... und wo ist das Problem ...? - Bruno M. Schleeger - E-Book

... und wo ist das Problem ...? E-Book

Bruno M. Schleeger

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Beschreibung

»Wenn Sie etwas über Zen wissen, dann wird es mir vielleicht möglich sein, Ihnen etwas über Gestalttherapie zu vermitteln.« So antwortete Fritz Perls, der Mitbegründer der Gestalttherapie, auf die Frage, was es mit dieser auf sich habe. Der Gestalttherapeut Bruno M. Schleeger, geboren 1948, praktiziert Buddhismus seit 50 Jahren.

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Seitenzahl: 834

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Bruno M. Schleeger, Jahrgang 1948. Verheiratet, zwei Söhne; Volksschule, ein bisschen Humanistisches Gymnasium, wieder Volksschule. Starkstromelektriker, Abendschule, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Psychologe. Ausbildung in Psychodrama; in Gestalttherapie am Hartfort Family Institute in Hartfort, Connecticut. Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendtherapeut. Buddhistische Praxis seit ca. 50 Jahren. Mitbegründer des Analytischen Gestaltinstituts in Bonn; dort Ausbilder und Psychotherapeut. Leitung einer therapeutischen Wohngemeinschaft mit Drogenabhängigen nach dem „Day Top“-Konzept. Dann Arbeit in einem Erziehungsheim mit schwererziehbaren Kindern und Jugend lichen. Dann in einem Heilpädagogischen Heim mit erwachsenen geistig Behinderten. Dort schwerpunktmäßig Arbeit mit Menschen mit leichter geistiger Behinderung und so genanntem „herausforderndem Verhalten“.

Zur Zeit heimübergreifend Teamberatung zu den Schwerpunkten „Teamarbeit – Teamklima“ sowie Arbeit mit aggressiven Menschen mit geistiger Behinderung.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Fortbildungen zu den Themen „Achtsame Begegnung“ und „Umgang mit Menschen mit ‚herausforderndem Verhalten‘“.

„Mein Leben spielt sich ab zwischen den Sätzen: ,Alles ist, was es ist‘ und ,sometimes something needs tobe done‘ – und das ist gut so.“

www.bruno-schleeger.de

www.therapeutenadressen.de

Praxisadressen von Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten. Infos siehe letzte Seite des Buches.

INHALT

Geleitwort

Einleitung

Zen-Buddhismus und Gestaltpsychologie/Gestalttherapie

Wir kommen als geschlossene Gestalt zur Welt

Hier und jetzt – Wachstum als Prozess

Die Überwindung des dualistischen Weltbildes

Das unerledigte Geschäft

Die Suche nach dem Sinn

Transfer

Unterstützung

Epilog

Anhang 1: Die Persönlichkeitsstrukturen in der Gestalttherapie

Anhang 2: Die Vier edlen Wahrheiten und der Achtgliedrige Pfad

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zur Künstlerin des Covers

GEORGIA VON SCHLIEFFEN

Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit im Bereich Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«

Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen« sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.

Bitte besuchen Sie die Seite der Künstlerin auf theartstack.com oder verbinden Sie sich auf linkedin.com mit ihr.

GELEITWORT

Im Jahre 50 v.Chr. waren die Gallier nach langem Kampf von den Römern besiegt worden. War ganz Gallien besetzt? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hörte nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten … Aus: Asterix der Gallier

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der ersten und zweiten Welt hatten Technik und Politik die Natur unterworfen und die Köpfe der Menschen kolonialisiert. Alle? Nein! Eine kleine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern rund um das Jüdische Lehrhaus an der Universität in Frankfurt am Main hörte nicht auf, sich für eine dialogische Beziehung von den Menschen zur Natur und von Mensch zu Mensch einzusetzen. Darunter Martin Buber, der Philosoph des Dialogs. Aber auch all jene, die später unter dem Namen „Frankfurter Schule der Sozialwissenschaften“ bekannt wurden – Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin … In Wien, Frankfurt und Leipzig entstand der Versuch, die menschliche Wahrnehmung als Ganzheit – als Gestalt – zu begreifen. Der Arzt Kurt Goldstein, der Versehrte des schrecklichen Krieges – Auftakt eines noch schrecklicheren Krieges – betreute, erkannte die Fehler einer mechanistischen Sicht auf den menschlichen Körper und das Denken. Nicht zu vergessen die Bewegung der Phänomenologen in der Philo sophie mit Edmund Husserl an der Spitze. Allesamt waren sie auf der Suche nach einem neuen Umgang der Menschen mit Natur und Mitmenschen, jenseits von Unterwerfung und Ausbeutung.

In ihrer Suche wandten sie ihren Blick auch nach Osten. Sie beschäftigten sich mit Yogatraditionen und (Zen-)Buddhismus. Dabei erschlossen sie den Schatz eines anderen Verhältnisses zu Natur und Mensch. Betrachtung und Begegnung anstatt Unterwerfung und Ausbeutung rückten wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Studenten Fritz Perls und Laura Posner besuchten die Vorträge von Buber, Goldstein und Husserl. Als sie später, nach dem zweiten Weltkrieg in den USA, die „Gestalttherapie“ entwickelten, machten sie den Buddhismus und die dialogische Philosophie von Martin Buber neben dem gestaltpsychologischen Ansatz von Kurt Goldstein zu einer wichtigen Grundlage ihres humanistischen Ansatzes.

Wir haben Bruno Schleegers Buch, das die Gedankenwelt des Zen-Buddhismus mit der Gestalttherapie zusammendenkt, schon in den 1990 er Jahren gelesen und geschätzt. Leider ist es schon lange vergriffen. Als wir im letzten Jahr mit dem Autor Kontakt aufgenommen haben, erfuhren wir, dass er an dem Buch „immer weiter geschrieben“ habe. Darum können wir Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, nun nicht bloß eine Neuauflage dieses Klassikers der Gestalttherapie vorlegen, sondern eine neue, stark überarbeitete und vor allem um viele neue Gedanken erweiterte Ausgabe. Das Buch ist inzwischen fast doppelt so dick wie 1992. Noch reicher. Voller Gedanken und Geschichten. Voller Assoziationen und Querverbindungen. Und mit einer Menge an Anregungen für die therapeutische Praxis.

Wir hoffen, dass Sie an dem vorliegenden Buch viel Freude haben und es für Ihr eigenes Wachstum und das Ihrer Klientinnen und Klienten nutzen können.

Anke und Erhard Doubrawa, GestalttherapeutInnen

Es war leider nicht möglich, die Quellen und Rechteinhaber einiger Abbildungen zu ermitteln. Wir bitte die Rechteinhaber deshalb, mit der Edition gikPRESS (Ludwig-Erhard-Str. 8, 34131 Kassel) Kontakt aufzunehmen. Vielen Dank.

Die Kalligraphie auf der Vorderseite lautet:

Pflege einen Gedanken, der an nichts hängt.

Oder: Hege keine Gedanken, die an etwas hängen.

Dies ist eine Zeile aus dem Diamant-Sutra.

Mit „Gedanken“ wird allgemein alles gemeint, was vom Geist bewegt wird. Ein losgelöster Gedanke, der an nichts hängt, ist ein Gedanke, der in den Tiefen der Subjektivität zur Leerheit erweckt wird.

Oder mit den Worten Meister Eckharts:

„Dieser leere Geist ist der innerste Kern der Abgeschiedenheit.“

Die Kalligraphie stammt von Meister Senyai (1750 -1837).

EINLEITUNG

Über Zen zu reden oder zu schreiben, bedeutet einer Schlange Füße anzukleben.Hui Neng (638 -713)

Über Gestalttherapie zu reden oder zu schreiben, bedeutet Elefantenscheiße zu verzapfen!Friedrich S. Perls (1873 -1970)

Zwischen Zen-Buddhismus und Gestalttherapie finden sich sehr viele Parallelen sowohl in Bezug auf das Menschenbild als auch in Bezug auf die Praxis, auch wenn wir uns davor hüten sollen, beide Wege voreilig gleichzusetzen; Meditation ist kein Ersatz für Therapie und eine Therapie kann die spirituelle Suche nicht ersetzen; sie können sich ergänzen, nicht aber ersetzen.

Eine erste sehr markante Gemeinsamkeit zeigen jedoch bereits die beiden kurzen Zitate: Sowohl im Zen-Buddhismus als auch in der Gestalttherapie geht es um Dinge, um Erfahrungen, die sich der theoretischen Beschreibung entziehen, die nur im Tun erfahrbar sind. Zen kann man nicht beschreiben – das, was ich beschreibe, kann kein Zen sein.

Fritz Perls hat sich in seinen Schriften an verschiedenen Stellen mit dem Zen-Buddhismus auseinandergesetzt; durch seine Supervisorin Karin Horney kam er in Berührung mit Zen. Und Zen, zumindest intellektuell, erschien ihm als die Befreiung von all dem pessimistischen und düsteren Dogmatismus der Psychoanalyse, wie er selbst sagte, „von dem ganzen Freud’schen Mist“.

Ich will versuchen, wesentliche Berührungspunkte zwischen Zen-Buddhismus und Gestalttherapie zu beschreiben. Damit meine ich:

die positive Sicht des Menschen, der als Ganzheit geboren wird

die Betonung des Hier und Jetzt

das Überwinden des dualistischen Weltbildes

das unerledigte Geschäft oder die inkomplette Gestalt, die uns daran hindert, in unserer Entwicklung/unserem Prozess weiterzugehen

die Suche nach einer spirituellen Heimat/die Frage nach dem Sinn

Transfer: Zen und Praxis des Alltags/Gestalttherapie und Alltag

Unterstützung durch den Therapeuten bzw. den Meister als Begleitung auf dem Prozess der Selbstwiederfindung

Eine wichtige Gemeinsamkeit besteht in der Betonung spontaner Kreativität als Ausdruck ursprünglicher, direkter, „unverfälschter“ Energie. Intellektuelle Logik wird als Motor des Wachstums abgelehnt. Die Antwort auf einen Koan lässt sich nicht durch intellektuelle Arbeit finden; eine Biographie nicht durch abstrakte Logik erklären.

