Ungeschliffener Diamant - Alice Pung - E-Book

Ungeschliffener Diamant E-Book

Alice Pung

4,8

Beschreibung

"Ungeschliffener Diamant", 2007 als bestes australisches Debüt ausgezeichnet, erzählt von den Herausforderungen des Erwachsenwerdens in einer globalisierten Welt: Als Tochter chinesisch-kambodschanischer Einwanderer wächst Alice mitten in Melbourne zwischen Hausgöttern, Aberglauben und strengen Traditionen auf. Doch schon bald kommt ihr die Welt der Eltern exotischer vor als die neue Heimat. Mal ernst und verzweifelt, dann wieder augenzwinkernd ironisch entfaltet dieses erzählerische Juwel seinen unwiderstehlichen Charme.

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Band 11 der

Alice Pung

Ungeschliffener Diamant

Roman

Aus dem Englischen von Marieke HeimburgerMit einem Nachwort von Olga Grjasnowa

Deutsche Erstausgabe 2012

© 2012

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburg

herausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Marieke Heimburger

Titel der australischen Originalausgabe: Unpolished Gem, erschienen 2006 bei Black Inc., einem Imprint von Schwartz Publishing. Unter demselben Titel erschien das Buch in Großbritannien 2008 bei Portobello Books Ltd.

© Alice Pung 2006

Nachwort © Olga Grjasnowa

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

ISBN 978-3-942374-54-5

www.editionfuenf.de

Inhalt

PROLOG

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

VIERTER TEIL

FÜNFTER TEIL

EPILOG

DIE WELT IN UNS

Die Autorin

Die Übersetzerin

Bisher bei uns erschienen

Für meine Familie, für diese Geschichte.Und für Rebecca, die so gerne las.

PROLOG

Diese Geschichte beginnt nicht auf einem Boot.

Sie beginnt in einem Vorort von Melbourne, Australien, auf einem Markt voll dicker Schweine und dünner Menschen. Die dicken Schweine hängen an Haken und warten darauf, in Einzelteile zerlegt zu werden, und die dünnen Menschen warten vor Glastheken darauf, die Einzelteile in Zeitungspapier gewickelt kaufen zu können. Wenn sie um den Preis für die Schweinepfoten feilschen, wird wild gefuchtelt und grimassiert, weil keiner hier gutt spleche die Inglisch. »Wie Hühner beim Versuch, sich mit Enten zu unterhalten«, sagt meine Mutter dazu. Doch heute kann sie sich an dem Geschnatter über gute und schlechte Schweinepfoten nicht beteiligen, weil sie in einem weißen Krankenhauszimmer liegt und darauf wartet, dass ich zur Welt komme.

Deshalb steht nur mein Vater mitten in diesem Gewühl, und seine Schuhe sind klatschnass vom Wasser aus den riesigen Schläuchen, mit denen das Blut und die Fleischreste am Ende des Tages weggespritzt werden. Er schaut auf die Gitterroste hinunter und fragt sich, ob er wohl jemals wieder geronnenes Schweineblut kaufen wird. Er liebt den Geschmack, aber von Ah Ung, der in der ersten Zeit nach seiner Ankunft im Schlachthaus gearbeitet hat, weiß er, dass das Schweineblut in Eimern aufgefangen wird, die unter den aufgehängten Kadavern stehen. Und weil diese nicht ordentlich gewaschen werden, tropfen hin und wieder auch Urin und anderes ekliges Zeug mit hinein. Mein Vater denkt nicht zurück an Phnom Penh, wo er ständig Hirnsuppe gegessen hat, bei Straßenverkäufern, die ihre Stände gegenüber von einem heruntergekommenen Laden hatten, vor dem sich ein obdachloser Leprakranker fast die Lunge aus dem Hals hustete. Er blickt auf und zeigt mit dem Finger auf die hellrosa und roten Gliedmaßen hinter der Glasscheibe. Mit der anderen Hand hält er zwei Finger hoch.

