erstellt. Sie klappt das Gerät zusammen und kneift mir liebevoll in die Wange. Mich machen die Kommunikationsschwierigkeiten mit meinen Schwiegereltern immer furchtbar nervös, aber Liping nimmt das mit Humor. Sie reicht mir vom Couchtisch ihr Glas mit lauwarmen Wasser.

»Wie lange lernst du jetzt Chinesisch? Fünf Jahre? Solche Vokabeln hast du doch bestimmt im ersten Semester schon gelernt.«

Ich nippe am Wasser und versuche krampfhaft eine Ähnlichkeit zwischen den Wörtern »Ingolstadt« und »Ying-Ge-Er-Shi-Ta-Te« herzustellen.

»Okay, Ingolstadt also. Aber was bitte will deine Mutter da?«

»Das kannst du dir nicht denken?«, fragt Liping verschmitzt. »Dann finde es heraus!«

Es scheint also Allgemeinwissen zu sein, dass chinesische Europareisende Ingolstadt, Metzingen (Mei-Qing-Gen