Und wieder Azzurro - Stefan Ulrich - E-Book

Und wieder Azzurro E-Book

Stefan Ulrich

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Beschreibung

Endlich: Italien – so schön, so farbig wie beim ersten Mal Als wir nicht aus dem Land durften, haben wir erst verstanden, wie kostbar das Reisen ist. Wie oft haben wir in Gedanken die Koffer gepackt und sind nach Süden aufgebrochen? Stefan Ulrich hat sich vorgenommen, das Land, das er von Kindheit an kennt, in dem er gearbeitet hat, dem er seine großen Bucherfolge verdankt, völlig neu zu erleben, zu erschmecken, zu erfahren. Autobahnen sind tabu, Nebenstraßen Pflicht, Zeit spielt keine Rolle, Reisen im elementaren Sinne. Er lässt sich treiben von den Alpen bis zum Ätna, macht Station, wo er noch nie war, trifft Menschen, die ihm dieses uralte Faszinosum Italien noch näherbringen. "Und wieder Azzurro" ist eine Liebeserklärung an das Sehnsuchtsland von Deutschen, Österreichern und Schweizern.

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Stefan Ulrich

Und wieder Azzurro

Die wunderbare Leichtigkeit Italiens

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

»Italien ist ein Traum,

der für den Rest deines Lebens

immer wieder zurückkommt.«

 

Anna Achmatowa

1Eine Sehnsucht und ein Deal

Als meine Tochter Bernadette und ich an einem kalten Augustmorgen von München nach Süden aufbrechen, beginnt es zu regnen. Tief hängende Wolken um den Irschenberg verschleiern die Alpen. Wir fahren mit Licht durchs Inntal, vorbei an Lastwagen, von deren Rädern Fontänen auf unser Auto spritzen. Feuchtigkeitsschwaden lassen die Bergwälder zu dunkelgrauen Schemen verschwimmen, während uns die Fahrzeugheizung stickige Luft in die Gesichter bläst. »Dabei wollten wir doch ins Blaue fahren«, sagt Bernadette am Steuer, halb spöttisch, halb verdrossen.

»Warte, bis wir auf den Brenner kommen«, antworte ich. »Da kommt die Sonne raus.«

Doch so recht glaube ich auch nicht daran. Das Wetter ist einfach zu scheußlich. Und dass es am Brenner schlagartig besser wird, ist halt auch nur ein Klischee. Der Süden immer sonnig und heiter, der Norden stets wolkenverhangen und trist: So ausrechenbar ist die Welt nicht. Warum sonst würden, diversen Studien zufolge, in den skandinavischen Staaten die zufriedensten Menschen der Erde leben? Und warum kämen aus einem Land wie Italien so viele Nachrichten von Überschwemmungen, Erdbeben und einstürzenden Altbauten, während Hunderttausende junge Italienerinnen und Italiener ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen?

Ich tippe auf meinem Handy herum. Kurz darauf klingt Azzurro aus den Autolautsprechern, das Original von Paolo Conte. Das hebt nicht die Wolken, aber unsere Stimmung. Daher schicke ich noch Nel blu dipinto di blu[1] hinterher. So heißt ein italienischer Schlager Domenico Modugnos und Franco Migliaccis. Er wurde, seinen Schöpfern zufolge, vom blauen Himmel über Rom und einer Flasche Chianti inspiriert. Von Luciano Pavarotti, Adriano Celentano oder Gianna Nannini interpretiert, trägt er bis heute zum Mythos der wunderbaren Leichtigkeit des Seins im Bel Paese[2] bei.

Hinter Innsbruck wird das Grau heller. Bei Matrei verlassen wir die Autobahn und fahren auf der Landstraße weiter, um etwas besser nachempfinden zu können, wie einst die Reisenden voller Erwartungen über den Brenner nach Süden fuhren, ritten oder marschierten. In den alten Zeiten galten die Alpen als Prüfung, die man bestehen musste, um ins Zauberland Italien eingelassen zu werden.

Kurz darauf sitzen wir auf der Terrasse der Pizzeria Terminus, des ersten Lokals hinter der österreichisch-italienischen Grenze – Im T-Shirt! In der Sonne! – und löffeln den Schaum von unserem Cappuccino. Manchmal entspricht die Wirklichkeit eben doch dem Klischee. Am Himmel schweben nur noch einzelne milchweiße Wolkenreste. Unser Blick nach Süden verliert sich über den Bergen in einem seidig-transparenten Blau, als befände sich dahinter nicht das schwarze Weltall, sondern eine weitere, lichtere Welt.

 

Diesem Blau will ich folgen – zunächst mit Bernadette, dann mit meiner Frau Antonia und später, ab Rom, alleine – im Zickzack die italienische Halbinsel hinunter, ohne Plan, aber mit einem festen Ziel: dem sizilianischen Trapani, der Spitze des langen S, das Italien bildet. Und mit einer Frage im Gepäck, deren Antwort ich auf dieser Reise suche.

 

Diese Frage treibt mich, Jahrgang 1963, seit Jahrzehnten um, vielleicht seit jenem Sommer 1969, als ich das erste Mal Italien erlebte. Auf unzähligen Fahrten durch das Land ging ich ihr nach, ohne dass ich sie klar in Worte fassen konnte. Dies geschah erst an einem schwülen Juliabend einige Wochen vor dieser Reise über den Brenner. Bernadette, Antonia, unser Sohn Nicolas und ich saßen auf der Terrasse in München und plauderten in die Nacht hinein. Die Blüten der Engelstrompete dufteten schwer wie ein Opernball, um Nachtschwärmer anzulocken. Der Schlafbaum schloss seine violetten Blätter, Glühwürmchen schwebten zwischen der Bananenstaude hindurch.

»Wie im Süden!«, sagte Nicolas, während er sich in seinem Korbstuhl räkelte.

»So soll es sein!«, erwiderte ich. Denn das soll der Garten verkörpern. Wenn ich schon nicht im Süden leben kann, will ich ihn wenigstens als Illusion nachempfinden können, an warmen Sommerabenden. Daher habe ich Ginster, Wein, Lavendel, Rosmarin, Feige und Trompetenblume angepflanzt, die den Winter draußen überstehen, Bananenstaude und Zypresse mit etwas Kälteschutz. Daher stehen auf der Terrasse Töpfe aus Terracotta mit Oleander, Fächerpalme, Veilchen-, Oliven- und Orangenbaum, die im Winter in die Garage kommen.

»Wie das duftet«, sagte Bernadette und deutete in den Garten. »Da brauchst du gar kein Haus in Italien mehr.«

»Papperlapapp«, widersprach ich. »Ein Haus in Italien wäre was ganz anderes. Dann könnten wir von März bis Oktober immer draußen sitzen, nach der Arbeit zum Baden ans Meer fahren, im Schlaf die Zikaden hören und vielleicht sogar eigenen Wein anbauen.«

»Weißt du noch, wie schrecklich wir im Herbst in Rom froren, bevor die Hausbesitzer endlich vor Weihnachten die Zentralheizung einschalteten?«, fragte Nicolas.

»Statt Zikaden zirpen bei uns die Grillen«, sagte Antonia. »Und statt im Meer können wir im Starnberger See baden.«

»Weißt du noch, wie kalt das Meer bei Rom im Mai oft noch war?«, fragte Bernadette.

Familien haben Rituale. Eines der unseren handelt vom Haus in Italien, genauer gesagt vom Maremma-Haus, weil ich seit langem davon träume, ein rustico, ein altes Landhaus, in dieser südtoskanischen Gegend zu erwerben. Als Nicolas klein war und wir in Rom lebten, wo ich vier Jahre lang als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung arbeitete, sagte er, wenn er wohlgestimmt war: »Papa, wenn ich mal Millionär bin, kaufe ich dir dein Maremma-Haus.«

Daraus ist nichts geworden. Doch Nicolas ist erst Anfang 20, also besteht noch Hoffnung. Allerdings hat sich die Begeisterung meiner Familie für das Maremma-Haus abgekühlt. Antonia argumentiert, sie wolle nicht alle Ferien am selben Ort verbringen und dort die meiste Zeit damit zubringen, das Ferienhaus in Ordnung zu halten. Und Auswandern in die Maremma käme nicht in Frage, weil sie sich da zu Tode langweilen würde, während ich meine Bücher schriebe.