In diesem Vorort sind Wörter wie und, bei und von überflüssig und vollständige Sätze entbehrlich. »Zwei Kilo das. Da, sieben das.« Wenn Sie höflich fragen würden: »Könnten Sie mir bitte ein halbes Kilo von den Fingerbananen abwiegen?«, würde der Verkäufer Sie womöglich gar nicht verstehen. »Bitte ja? Banana? Wie viel, ha?« Kommunikation, begreift mein Vater, besteht nicht nur aus dem Hervorbringen von Lauten, sondern fast noch mehr aus Handbewegungen und Gesichtsverrenkungen. Wer am lautesten schreit, gewinnt, und normalerweise sind es Frauen, die am lautesten schreien. Mein Vater verliert gegen eine Frau mittleren Alters mit Spirelli-Locken, die mit drohendem Zeigefinger auf den Mann hinter der Theke losgeht, der genauso wenig Englisch kann wie sie, und ihm fast ein Auge aussticht, während sie ihm vorwirft, ihr borstige Schweinepfoten verkaufen zu wollen. »Warum du gibs mir die? Die nicht gut. Hier Borsten und hier und hier! Borsten überall! Die da besser. Wer du die geben, ha?« Mit einem Knall landet die Tüte voll blutiger Körperfortsätze auf dem Tresen, und mein Vater weiß, dass es Zeit wird, zum Stand gegenüber zu enteilen, wenn er borstenfreien Schinken haben will.

Der Markt in Footscray ist vermutlich der lauteste und schmutzigste der ganzen westlichen Welt, obwohl die kaum etwas zählt, wenn rundherum alle Gesichter braun sind. Es ist der einzige Markt, auf dem man eine ganze Mandarine schälen und essen kann, bevor man sich entschließt, ein Kilo davon zu kaufen; auf dem man in einer Mango herumstochern kann, um festzustellen, ob sie süß genug ist. Mein Vater zuckt nicht einmal mit der Wimper, als ein Mädchen sich mit einer Hand ein Auge zuhält, »Aaaauuu! Mein Auge!!!« schreit und dazu seinem kleinen Bruder eine nasse, geschälte Litschi vor die Nase hält. Er sieht zu, wie der Kleine im Kinderwagen anfängt zu weinen und die Mutter ein paar Weintrauben von einem Verkaufsstand pflückt, um dem Kind das Maul zu stopfen, während sie weiter drückt und stochert und völlig schamlos kostet. Sparsame Frauen geben keine vier Dollar für saure Erdbeeren aus, nur weil sie so blöd waren, sie vorher nicht probiert zu haben. »Ist doch bloß ärgerlich, wenn man ein zweites Mal hinmuss!«, behauptet meine Mutter. »Ayyah, es hat keinen Sinn, sich über vier Dollar zu ärgern! Das sollte man möglichst vermeiden.« Aber Schweinefüße kann man nicht vorher probieren, denkt mein Vater, als er sie durch die transparente Plastiktüte betrachtet. Er muss sich auf das verlassen, was die Frau am Stand schreit. Er wird diese Schweinepfoten seiner Schwester bringen, damit sie Brühe daraus kocht, und dann wird er die Brühe seiner Frau ins Krankenhaus bringen.

Er tritt hinaus auf den Bürgersteig und lässt die feuchten Gerüche des Markts hinter sich. Footscray ist der Vorort des verrückten Möbelbauers Franco Cozzo und seiner sagenhaften Erfolge, der Vorort, in dem Russell Crowe zu Ruhm und Ansehen gelangte, weil er sich den Kopf rasierte und auf ethnische Minderheiten eindrosch, kein Wunder also, dass die Bürgersteige nicht vergoldet sind, sondern bloß fleckenweise schwarz glänzen, wo Kaugummiflatschen plattgelatscht wurden. »Nicht den süßen Gummi runterschlucken«, sagen die Mütter zu ihren Kindern. »Ausspucken. Jetzt ausspucken – ja, so ist es richtig, hier auf den Boden.« Oh, dieses wundersame neue Land, in dem Kinder Todesängste leiden, weil sie einen Wrigley’s Spearmint verschluckt haben, und nicht, weil sie auf eine mit Munition gefüllte Kondensmilchbüchse getreten sind!

Darum ist es meinem Vater anfangs gleich, dass in der Blutsuppe, die in den dampfenden Schüsseln mit Pho Reisnudeln serviert wird, womöglich ein bisschen Urin ist oder dass er nicht gutt spleche die Inglisch, oder dass man einige Gemüsesorten, die es in Vietnam gab, im Tatsing Supermarkt nicht bekommen kann. Dafür sieht er in diesem Vorort alte Weiblein herumhumpeln, mit runden, kartoffelbraunen Gesichtern über ihren wattierten Jacken. Die Rollen ihrer Einkaufswägelchen rattern vorbei, und sie befehlen den plappernden Kindern, ihren Kaugummi auszuspucken. Mein Vater betrachtet sie lächelnd und fragt sich, ob sein Erstgeborenes wohl ein Junge oder ein Mädchen wird. Er drückt auf den schwarzen Gummiknopf an der Ampel und denkt daran zurück, wie sie diese tickenden Pfähle zum ersten Mal gesehen haben.