Meister Mumon: Wenn Du mit Deinen Augen siehst und mit Deinem Ohr hörst, kannst Du es nicht erlangen.

Oder: Der folgende Satz ist falsch. Der vorhergehende Satz ist richtig.

Mein Sohn fragte mit 4 Jahren: „Papa, aus welchem Material ist eigentlich eine Holz-Eisenbahn?“ Wenn das kein Koan ist …

In dieser unlogischen, vermeintlichen Absurdität wächst Zen-Bemühen; ein Versuch, mit neuen Mitteln zu neuen Zielen zu gelangen, dies versucht Gestalttherapie. Perls:

„ … ich glaube nicht, dass Worte überhaupt etwas vermitteln können, besonders über Gestalttherapie. Vielleicht kennen einige von Ihnen eine eigentümliche Philosophie, den Zen-Buddhismus. Wenn Sie etwas über Zen wissen , … dann wird es mir vielleicht möglich sein, Ihnen etwas zu vermitteln.“1

Dies soll weder ein Lehrbuch über Gestalttherapie, noch eines über Zen-Buddhismus werden. Was ich hier auch nicht will – und kann – ist, Gestalttherapie und Zen-Buddhismus zu definieren. Ich möchte voraussetzen, dass sowohl Gestalttherapie als auch Zen-Buddhismus dem Leser – zumindest grundsätzlich – bekannt sind.2 Die Begriffe Zen-Buddhismus und Gestalttherapie sind allgemein oder bei Interessierten etwas klarer umrissen als der eher schwammige Begriff der ‚Spiritualität‘. Statt einer Definition sei hier kurz eine Studie erwähnt, in der der Begriffbereich ‚Spiritualität‘ anhand von neun Dimensionen erfasst wurde. Ich finde, diese Auflistung beschreibt gut, worüber wir sprechen wollen.

Die neun Dimensionen von Spiritualität entwickelten James Elkins et al.3 nicht nur qua Literaturstudium, sondern in eingehenden Gesprächen mit spirituellen Führern aus den verschiedensten Religionen. Im Folgenden sind die Dimensionen aufgelistet:

Transzendenz: „Es gibt eine transzendente Dimension des Lebens.“

Sinn- und Zweckhaftigkeit: „Das Bedürfnis nach Sinn- und Zweckhaftigkeit ist eine der stärksten menschlichen Triebkräfte.“

Lebensmission: „Das Leben ist dann am wertvollsten, wenn es im Dienste einer wichtigen Aufgabe geführt wird“.

Heiligkeit des Lebens: „Dass die einfachen Völker die Natur als heilig verehrten, ist für mich Weisheit.“

Materielle Werte: „Obschon Geld und Besitz für mich wichtig sind, finde ich die tiefste Befriedigung durch spirituelle Faktoren.“

Altruismus: „Ich bin schnell und tief betroffen, wenn ich menschliches Elend und Leid sehe.“

Idealismus: „In allem, was ich tue, habe ich einen tiefen und positiven Glauben an die Menschheit.“

Bewusstsein für die Tragik: „Offensichtlich sind Schmerz und Leid notwendig, damit wir unser Leben prüfen und neu orientieren.“

„Früchte“ der Spiritualität: „Der Bezug zur transzendenten, spirituellen Dimension half mir, persönlichen Stress zu verringern.“

Ich möchte jedoch einige grundsätzliche Gedanken zur Gestalttherapie und zum Zen-Buddhismus, soweit sie zum Verständnis des Buches hilfreich sein können, im Anschluss an diese Einleitung darstellen.

Dies soll ein Buch vom Suchen sein; Suchen, Wählen und Aufnehmen; und alles immer wieder aufs Neue. Als Dogen Zenji in China Buddhismus studierte, fragte ihn ein Lehrer, warum er buddhistische Schriften läse. Dogen Zenji sagte: „Ich möchte wissen, was die Lehrer der Vergangenheit taten“. Der Lehrer fragte: „Wozu denn?“ Dogen Zenji sagte: „Ich würde gerne allen Wesen helfen, da sie so viel Leiden zu ertragen haben.“ Und der Lehrer fragte wiederum: „Wozu denn?“ und Dogen Zenji entgegnete: „Früher oder später würde ich gerne zurück nach Japan gehen und den Menschen auf den Dörfern helfen.“ Der Lehrer fragte weiter: „Wozu denn?“ Schließlich schwieg Dogen Zenji und sagte nichts mehr. Es gibt auch nichts zu sagen. Nichts mehr sagen können heißt hier, dass ihn die Fragen in die Enge gedrängt haben; schließlich wusste er nichts mehr zu antworten.

Dieses Leiten in der Suche nach dem Grund des Grundes des Grundes … ist ein schönes Beispiel. Letztlich haben wir uns nur selbst, hier und jetzt und unsere – immer wieder neue – Entscheidung, irgendetwas zu tun oder zu lassen.

So sind wir alle „Zwiebelschäler“: Warum-Schicht für Warum-Schicht tragen wir ab, um zum Kern unserer Persönlichkeit, der geschlossenen Gestalt, die wir einmal waren, vorzudringen. Dies ist nicht einfach und erfordert Zeit und immerwährende Geduld. In der Therapie mit meinen Klienten versuche ich dieses Zwiebelschälen nicht durch „wozu denn, wozu denn – warum, warum …“ zu bewerkstelligen, sondern durch „ … und … wo ist das Problem …?, … und … wo ist das Problem …?“ zu erreichen:

„Ich fühle mich im Kreise von mehreren Leuten oft unsicher“.

„ … und … wo ist das Problem …?“

„ Dann fange ich an zu stottern und werde rot.“

„ … und … wo ist das Problem …?“

„ … Ich fühle mich dann ständig beobachtet und traue mir nichts mehr zu.“

„ … und … wo ist das Problem …?“

„ … dann werde ich wütend auf mich und auf alle anderen .“

„ … und … wo ist das Problem …?“

„ … dann ziehe ich mich zurück, werde unzufrieden mit allem und jedem und werde zynisch.“

„ … und … wo ist das Problem …?“

…?

…?

Davon handelt dieses Buch.

Noch einige Sätze zur Entstehungsgeschichte dieses Buches: Seit vielen Jahren arbeite ich mit Gestalttherapiegruppen. Gerne erzähle ich in diesen Gruppen Geschichten und das, was mir – z. B. durch die Arbeiten ausgelöst – so alles einfällt. Dazu habe ich dann auch mal den einen oder anderen „Spickzettel“. Immer wieder kam dann aus der Gruppe der Wunsch „schreib’ das doch mal alles auf “ „mach’ doch mal ein Buch daraus …“ Einige aus den Gruppen haben sogar Mitschnitte angefertigt und zu Papier gebracht. Als dann noch eines der Gruppenmitglieder selber einen Verlag hatte, war es um das Erzählte geschehen; es wurde zum Buch.

Es gibt daher auch kaum einen „roten Faden“, alles ist eher assoziativ entstanden. Ich glaube, man kann das Buch immer irgendwo aufschlagen – es ist nicht notwendig, es von vorne nach hinten in einem „Rutsch“ zu lesen. Dies war auch nie mein Ziel. Der Leser mag das Buch mal hier, mal da aufschlagen – es entsteht dann immer wieder neu in seinem Inneren, sei es durch Zustimmung, durch „Aha-Erlebnisse“ oder durch heftigen Widerspruch … Vielleicht ist es ja mit diesem Buch ähnlich, wie Perls es in den Vorbemerkungen zu „Gestalttherapie – Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung“ beschrieben hat:

„Sowohl für das Schreiben als auch für das gründliche Verständnis des Buches ist eine Haltung unerlässlich, die als Theorie wirklich den Inhalt und die Methode des Schreibens durchdringt. Der Leser wird daher offensichtlich vor eine unmögliche Aufgabe gestellt: Um das Buch zu verstehen, muss er die ‚Gestaltisten‘ – Mentalität haben, um sich diese aber aneignen zu können, muss er das Buch verstehen.“4

Mein Ziel war es auch, Gedanken zusammenzutragen, die sowohl in die Welt des Zen-Buddhismus als auch die der Gestalttherapie passen; am besten also solche, bei denen der Zuhörer zunächst gar keine entsprechende Zuordnung machen kann.

Eines ist mir aber noch ein wichtiges Anliegen: Es kann sein, dass sich in diesem Buch Zitate ohne speziellen Hinweis oder Quellenangabe befinden. Das sind dann Sätze oder Passagen, die ich irgendwann kopiert, abgeschrieben oder aufgeschnappt habe. Da ich nie an eine Veröffentlichung dachte, kann es sein, dass ich diese Notizen und Spickzettel nicht mehr zuordnen konnte. Auf keinen Fall war und ist es mein Ziel, mich mit „fremden Federn“ zu schmücken. Sollte also jemand sich ohne speziellen Hinweis zitiert sehen, so ist dies alleine mein – allerdings vollkommen unbeabsichtigtes – Verschulden.

*

Auszüge aus der Gedichtsammlung vom Glauben an den – ursprünglichen – Geist (Shinyinmei) von Meister Sosan, dem Dritten Patriarchen: 5„Die Meißelschrift vom Glauben an den Geist“ (chin. „Hsin-shin-ming“ od. „Shinjinmei“) des chinesischen Meisters Seng-ts’an (jap. Sosan, gest. 606) gehört zu den Basiswerken des Zen-Buddhismus und den großen Schriften der spirituellen Weltliteratur.

Der höchste Weg

ist nicht schwierig,

nur ohne Wahl.