Der Einwand der Kinder ist grundsätzlicher und damit noch gravierender. Er richtet sich nicht nur gegen ein Ferienhaus, sondern auch gegen Italien an sich. Da seien sie in ihrer Kindheit mit uns genug herumgereist. Das werde doch langweilig. Und Rom sei ihnen als sehr schmutzige Stadt in Erinnerung. Zudem gebe es in Italien keine endlosen Strände wie an der französischen Atlantikküste und keinen Ozean zum Wellenreiten. Alles sei eher niedlich und harmlos, kein Ort für Abenteuer.

Seit unserem Wegzug aus Rom im Jahr 2009 waren Bernadette und Nicolas, vom Skifahren in Südtirol abgesehen, nur noch einmal mit uns in Italien, als Teenager auf einem Agriturismo in der Maremma. Dieser Urlaub war ein Desaster, was womöglich auch daran lag, dass Teenager nicht zwangsläufig darauf stehen, mit Papa und Mama Ferien in einem abgelegenen Bauernhof zu machen. Meinem Projekt Maremma-Haus hat dieser Urlaub nicht gutgetan. Zur Rache poste ich meinen Kindern nun immer, wenn ich in Italien unterwegs bin, Bilder von Ruinen in einsamer Landschaft, auf denen »vendesi«[3] steht. »Ihr Lieben. Das habe ich gerade gekauft. Nehmt Euch kommenden Sommer nichts vor! Da renovieren wir.« Zurück kommen Emojis, die sich kranklachen.

Nun, im nächtlichen Garten, sind wir wieder mal beim Thema. »Was begeistert dich eigentlich dermaßen an Italien?«, fragt Bernadette.

»Ja, was eigentlich?«, fällt Nicolas ein. Die beiden verstehen sich schrecklich gut.

Was für eine Frage! Italien eben. »Was soll ich sagen?«, antworte ich. »Italien ist meine Passion. Und nicht nur meine. Alle Menschen lieben Italien.«

»Aber warum liebst du es?«, fragt Nicolas.

»Weil es so schön ist.«

»Was meinst du damit?«

»Das Wetter zum Beispiel.«

»Das ist in Griechenland oder Spanien genauso schön«, sagt Bernadette.

»Aber das Licht ist anders in Italien, dieses Blau, des Himmels, des Meeres …«

»Anders als in der Provence?«, widerwortet Antonia.

»Schon anders als in der Provence. Dort fegt der Mistral aus dem Norden die Luft leer. Vertreibt Staub und Dunst. Das gibt den Dingen kristallklare Farben und Formen. Wunderschön. In Italien liegt oft ein leichter Dunst in der Luft, wie ein kaum wahrnehmbarer Schleier. Das Licht wird dadurch wärmer, die Konturen werden weicher. Die Dinge bekommen etwas Geheimnisvolles, Tiefes. Zur Schönheit kommt ein Zauber … wie auf den Gemälden von Claude Lorrain und Nicolas Poussin.«

»Das sind Idealisierungen, Wunschbilder, die mit dem realen Italien wenig zu tun haben«, sagt Antonia.

 

Da ist etwas dran. Viel sogar. Kein anderes Land ist so idealisiert worden wie Italien, »das Land, wo die Zitronen blühen«.

Dies hat dazu geführt, dass sich ein Reisender heute mit drei Italien konfrontiert sieht. Da ist erstens das paese reale[4], in dem sich Licht und Schatten abwechseln. Einerseits herrschen hier Kreativität, Unternehmergeist, Widerstandskraft, Toleranz, Großzügigkeit und Mitgefühl, andererseits Eigennutz, Korruption, Jugendarbeitslosigkeit, unzureichende Schulen oder Krankenhäuser, Umweltverschmutzung und Wurstigkeit. Die Schatten kann ein Reisender, der sich nicht dafür interessiert, ganz gut ausblenden.

Das zweite Italien ist eine kollektive Imagination, eine Wunschvorstellung, das paese ideale[5]. Ein Land voller fröhlicher, leichtlebiger Menschen, die in einem blühenden Garten zwischen Marmorbrunnen und Statuen unter warmer Sonne flanieren. Es ist ein genussreiches, geistreiches, charmantes, kultiviertes, leidenschaftliches, aus den kräftigen Wurzeln seiner Geschichte heraus blühendes Land, ein ewiger Frühling der Menschheit in traumhaft schöner Landschaft, ohne Krankheit, ohne die Härten des Arbeitslebens, ohne Elend und ohne die Zumutungen der Moderne. Kurzum: Es ist das verlorene Paradies. Wie sehr dieses ideale Land zur – der Realität enthobenen – Fiktion wurde, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Hochromantik, in der Autoren wie E.T.A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff in ihren Werken Italien feierten, ohne auch nur ein einziges Mal dort gewesen zu sein.[6] Das Italien der Romantik, das es weiterhin gibt, ist »in erster Linie das Land eines seligen Daseins, das in weiter Ferne liegt«[7].

Dieses Fata-Morgana-Italien wäre leicht als Trugbild zu durchschauen. Dazu braucht man nur offenen Auges durch die von Gewerbegebieten zubetonierte nördliche Poebene zu fahren; durch die müll- und schlaglochübersäten Vorstädte Roms zu laufen; oder die von der Mafia verseuchten Bergorte im Südosten Kalabriens zu erkunden. Das Problem ist nur: Auch all die Ingredienzen des paradiesischen Italiens sind real. Es gibt das paradiesische Italien tatsächlich. Wenn der Kunstphilosoph des 18. Jahrhunderts Karl Philipp Moritz schreibt: »Italien ist auch wirklich ein Paradies, das durch die Alpengebirge geschützt, und, von der übrigen Welt abgesondert, im Schoße des Meeres ruhend, alles in sich vereint, was das Leben glücklich machen kann«, dann ist das für sich genommen nicht falsch. Aber es beschreibt nur einen Teil der Realität und klammert den Rest aus.

Das dritte Italien ist am schwersten zu fassen. Es ist die Projektion der persönlichen Wünsche des Reisenden, sein paese individuale[8]. Die bessere Hälfte, die seine Defizite ausgleicht. Für Goethe etwa war Italien das Land seiner künstlerischen und seelischen Wiedergeburt. Andere Menschen aus nördlicheren Ländern erleben Italien als Befreiung von der eigenen Gedankenschwere, pessimistisch eingefärbten Ernsthaftigkeit und misanthropischen Innerlichkeit. Die Reise nach Italien wird für sie zur Reise zu sich selbst, zu ihrer lichteren Seite. Und die lässt sich wirklich finden, wie nicht nur Goethe bestätigen kann. Der Kanadier Paul Theroux, einer der vielseitigsten modernen Reiseschriftsteller, schreibt: »Reisen, das meist als Flucht vor dem eigenen Ich angesehen wird, ist meiner Meinung nach genau das Gegenteil.«[9] Die Heimkehr zum ganzen Ich.

 

Wir haben eine Weile geschwiegen in unserem nordalpinen mediterranen Garten. Irgendwann sage ich: »Zugegeben, Wunschbilder spielen bei der Italienliebe eine Rolle, auch bei meiner. Nur bleibt die Frage, warum sich diese Fantasien gerade das konkrete Land Italien als Projektionsfläche ausgesucht haben. Warum nicht Aserbaidschan? Die Slowakei? Sambia? Eine reale Substanz scheint in Italien vorhanden zu sein, an der sich Träume und Wünsche anheften können.«

»Das bestreitet ja auch keiner«, sagt Antonia versöhnlich und schenkt uns eine Runde Rotwein ein, einen Morellino di Scansano aus der Südtoskana. Ich schließe die Augen. Morellino. Schon dieser Klang. Ich sehe die grünen Hügel der Maremma zur Küste hinunterrollen …

»Aber was ist so besonders an Italien, dass es sich als Projektionsfläche anbietet?«, sagt Nicolas. »Was fasziniert dich so daran?«

»Kunst und Küche, Lebensart, Schönheit, Geschichte, Eleganz, Sinnlichkeit. Hinzu kommt …« Ich suche die Antwort in einem Schluck Morellino.

»Ja?«, fragen Nicolas, Bernadette und Antonia im Chor.