ERSTER TEIL

Hier stehen sie alle an einer Straßenkreuzung, sorgsam am Bordstein aufgereiht, meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter und meine Tante Que. Es ist frühmorgens, und sie grinsen alle so breit, dass man meinen könnte, sie hätten sich gestern Abend aus Platzgründen im Midway Migrant Hostel mit Kleiderbügeln im Mund zum Schlafen in den Schrank gehängt.

»Wah! Seht nur!«, ruft meine Großmutter immer wieder, während sie in feinstem Zwirn durch die Straße schlendern – frisch eingetroffenen Exklusivitäten aus dem Saint-Vincent-Laden. Den dicken Bauch meiner Mutter bedeckt eine weite Polyesterbluse mit lila Stiefmütterchen, und dazu trägt sie niedrige weiße Pumps, sorgfältig mit pinkfarbenen Adidas-Hosen kombiniert. Tante Que schreitet in einem braunen Kleid und einer Jacke für fünfzig Cent einher, mit echtem Pelz am Kragen und echten Mottenkugeln in den Taschen. Hinter ihr folgt mein Vater in einer flotten Jeans mit Schlag und braunen Plastikflipflops. Er trägt ein Hemd mit breitem Kragen, dessen Spitzen wie Pfeile auf die Frauen rechts und links neben ihm zeigen. Hallo, alle mal hersehen, da meine tolle Schwester und da meine wunderbare Frau. Und den Schluss bildet meine Großmutter, die in einem selbst genähten, hellblauen, pyjamaähnlichen Baumwollanzug einhertappt. Oben auf ihrem Kopf sitzt eine Sonnenbrille – ein zweites Paar Augen, das gen Himmel schaut und Buddhas Segen für Saint Vincent erbittet, weil er ihre Familie so prächtig eingekleidet hat.

»Wah!«, ruft meine Mutter noch einmal und zeigt auf einen alten Mann, der an einem Pfosten auf einen weichen Knopf aus schwarzem Gummi drückt. Der Rest der Gang dreht sich um. »Die Autos haben für den Alten da angehalten!«, ruft meine Großmutter. Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick macht die Ampel, und als das grüne Männchen aufleuchtet, wirft der alte Mann der Truppe, die auf ihn zeigt, einen misstrauischen Blick zu und humpelt dann schnell zur anderen Straßenseite.

»Wah!«, ruft meine Großmutter. »Seht mal da drüben! Auf der anderen Seite! Die Autos haben sogar für die kleinen Mädchen angehalten!« Zwei gelangweilte Zehnjährige in gebauschten, an den Gummibund ihrer neongrünen Radlerhosen genähten Ballonröcken überqueren die Straße und verzieren dabei den Asphalt mit pastellfarbenen Tropfen von ihren schmelzenden Eiswaffeln.

Mein Vater bleibt an dem gelben Pfosten stehen und drückt noch einmal auf den kleinen Gummiknopf. »Das kann selbst Mutter! Guckt, ich mache es noch einmal! Aber bitte glotzt nicht so wie Bauern aus Guangzhou, wenn es geht.« Meine Großmutter ignoriert seinen Kommentar und schaut zur Ampel hinauf. »Wir warten, bis der Mao-Tse-tung-Mann verschwindet, dann gehen wir los«, befiehlt sie. »Er hält alles an.« Sie hat das System verstanden. Als das rote Männchen verschwindet und das grüne wieder erscheint, hoppelt die Truppe im Takt zur tickenden Ampel über die Straße.

Dort, wo mein Vater herkommt, hatten Autos die Vorfahrt und nicht Menschen. Um in Kambodscha ein Auto zu besitzen, musste man reich sein. Und wenn man Geld hatte, bedeutete das, dass man so schnell fahren konnte, wie man wollte. Wenn jemand die Landstraße entlangraste und dabei aus Versehen einen Bauern umfuhr, suchte er besser schnell das Weite, weil er sonst riskierte, dass das ganze Dorf mit Hacken auf ihn losging. Das grüne Ampelmännchen war das hehre Symbol eines Staates, der es sich zur Aufgabe machte, dem Volk zu dienen und es zu beschützen. Und jedes Land, das kleine grüne Ampelmännchen hatte, war gütig und unvorstellbar wohlhabend.