Hasse nicht,

liebe nicht,

dann ist es klar,

und eindeutig.

Gibt es auch nur

die kleinste Unstimmigkeit,

dann entsteht ein Unterschied,

so groß wie der zwischen Himmel und Erde.

Wenn man es

vor eigenen Augen haben möchte,

darf weder Richtig

noch Falsch existieren.

Der Kampf zwischen

Verschiedenheit und Übereinstimmung

führt zur Krankheit

des Geistes.

Wer das subtile Prinzip nicht kennt,

müht sich vergeblich,

die Gedanken zur Ruhe zu bringen.

Es ist absolut,

Große Leere,

ohne Zuwenig,

ohne Zuviel.

Wirklich,

nur Ergreifen und Verwerfen

sind der Grund

für Verschiedenheit.

Jage nicht

den Erscheinungen nach,

und verweile nicht

in der Vorstellung von Leere.

Im Einen

ist der Geist in Frieden,

und Verwirrung erschöpft sich

von selbst.

Will man die Bewegung des Geistes

zum Stillstand bringen,

dann führt gerade dies

zur völligen Bewegung.

Wenn man lediglich

diesen beiden Extremen anhaftet,

wie könnte man

das Eine verstehen?

Das Eine

nicht zu durchdringen

bedeutet,

beides zu verfehlen.

Die Erscheinungen verbannen bedeutet

das Zunichtewerden der Erscheinungen;

sich der Leere hingeben

heißt der Leere widersprechen.

Viele Worte,

viele Gedanken –

je mehr es sind,

desto weniger entsprechen sie.

Sind Worte und Gedanken abgeschnitten,

dann gibt es keinen Ort,

der nicht durchdrungen ist.

Kehrt man zum Ursprung zurück,

so erlangt man das Prinzip;

folgt man den Widerspiegelungen,

so verliert man die Essenz.

Ein Moment des Zurückkehrens

von den Widerspiegelungen

übertrifft sogar

das Reich der Leere.

Der Wandel

des Reiches der Leere

erscheint abhängig

von Täuschungen.

Du brauchst nicht

nach der Wahrheit zu suchen;

lass nur unbedingt ab

von Überlegungen.

Verweile nicht

in dualistischen Anschauungen;

vermeide absolut,

ihnen zu folgen.

Existiert auch nur ein wenig

Richtig und Falsch,

dann wird der Geist

in Verwirrung verloren.

Zwei existiert

abhängig vom Einen,

aber man darf auch nicht

bei dem Einen verharren.

Wenn sich kein Geist erhebt,

sind die Zehntausend Erscheinungen

ohne Fehler.

Keine Fehler,

keine Erscheinungen –

Nicht-Erheben,

Nicht-Geist.

Das Subjekt folgt dem Objekt

und vergeht;

das Objekt folgt dem Subjekt

und versinkt.

Das Objekt ist abhängig

vom Subjekt ein Objekt;

das Subjekt ist abhängig

vom Objekt ein Subjekt.

Wer diese beiden Aspekte

verstehen möchte, muss wissen,

dass beides ursprünglich

eine Leere ist.

Die eine Leere

ist gleichzeitig beides

und enthält alle

Zehntausend Erscheinungen.

Es gibt weder

Feines noch Grobes;

warum sollte es

einseitige Anschauung geben?

Der Große Weg an sich

ist ruhig und weit –

weder leicht

noch schwer.

Kleinliches Denken

führt zu Zweifel und Zaudern;

je mehr man eilt,

desto mehr bleibt man zurück.

Anhaften bedeutet,

die Angemessenheit zu verlieren

und auf falsche Wege

abzukommen.

Loslassen ist

Natürlichkeit,

So-heit ist

ohne Gehen und Bleiben.

Sich dem eigenen Wesen anzuvertrauen,

ist Vereinigung mit dem Weg,

und die Sorgen werden zunichte,

als schlenderte man unbekümmert einher.

Wenn sich Gedanken fortsetzen,

widerspricht das der Wahrheit,

man versinkt in Dummheit

und ist unfrei.

Unfreiheit ermüdet den Geist;

wozu

über Entfernung und Nähe

nachdenken?

Will man

das Eine Fahrzeug erlangen,

darf man keinen Widerwillen gegen

die sechs Arten des Staubs hegen.

Gegenüber den sechs Arten des Staubs

keinen Widerwillen hegen,

gerade das ist gleich

der vollkommenen Erleuchtung.

Der Weise tut nicht,

ein Dummkopf fesselt sich selbst.

Im Dharma gibt es

keine Unterschiede;

willkürlich haftet man selbst

an den Dingen.

Mit dem Geist

den Geist anzuwenden –

ist das nicht

ein großer Fehler?

Irrtum erzeugt

Ruhe und Chaos;

Erleuchtung ist ohne

Zuneigung und Abneigung.

Alle dualistischen Anschauungen

beruhen auf willkürlichen

eigenen Erwägungen.

Ein flüchtiger Traum,

ein Augenflimmern –

warum sich erschöpfen in dem Versuch,

diese zu erfassen.

Erlangen, verlieren,

richtig, falsch –

lasst all das

mit einem Mal fahren.

Wenn das Auge nicht schläft,

vergehen die verschiedenen Träume

von selbst.

Wenn der Geist

keine Unterscheidungen trifft,

sind die Zehntausend Erscheinungen

Wie-Eins.

Wie-Eins an sich

ist unergründlich,

unverrückbar und frei

von Verwicklungen.

Betrachtest du

die Zehntausend Erscheinungen gleich,

dann kehrst du zurück

zum Natürlichen.

Sind die Ursachen vergangen,

dann gibt es

keine Vergleiche mehr.

Wird Bewegung angehalten,

so entsteht Nicht-Bewegung;

wird Ruhe bewegt,

so entsteht Unruhe.

Wenn beides schon nicht existiert,

wie könnte es dann das Eine geben?

Letztlich und endlich

gibt es keine Bestimmungen.

Übereinstimmender Geist

ist Gleichheit,

alle künstlichen Handlungen

vergehen zusammen.

Zaudern und Zögern

vollkommen erschöpft,

ist der wahre Glaube

harmonisch und direkt.

Nichts bleibt zurück,

keine Erinnerungen.

Reine Klarheit

erstrahlt natürlich,

ohne Anwendung

der Geisteskraft.

Der Ort des Nicht-Erwägens

ist mit Wissen oder Gefühl

nicht zu ergründen.

Im Reich

der Wahrheit an sich

gibt es weder

andere noch Selbst.

Möchte man unbedingt Entsprechung,

so sage ich nur:

Nicht-Zwei!

Nicht-Zwei,

alles ist gleich –

es gibt nichts,

was nicht enthalten ist.

Die Weisen

aus den Zehn Richtungen

treten alle

in diese Wahrheit ein.

In der Wahrheit gibt es

weder Verkürzung noch Verlängerung,

ein Gedankenmoment

ist zehntausend Jahre.

Es gibt weder

Sein noch Nichtsein,

nur die Zehn Richtungen

vor unseren Augen.

Das Kleinste ist

gleich dem Größten,

die Grenzen zwischen

den Welten verschwinden.

Das Größte ist

gleich dem Kleinsten, es gibt keine

festen Grenzen.

Sein ist gleich Nichtsein,

Nichtsein ist gleich Sein.

Wenn etwas nicht So-heit ist,

braucht man es nicht zu bewahren.

Eins ist Alles,

Alles ist Eins.

Kann man es

auf diese Weise vollbringen,

warum sich dann noch

um Unvollendetes sorgen.

Glaube an den Geist

ist Nicht-Zwei,

Nicht-Zwei ist

Glaube an den Geist.

Der Weg der Worte ist zu Ende –

keine Vergangenheit,

Zukunft und Gegenwart.

Der legendenumwobene Autor dieses Werkes war der dritte Patriarch des Zen in China, und er gab der Entwicklung dieser meditativen Richtung des Buddhismus entscheidende Anstöße. Wie viele große Meister des Zen verstand er es, seine „Spuren in der Welt“ so weit zu verwischen, dass kaum etwas über seine Lebensgeschichte überliefert ist.

Sein geistiges Vermächtnis jedoch, das er in den knappen, an Laotse erinnernden Sprüchen dieser Meißelschrift niederlegte, blieb über 1 500 Jahre hinweg in der Zen-Tradition lebendig und gilt bis heute als unschätzbares Mittel zur Schulung des Geistes auf dem Weg des Zen. Deutlicher als in vielen anderen Zen-Texten treten hier auch die taoistischen Wurzeln des Zen-Buddhismus zutage, der in China aus der Verschmelzung von Buddhismus und Taoismus entstand.

Dieser Text ist neben dem Herz-Sutra einer der wichtigsten Texte aus dem Zen-Buddhismus. Beide begleiten mich schon seit nahezu 40 Jahren, ohne dass ich sagen könnte, ich hätte sie erfasst. Ich will auch gar nicht erst den Versuch einer Erklärung machen, dazu ist dieser Text viel zu schade.

Das Faszinierende an diesem Text ist sein Alter: Er stammt vom so genannten Dritten Patriarchen, dem chinesischen Zen-Meister Seng-Ts’an (Sosan), der wahrscheinlich im Jahre 606 verstorben ist. Wie wird man wohl in 1500 Jahren die Werke von Frederick Perls lesen?

Die Kalligraphie auf der Vorderseite lautet:

Der große Weg ist in seinem Wesen großmütig.

Er ist weder schwierig noch leicht.

Wenn ihr versucht,

die Umwelt auszuschalten,

bevor ihr das begriffliche Denken aufgegeben habt,

werdet ihr keinen Erfolg haben;

ihr werdet vielmehr ihre Macht stärken,

euch abzulenken.

Huang Po

Hört gut zu:

Wenn ihr euch selbst nicht vertraut,

müht ihr euch für immer vergeblich ab.