»Dass ich mich in Italien freier fühle, mehr bei mir selbst.«

»Klingt nach Goethe«, sagt Antonia mit sanftem Spott.

»Hier in München ist es doch auch so schön«, sagt Bernadette.

Stimmt. Die weiche Luft. Der Blumenduft. Die hellen Wolkenbänke, die über den Mond und den schwarzen Himmel ziehen. Und wir vier zusammen, was nicht mehr so häufig vorkommt, seitdem Bernadette und Nicolas in Studentenwohnungen gezogen sind. Lässt so ein Abend Wünsche offen? Anscheinend doch. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich wieder uns vier auf einer Terrasse – eines rustico[10] in der Maremma. Und der Blick geht über rollende Hügel hinweg …

»Ich habe das Gefühl, du verstehst sie selbst nicht richtig, deine Italien-Passion. Machen wir einen Deal?«, fragt Nicolas.

Ich schaue ihn erstaunt an.

»Schreib ein Buch, warum dich Italien verzaubert.« Bevor ich darüber nachdenken kann, redet Nicolas weiter: »Wenn uns das Buch überzeugt, der Funke überspringt, setzen wir vier uns nochmal in Sachen Maremma-Haus zusammen.«

»Selbst wenn du noch nicht Millionär sein solltest?«

»Selbst dann!«, sagt Nicolas.

 

Ich schlafe unruhig. Die Buchidee von Nicolas treibt mich um. Warum fasziniert mich Italien so? Werde ich eine überzeugende Antwort darauf finden?

Zum Glück muss ich die Suche nicht bei null beginnen. Unzählige Deutsche, Briten, Franzosen, Menschen aus aller Welt sind mir vorausgereist, haben sich auf diese Frage eingelassen, ihre Antworten gefunden oder eben nicht gefunden. Schon davor haben sich ganze Völker aus dem Norden und Osten nach Italien aufgemacht, auf der Suche nach Ruhm und Reichtum, nach milderem Klima, besseren Böden, einem leichteren Leben. Westgoten. Ostgoten. Langobarden. Franken. Normannen. Pilger wandern über die Alpen, zum Grab des Apostels Petrus. Aus dem Kompost des Römischen Reichs erblühen neue Kulturen, germanische, byzantinisch-griechische, arabische, und verwelken wieder. Die Päpste beanspruchen das Erbe der römischen Kaiser. Dann tauchen neue Akteure auf, die Stadtstaaten. Mailand und Genua, Venedig, Florenz, Siena, Pisa. Die Renaissance leitet eine Zeitenwende ein, die die Trennung von Kirche und Staat, den Aufstieg des Individuums, Geniekult, Rationalität und Fortschrittsglauben mit sich bringt. Und immer wieder herrschen fremde Mächte in Italien, Spanier, Franzosen, Österreicher, gegen die allmählich, am Römischen Reich anknüpfend, die Idee eines italienischen Nationalstaats Boden gewinnt. Dank Dante gibt es zwar schon seit dem 14. Jahrhundert ein Hochitalienisch, hervorgegangen aus dem Lateinischen, das aber noch nicht allzu viele Italiener beherrschen.

Dann schwächt Napoleon die alte Ordnung in Europa. Der Ruf der Menschen nach Nationalstaaten, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wird stärker. Die Savoyer einigen von Turin aus Italien. Viktor Emanuel II. wird erster moderner König in Rom, auch dank der Rückständigkeit des Kirchenstaates und des Tatendrangs des bärtigen Revolutionärs Giuseppe Garibaldi. Liberale, Konservative und Sozialisten ringen um die Macht, ein erster Weltkrieg blutet den jungen Nationalstaat aus, Benito Mussolini stürzt sein Land in den nächsten Weltkrieg. Wieder marschieren Truppen aus dem Norden ein, die Wehrmacht mit ihren Divisionen, während im Süden Amerikaner und Briten anlanden. Dann hängt Mussolini an einer Tankstelle in Mailand. Aus der Monarchie wird eine Republik, und während in den Höhlenhäusern von Matera im Süden des Landes die Menschen noch mit dem Vieh im selben Raum leben, vollzieht sich im Norden, um Turin, Mailand, Verona, Venedig, ein Wirtschaftswunder. Italien wird zum romanischen Tiger und einem der wichtigsten Industriestaaten der Erde. Seit etwa 30 Jahren stockt diese Erfolgsgeschichte. Italien tut sich so schwer mit Reformen. Hoffnungsträger kommen, begeistern und enttäuschen. Doch sie verändern fast nichts.

 

Ich schrecke aus dem Schlummer hoch. Ist es das, diese dramatische, facettenreiche, dichte Geschichte, die Italien so einmalig macht? Die eine Italienfahrt nicht nur zur Reise in den Raum, sondern auch in die Zeit werden lässt? Gewiss. Aber da ist mehr. Traumbilder gleiten an mir vorbei, wie Fotos eines Bildschirmschoners: ein Feld mit grün-violetten Artischocken, die wie kugelförmige Schuppenechsen in ihren Blattnestern thronen; ein Teller voll dampfender Wildschwein-Tagliatelle, deren Duft ich zu riechen glaube. Bäuerinnen in groben Arbeitshosen, die einen Kleinlaster mit Kisten voller reifer roter Trauben beladen. Essen und Trinken gehören zu den Wundern Italiens und in die Antwort an meine Familie. Ein Café taucht auf, runde Tische, cornetti[11] und Cappuccino, eine Piazza, ein Brunnen, Radfahrer, Flaneure, Tauben, die kunterbunte Fassade des Doms von Orvieto. Jetzt tanzen luftig gekleidete Mädchen aus Botticellis Primavera-Gemälde an mir vorbei. Alltagskultur. Kunst. Auch das ist Teil der Antwort. Venus taucht auf einer Muschel aus dem Meer, Schönheit, von der Italien so viel hat: ein junges Paar auf einer mintfarbenen Vespa, Handtaschen und Gürtel in einem Schaufenster der römischen Via Condotti, Kellner in dunklem Anzug und weißem Hemd, die eine leicht arrogant wirkende Verbeugung andeuten. Carabinieri, die lässig an ihren Motorrädern lehnen und den Verkehr mustern.

Jetzt auf einer Vespa durch die Landschaft fahren. Der Geruch von Akazienhonig und Thymian in der Nase. Ein warmer Wind im Gesicht. Der Gardasee. Das Chianti. Die Amalfi-Halbinsel. Die vulkanischen Tupfer der Liparischen Inseln im Meer vor Sizilien. Landschaften also. Und natürlich der Himmel. Das Meer. Nun lösen sich die Bilder und Formen auf. Es bleibt nur noch ein leuchtendes Blau. Azzurro.

Als ich aufwache, spüre ich einen unbändigen Drang loszufahren, gen Süden, nach Italien. Die ganze lange Halbinsel hinunter zu reisen, bis an der Spitze Siziliens nur noch das Meer vor mir liegt. Mich treiben lassend, auf Nebenstraßen, offen für Um- und Abwege, ohne am Morgen zu wissen, wo ich am Abend ankommen werde. Dem Zauber dieses Landes auf der Spur. Und so all die Elemente sammelnd, um die Antwort auf die Frage zu formen: Was ist so faszinierend an Italien?