Wah, in diesem neuen Land scheint den Leuten so vieles selbstverständlich zu sein! Es ist ein Land, in dem sich niemand bewegt, als müsste er sich verstecken. Aus dem obersten Stockwerk des Rialto-Gebäudes sehen meine Eltern, dass die Menschen unten anders gehen, und zwar nicht nur wegen der Hitze. Sie müssen nicht befürchten, dass ihnen eine Bombe auf den Kopf fällt. Hier pinkelt keiner auf die Straße, außer natürlich in einigen ausgesuchten Stadtvierteln. Hier gibt es keine Leprakranken. Keine wie schwarze Ameisen gekleidete Soldaten wie die Roten Khmer, die die Bewohner der City zum Massen-Exodus nach Wangaratta zwingen. Die meisten Menschen hier haben noch nicht einmal von Bruder Nummer Eins im sozialistischen Kambodscha gehört, in ihren ungeübten Ohren klingt sein Name wie ein osteuropäisches Eintopfgericht: »Möchten Sie ein wenig Pol Pot? Aus hundert Prozent frisch gemahlenem Leiden.«

Hier ist alles so süß, und die Flüchtlinge im Midway Migrant Hilton hamstern Zucker, Marmelade und Honig vom Frühstücksbuffet. Sie sind so sehr daran gewöhnt, dass alles nur in begrenzten Mengen vorhanden und unwiederbringlich verloren ist, wenn man nicht schnell genug zugreift, dass sie ganz verwirrt sind, als am nächsten Morgen Nachschub auftaucht. Also stopfen sie sich auch diesen wieder in die Taschen, für alle Fälle. Wochen später kommt immer noch täglich Nachschub. Die neuen Flüchtlinge lernen, langsamer zu essen, und dass man ihnen das Essen nicht wegnimmt und ihre Schüsseln nicht wegkickt. Sie lernen, dass hier niemand verhungert.

Deswegen ertönt am Anfang oft erstauntes »Wah«, und als mein Vater nach Hause kommt und die Tüte mit den Schweinepfoten schwenkt, bekommt er gleich das Nächste zu hören: »Wah! Sieh nur, das Wasser aus dem Hahn!«, ruft meine Großmutter und reicht ihm eine dampfende Tasse. »So sauber und heiß, dass man Kaffee damit machen könnte!« Als sie mit meiner Mutter zur Blutuntersuchung im Western General Hospital gehen, sind die geteerten Straßen Anlass zum Staunen. »Wah! So schwarz und glitzernd wie der Nachthimmel! Plattgewalzt von Maschinen, nicht von Menschen, die Steine ziehen!« Als sie mit der Straßenbahn fahren, um die australische Staatsbürgerschaft zu beantragen, erfreut sich mein Vater am ordentlichen Stadtbild und sagt stolz sämtliche Straßennamen auf, die er bereits auswendig kann, so dass er sich auch gleich bestens mit der Monarchie dieses Kolonialstaats auskennt: »King Street, William Street, Queen Street, Elizabeth Street.«

Meine Eltern werden zu Pionieren, die sich in einem neuen Land zurechtfinden. Zwar haben sie zu Fuß drei asiatische Länder durchreist, aber auf Rolltreppen sind sie nicht gefasst. »Los, komm runter!«, drängt der Rest der Familie meine Mutter. Doch sie steht wie angewurzelt oben und versperrt allen anderen hinter sich den Weg. Sie starrt hinunter zu ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin, die alle schon unten angekommen sind. »Aaahh. Ich habe Aaangst!« Schließlich betritt mein Vater die Treppe nach oben und sein Grinsen wird immer breiter, je mehr er sich dem oberen Ende nähert, wie ein langsamer Zoom in einem billigen chinesischen Film. »Einfach zwischen die gelben Striche treten«, sagt er. »Komm schon, du bist doch hochgefahren, also kannst du auch runterfahren! Jippie, wah, was für ein Spaß!« Auf und ab, auf und ab geht es auf den Rolltreppen im Highpoint Shopping Centre – ein 32-jähriger Mann, seine im achten Monat schwangere Frau, seine 27-jährige Schwester und die alte asiatische Großmutter im lila Wollpyjama. Jede Fahrt ist nur ein kleiner Schritt für einen Australier, aber ein riesiger Sprung für einen Wah-Sager.