Linji

ZEN-BUDDHISMUS UND GESTALTPSYCHOLOGIE/GESTALTTHERAPIE

Zen-Buddhismus ist keine Form der Therapie. Gestalt therapie ist kein Weg zur Erleuchtung. Beide können sich ergänzen, nicht aber ersetzen. Früher dachte ich, die beiden Wege seien letztlich gleich und daher auswechselbar; dann dachte ich sie hätten nichts gemeinsam und es sei nur verwirrend, wenn jemand sie gleichzeitig gehe.

Heute bin ich der Meinung: „Es kommt drauf an.“ Beide Wege können einander ergänzen; und für jeden Menschen kann je nach der Entwicklungsphase – sei es im therapeutischen Prozess oder im spirituellen – eine Kombination beider Wege sinnvoll sein. Beiden gemein ist: Es gibt keinen Weg, keinen Trick, mit dem ich mich um mich selbst herummogeln kann. Was ich zu diesem Thema nächstes Jahr denke, weiß ich erst nächstes Jahr.

Winnicott: Das Fehlen einer psychoneurotischen Krankheit kann zwar Gesundheit bedeuten, jedoch nicht unbedingt Leben.

Freud: Die Psychoanalyse ist für sich nicht in der Lage, ein Ich hervorzubringen, dass stark und flexibel genug ist, um in der Therapie seine Ziele zu erreichen. 6

Dieser Satz ist weniger erschreckend als es zunächst scheinen mag; trifft er doch sowohl auf den therapeutischen als auch auf den spirituellen Weg zu: Die Persönlichkeit, das Ich am Ende des Weges ist eine deutlich stärkere, integriertere als zu Beginn. Das Ideal in diesem Zusammenhang ist nicht das freie Ich, sondern ein Frei-sein vom Ich. Den ganzen Weg auf einmal würde der Anfänger logischerweise nicht gehen können. Es ist daher die Aufgabe des Lehrers die Schritte so groß zu gestalten, dass sie gerade noch gangbar sind, besser noch: ein wenig darüber liegen. Dieser Gedanke wird uns unter dem Stichwort von der Wachstumsgrenze noch genauer beschäftigen.

Schon alleine aus den beiden obigen Zitaten lassen sich die Verbindung, aber auch die Notwendigkeit der beiden Wege gut herleiten – will man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Was haben sich diese Wege einander zu geben. Viele Jahre bin ich mir schon im Klaren darüber, dass Meditation und Psychotherapie einander wichtiges zu bieten haben und dass viele Menschen beides sehr dringend brauchen. Am Anfang hatte ich den Eindruck, es ergäbe ein lineares Entwicklungsmodell Sinn: zuerst Therapie, dann Meditation; zuerst das Selbst konsolidieren, dann es loslassen. Zuerst das Ich, dann die Ich-Losigkeit. Diese Auffassung war jedoch naiv und wohl das Resultat einer falschen Dichotomie. Fortschritte auf dem einen Weg schienen die Fähigkeit, auch den anderen zu gehen zu steigern. Die Weigerung dies zu tun schien auf beiden Wegen in die Sackgasse zu führen. Ist es vielleicht doch möglich, so frage ich mich, dass beide Hand in Hand arbeiten? Können beide Systeme tatsächlich mit verschiedenen Mitteln auf gemeinsame Ziele (wenn sie diese denn überhaupt haben) hinführen? Noch einmal Freud:

„Die analytische Situation besteht bekanntlich darin, dass wir uns mit dem Ich der Objektperson verbünden, um unbeherrschte Anteile ihres Es zu unterwerfen. … Das Ich, mit dem wir einen solchen Pakt schließen können, muss (allerdings) ein normales Ich sein. Aber ein solches Normal-Ich ist, wie die Normalität überhaupt, eine Idealfiktion. Das abnorme, für unsere Absichten unbrauchbare Ich ist leider keine.“7

In diesem Punkt hat der Buddhismus der Psychotherapie am meisten zu bieten, weil die buddhistische Praxis Methoden der mentalen Entwicklung ermöglicht, die direkt auf das einwirken, was Freud hier das ‚abnormale Ich‘ nennt. Mit der Anwendung dieser Methoden macht das Ich eine Metamorphose durch, und die Therapie wirkt dann weniger bedrohlich.

Die beiden Wege haben sich in den letzten Jahren aufeinander zu bewegt. Meine – ganz subjektive – Erfahrung dabei ist allerdings, dass sich die therapeutische Welt weitaus leichter damit tut, auch die spirituelle Dimension zu sehen als umgekehrt buddhistische Kreise mit therapeutischem Gedankengut umgehen. Hierzu auch Oliver Petersen, der Therapeut und buddhistischer Lehrer ist:

„Ich glaube, dass es deshalb auch in der buddhistischen Szene starke Widerstände gibt, sich therapeutisch zu beschäftigen. Es geht in dieser Arbeit eben um sehr konkrete persönliche Fragen, die zu oft zunächst sehr schmerzhaft sind und für ein narzisstisches Selbstbild nicht sehr angenehm. Eigentlich möchte man auch nicht an diesen Dingen rühren und etwas verändern, weil sie als Überlebensstrategien benutzt werden. Wenn man aber echte Freiheit anstrebt, geht kein Weg an dieser Aufdeckung vorbei. Leichter ist es natürlich, sich auf der quasi unanfechtbaren Ebene abstrakter Philosophie zu bewegen. Diese ewigen Wahrheiten werden dann nicht auf die konkrete Situation angewandt und dienen als Vermeidungsstrategie gegenüber persönlichen Zumutungen.“8

Wenn wir über die Verbindung dieser beiden Wege sprechen, ist es sinnvoll sich auf beiden Gebieten auszukennen. Mir sind jedoch kaum Menschen bekannt, von denen ich mit Fug und Recht sagen könnte, dass sie auf beiden Feldern ausreichend bewandert sind, um sich sinnvoll zu äußern. Das Problem ist ja – wie wir noch sehen werden – eine Ebene tiefer: Was ist Buddhismus, was Zen-Buddhismus, was ist Psychotherapie, was Gestalttherapie? Sprechen wir überhaupt von den gleichen Dingen – auch wenn wir die gleichen Worte benutzen? Was nennen wir ‚krank‘ und was ‚gesund‘? Ich habe da meine Zweifel. Sich auf dem Feld des jeweils anderen – zumindest rudimentär – auszukennen, ist aber eine Grundvoraussetzung zum Dialog. Der Gestalttherapie und den Gestalttherapeuten hat man bislang – meist auch zu recht – eine gewisse Theoriefeindlichkeit nachgesagt. Dies hängt wohl mit der – angeblichen – Theoriefeindlichkeit des Gestalttherapie-Über-Vaters Fritz Perls zusammen. Die Forderung – die sowohl in der Gestalttherapie als auch im Zen-Buddhismus immer wieder erhoben wird, nämlich „nicht zu denken“, führt nicht selten zu blinder Naivität und Dummheit und für manche Menschen bedeutet ‚Nachdenken‘ lediglich umsortieren eigener Vorurteile.

„Du hörst zu“, sagte der Meister, „nicht um zu entdecken, sondern um auf etwas zu stoßen, was dein eigenes Denken bestätigt. Du argumentierst, nicht um die Wahrheit zu finden, sondern um deine Ansichten zu verteidigen.“

Dann erzählte er die Geschichte von einem König, der einmal durch eine kleine Stadt zog und überall Anzeichen einer verblüffenden Schießkunst feststellte. Bäume, Zäune und Wände waren mit Kreisen bemalt und hatten genau in der Mitte ein Einschussloch. Er fragte, wo dieser Meisterschütze sei, der sich bald als ein zehnjähriger Junge entpuppte.

„Das ist doch unglaublich“, sagte der König erstaunt. „Wie um alles in der Welt bringst du das fertig?“

„Kinderleicht“, war die Antwort. „Ich schieße zuerst und male dann die Kreise.“

„Ebenso ziehst du zuerst deine Folgerungen und baust dann deine Prämissen um sie herum auf “, sagte der Meister. „Ist es nicht derselbe Weg, den du einschlägst, um an deiner Religion und deinen Theorien festzuhalten?“

In den letzten Jahren sind im Bereich Gestalttherapie und Theorie zwei wichtige Entwicklungen feststellbar: Zum einen finden wir in vielen Fachaufsätzen und Fachbüchern wichtige theoretische, fundierte Beiträge über die Gestalttherapie. Zum anderen wird aber auch mehr und mehr klar, dass Herr Perls so theoriefeindlich, wie er sich – besonders in seiner ‚wilden‘ Zeit – gerne selber darstellte, wohl gar nicht war.

Was bleibt ist, dass theoretisches Wissen kein Motor für organismisches Wachstum aus sich selber heraus ist. Bücher oder Wissen ersetzen nun mal keine Erfahrung, keine Therapie. In diesem Punkt sind sich Gestalttherapie und Zen-Buddhismus vollständig einig.