2Ins Blaue

So kommt es, dass Bernadette und ich nun in der Morgensonne auf dem Brenner sitzen und darüber plaudern, was es mit diesem Pass auf sich hat. »Hier beginnt also Italien«, sagt Bernadette und schaut ein wenig skeptisch auf das Outlet-Center aus Glas, Stahl und Beton zu unserer Linken und die altmodischen Häuser mit den Touristenlokalen, Bars und Läden auf der rechten Straßenseite. »Hat der Brenner für dich eine besondere Bedeutung?«

»Bisher war er für mich eigentlich immer nur ein Hindernis auf dem Weg nach Süden, eine Hürde, über die man halt hinübermusste.«

»Aber das geht doch auf der Autobahn ruckzuck. Man merkt es gar nicht und ist plötzlich in Italien.«

»Das war nicht immer so. Als Kinder haben wir den Brenner gefürchtet, wenn wir mit den Eltern nach Italien fuhren.«

»Weil ihr im Stau gestanden seid?«

»Wegen der Grenzkontrollen. Hier oben musste man erst an den österreichischen Grenzern vorbei, dann an den italienischen. Wir mussten die Pässe vorkramen und vorzeigen. Schon auf der Fahrt zum Brenner hoch hatten sich unsere Eltern immer wieder gegenseitig gefragt, ob sie auch die Pässe eingepackt hätten. Spannung lag in der Luft. Die Grenzbeamten wollten wissen, ob wir etwas zu verzollen hätten. Zigaretten, Schnaps und so. Manchmal schauten sie im Kofferraum nach. Das dauerte. An den Feriensamstagen, an denen wir immer unterwegs waren, weil man damals Unterkünfte meist nur wochenweise von Samstag bis Samstag mieten konnte, gab es lange Staus auf beiden Seiten. Manchmal ging gar nichts mehr, und wir Kinder spielten auf der Straße Federball.«

»Solche Staus können einem heute auch noch passieren, an den Mautstellen etwa.«

»Aber damals waren sie schlimmer, weil es noch keine Video-Maut und keine Kreditkartenautomaten gab. Alles musste bar bezahlt werden. Und obendrauf kamen die Kontrollen auf dem Brenner. Wir Kinder waren immer aufgeregt, wenn die uniformierten Grenzer unsere Ausweise aufschlugen, sich bückten und unter ihren Mützen hervor streng unsere Gesichter musterten, ob wir auch wirklich wir selbst waren. Wir fühlten uns irgendwie schuldig. Manchmal waren wir das auch, auf der Rückreise, wenn wir für meine Großmutter mehr Campari dabeihatten, als wir zollfrei einführen durften.«

»Krass. Aber vielleicht auch irgendwie schön, zu merken, wenn man von einem Land in ein anderes kommt.«

»Das hatte schon etwas. Auch wegen des Geldes. Es gab damals keinen Euro. Wir mussten in einer Wechselstube Mark in Lire umtauschen. Das war aufregend, diese fremden Geldscheine in der Hand zu haben. Wir nannten sie ›die Lappen‹, weil sie so zerfleddert waren.«

»Was war sonst noch anders?«, fragt Bernadette, während sie auf ihrem Handy die Nachrichten ihrer Freunde checkt.

»Es gab keine Handys. Wenn man telefonieren wollte, musste man in eine Telefonzelle gehen und gettoni einwerfen, Telefonmünzen. Die waren rar, weil sie als Kleingeld benutzt wurden, weil auch das Kleingeld rar war. Ein Teufelskreis. Also horteten wir gettoni, wann immer wir welche bekamen, um einmal pro Woche mit Deutschland telefonieren zu können.«

»Mit Deutschland telefonieren! Wie das klingt! Wie in einem alten Film. Wie habt ihr während der Ferien Kontakt zu euren Freunden gehalten?«

»Wir schrieben Postkarten. Die oft erst Wochen nach unserer Rückkehr ankamen.«

Während wir reden, fallen mir Dinge ein, an die ich Jahrzehnte nicht gedacht habe. Die Fläschchen mit Aprikosen-, Pfirsich- oder Birnensaft, die wir als Kinder liebten und die es nur in Italien zu geben schien. Oder die italienischen Milchlaster auf der Autobahn mit ihren silbrig in der Sonne blitzenden gehämmerten Stahltanks, die wie die Haut von Riesenechsen wirkten. Oder die Jeans und T-Shirts, die wir als Jugendliche auf den Märkten an der Adria kauften, weil sie billiger waren und flotter als in Deutschland – damals sagte man flott und nicht cool. Italien galt als sexy, mehr, als das heute der Fall ist. Wobei es vorkam, dass die Sachen, die einem im Italienurlaub so schick vorkamen, in Deutschland peinlich wirkten. Mit Grausen erinnere ich mich an eine enge Latzhose im Bäckerstil, die ich als Teenager auf der Promenade von Lignano Sabbiadoro für ein paar tausend Lire erstanden hatte.

 

Tempi passati. Zu den Dingen, die sich fundamental verändert haben, gehört das Reisen. Vieles ist einfacher, bequemer und günstiger geworden. Man kann heute spontaner und flexibler reisen und mehr erleben. Euro und Handy helfen dabei, ebenso Reise-Apps. Bernadette und ich haben noch kein Quartier für die Nacht gebucht und müssen dennoch nicht Hotels und Pensionen abtelefonieren oder vor 18 Uhr im Fremdenverkehrsbüro vorbeischauen. Ein paar Klicks, und wir sehen alle freien Unterkünfte in der Umgebung. Fotos und Bewertungen lassen Reinfälle seltener werden als früher.

Doch der Fortschritt hat einen Preis. Ein Reiz des Reisens ist es, Neues und Fremdes zu entdecken, Überraschungen zu erleben und die Umgebung bewusster und intensiver wahrzunehmen als im Alltag. Dort führen die Macht der Gewohnheit, Routinen und Automatismen dazu, dass die Dinge verblassen, geradezu verschwinden, hinter Gedanken an gestern und morgen, an Probleme und Projekte. Wie oft laufe ich daheim durchs Haus, ohne es richtig zu bemerken, mit dem Kopf an vielen Orten, nur nicht an dem, wo ich gerade bin. Gedankenlos, oder besser gedankenfern, stelle ich morgens die Kaffeemaschine an, trinke ich einen Espresso, den Blick auf eine Nachrichtenseite auf dem Handy gerichtet, radle ich zur U-Bahn, ohne die Bäume am Straßenrand zu sehen, die Menschen auf den Gehsteigen, die Häuser, die Wolken, den Himmel. Das heißt: Ich sehe sie natürlich, schenke ihnen aber keine Aufmerksamkeit, warum auch, scheinen sie sich doch immer zu gleichen. Zu manchen Zeiten bin ich so in meinem Gedankenkokon versponnen, dass ich durch den Tag schlafwandle. Der britische Reiseschriftsteller Dan Kieran erklärt, warum wir auf Reisen intensiver leben als daheim: »Wenn wir vor bekannten Situationen stehen, ist unser Unterbewusstsein zuständig; sobald wir diese Komfortzone verlassen, übernimmt das Bewusstsein. … Das erklärt, warum das Reisen so aufregend und spannend ist.«[12]

Das kann ich bestätigen. Wenn ich unterwegs bin, gelingt es mir besser, im Augenblick zu leben. Dann werden die Farben farbiger, die Menschen lebendiger, die Orte interessanter. Scheinbar banale Dinge wie der erste Cappuccino in Italien werden sinnlich, präsent. Aufgabe der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen sei es, »für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen«, schrieb der russische Literaturtheoretiker und Schriftsteller Viktor Sklovskij[13]. Genau das ist für mich auch eine Aufgabe des Reisens, vielleicht sogar die wichtigste.

Doch da lauern die Gefahren. Weil ich (fast) alles in der digitalen Welt vorwegnehmen kann, weil mir Videos, Fotos, Blogs und Seiten wie Google Earth die letzte Oase Süd-Algeriens und die hinterletzte Kneipe Nord-Wyomings in allen Einzelheiten zeigen, kann es geschehen, dass ich mich schon vor der Reise so mit ihnen vertraut mache, dass ich sie auf der Reise nicht mehr konzentriert wahrnehme. Sondern nur noch abhake. Dann wird Reisen zur Bestätigung des Vertrauten, zu einer Art notariellem Akt. Ich war da. Selfie. Nächstes Ziel. Dann könnte ich auch gleich zuhause bleiben.