Als meine Mutter zum ersten Mal einen Sims Supermarkt betritt und zum ersten Mal sieht, mit welcher Unbekümmertheit die Menschen ihre Einkaufswagen vollladen, stößt sie vor Staunen ein langes, gedehntes »Waaahh« aus. Es hätte sie nicht gewundert, wenn das Baby an Ort und Stelle herausgekommen wäre. In diesem gigantischen Warenlager wären selbst den wohlhabendsten Familien in Phnom Penh die Augen übergegangen! So blitzeblank und sauber! So wunderschönes Essen! So hübsche Verpackungen! Alles in so hohen, tiefen Regalen, die Farben so strahlend und das Licht so hell, dass sie gar nicht weiß, wo sie hingucken soll. Tante Que knufft sie in die Seite: »Hey, hör auf, wie ein Bauer zu glotzen!«

»Wah, soll das heißen, dass jeder in dieses große Lebensmittellager kommen kann?«, fragt meine Ma ehrfürchtig.

»Natürlich.« Tante Que ist schon zum zweiten Mal hier. »Siehst du den dicken Mann da, bei dem man die Poritze über den Shorts sehen kann? Siehst du da die kleinen Kinder ohne Socken? Jeder!« Selbst der ungepflegte Herumlungerer mit Flipflops dort kann seinen Wagen mit diesen Schätzen füllen, ohne vorher rechnen zu müssen, weil alles so billig ist.

Während meine Mutter staunend durch die Gänge streift, geht ihr durch den Kopf, dass sie die Erste in ihrer Familie ist, die diese Wunder zu sehen bekommt. Sie denkt an die, die sie in Vietnam zurückgelassen hat. Sie sieht ihren Vater, wie er auf dem Fußboden im Kloster schläft, und ihre Mutter, wie sie auf dem Markt bancao verkauft. Ihre unterernährten Schwestern unter dem Wasserhahn draußen, wie ihnen das Seifenpulver aus den Haaren tropft. Sie denkt an ihre Lieben daheim, die noch im Lager auf die Bearbeitung warten – im Gegensatz zu dem Fleisch, das hier fix und fertig in Stapeln zu je zwölf Dosen im Regal steht.

»Fünfzig Cent!«, ruft meine Tante Que. »Guck mal, Kien!«

»Ja«, sagt meine Mutter. »So billig, was? Und so hübsch eingepackt.« In Kambodscha war auf dem Etikett jeder Lebensmittelkonserve irgendein Glückstier abgebildet. »Glückslöwen«-Chilisoße. »Glückskaninchen«-Bonbons. »Goldstern Glücksdrachen«-Nudeln. Meine Mutter sieht meine Tante Que an, die eine Dose in der Hand hält und langsam dreht und dreht und dreht, und sie weiß, dass auch meine Tante an die Dosen von zu Hause denkt.

»Was meinst du, Junge Tante?«, fragt meine Mutter schließlich. »Sollen wir welche kaufen?«

»Ja, lass uns welche kaufen«, beschließt Tante Que. »Die sind so billig!«

Als sie wieder in unserem gemieteten Holzhaus sind, schneidet meine Mutter das Fleisch klein und macht ein leckeres Pfannengericht daraus. »Das riecht aber gut«, haucht meine Tante, als sie das Essen auf einen großen Teller schaufelt. Meine Mutter muss unwillkürlich vor Stolz grinsen. Erst später, als sie die Fernsehreklame sehen, begreifen meine Verwandten, für wen – oder genauer gesagt, was – das Fleisch gedacht ist.

Später am gleichen Abend liegen meine Mutter und mein Vater in dem Bett, das den gesamten kleinen Lagerraum ausfüllt, in dem sie schlafen, und denken über ihre gefüllten Mägen nach. »Wah, wer hätte gedacht, dass so gutes Fleisch an Hunde verfüttert wird? Was für ein Glück, in diesem Land ein Hund zu sein!« Meine Mutter legt die Hand auf ihren dicken Bauch und lächelt. Gut, oh gut, denkt sie. Ihr Baby wird mit jeder Menge Frolic in sich geboren. Erstklassiges Futter.