Frage: „Stellen Sie der anderen Person Fragen über sich selbst oder darüber, wie sie sich fühlt, um ihr damit zu einem besseren Verständnis ihrer Selbst zu verhelfen?“ Lama: „Manchmal tue ich das, aber für gewöhnlich nicht. Einige Leute haben recht spezifische Probleme; In solchen Fällen kann es hilfreich sein, diese zuerst genau zu kennen, damit wir genau passende Lösungen anbieten können. Aber das ist normalerweise nicht notwendig, weil im Grunde alle die gleichen Probleme haben.“ Frage: „Wie viel Zeit verbringen sie im Gespräch mit einer Person, wenn Sie herausfinden wollen, welches Problem sie hat und wie man damit umgehen kann? Wie sie wissen, verbringen wir in der westlichen Psychiatrie viel Zeit mit den Patienten, wenn wir ihnen helfen wollen, die Natur ihrer eigenen Probleme zu erkennen. Machen sie das auch so oder anders?“ Lama: „Mit unseren Methoden müssen wir nicht soviel Zeit mit den einzelnen Menschen verbringen. Wir erklären die grundlegende Natur der Probleme und die Möglichkeit, sie zu überwinden. Dann lehren wir grundlegende Techniken, wie sie mit den Problemen arbeiten können. Sie wenden diese Techniken daraufhin an … “ Frage: „Sie sagen, jeder habe grundsätzlich die gleichen Probleme?“ Lama: „Ja, richtig. Ob im Osten oder im Westen, es geht im Grunde um das gleiche. Aber im Westen müssen alle Menschen zuerst klinisch krank sein, bevor man sie als krank bezeichnet. Für uns ist das zu oberflächlich. Buddhas Psychologie und der Erfahrung der Lamas zufolge, ist Krankheit etwas tiefer als die klinischen Symptome. Solange es einen Ozean der Unzufriedenheit in euch gibt, entstehen schon dadurch kleinste Veränderungen in eurer Umgebung: Probleme. Nach unserem Ansatz ist bereits diese Anfälligkeit für künftige Probleme ein Hinweis darauf, dass der Geist nicht gesund ist. Wir alle gleichen uns darin, dass unser Geist unzufrieden ist. Deshalb kann uns schon eine kleine Veränderung in unserer Umgebung krank machen. Warum? Weil das Grundproblem in unserem Geist liegt. Es ist sehr viel wichtiger, das Grundproblem zu beseitigen, als die ganze Zeit zu versuchen, oberflächliche emotionale Probleme zu bewältigen …“ Frage: „Ist mein Grundproblem das gleiche wie sein Grundproblem?“ Lama: „Ja, das Grundproblem von allen ist die so genannte ‚Unwissenheit‘. Wir verstehen die Natur des unzufriednen Geistes nicht …“9

Diese drei Frage- und Antwortbeispiele sind sehr interessant. Sie zeigen gut, wo nach meiner Meinung Unterschiede zwischen beiden Wegen und Schwierigkeiten in der Verständigung miteinander sein können.

Zunächst wundert es mich, dass ein tibetischer Lama hier das zu tun scheint, was eigentlich die Aufgabe eines Psychotherapeuten sein sollte. Zu einer solchen Grundhaltung scheint er sich ermächtigt zu fühlen, weil er wohl davon ausgeht, dass sein Hintergrund, sein Menschenmodell alle Menschen und daher auch deren möglichen Probleme und Krankheiten umfassend beschreibt. Dies mag auf einem sehr abstrakten Niveau auch stimmen; doch ich habe Zweifel, ob das Abstrakte das Konkrete heilen kann. Wenn Meditierende einen gewissen Grad der Reife beim Zazen erreicht haben, bekommt ihr Leben und alles, was sie tun, eine gleich bleibende Klarheit und Integrität. Diesen Weg zu beschreiten, bzw. davon profitieren zu können, setzt jedoch eine „Grundgesundheit“ voraus.

Die Unwissenheit des Geistes ist bestimmt eine grundlegende Ursache vielen Übels. Ähnlich können wir ja auch sagen, dass die Aussagen der Vier edlen Wahrheiten auf alle Menschen zutreffen und dass ihnen zufolge die so genannte Anhaftung das zentrale Problem sei.10 Auf diesem abstrakten Niveau stimme ich dieser Aussage ja auch zu. Doch diese generelle Aussage hat für mich noch keine therapeutische Bewandtnis. Die entsteht erst dann, wenn wir zusammen herauszufinden versuchen, wie, wodurch, auf welche Art und Weise, unter welchen Bedingungen diese generelle Aussage ganz konkret sich in meinem Leben negativ niederschlägt.

Ich mache es vielen Diskussionspartnern aus der buddhistischen Welt zum Vorwurf, dass sie der Meinung sind, in dem Augenblick, wo sie die Vier edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad zitieren und beschreiben, sprächen sie schon über Psychotherapie oder diese geschähe sogar schon.

Das wäre als würde ich – psychoanalytisch gesehen – sagen: Es ist ein Grundthema aller Menschen, dass das Über-Ich und das Es ständig im Streit um die Herrschaft über das Ich sind und dass es darum gehe, dass ‚wo Es war, Ich werden sollte‘. Oder mit dem Modell der Gestalttherapie beschrieben:

„Wenn der homöostatische Prozess bis zu einem gewissen Grade versagt, wenn der Organismus zu lange in einem Zustand des Ungleichgewichts bleibt und seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann, ist er krank. Wenn der homöostatische Prozess ganz versagt, stirbt der Organismus.“11

Beide Aussagen sind vollkommen richtig; nur mit praktischer Therapie haben sie noch nichts zu tun! Sie dienen höchstens dazu, sich mit Abstraktionen um die oft schmerzvolle therapeutische Klein-Klein-Arbeit herum zu stehlen.

Ein Grundirrtum ermöglicht solche Gedanken besonders: Was will, was kann Therapie, und wer braucht Therapie? Ohne sie zu bewerten, möchte ich zwei Schwerpunkte therapeutischer Arbeit nennen:

Auf der einen Seite

sehe ich den Bereich, wo es um Verbesserung von Lebensqualität geht. Das Leben des Klienten ist ,im großen und ganzen‘ in Ordnung, Wohlbefinden, Zufriedenheit und Lebendigkeit wollen sich jedoch nicht einstellen.

Auf der anderen Seite

sehe ich diejenigen Klienten, die ohne therapeutische Hilfe zumindest für einen begrenzten Zeitraum kaum (über-) lebensfähig wären.

Könnte man bei der ersten Kategorie noch die beiden Wege in etwa gleichsetzen, so wäre dies im zweiten Fall völlig falsch! Meditation ist keine Therapie und auch kein Therapieersatz. Umgekehrt gilt das gleiche! Der (Grund-) Irrtum beruht auf der ungerechtfertigten Gleichstellung von Meditation und Therapie der zweiten Kategorie.

Bei dem „Wellness-Klienten“ stellt sich die Frage der Unterschiedlichkeit der beiden Wege nicht und es ist auch relativ egal, in welcher Phase des Prozesses welcher der beiden Wege beschritten wird. Isadore From, einer der Mitbegründer der Gestalttherapie, betont eine klare Trennungslinie:

„… Jedoch auch andere Entwicklungen machten ihm [I. From] Sorgen, z. B. die notorische Affinität der Gestalttherapie zu ,Growth-Centers‘ sah er geradezu als Untergang der Gestalttherapie als Psychotherapie. ,Gestalttherapie beschäftigt sich nicht mit Wachstum, sondern mit den Auflösungen von Störungen von Wachstum’, sagte er mit Deutlichkeit. ,Therapie ist eine untergeordnete, triviale Disziplin, notwendig, aber trivial. Die Funktion des human-animalen Organismus’ ist es zu überleben. Um zu überleben, wächst es. Dies geschieht durch sich selbst in einem anregenden und ernährenden Feld. Gestalttherapie ist deshalb keine Methode zur Selbstverwirklichung, es ist kein Weg zur Persönlichkeitsgestaltung und zur Erreichung von persönlichem Glück. Sie ist vielmehr einfach Unterstützung zur Auflösung von Hindernissen beim Wachsen, jedoch keine Anleitung zum Wachstum selbst.‘ Mit dieser unmissverständlich scharfen Abgrenzung verteidigt I. From die Gestalttherapie als klinische, heilkundliche Psychotherapie und bewahrt sie vor einer Verramschung als Wachstums-Allheilmittel im Selbsterfahrungs-Psychomarkt.“12

Es ist wichtig, dass der Zen-Buddhismus nicht psychologisiert und nicht „therapeutisiert“ wird. Der Jesuitenpater Heinrich Dumoulin, einer der Pioniere und einer der besten Kenner des Zen unter den heutigen christlichen Religionswissenschaftlern, der fast zwei Jahrzehnte in Japan verbracht, der die meisten Zenmeister der Gegenwart in ihren Zenklöstern besucht und selber Zen geübt hat, hat sich bereits sehr früh und sehr nachdrücklich gegen die moderne Psychologisierung von Zen gewandt.

Dumoulin, der von seinem katholischen Standpunkt aus Zen durchaus positiv als „natürliche Mystik“ bewertet, bemüht sich, Zen vor einer Psychologisierung zu schützen und seine religiöse Substanz zu bewahren. Er weist mit Recht darauf hin, dass man Zen seines eigentlichen Wesens beraubt, wenn man das Zen-Erlebnis des Satori rein psychologisch interpretieren will.

„Es mag wohl sein, dass die Psychotherapie aus der Erfahrung des Zen brauchbare Hinweise für die Vervollkommnung ihrer Methoden empfängt. Doch ist dem Zen die Seele genommen, wenn es sein Dasein im psychologischen Laboratorium fristen soll. Aus dem religiösen Urtrieb des Menschen geboren und aus religiösen Quellen genährt, hat das Zen in vielen Jahrhunderten der Geschichte große religiöse Leistungen inspiriert. Die Psychologie kann nicht das letzte Wort über Wert und Brauchbarkeit des Zen sprechen.“13

Er wendet sich hier auch explizit gegen C. G. Jung, der sich auch mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt hat, aber das Satori-Erlebnis psychologisch und nicht vom Zen-Buddhismus her interpretiert.