 

Auf dieser Reise möchte ich solchen Mechanismen ein Schnippchen schlagen. Durch Nichtvorbereitung. Durch Abweichen vom Vertrauten. Vielleicht kann ich so die Dinge wieder derart intensiv erleben wie 1969 als sechsjähriger Junge, als ich das erste Mal über die Alpen nach Italien, ans Meer fahren durfte. Ist es nicht diese Intensität des Lebens, die wir seit Ausbruch der Pandemie so vermissen? Reisen ist durch die Seuche von etwas nahezu Banalem wieder zum Besonderen geworden. Das können wir nutzen. Um es noch einmal mit Dan Kieran auszudrücken: »Der Reiz, im Hier und Jetzt zu leben, ist das eigentliche Ziel aller Reisen.«[14]

 

Deswegen haben Bernadette und ich bereits in Österreich die Brennerautobahn verlassen, um fortan die alte Staatsstraße zu benutzen. Auf dieser laufen wir nun das kurze Stück zurück zur Grenze. Dort steht, 1370 Meter über dem Meeresspiegel, ein hoher Grenzstein aus Laaser Marmor. »Österreich« ist auf der nördlichen Seite eingeschrieben, »Italia« auf der südlichen. Ich kann es mir nicht verkneifen, nochmal zurück nach Österreich zu gehen, um dann genüsslich nach Italien hineinzuschlendern. Bernadette macht ein Video davon. Ok, es sieht gestellt aus. Die Grenze verläuft hier erst seit Ende des Ersten Weltkriegs, genauer gesagt seit 1919, als Südtirol im Vertrag von Saint-Germain von Österreich abgetrennt und Italien zugesprochen wurde. Damit begann eine bittere Phase zwischen deutschsprachigen und italienischsprachigen Bürgern in Südtirol. Sehr gut und spannend lässt sich das in dem Roman Eva schläft der italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri nachleben.[15] Heute ist der Konflikt entschärft, aber nicht verschwunden.

Hier oben am Brenner ist nichts davon zu spüren. Im Licht der Morgensonne wirkt der Alpenpass undramatisch. Dabei ließen sich Bücher über die Geschichte und die Geschichten schreiben, die über ihn hinweggegangen sind. Woher der Name kommt, ist ungewiss. Früher glaubte man, er rühre von dem keltischen Kriegsfürsten Brennus her, der vor bald zweieinhalb Jahrtausenden das damals noch kleine Rom plünderte. Heute wird vermutet, der Name stamme von einem »Prenner«, einem Brandroder, der im Mittelalter auf dem Pass seinen Hof hatte. Wie auch immer: Seit grauer Vorzeit gewährte der Brenner einen relativ einfachen Übergang über den Alpenhauptkamm. Er unterstützte so die kulturelle Durchdringung der griechisch-lateinischen Kultur mit der keltischen und der germanischen. Im Mittelalter bot der Pass eine der wenigen halbwegs sicheren Möglichkeiten, die Alpen zu überqueren. Ende des 15. Jahrhunderts hallten Detonationen zwischen den Bergmassiven wider. Mit Schwarzpulver wurde eine komfortablere Straße über den Pass gesprengt, bald darauf eine Postroute eingerichtet. Dann fuhr Goethe hier durch, der die Italien-Reise zum Instrument der Selbstfindung und Erneuerung und damit zu einem deutschen Mythos machte, der fortwirkt. Fünf Millionen Deutsche reisen inzwischen in einem normalen Jahr nach Italien. Durch die Pandemie hat das Land als leicht erreichbares Ziel in Europa noch an Attraktivität gewonnen. Viele, die in den vergangenen Jahrzehnten eher nach Thailand, Botswana oder in die Dominikanische Republik ausschwärmten, entdecken Italien neu. Sie greifen Motive wieder auf, die Goethe auf seiner Italienischen Reise[16] angetrieben haben: der Wunsch nach Erneuerung durch die Schönheit Italiens.

Dabei hatte Johann Wolfgang Goethe, der von September 1786 bis Mai 1788 durch Italien reiste, die Grand Tour, die Bildungs- und Erweckungsreise adeliger und anderer begüterter junger Leute, keineswegs erfunden. So wie heute viele Jugendliche nach der Schule ein Gap-Year auf Reisen verbringen, um die Freiheit zu erfahren und ihre Weltsicht zu erweitern, taten das junge Männer – es waren fast nur Männer – schon vor 500 Jahren. Wobei die Reise seinerzeit nicht nach Australien oder Kanada ging, sondern vor allem nach Italien.

Zuerst wurde das in England Mode. Schon in einem 1635 erschienenen Reiseführer heißt es: »Auch der junge Mensch von heute sollte nach Italien reisen und seinen Geist durch die Größe und die Grundsätze eines Landes bereichern, das die ganze Welt zivilisiert hat und die Menschheit lehrte, was es bedeutet, Mensch zu sein.«[17] Der italienische Literaturprofessor Attilio Brilli schreibt: »Zwischen dem Ende des 16. und dem 19. Jahrhundert gibt es keinen europäischen Intellektuellen …, der nicht auf die eine oder andere Weise seine Pilgerfahrt nach Italien unternommen hatte.«[18] Unzählige Führer, Tagebücher, Romane und andere Werke haben die Reisenden dazu verfasst. Goethe bewegte sich also auf gut erschlossenem Terrain. Und es spricht umso mehr für seine Italienische Reise, dass sie trotzdem diese Wirkung entfalten konnte.

Während wir nach Süden weiterfahren, auf der Strada Statale 12, liest Bernadette aus Goethes Italienischer Reise[19] vor, deren Route ich in den kommenden Wochen immer mal wieder kreuzen werde. Und obwohl sich die Landschaft noch gar nicht verändert, auch südlich des Brenners wachsen erst einmal dunkle Fichten an steilen Berghängen empor, spüre ich ein Gefühl der Erleichterung, wie immer, wenn ich den Brenner passiert habe. Das mag an der Erinnerung an Studentenzeiten liegen, als wir mit einem so alten Auto nach Italien aufbrachen, dass ich fürchtete, es käme die Alpen nicht hoch. Waren wir dagegen erst einmal über den Brenner, so wusste ich, dass ich die Karre nun notfalls bis hinunter nach Verona rollen lassen konnte. Und das war ein beruhigender Gedanke.

»Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte«, liest Bernadette aus Goethes Reisebuch vor. 1786 brach er, damals 37 Jahre alt, Dichter, Jurist, Minister des Herzogs von Weimar und für seine Verdienste für Hof und Staat geadelt, fluchtartig nach Süden auf. Die Amtsgeschäfte hatten ihn so in Beschlag genommen, dass er seit Jahren kaum mehr Zeit zum Schreiben hatte. Das Hofleben beengte ihn, seine Beziehung zu der Hofdame Charlotte von Stein kriselte. Goethe steckte in einer Lebenskrise. Daher machte er sich am 3. September in einer Postchaise aus Karlsbad fort, wo der Weimarer Hof gerne auf Kur weilte. »Nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend« begab sich der mächtige Minister und in ganz Europa berühmte Dichter inkognito unter dem Namen Johann Philipp Möller auf seine Italienreise.

Schon als Junge in Frankfurt am Main hatte ihm sein Vater die Italien-Sehnsucht und die Liebe zu Rom eingeimpft. Die Gemälde des Südens, die in seinem Elternhaus hingen, faszinierten Johann Wolfgang. Der Klang der italienischen Sprache lockte ihn. Und die antike Kultur der Griechen und Römer, die er in Italien studieren wollte, erschien ihm als vollkommene Verschmelzung von Natur und Kunst. Nun geriet sein Traumziel in Reichweite. Am 9. September erreichte er den Brenner, immer noch in Angst, vom Herzog von Weimar ausfindig gemacht und zurückbeordert zu werden. Als ihn daher der Wirt des Posthauses auf dem Pass ermunterte, gleich weiterzureisen, »es sei Mondenschein und der beste Weg«, folgte er ihm.

»Der Postillon schlief ein, und die Pferde liefen den schnellsten Trab bergunter«, liest Bernadette aus der zerfledderten Dünndruckausgabe der Italienischen Reise[20] vor, die ich von zuhause mitgenommen habe. »Und so kam ich sehr geschwind, zwischen hohen Felsen, an dem reißenden Etschfluss hinunter. Der Mond ging auf und beleuchtete ungeheuere Gegenstände. Einige Mühlen zwischen uralten Fichten über dem schäumenden Strom.«

 

»Goethe hatte es gut«, sage ich zu Bernadette, während wir zwar auf der Landstraße, aber trotzdem schneller als der Dichter vom Brenner hinunterfahren. »Er konnte sich für seine Reise durch Italien zwei Jahre Zeit nehmen und ganz gemütlich reisen.«

Allerdings notierte der Dichter über die Fahrt von Sterzing nach Bozen: »Die Postillons fuhren, dass einem Sehen und Hören verging.« Und er bedauerte, »diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle« durchreisen zu müssen. Was hätte er wohl zu heutigen Reisenden gesagt, die auf der Autobahn in knapp sechs Stunden vom Brenner bis nach Florenz rasen und in acht Stunden bis nach Rom, eine Strecke, für die sich Goethe 41 Tage Zeit nahm?