»Dein Vater hat im Krankenhaus fast einen Herzschlag bekommen, als du geboren wurdest«, erzählte mir meine Mutter später. »Er hat im Migrant Hostel gerade für neue kambodschanische Einwanderer vom Land gedolmetscht, denen er erklären sollte, dass ihnen deswegen morgens so kalt war, weil sie eigentlich unter den Laken schlafen sollten. Als sie ankamen, waren ihre Betten so ordentlich gemacht, dass die Flüchtlinge glaubten, man schlafe auf den Laken. Sie hatten Angst, die sorgfältig untergesteckten Decken zu verwühlen. Keiner von ihnen wollte wieder ins Flugzeug gesteckt werden.

Dein Vater versuchte gerade, ihnen zu erklären, dass man getrost in den Betten schlafen könne, als man ihm mitteilte, er werde im Krankenhaus gebraucht. Es musste etwas mit mir sein, dachte er. Warum sonst sollte ein Krankenhaus ihn brauchen? Am liebsten hätte er für alle Fälle seine Akupunkturnadeln mitgenommen, aber dafür war keine Zeit. Erst im Krankenhaus wurde ihm klar, dass die Ärzte nichts weiter wollten, als dass er dabei war, wenn das Kind kam!« In Kambodscha saßen die Ehemänner normalerweise auf einem Stuhl vor dem Raum, in dem das Baby geboren wurde, bis sie ein Rabbäh hörten und wussten, dass der blutige Teil überstanden war und sie nun erfahren würden, ob das Kind die ersehnten Anhängsel hatte oder nicht.

Als meine Mutter aufwacht, fallen ihr die weißen Wände, das saubere Zimmer und die pastellfarbenen Vorhänge auf. Wie ein ganz normales Schlafzimmer, denkt sie schläfrig, keine Spur von Blut, kein Geruch nach saurem Fleisch. Auf dem Tablett vor ihr stehen Schälchen mit grüner und roter Götterspeise und kleine Pappbecher mit Vanilleeis. Sie glaubt, die leckeren Sachen wären ein Geschenk vom Krankenhaus zur Feier der Geburt. Ich habe das runzeligste Walnussgesicht, das sie je gesehen hat, und an meinem Kopf klebt ein Schopf schwarzer Haare, der an die Beatles in den frühen Sechzigern erinnert. Das werden die Krankenschwestern nie vergessen: »So viele Haare, fast wie ein Helm!«, staunen sie. »Das ist das erste chinesische Baby, das wir je gesehen haben, und es hatte gleich so volles Haar!« Ich weine und weine und weine: offensichtlich ist mir meine tolle Topffrisur kein besonderer Trost. Meine Mutter weiß nicht, was sie mit diesem winzigen Wesen mit dem brüllenden Loch im Gesicht machen soll – sie war daran gewöhnt gewesen, mich friedlich zusammengerollt in ihrem Bauch zu haben, zufrieden mit jeder Flüssignahrung, die sie durch die Nabelschnur schickte. Und jetzt will ich nicht mal ihre Milch. Schließlich verabreicht sie mir, damit ich ruhig bin, einen mit Kondensmilch gesüßten Löffel Kaffee. Erst dann kann sie die Augen schließen und endlich wieder schlafen.

»Hast du schon einen richtigen Namen für das Baby gefunden?«, fragt meine Großmutter ihren Sohn. Sie empfindet nur Verachtung für Eltern, die ihren Kindern keine chinesischen Namen geben. Glaubten die denn wirklich, neue, kalkweiße Namen würden die Augen der Außenwelt dafür öffnen, dass die gelbe Rose genauso schön ist wie die weiße Iris?

»Aber ja«, sagt mein Vater. »Und nicht bloß Strahlender Diamant oder Blühende Orchidee – so heißt ja jedes zweite Mädchen!« Er hält ein kleines Buch hoch, auf dessen Umschlag außergewöhnlich schöne lächelnde Menschen aller Hautfarben die Köpfe stocksteifer Tiere tätscheln: Rinder, Lämmer und sogar ein oder zwei Löwen. Die chinesischen Schriftzeichen auf dem Umschlag bedeuten Die gute Nachricht für dich. Er hat das Buch von freundlichen Weißen geschenkt bekommen, und es verspricht das Ende aller Leiden.