Noch einmal Dumoulin:

„Auch Jungs Deutung des Satori-Erlebnisses als eines Durchbruchs des Unterbewusstseins scheint eher für einen künstlich erzwungenen seelischen Explosionsvorgang als für eine echte Wirklichkeitserfahrung zu sprechen. Denn das Erfassen ins Unterbewusste gesunkener psychischer Gehalte besagt keine neue Wesensschau oder Geistberührung.“14

An dieser Psychologisierung des Zen trägt aber auch Daisetz Suzuki, der wichtigste Pionier, der den Zen-Buddhismus in den Westen gebracht hat, eine Mitverantwortung. Er hat, als er das zen-buddhistische Gedankengut seinerzeit nach Amerika brachte, seine Darstellungen anhand der Theorien und Kategorien des ‚Mystischen Erlebens‘ des amerikanischen Philosophen und Psychologen William James dargestellt. James nennt als Kennzeichen des mystischen Zustandes

Unaussprechlichkeit,

noetische Qualität,

Unbeständigkeit,

Passivität.

Basierend darauf nannte Suzuki die Merkmale: Irrationalität, Intuitive Einsicht, Autoritativer Charakter, Bejahung, Sinn für das ‚Drüben‘, Unpersönliche Färbung, Exaltationsgefühl und Augenblicklichkeit. Er vergleicht auch die Ideen Meister Eckhards und des Zen-Buddhismus, wenn er schreibt:

„Satori erfahren bedeutet, an oder in diesem Punkt – des ‚Seelenfunken‘ – Eckharts zu stehen, von dem aus wir in zwei Richtungen sehen können: In die Richtung auf Gott und die Richtung auf das Geschaffene hin. Anders ausgedrückt: Von hier aus wird das Endliche unendlich und das Unendliche endlich.“15

Damit hat Suzuki sich dem westlichen Leser zwar begreiflich gemacht, sich aber gleichzeitig vom Zen-Erleben entfernt. Wenn mein Lehrer mir bestätigt, dass ich einen Wachstumsschritt gegangen bin, dann werde ich den Mund halten und mich freuen. In welche Kategorie dieser Schritt nun fällt, ist mir eigentlich recht egal!

Einige Würdenträger der Stadt waren in einem Zenkloster zu einem einfachen Mahl geladen. Um den Zen-Meister zu beeindrucken, unterhielten sie sich über höchst spirituelle Themen, über Wiedergeburt und Karma. Schließlich ergriff der Bürgermeister das Wort: „Verehrter Meister, uns würde vor allem ihre Meinung zum Thema Wiedergeburt interessieren.“ Der Meister schaute von seinem Teller auf, und sagte: „Haben sie schon einmal gekostet? Der Rettich schmeckt ausgezeichnet.“

Taisen Deshimaru Roshi:

„Beim Zazen konzentrieren sie sich auf die Haltung und lassen alles Übrige vorbeiziehen. Dann kommt das Unterbewusste hervor, denn wenn man sein bewusstes Denkens anhält, offenbart sich das Unterbewusste. Freud und Jung haben bereits darüber gesprochen. Jung ist ein tiefgründiger Psychologe. Er hat sich mit dem Zen aus den Büchern Professor D. T. Suzuki befasst. Aber jener Suzuki hatte keine Zazen Erfahrung, und es ist unmöglich, Zen zu verstehen wenn man Zazen nicht praktiziert.“16

Ich stimme ihm hier zu, habe jedoch erhebliche Zweifel, ob der Roshi weiß, was für Freud und für Jung das Unterbewusste, das Unbewusste ist.

Ich will hier – mit allen Gefahren der Vereinfachung – kurz die grundlegenden Gedanken des Zen-Buddhismus beschreiben, in denen ich Parallelen zur humanistischen Psychologie oder zur Gestalttherapie sehe. Suzuki ist uns hier sehr behilflich, auch wenn mein verehrter Lehrer und Meister Taisen Deshimaru sich eher geringschätzig über Suzuki geäußert hat, weil er Wissenschaftler und nicht Praktizierender gewesen sein soll. Wenn wir also etwas wissen wollen, sind wir bei Suzuki gleichwohl an einer sehr guten Adresse:

Zen ist keine Religion im üblichen Sinn. – „Denn Zen hat keinen Gott zum Anbeten, hat keinen zeremoniellen Ritus zu beachten, keine Zukunft im Jenseits, der die Toten überantwortet sind … Zen ist frei von solchen dogmatischen und ‚religiösen‘ Lasten.“

17

Zen darf nicht auf die Geistsammlung (dhyana) reduziert werden. – „Wer sich im Zen übt, mag über einen religiösen und philosophischen Gegenstand meditieren, aber der Kern des Zen liegt keineswegs darin. Zen strebt die Übung des Geistes selbst an, auf dass er Meister werde seiner selbst, dann der Einsicht in sein eigenes Wesen.“

18

Die aus eigenen Kräften gewonnenen Erfahrungen eines Menschen haben für das Zen wegweisende Bedeutung. – „Alle Autorität im Zen kommt von innen“

19

und „Nachahmung ist Sklaverei.“

20

Zen wendet sich ab vom logischen Denksystem in den letzten Fragen des Lebens. – „Nicht an Regeln gebunden sein, sondern jedem einzelnen seine Regeln schaffen. Das ist die Art zu leben, die Zen uns lehrt. Daher seine unlogischen oder besser überlogischen Aussprüche.“

21

Das Koan-System des japanischen Zen versperrt die Zugänge zum Rationalismus und erleichtert auf diese Weise den Zugang zu einem „bisher unerkannten Bezirk des Geistes“.

22

– Ziel des Zen ist es, eine innere Wahrnehmung zu erreichen, die vom Gegensatzdenken befreit ist und befähigt. den Tatsachen des Lebens unumwunden ins Auge zu sehen (jap.: Satori). Hierin liegt der praktische und soziale Wert des Zen. Suzuki bezeichnet Satori als das Empfindungsvermögen der wahren Wirklichkeit selbst. Die letzte Bestimmung des Satori bezieht sich auf das Selbst. Es hat keine andere Aufgabe, als in das eigene Selbst zurückzuführen.

23

Bei dieser Aufstellung müssten doch unsere Gestaltherzen höher schlagen, so hervorragend – in das Wortes wahrer Bedeutung – sind die Parallelen.

Eine andere Unterscheidung, die für unser Thema interessant ist, kommt von Dürckheim. Etwas unglücklich spricht er von ‚großer‘ und ‚kleiner‘ Therapie; unglücklich, weil diese Wortwohl eine Zweiklassentherapie vermuten lassen könnte – erst die ‚große‘ ist die ‚richtige‘. Dürkheim schreibt: 24

„Man hat in jüngster Zeit den Unterschied gemacht zwischen kleiner und großer Therapie. Unter kleiner Therapie versteht man diejenigen Formen der Therapie, in denen es um die Heilung des Neurotikers geht, um die Wiederherstellung eines seelisch Erkrankten. Das will heißen: den Menschen wieder zu befähigen, sich in der WeIt durchzusetzen und sich als werktüchtig und kontaktfähig (liebes- und arbeitsfähig wie Freud es nannte) zu bewähren und als Voraussetzung dafür ihn von seiner Angst, seinen Schuldgefühlen und seiner Kontaktlosigkeit zu befreien. Diese Arbeit geschieht im Dienst des in natürlicher Weise mit seinem Welt-Ich identifizierten Menschen. Diese Therapie hat einen rein pragmatischen Charakter. Sie wird immer das erste Anliegen des Therapeuten sein. Dazu kommt neuerdings eine andere Thematik, die dort auftaucht, wo das Leiden des Menschen – sei es physisch oder psychisch – seine Wurzeln in einer Tiefe hat, die über das noch psychologisch Fassbare hinaus in den Kern seines metaphysischen Wesens reicht, also bis in jene Tiefen des Unbewussten, deren Äußerungen einen numinosen Charakter haben. Wo das Numinose auftaucht, ist das überweltliche Leben im Spiel. ,Heilung‘ ist dann nur möglich, wenn der ,Kranke‘ lernt, sich von dorther zu begreifen und sein Versagen in der WeIt als Ausdruck der Blockierung einer Selbstverwirklichung zu verstehen, in der sein eigenes transzendentes Wesen hervorkommen sollte. Diese Therapie, die der Auszeugung des Wesens im Welt-Ich und in diesem Sinne der Verwirklichung des wahren Selbstes dient und nicht nur die Wiederherstellung eines wesensfernen Welt-Ichs im Auge hat, hat man die große Therapie genannt. Sie hat, wenn sie sich selbst treu bleibt und sich am Ende nicht doch wieder nur als Umweg zur Gesundung und Ertüchtigung für die Welt begreift, einen initialischen (spirituellen) Sinn.“

Ähnliches können wir ja auch bei Viktor Frankl und seiner „Logotherapie“ lesen, in der es auch in die Suche nach dem Sinn geht.

„Alles im allem ist es kein Wunder, dass viele nicht mehr wissen, ob sie spirituelle oder psychologische Hilfe benötigen. Die Linie, die den Therapeuten vom spirituellen Meister trennt, ist verschwommen. Ein Beobachter drückt es – halb im Spaß – so aus: ,Die Seelenärzte hören sich schon wie Gurus an, und die Gurus hören sich schon wie Seelenärzte an.‘ Aber lässt sich der Unterschied in der Suche nach Transformation und dem Wunsch nach Glück so leicht abtun? Ist das nur eine Frage verschiedener Annäherungen an ein und dasselbe Ziel, verschiedener Konzepte für das Wohlbefinden, seelischen Frieden oder persönliche Erfüllung? Oder ist es eine Frage zweier verschiedener Richtungen, die das menschliche Leben einschlagen kann?“25

Dieses Zitat offenbart deutlich das von mir als unzureichend angesehene Therapieverständnis, indem es sich offensichtlich nur auf den von mir (auf Seite →) an erster Stelle genannten Arbeitsansatz therapeutischer Arbeit bezieht. Jemand, der sich vor lauter Ängsten kaum noch aus dem Haus traut, ist sich mit Sicherheit nicht unsicher dar über, ob er nun spirituelle oder psychologisch- therapeutische Hilfe sucht.