»L’homme pressé est déjà mort«, lautet ein marokkanisches Sprichwort. Frei aus dem Französischen übersetzt: »Wer durchs Leben rast, ist schon tot.« Das gilt besonders für das Reisen. Und so warnte schon der 1900 verstorbene britische Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker John Ruskin: »Die Menschen haben nicht besonders viel von der Welt gesehen, als sie langsam vorankamen, es ist kaum zu erwarten, dass sie mehr sehen, wenn sie schnell vorankommen!«[21] Ich sollte mir das ausschneiden und aufs Armaturenbrett kleben.

Noch nie bin ich bisher die Brenner-Staatsstraße hinuntergefahren, habe immer die Autobahn oder die Eisenbahn genommen, um schneller nach Süden zu kommen. Nun sehe ich, was ich verpasst habe. Saftige Bergwiesen, mit schwarzgrünen Fichtenwäldern bekleidete Hänge, Bäche, ein blauer Heidi-Himmel. Kurvenreiche Straßen, viele Radler, es geht dadurch nur langsam voran, man merkt, dass man reist. Wir kommen durch schöne, liebevoll gepflegte alte Orte mit stattlichen Gasthöfen und Hotels, die einst für all die Reisenden gebaut worden sind, die hier durchkamen, bevor es die Autobahn gab. Etliche von ihnen haben die Verlagerung des Verkehrs nicht überlebt. Andere empfangen bis heute die Gäste.

Wir könnten jetzt die Staatsstraße weiter hinunterfahren, das Eisacktal und dann das Etschtal entlang, auf den Spuren Goethes, der auf dieser Fahrt eine seelische Blitzheilung erlebte. »Die Sache ist, dass ich wieder Interesse an der Welt nehme«, notiert er bei Bozen, und: »Die Sonne scheint heiß, und man glaubt wieder einmal an einen Gott.«

Doch Bernadette und ich sind uns schnell einig, dass wir die Dolomiten nicht links liegen lassen wollen, die wir nur vom Skifahren im Winter her kennen, nicht aber im Sommer. So verlassen wir das Eisacktal und fahren ins Pustertal hinein. Die Bergwelt mit ihren wohlhabenden Orten wirkt proper, wie frisch geduscht. In der Ferne tauchen die ersten Dolomitentürme auf, Riesen, geformt aus versteinerten Korallenriffen, die über die Almen und die Bergwälder hinwegzuschreiten scheinen. Der Eindruck ist fast noch schöner als im Winter, wegen des Kontrasts zwischen den hellgrau-rötlichen Felsen und den grünen Landschaften zu ihren Füßen. Kein Wunder, dass die Dolomiten den Menschen früher übernatürlich vorkamen und eine reiche Sagenwelt entstehen ließen. In St. Vigil in Enneberg gibt es dazu einen Themenweg. Wir wandern, noch ein wenig steif von der Fahrt, einen gluckernden Bach entlang mit gletscherblauem, glasklarem Wasser, genießen den Duft von frisch gemähten Wiesen, die Lärchen und Fichten, die Sonnenflecken auf dem Weg. Tafeln mit Bildern und Beschreibungen locken die Wanderer hinein in die Sagenwelt der Fanes, die an die Geschichte vom Herrn der Ringe erinnert. Italienische Familien stehen um die Schilder herum. Die Eltern lesen den Kindern vor von dem Waisenmädchen Moltina und dem Reich der Murmeltiere, jener hier in den Bergen lebenden freundlichen Nager, die sich wie die Menschen in den Vor-Corona-Zeiten mit Küsschen auf die Wangen begrüßen. Der Prinz der Landrins heiratete Moltina und wurde zum König des Fanesvolkes auf der gleichnamigen Hochfläche. Nach vielen Wendungen der Geschichte verriet dann der letzte König der Fanes sein eigenes Volk. Er versteckte sich auf dem 2800 Meter hohen Berg Lagazuoi und wurde dort zur Strafe versteinert. Der Pass unterhalb des Berges heißt bis heute Falzarego, was der Sage zufolge »falscher König« bedeutet.

In der Wirklichkeit wurden der Lagazuoi und der Falzarego zu einem Schauplatz eines der schlimmsten Kriege der Geschichte, wie wir bald sehen werden. Für diesen Tag ist es genug. Wir kaufen uns Pflaumen und blaue Trauben in St. Vigil und fahren noch ein bisschen weiter hinein in die Dolomiten und dann in Serpentinen hinauf ins berghöhenfrische Kolfuschg am Fuß der Sella-Gruppe. Müde und zufrieden kommen wir in einer leicht altmodischen, gemütlichen Familienpension unter, von denen es noch viele in den Dolomiten gibt. Aus dem Fenster unseres Zimmers blicken wir auf den Felskegel des Sassongher und die Puezgruppe, die über Wiesen, Bauernhöfe und eine Pfarrkirche mit Zwiebelturm in den abendrötlich gefärbten Himmel hinaufragen. Wir staunen über so viel Harmonie und Schönheit. Nichts scheint diese perfekte Bergidylle stören zu können.

 

Die Familie, die unsere Pension betreibt, spricht Deutsch mit uns. Doch wenn sie unter sich redet, verstehen wir kein Wort. Oder fast keines. Ganz entfernt meinen wir Ähnlichkeiten mit italienischen oder französischen Wörtern herauszuhören. Kolfuschg liegt in Ladinien, dem Land der Ladiner, zu dem das Garder-, Grödner- und Fassatal gehören sowie Buchenstein und Cortina d’Ampezzo. Das sind Gebiete rund um die Sellagruppe, die teils zu Südtirol, teils zum Trentino und zu Venetien zählen.

In der Spätantike reichte Ladinien von der Schweiz bis zur Adria. Doch dann schmolz es im Laufe der Jahrhunderte dahin wie die Gletscher in Zeiten der Erderwärmung. Kultur und Sprache der Ladiner wurden vom Deutschen und Italienischen zurückgedrängt. Heute sprechen nur noch 30000 Menschen Ladinisch, eine aus dem Lateinischen hervorgegangene eigene Sprache und keineswegs nur ein italienischer Dialekt. Betonen die Ladiner.

Wer mit Skiern, in Wanderschuhen oder auf dem Rad durch die Welt reist, die um die Sellagruppe kreist, bekommt nicht den Eindruck, dass sie am Aussterben ist. Die Kinder lernen Ladinisch in der Schule, es ist neben Italienisch sowie Deutsch (in Südtirol) Amtssprache und findet sich auch auf den Straßenschildern. Uns fallen die vielen Akzente auf den Buchstaben auf, etwa das Trema – zwei Punkte auf Vokalen wie dem »e« oder »u« – oder das aus dem Französischen bekannte Accent circonflexe, beides Zeichen, die im heutigen Italienisch nicht vorkommen. Und gesprochen entfaltet die Sprache für uns einen Zauber, weil wir sie nicht verstehen, sie aber dennoch vertraut klingt. Wer das nachvollziehen will, braucht sich nur im Internet Songs der Gruppe Ganes anzuhören, eines Poptrios dreier junger Frauen aus dem Dorf La Val im Gardertal.

 

Da wir als Familie fast jeden Winter in St. Ulrich im Grödnertal – auf Ladinisch: Urtijëi – eine Woche zum Skifahren gehen und dort bei einer ladinischen Familie wohnen, ist uns Ladinien ans Herz gewachsen. Die Sprache trägt dazu bei, dass wir uns hier in einer ganz eigenen Welt fühlen, die zwischen dem Italienischen und Deutschen schwebt und die starken Seiten beider Kulturräume miteinander verbindet, den Sinn für Schönheit, Gastfreundschaft und gutes Essen einerseits sowie Verlässlichkeit, Organisationskraft und Gemütlichkeit andererseits. Die Ladiner haben es geschafft, so mein Eindruck, vom Tourismus zu profitieren, ohne dem Massentourismus zu erliegen, wie andere populäre europäische Urlaubsgebiete. Sie haben sich mit Leib und Seele in den Fremdenverkehr gestürzt, ohne ihre Seele zu verkaufen. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Aber alles in allem erscheint es so. Und die Tatsache, dass die Mädchen und Jungen in Ladinien in der Schule ihre sehr spezielle Sprache lernen, während sich auf ihren Pisten und Klettersteigen Menschen aus der ganzen Welt erholen und in den Hütten bales (Knödel), gnoch (Nocken, gern mit Spinat oder Topfen) und grestl (Kartoffeln mit gebratenem Fleisch) verzehren, zeigt, dass die Globalisierung nicht das Ende gewachsener Kulturen bedeuten muss. Sondern dass sie, klug genutzt, sogar dazu beitragen kann, diese zu erhalten.