»Gute Nachricht.«

»Gute Nachricht?« Meine Großmutter klingt konsterniert.

»Ja, Gute Nachricht!«, erwidert mein Vater, weil hier das Paradies ist und sein Baby darin geboren wurde.

Nun muss mein Vater noch einen englischen Namen finden, weil seine Tochter einen Namen braucht, den die Scharen ihrer künftigen weißgesichtigen Freundinnen sich merken können, aber es darf keiner sein, in den sie nicht auch hineinwachsen kann. Sein Neffe François ist ungefähr so französisch wie ein französisches Bett oder ein französisches Frühstück, und seine Nichte Candy klingt nach einem klebrigen Sahnebonbon, das einem hinten im Hals stecken bleibt – zu zäh, um es zu zerkauen, und sperrig im Mund, wenn man es herauswürgt.

Die meisten Eltern gehen auf Nummer Sicher und halten sich an die Liste im Namensbuch aus dem Krankenhaus. Aber neben den Lin-dahs und Day-vids dieser Welt finden sich auch Namen mit tieferer Bedeutung. Auf der anderen Straßenseite zum Beispiel wohnt ein Junge, der Ao heißt – nach der ersten Hälfte des kantonesischen Wortes für Australien. Im New Star Supermarkt arbeiten ein chinesischer Junge, der Freedom heißt, und ein vietnamesisches Mädchen, das Visa heißt. Und Richard hat seinen Namen, weil es das Wörtchen »rich« enthält – reich. Dass Sky eines Tages in einer Bank arbeiten wird, während Mercedes in der elterlichen Fabrik Bilderrahmen produziert und Liberty mit achtzehn heiratet und mit dreißig bereits vierfache Mutter ist, macht nichts. Wie es auch nichts macht, dass einige ihrer Spielkameraden von den Eltern zu solchem Ehrgeiz angetrieben werden, dass ihnen ganz schwindelig wird. Day-vid ist inzwischen tagsüber Herzchirurg und abends Konzertviolinist, und Lin-dah hat einen wunderschönen zweigeschossigen Klinkerbungalow und eine Zahnarztpraxis über dem Juweliergeschäft ihrer Eltern. Es macht nichts, denn als Kinder wissen wir noch nicht, dass Lin-dah, die ursprünglich Linh hieß, und Day-vid, der ursprünglich Duong hieß, eines Tages in die angesagtesten Ferienorte jetten werden – von ihren üppigen Doppelverdienergehältern – und dass sie mit echten Visakarten bezahlen und einen echten Mercedes fahren werden. Es macht nichts, denn fürs Erste sind sie diejenigen mit den banalen Namen, die keiner aussprechen kann, und wir sind die mit den besonderen Namen. Wir sind die Kinder, denen die Erwachsenen zulächeln, die Weißen und das künftige Glück.

Mein Vater erinnert sich an eine Geschichte aus England, die er als Junge gelesen hat und die von einem Mädchen handelt, das sich in einem Zauberland wiederfindet. Und jetzt hat er eine Tochter, die hier in diesem Wunderland aufwachsen und Dinge wie Sicherheit, Überfluss, Demokratie und das kleine grüne Ampelmännchen für selbstverständlich halten wird. Sie wird ohne Hungersnöte großwerden. Sie wird auf die Große Schule gehen und alles lernen, was sie möchte. Und dann wird sie an der Universität studieren und natürlich Anwältin werden und Day-vid, den Herzchirurgen, heiraten. »Dieses Mädchen wird ein gutes Leben haben«, sagt meine Großmutter. »Sieh sie dir an, wie sie den Reisbrei wegschiebt! Welches Kind unter Pol Pot hätte sich den Luxus leisten können, Essen zu verweigern, vor allem wenn seine Mutter es schon so sorgsam im Mund hat abkühlen lassen. Ja, dieses Mädchen wird wirklich ein gutes Leben haben!«