Im Laufe der Jahre bin ich immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass für Suchende in der westlichen Kultur beides zusammen – sich jeweils ergänzend – sinnvoll und manchmal auch erforderlich ist. Dies hängt auch damit zusammen, dass beide Wege die gleichen „Begleiterscheinungen“ haben: Sie machen uns sensitiver, durchlässiger oder dünnhäutiger. Parallel zum dünnhäutig – werden ist es aber auch erforderlich, dass die Kompetenz, mich zu schützen, mich von Schädlichem, Unheilsamem zu distanzieren. Wenn ich das nicht im gleichen Ausmaß lerne, indem meine Sensitivität zunimmt, dann gehe ich nicht schützend, nicht achtsam mit mir um. Dann springe ich als Nichtschwimmer in ein Schwimmerbecken – und das ist wohl nicht so gut …

Es ist wichtig und gut, durchlässig zu sein, sonst kann ich kein Mitgefühl entwickeln; es ist wichtig und gut, zu zu sein, sich abzugrenzen, sonst spült mich mein Mitgefühl hinweg.

Die Heilkräfte der Zen-Meditation können dem gesunden und auch dem körperlich oder seelisch angeschlagenen Menschen nützen. Kein Mensch ist so gesund, dass nicht irgendwelche Schäden sein psycho-somatisches Befinden beeinträchtigen. Aber – dies muss klar gesagt werden – die Zen-Meditation ist keine Therapie für psychisch Kranke. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass der Zen-Weg, zum mindesten seine höheren Stufen, nicht für alle Menschen bekömmlich ist. Körperhaltung und Atmung, auch Schweigen können vorbehaltlos allen empfohlen werden. Meditation allgemein birgt Heilkräfte für jedermann. Doch ist bei spezifischen Ausformungen, beispielsweise bei der zenbuddhistischen Koan-Übung oder stundenlanges sitzen in einem Sesshin eher Zurückhaltung geboten. Im Gespräch sagte einmal ein erfahrener Geistesmann scherzend: „Gymnastik ist gut für alle, Akrobatik für wenige.“

Es kann ja durchaus hilfreich sein jeden Dienstagabend in eine Selbsterfahrungsgruppe oder eine Meditationsgruppe der nächsten Familienbildungsstätte oder Volkshochschule zu gehen. Doch hat das eine nichts mit einer kontinuierlichen Therapie und das andere nicht mit der Meditation als Lebensweg zu tun. Muss ja auch nicht. Nicht jeder will/muss Akrobat werden.

„Zen ist keine Form von Psychotherapie, Zen ist eine uralte, religiöse Praxis. Wer ihre Prinzipien unmittelbar mit psychotherapeutischen Prinzipien vergleicht, gibt zu, dass er Psychotherapie als Religionsersatz betrachtet.“26

Meditation ist Suchen ohne zu Finden (finden zu wollen) – bzw. Finden ohne zu Suchen. Das Ziel in beiden Wegen besteht darin, sich des Unbewussten, sich des abgespaltenen Perönlichkeitsanteils, des Schattens oder welche Formulierung wir je nach Schule nehmen wollen, bewusst zu werden. Darum muss in beiden Wegen das Bewusstsein besonders geübt werden. Nur ein sehr sorgfältig gestimmtes Instrument ist in der Lage alle Töne, auch alle Zwischentöne, genau widerzugeben.

Therapie ist oft schwere, aktive und überprüfbare Erarbeitung von Heilung und Ganzheit. Therapie sucht jemand auf, um durch eigene Anstrengungen ein Ziel zu erreichen, in der spirituellen Meditation liefert sich jemand der Gnade eines Gottes, einer Macht außerhalb seines Selbst bewusst aus. Hier liegt meiner Meinung nach ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen ,allgemeiner‘ Therapie und ,spiritueller‘ Therapie: Während erstere eher dahin tendiert, dass letztlich alles machbar ist, ist die zentrale Grundannahme einer spirituell orientierten Psychotherapie, dass es deutliche Grenzen des Machbaren gibt, Grenzen, an denen ich nur noch auf die Gnade Gottes, auf Erleuchtung, oder wie auch immer ich es nennen will, hoffen kann. Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Erleuchtung. Die immer wieder neue Akzeptanz der Begrenztheit ist ein wichtiger Bestandteil spiritueller Psychotherapie. Die auf dieser Einsicht fußende Bescheidenheit ist eine der faszinierendsten Eigenschaften wirklicher, großer spiritueller Lehrer.

Der Sufi-Meister Yahya ibn Mu’adh brachte im 9. Jahrhundert diese Grundhaltung wunderbar auf den Punkt:

„O Gott, Du hast es gern, dass ich Dich liebe, obgleich Du meiner nicht bedarfst – wie sollte ich es nicht gern haben, dass Du mich liebst, wo ich Deiner so sehr bedarf?“ „O Gott, ich habe nichts für das Paradies getan, und ich habe nicht die Kraft, die Hölle zu ertragen – nun liegt die Sache bei Deiner Gnade!“27

Es ist eine große Gnade, ein großes Verdienst, beide Wege miteinander verbinden zu können. Das heißt spirituell zu sein und die alltägliche Bodenhaftung dabei nicht zu verlieren. Eine der wenigen Menschen, bei denen ich diese Verbindung sehe ist – neben dem Dalai Lama – Theresa von Avila, die ich sehr verehre; ihre faszinierende Mischung aus Lebendigkeit, Mitgefühl, Konfrontation, Klarheit und Direktheit macht aus ihr eine „Gestalttherapeutin“. Diese Verbindung zwischen weit fortgeschrittener Spiritualität und alltäglicher Bodenständigkeit kommt in einem ihrer wunderschönen Gebete zu Ausdruck:

O Herr, Du weißt besser als ich,

dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.

Bewahre mich vor der Einbildung,

bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema

etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von der großen Leidenschaft,

die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich nachdenklich (aber nicht grüblerisch),

hilfreich (aber nicht diktatorisch) zu sein.

Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit scheint es mir schade,

sie nicht weiterzugeben – aber Du verstehst, O Herr,

dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten,

und verleihe mir Schwingen,

zum Wesentlichen zu gelangen.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und

Beschwerden.

Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben,

wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wage nicht, die Gnade zu erbitten, mir die

Krankheitsschilderungen anderer mit Freude anzuhören,

aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.

Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.

Erhalt mich so liebenswert wie möglich.

Ich möchte kein Heiliger sein –

mit ihnen lebt es sich so schwer –

aber ein alter Griesgram

ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen

unerwartete Talente zu entdecken

und verleihe mir, O Herr,

die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.

Theresa von Avila 1515 -1582

Der spirituelle oder meditative Weg ist, wenn man sich einmal ,entschieden‘ hat, eine lebenslange ,Begleiterscheinung‘ – man kann ihn nicht beenden! Therapie hingegen fügt sich in einen inhaltlich und zeitlich begrenzten Rahmen.

Die Aufgabe von Therapie ist es, Probleme zu lösen bzw. bei der Lösung von Problemen Begleitung anzubieten. Aufgabe des spirituellen Weges ist, es Sehnsucht zu stillen; er soll keine Probleme lösen. Große und bekannte spirituelle Lehrer und Meister sind nicht darum groß und bekannt, weil sie Probleme gelöst haben, sondern weil sie der Sehnsucht einen Namen gegeben haben; darin bestand/besteht ihr Verdienst.

Ich möchte noch auf einen weiteren Unterschied hinweisen: Eine Therapie, so auch die Gestalttherapie, sollte auf eine Persönlichkeitstheorie bezogen sein, die ein Erklärungsmodell für menschliches Verhalten bietet, das sowohl allgemeine Gesichtspunkte als auch individuelle Gesichtspunkte berücksichtigt bzw. beschreiben kann. Ein meditativer oder auch religiöser Weg bezieht sich auf ein Menschenbild, auf eine philosophische Theorie über den Menschen allgemein. Letzterer will den Glauben an das vermitteln, was wir nicht wissen; erstere das Wissen von dem, was wir nicht glauben.

Wer beide Wege gehen will, steht oft vor der Frage der Reihenfolge. Der spirituelle Weg verlangt ein festes Ich; ich rate jedem, der sich in beginnender Therapie befindet, dringend von der Meditation ab. Insbesondere, wenn wir über Therapie sprechen, die „ans Eingemachte“ geht; eine Arbeit, die über die Verbesserung der Lebensumstände hinaus geht bzw. diese erst in gesunder Form herstellen will. Sowohl in der beginnenden Therapie als auch in der beginnenden Meditation tauchen die Gefühle und Gedanken oft übermächtig und ungefiltert auf. Die Anleitung der Meditationslehrer ist hier immer die gleiche: „Lass alle Gedanken, alle Gefühle ruhig auftauchen, lasse sie kommen und wieder gehen. Du brauchst dich in diesen Fluss der Gedanken nicht einzumischen.“ Bis zu dem Punkt, wo ich diesen Ratschlag wirklich umsetzen kann, ist es jedoch oft ein langer Weg: Es ist der Punkt, an dem ich die Gedanken und Gefühle habe und nicht die Gedanken und Gefühle mich haben. Wer sich den Arm gebrochen hat, sollte nicht heben. Die spirituelle Suche ist Teil des Weges der Meditation; das integrierte Ich ist das Fahrzeug auf diesem Weg. Es ist einleuchtend, dass ich mich sinnvollerweise mit einem möglichst intaktem Fahrzeug auf den Weg mache und nicht mit einem, das dringend der Reparatur bedarf.