 

»Und, bist du deiner Antwort auf die Frage nach dem Zauber Italiens schon ein Stück nähergekommen«, fragt Bernadette, als wir abends wieder in Kolfuschg ankommen.

»Ein kleines bisschen schon. Ich habe auf der Fahrt gespürt, wie das Reisen helfen kann, unsere Wahrnehmung zu schärfen. Das geht in einem derart vielfältigen Land wie Italien noch besser als anderswo. Du hast uns vorgelesen, was Goethe in Italien gesucht und gefunden hat. Und was das Beste war: Am Brenner wurde tatsächlich der Himmel blau.«

3Krieg und Frieden

Da wir nun schon einmal im Sommer in den Dolomiten sind, wollen wir auch eine Bergtour machen, um den Kalkriesen ganz nahe zu kommen. Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mit meiner bergfesten Tochter unterwegs zu sein, um etwas anzugehen, was ich mich noch nie getraut habe: einen Klettersteig. Denn ich war lange nicht schwindelfrei. Bei normalen Bergwanderungen hatte ich keine Probleme, aber wenn eine Passage ausgesetzt war, wenn es über einen Grat mit Abgründen zu beiden Seiten ging oder einen Steig empor mit einer Schlucht im Rücken und einer Steilwand vor der Nase, bekam ich buchstäblich weiche Knie, wurde zittrig und kurzatmig. Über die Zeit und mit der Erfahrung in den Bergen wurde das besser. Aber einen Klettersteig, also eine mehr oder weniger weglose Passage im Fels, die mit Stahlseilen, Eisenleitern und Stahlstiften gesichert ist, um sie auch Nichtkletterern zugänglich zu machen, hatte ich dennoch nicht ausprobiert. Dabei verlockte es mich durchaus, wenn Freunde Fotos von ihren Klettersteigtouren zeigten und bei den Erzählungen glänzende Augen bekamen. So wurde der Klettersteig allmählich zu einem Vakuum, das ich nun füllen will, zumal Bernadette schon Klettersteigerfahrung hat.

 

Am frühen Morgen kommen wir am Parkplatz auf dem Falzarego an, dem Pass des falschen Königs. Ich habe im Internet nach einer einfachen Via Ferrata[22] gesucht. So bin ich auf den Kaiserjägersteig gestoßen, der vom Falzarego auf den Kleinen Lagazuoi führt. Klein – das klingt beruhigend. Doch als wir nun in der Morgensonne am Fuß der breiten, nackten, nahezu senkrecht abfallenden Felswand stehen und zu dem fast 2800 Meter hohen Gipfel hinaufschauen, möchte ich gleich umdrehen. Da soll ich hochsteigen? Doch Bernadette lässt keinen Defätismus aufkommen, legt sich den Gurt mit den beiden Karabinern um und setzt einen der Helme auf, die wir am Abend zuvor in einem Sportgeschäft in Kolfuschg ausgeliehen haben. »Auf geht’s, Papa!«, ruft sie und hält mir den ausgestreckten Daumen hin.

Blamieren will ich mich nicht, zumal einige italienische Familien mit noch recht kleinen Kindern gerade ebenfalls loslaufen. Also greife auch ich zu Gurt und Helm. Es ist kalt hier oben, die Luft ist kristallklar. Bernadette steigt voran, ich folge, auf einem schmalen Steig in vielen Kehren einen Schutthang hinauf. Die hellgrauen Steine knirschen unter unseren Bergschuhen, sonst hören wir nur unseren Atem und ab und an die Rufe der Italiener vor uns. Die Ausblicke nach Westen und Süden sind so spektakulär, dass ich meine Höhenangst vergesse. Kühn geformte Bergketten und Bergstöcke wie die Sella-Gruppe und die Marmolata reihen sich hintereinander, bis sie sich am Horizont verlieren, an dem weiße Wolken hervorquellen wie aufschäumende Milch. Zwar kenne ich diese Panoramen vom Skifahren. Aber es ist etwas anderes, wenn man sie sich nicht mit einer Gondel oder einem Sessellift erfährt, sondern selbst ersteigt. Dann gelangen wir am oberen Rand des Schuttkegels an, der Fels und damit die Ferrata beginnt. Wir klicken unsere Karabiner in das Stahlseil ein und arbeiten uns über Felsbänder nach oben. Das Wissen, im Falle eines Stolperns oder Ausrutschens in den Seilen zu hängen und nicht abzustürzen, gibt mir Sicherheit. Die Sache beginnt sogar Spaß zu machen. Eine Hängebrücke führt über einen Abgrund. Sie beginnt unter unseren Schritten zu schwingen. Dann kommt die ausgesetzteste Passage des Steigs, ohne Sicherung bekäme ich jetzt wieder zittrige Knie. Ein Florentiner mit seinem Sohn klettert vor uns her. Wir kommen ins Gespräch. »Das ist der Steig der Eurigen«, ruft er uns zu. Wir wenden ein, dass wir keine Österreicher, sondern Deutsche seien. Das sei doch dasselbe, antwortet er lachend.

Der Kaiserjägersteig, der uns nun an mehr als hundert Jahre alten Unterständen vorbeiführt, diente im Ersten Weltkrieg den österreichischen Soldaten als Verbindungsweg zu ihren Stellungen oben auf dem blutig umkämpften Lagazuoi. Hier, wo wir, mit den Florentinern plaudernd, mit leichten Tagesrucksäcken hochlaufen, schleppten die Österreicher damals tonnenweise Munition, Verpflegung und Baumaterial auf den Gipfel. Bernadette und mir erscheint es unglaublich, dass sich Österreicher und Italiener in fast 3000 Metern Höhe mehr als zwei Jahre lang einen Stellungskrieg geliefert haben. Dort oben, wo es nichts gab außer Fels, Schnee, Wind und Kälte. Doch der Florentiner erklärt uns, der Gipfel sei strategisch wichtig gewesen. Die Österreicher hätten ihn zu Anfang des Weltkrieges besetzt und dort Scharfschützen postiert, um Angriffe der Italiener abzuwehren und deren Eindringen nach Tirol zu verhindern. Die Italiener wiederum hielten sich auf gegenüberliegenden Gipfeln wie den Cinque Torri verschanzt und beschossen von dort aus die österreichisch-ungarischen Stellungen wie den Lagazuoi oder das Fort Tre Sassi auf dem Falzarego-Pass. In dem Fort ist heute ein Museum eingerichtet, das sich dem »Großen Krieg« widmet. So wird in Italien – wie in Frankreich – nicht etwa der Zweite, sondern der Erste Weltkrieg bezeichnet.

Nach wiederholten Angriffsversuchen gelang es den Italienern, Teile des Lagazuoi zu besetzen. Sie bauten Unterstände, gruben Höhlen und Tunnel in den Fels, schleppten nun ebenfalls Kanonen und Maschinengewehre hinauf. Es muss eine mörderische Plackerei gewesen sein, im ständigen Kampf mit Kälte, Steinschlag, totaler Erschöpfung und dem Feind. Immer höher arbeiteten sich die italienischen Alpini, die Gebirgsjäger, den kleinen Lagazuoi hoch. Die Österreicher feuerten mit Maschinengewehren, Bomben und Handgranaten zurück und griffen die italienischen Stellungen teils auf abenteuerliche Weise an, etwa, indem sich Bergführer der Kaiserjäger an einer Felswand abseilten, um in der Luft hängend die Feinde zu beschießen. Doch keiner Seite gelang der Durchbruch. Während sich die Österreicher auf dem Gipfel einigelten, verschanzten sich die Italiener nur 30 Meter unterhalb. An der Bergoberfläche wurde gekämpft, im Inneren gegraben, beide Seiten arbeiteten sich mit Presslufthammern, Bohrern und Spitzhacken aufeinander zu. Unterirdische Sprengkammern wurden angelegt, mit Sprengstoff gefüllt und in die Luft gejagt, Steinlawinen ausgelöst, vergebens.