Spirituell orientierte Psychotherapie bekennt sich, wie oben ausgeführt, zu ihrer Begrenztheit, sie gibt zu, dass ab einer gewissen Grenze für die therapeutische Arbeit im ,Diesseits‘ Hilfe/Gnade aus dem ,Jenseits‘ erforderlich ist, erbeten (in des Wortes wahrster Bedeutung) werden muss. Die Kirchen, hier insbesondere die evangelische, laufen Gefahr, diesen Aspekt zu vernachlässigen:

„Die Abkehr des Menschen vom Jenseitigen und Spirituellen und eine Hinwendung zum Diesseitigen wird auch auf den Einfluss der Ethik des Christentums zurückgeführt. Die jüdische, christliche und islamische Religion als ethische Monotheismen legen den Nachdruck mehr auf die religiöse Pflicht des Menschen, den Willen Gottes in diesem gegenwärtigen Leben zu befolgen, und für sie richtet sich der Wille Gottes mehr auf das moralische Leben des Menschen als auf seine Ausführung von Ritualen. Diese Betrachtungsweise des Willens Gottes ist besonders im protestantischen Christentum stark ausgeprägt, in dem der Mensch Gott durch Arbeit, durch Hingabe an seinen Beruf als Berufung und durch das Ideal des Dienstes am Nächsten wohlgefällig sein soll. Damit hat der Protestantismus von Beginn an den Weg zu einer Lehre geebnet, die das diesseitige Leben betont und in den extremen Ausprägungen des Marxismus und Humanismus behauptet, der Mensch sei im Universum allein.“28

Ich nenne das, wovon hier die Rede ist, das ,Studenten- oder Jugendpfarrersyndrom‘; vor lauter Fortschritt und lauter Engagement für die dritte Welt und die Walfische, für Gruppendynamik und Ökologie bleibt der spirituelle Reichtum christlicher Tradition auf der Strecke. Wie kommt es, dass sich jeder – insbesondere evangelischer – Studentenpfarrer nur noch mit einer zusätzlichen Therapieausbildung komplett fühlt? Haben die Herren – oder auch Damen – denn so wenig Zutrauen in das, was sie originär zu bieten haben?

Es ist ein Unterschied für mich, ob sich jemand um meine Seele – glaubhaft – Sorge macht (= Seelsorge betreibt), oder ob jemand meine Seele besitzen will, bzw. als Trophäe seiner Arbeit sich ans Revers hängen möchte.

Erst kürzlich brachte es der Heidelberger Theologieprofessor Klaus Berger in einem Interview zum dramatischen Rückgang der Theologiestudenten in Deutschland auf den Punkt:

„Ursachen sind die weitgehende Verdrängung von Seelsorge durch Psychologie … In der Seelsorge finde ich haufenweise Hobby-Psychologen – statt dass man eine redliche Aufgabenteilung zwischen Psychologie und Seelsorge anstrebt. Statt sich auf die eigenen Wurzeln der Spiritualität in Bibel und Mönchtum zu verlassen, führt man den Zen-Buddhismus ein, als hätten wir auf nichts sehnlicher gewartet.“29

Interessanterweise wünschen sich viele Psychologiestudenten, dass auch religiöse Fragen, mehr noch spirituelle Themen und Wege erörtert werden. Dies umso mehr, als viele die Erwartung haben, auch die Seele profunder kennen zu lernen, die ursprünglich ein religiös – spirituelles Phänomen war. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen sind fließend – sie waren es schon immer. Jeder muss hier seinen eigenen Standort, Standpunkt finden. Das erinnert mich an die Zeit meines Psychologiestudiums. Ich hatte vor meinem Psychologiestudium schon in mehreren Berufen gearbeitet und auch die wichtigste Schule, nämlich die Schule des Lebens einige Jahre erlebt. Daher hatte ich recht konkrete, sehr praxisbezogene Vorstellungen, was ich mit meinem Studium der Psychologie anfangen wollte. Der immer wieder gehörte Satz „Ich möchte gerne mit Menschen arbeiten“ hatte bei mir ganz konkrete Inhalte. Ich war also hoch motiviert. Und dann wurde ich mit Statistik, Signifikanzen, Hypothesen a und b, Methodenlehre, experimenteller Psychologie und Psychophysik erschlagen! Das hatte doch nichts mit Psychologie zu tun; jedenfalls nicht mit meiner! Dann hatte ich endlich das Grundstudium ‚überlebt‘ und wollte mich nun mit altem/neuen Eifer auf die praktischen Themen, z. B. der klinischen Psychologie werfen, damit ich endlich mit Menschen arbeiten könne. Doch es war interessant: Alles das, was dann an praktischen, klinischen oder therapeutischen Themen kam, war jetzt plötzlich keine ‚richtige‘ Psychologie mehr; es war nicht messbar, nicht wiederholbar usw.. Es war interessant, wie sehr und fast unbemerkt mich die Zeit des Grundstudiums neu sozialisiert, besser: verbogen hat. Im Laufe meiner 35jährigen Psychologen- und Psychotherapeutentätigkeit bin ich, was diesen Punkt anbelangt, wieder in der Zeit am Anfang meines Studiums angelangt; kann aber sagen: „Wer messen will, der soll ruhig messen“, „Wer Kennzahlen und Signifikanzen braucht, dem seien sie gegönnt.“ 30

„.. morgen habe ich ein Gespräch mit unserem Jugendpfarrer, der vor lauter Fortschritt nicht mehr stehen kann …“Hans Dieter Hüsch

Gleichwohl ist es ja sehr bemerkenswert, das in einer Zeit, in der über die intimsten Details von Familiengeschichten und über Sexualität öffentlich geschrieben und gesprochen wird, die Diskussion über spirituelle Wege, über Psychotherapie und Spiritualität eher ein Randdasein fristet. Freud hat sich zu seiner Zeit in der Fachwelt, aber auch in der allgemeinen Öffentlichkeit unbeliebt gemacht, weil er in einer sehr puritanischen Zeit offen über Sexualität gesprochen hat. Vielleicht ist es ja angebracht, sich wieder einmal unbeliebt zu machen, indem wir in einer atheistischen und agnostizistischen Zeit über Spiritualität sprechen. Genauso wie Freud eine gelungene Sexualität für ein gesundes und eine gestörte für ein neurotisches Leben verantwortlich machte, könnten und sollten wir über gelungene und misslungene, fehlgeleitete Spiritualität und ihre Auswirkungen auf die Gesamtbefindlichkeit sprechen.

Wohlgemerkt: Ich möchte mich nicht gegen soziales Engagement der Kirchen aussprechen, wohl aber gegen Einseitigkeit bzw. fehlende Balance. Rituale und Zeremonien als Ausdruck einer Hinwendung zum oder des Miteinbeziehens des Überpersonellen, in all seinen Formen, in all seinem Reichtum, üben nicht ohne Grund ihre Anziehung aus.

(Ich gebe hier gerne zu, dass es eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist, Kirche, besonders ,Jugendpfarrer‘ zu ärgern.)

Es ist der buddhistischen Welt sehr zu wünschen, sich nicht mit einer „Angebotspalette für die Herausforderungen der modernen Welt aufzustellen“, sondern sich auf das, was sie seit nahezu 2000 Jahren ‚zu bieten‘ hat besinnt. Balance ist aber in beide Richtungen wichtig:

Frage: „Sagen Sie, ist diese Meditation nicht eigentlich eine Form von sublimem Egoismus? Ich habe mich eigentlich wirklich glücklich gefühlt, wenn ich im Stande war, mich um andere Menschen zu kümmern und mich nicht nur auf mich zu konzentrieren. Also ist das eigentlich die Flucht vor den sozialen Aufgaben, die Flucht vor dem Mitmenschen, die Flucht vor der Wirklichkeit?“ Antwort: „Ja, wissen Sie, ich habe Europa vorher nicht gekannt, und jetzt lerne ich es kennen; je mehr ich die Europäer kennen lerne, desto mehr habe ich das Gefühl, denen muss ich von der Meditation eher abraten, denn die haben ja Vorstellungen davon, was Meditation ist, so dass ich sagen würde: dann lieber nicht meditieren. Lesen Sie Ihre heiligen Schriften, Sie werden dasselbe in ihnen finden wie in unseren heiligen Schriften. Da steht nirgends ,Du sollst meditieren‘; da steht ,Du sollst Gott lieben und Deinen Mitmenschen‘. Und das genügt. Aber freilich, wenn Sie das versuchen zu tun, diese Liebe zu üben, und Sie dann die Erfahrung machen, dass Ihnen dazu die Meditation hilft, dann sollten Sie meditieren!“31

In den meisten Formen östlicher, aber auch westlicher Meditation gibt es so etwas wie den ,Großen Zweifel‘. Völlig auf sich selbst geworfen, völlig ausgeliefert erfährt man, dass man keinerlei Möglichkeiten hat, die Gnade, die Erleuchtung, oder wie in den verschiedenen Wegen bei allen Unterschieden das jeweilige Ziel auch heißen mag, aus sich selbst heraus zu erreichen. Insbesondere die Möglichkeiten des logischen Denkens erweisen sich als untauglich. Diese Phase wird in der Zen-Meditation vorsätzlich durch so genannte Koans herbeigeführt (z. B. Welche Farbe hat der Wind? Bringe mir den tonlosen Ton!). Der Verstand soll an seine Grenzen und in die Verzweiflung geführt werden. Für eine stabile Persönlichkeit ist diese Zeit, für die kein Zeitraum klar angegeben werden kann, nur sehr schwer zu ertragen – umso schwerer für eine nicht integrierte, ungefestigte Persönlichkeitsstruktur. Hier kann dieser Weg, so er denn mit Anstrengung und Ausdauer gegangen wird, zum Höllentrip werden, der nicht selten in der Psychiatrie endet. Dieser große Zweifel ist zwangsläufiger Bestandteil des meditativen Weges und lässt sich – leider – nicht umgehen.

Aber auch hier kann Therapie den meditativen Weg unter Umständen eher schwerer als leichter machen: Der durch Therapie ,Gestählte’ ist derart abgehärtet, dass er nur noch unter großen Anstrengungen in diese wachstumswichtige Phase kommt.