Bernadette und ich kommen oben auf dem kleinen Lagazuoi an. Der Blick rundherum umfasst fast die ganzen Dolomiten. Auf dem Felsplateau unterhalb des Gipfels laufen Italiener, Deutsche, Österreicher und Touristen aus anderen Ländern herum und bestaunen die alten, nunmehr restaurierten Lauf- und Schützengräben, Unterstände und Waffenlager. Selbst jetzt, im August, ist es eiskalt hier oben, ein scharfer Wind setzt den Wanderern zu. Ein Wolkenband im Blau des Himmels schickt ein paar Schneeflocken herab. Doch die Stimmung ist gut, keiner kann sich der Faszination dieses Hochgebirgsszenarios entziehen. Die Nachkommen der einstigen Kriegsgegner plaudern miteinander, erklären sich gegenseitig den Kriegsverlauf oder trinken einen heißen Tee in der nahen Bergstation der Seilbahn. Manchmal kennt Geschichte doch Fortschritt.

Um wieder zum Falzarego-Pass hinabzusteigen, nehmen wir nicht den Kaiserjägersteig, sondern die italienische Seite. Wir steigen in den engen, dunklen, einen Kilometer langen, äußerst steilen Stollen ein, den die Alpini bis direkt unter die Stellungen der Österreicher auf der Bergkuppe gegraben hatten. Am 20. Juni 1917 jagten sie eine Kammer am Ende des Minenstollens mit mehr als 30000 Kilogramm Sprengstoff in die Luft. Doch auch das brachte keine Wendung im hochalpinen Stellungskrieg. Indem wir unsere Handys als Taschenlampen benutzen, steigen wir in der feuchten Kälte im Inneren des Berges abwärts, vorbei an Schießscharten, einem Maschinengewehr samt Patronengurt, Resten von Betten und Motoren. Der Boden des niedrigen Stollens ist klitschig, der Abstieg im Dunkeln kommt uns viel länger vor als der Aufstieg auf dem luftigen Kaiserjägersteig. Mehrfach zweigen Nebenstollen und Gänge zu Schießscharten in der Felswand ab, der Lagazuoi wirkt hier unten wie ein Maulwurfsbau. Und dann endlich wieder Licht, Sonne auf der Haut. Und eine Welt nur aus Stein und Himmel um uns herum, die sich dramatischer kaum vorstellen lässt. Wir steigen hinunter auf den Falzarego-Pass und besichtigen das Kriegsmuseum. Orden. Uniformen. Geschosse. Grotesk klobige Schuhe gegen Erfrierungen. Auf einer offiziös aussehenden Liste einer Prostituierten sind wie auf einer Speisekarte die angebotenen Dienste für die Soldaten und die Preise aufgelistet, sogar das Wort »Quickie« gab es damals schon. Ein paar Schritte weiter liegen in einer Vitrine Frontbriefe an die Geliebte, die wegen der Zensur nie angekommen sind. Bis zum Oktober 1917 verlief die Front hier am Falzarego-Pass. Danach mussten die Italiener nach einer schweren Niederlage in der sogenannten 12. Isonzo-Schlacht die Dolomiten-Front aufgeben und weiter nach Süden zurückweichen.

 

Heute liegen die Dolomiten in tiefem Frieden, der durch die grandiose Natur etwas Erhabenes ausstrahlt. Das Wort geistert mir durch den Kopf, als wir am nächsten Tag von Kolfuschg über das Grödner Joch nach Wolkenstein und Santa Christina fahren. Das »Erhabene«, ein altertümliches Wort, das kaum noch gebraucht wird. Und doch kommt es mir beim Anblick italienischer Landschaften und ihres besonderen Reizes immer mal wieder in den Sinn. Erhaben, das ist eine Melange aus majestätisch, schön, ehrfurchtgebietend, feierlich, bewegend, ja erschütternd und auf wohlige Art erschreckend. Schiller beschreibt es als eine Mischung aus »Wehsein« und »Frohsein«[23]. Goethe schreibt, »die erhabene Sprache der Natur« lerne »nur der Wanderer kennen«. Im Klischee wird Italien oft mit Lieblichkeit und Dolce Vita gleichgesetzt. Doch darin erschöpft sich das Land nicht. Die Dolomiten sind ein Beleg dafür. Andere werden folgen.

 

Um der Faszination Italiens auf die Schliche zu kommen, möchte ich auf dieser Reise Menschen, Landschaften und Orte kennenlernen, die ich noch nie gesehen habe, obwohl ich schon so oft in Italien war. Denn ein Zauber des Landes liegt in seiner unerschöpflichen Vielfalt. Zugleich will ich einige Menschen, Landschaften und Orte wiedersehen, die mich Italien liebgewinnen ließen. Einer der Menschen ist Erich. Erich von der Odles-Hütte.

Wir kennen uns seit vielen Jahren, ja seit bald zwei Jahrzehnten, weil wir beim Skifahren im Grödnertal mittags oft bei ihm einkehrten. Im Sommer aber waren wir noch nie bei ihm. Unser Navi sagt uns, wir könnten mit dem Auto bis zur Odles-Hütte fahren, die in 2100 Metern Höhe in einer kleinen Senke der Almlandschaft um den Col Raiser liegt. Natürlich ist das Unsinn, doch als moderner Mensch neige ich dazu, mehr einer App als meinem Instinkt zu glauben. Wir kurven also von Santa Christina aus auf schmalen Teerstraßen immer höher hinauf und landen auf einem Parkplatz, von dem eine Piste zum Col Raiser hinaufführt. Davor steht ein Wagen der Ortspolizei. Eine ladinische Polizistin klärt uns auf, dass wir nur zu Fuß weiterdürfen. Hätten wir uns denken können.

Der Fußmarsch soll mehrere Stunden dauern, doch wir sind schon in einer halben Stunde mit Erich verabredet. Slow Travel klappt nicht immer. Daher fahren wir wieder hinunter nach Santa Christina und dann mit der Eiergondel hoch auf den Col Raiser. Es ist noch früher Vormittag, und wir sind die ersten Gäste auf der Odles-Hütte. Eine Studentin, die hier oben jobbt, fragt, was wir wünschen. »Ist Erich hier?« Da kommt er schon aus der Hütte, ein kleinerer, muskulöser Mann in kurzen Lederhosen, rot kariertem Hemd und Joppe. Sein heiteres, von der Sonne rotbraun gebranntes Gesicht wird von kurzen, gelockten, allmählich vom Schwarzen ins Graue übergehenden Haaren gerahmt. Dass er schon Mitte 50 ist, sieht man ihm jedoch nicht an.

»Ich war gerade beim Kartoffelschälen«, sagt er und wischt sich die Hände an einer Schürze ab. Erich ist ein Mensch, in dessen Gegenwart wir uns sofort wohlfühlen. Das war schon beim Skifahren immer so. Weil er auf eine bescheidene, ungekünstelte Art ausstrahlt, glücklich zu sein und der Welt wohl zu wollen. Oder, falls glücklich ein allzu beliebiger Begriff sein sollte, im Reinen mit sich selbst und seiner Umgebung zu sein; mit seinem Leben unten in seinem Bauernhof in Santa Christina und hier oben auf der Alm, in 2100 Metern Höhe, umgeben von Bergwiesen und Nadelwäldern und einem freien Blick auf die Spitzen der Geisler-Gruppe.

Wir setzen uns auf die Terrasse mit dem Rücken zur Hüttenwand aus rotbraun gebeizten rohen Fichtenstämmen und lassen uns die Gesichter von der Morgensonne wärmen. Die Studentin bringt Cappuccino und für jeden ein Stück Milchschokolade. Kuhglocken läuten von einer Alm herüber. Die Bergidylle ist so vollkommen, dass sie kitschig wirken würde, sähe man sie so in einem Heimatfilm. Doch hier ist nichts arrangiert, um heile Welt vorzutäuschen, dafür sorgt schon Erich, dem alles Aufgesetzte fremd ist. »Seit wie vielen Generationen lebt ihr hier im Grödner Tal?«, fragt Bernadette.

»Seit vielen Generationen. Wir haben mal einen Stammbaum gemacht und sind dafür 300