Für Wah-Sager wie uns gibt es keinen Nippes, der geschmacklos oder billig wäre. Was für eine Beleidigung, diesen ganzen aus der alten Heimat vertrauten Krimskrams Kitsch zu nennen, lauter Sachen, die sogar die Reichen in ihren Häusern hatten. Körbe, in denen der Salat gewaschen wurde, für zwei Dollar, in kräftigem Pink und Rot. Neongelbe Plastikkörbchen für Essstäbchen, Plastikständer und Plastiknachttischchen für dreißig Dollar das Stück, zum Selbstzusammenbauen. Farbenfrohe Plastikreliefs mit vietnamesischen Landschaften als Wandschmuck fürs Haus. Bunte Fußmatten mit kleinen Tieren drauf. Und quietschende Sandalen für die Kinder, überall im Haus Sandalen, damit die Gäste nicht barfuß laufen müssen. Mein Vater bringt zwölf Paar überdimensionierte braune Plastiksandalen mit, ein Sonderangebot aus einem kleinen Geschenkladen in Footscray, wo es auch bestickte Hausschuhe für $ 3,50 gibt. In der Innenstadt oder in Carlton würden weihrauchgeschwängerte Geschäfte sie als »exotische Orientware« für $ 25,95 anbieten.

Uns geht es unglaublich gut, erinnert uns mein Vater immer wieder; in Phnom Penh leben nicht einmal die reichen Familien so gut wie wir. Manche der Möbel von der Wohlfahrt sind besser als das, was man in Kambodscha an Möbeln kaufen kann. »Ah, seht euch dieses Haus an!«, lacht er, als er im Vorgarten unseres ersten Hauses in Braybrook steht. »Es ist wunderschön! Seht euch diese Schuhe an! Ich habe sie in der größten Größe gekauft, damit sie allen passen!«

»Den Aussies aber nicht«, korrigiert meine Mutter. »Die haben doppelt so große Füße!«

»Die Aussies sind mir egal, die ziehen ihre Schuhe ohnehin nie aus.«

»Hehe«, lacht meine Mutter, als sie die braunen Plastikschuhe auf ein Schuhregal aus weißem Plastik stapelt. »Besser so. Große Füße stinken.«

Es ist auch ihr erstes Haus, und gleich ein ganzes Haus für sich und ihre Familie. Abgesehen davon, dass leider die Schwiegermutter zum festen Inventar gehört, ist es genau so, wie es mein Vater versprochen hatte. Meine Mutter kauft kleine Glasfiguren aus den Teochew-Geschenkläden, die überall aus dem Boden schießen und in denen sich Toilettenpapier und Plastikblumen neben Hundenäpfen und grellen Plastikbildern des Heilands stapeln, mit einem erhabenen roten Herz und neonfarbenen Strahlen, die bis in alle vier Ecken des Rahmens reichen. »Schau mal hier, Agheare.« Meine Mutter zeigt mir eine kleine weiße Plastikschubkarre, aus der weiße Kunstblumen quellen. Sie stellt sie in die Glasvitrine im Wohnzimmer unseres Hauses, damit Gäste sie sehen. »Wunderschön, oder?« Ich stimme ihr von Herzen zu. Die kleine Schubkarre passt ausgezeichnet zu der blau-braunen Vase aus Onkel Fangs Glasfabrik in Guangzhou und dem kleinen weißen Porzellanengel, dessen gemaltes Gesicht für die modellierte Form ein wenig zu hoch gerutscht ist. Schöne Dinge müssen nicht teuer sein, und wertvolle Dinge müssen versteckt werden, vor eventuellen Einbrechern oder kleptomanisch veranlagten Besuchern. Meine Eltern konnten nie verstehen, wieso andere Menschen ihre Royal-Doulton-Teller und ihre Familienerbstücke so aufstellten, dass sie jeder sehen konnte. Nach einem Krieg lernen die Menschen, gute Sachen zu verstecken. Sie lernen, dass nichts von Dauer ist und dass die schönsten Dinge nicht unbedingt auch die teuersten sind.

Großmutter sammelt Bindfäden, dänische Keksdosen, Papier und meine Kunstwerke. Wenn ich vom Kindergarten nach Hause komme, mit einem Pappteller, auf dem golden besprühte trockene Makkaronistücke kleben, staunen meine Großmutter, meine Tante und meine Mutter mit lautem »Wah!«. Großartig, hauchen sie, wunderbar. Bei uns gibt es keine gedämpften Töne, alles muss zweitausend Dezibel bunt sein. Je bunter, desto besser. Zu Weihnachten, als mein Bruder Alexander und ich weißes Papier mit Buntstiften anmalen, um bunte Papierketten daraus zu basteln, weil wir kein farbiges Papier haben, ruft meine Großmutter: »Ihr Dummerchen! Das ist doch gar nicht nötig, seht mal, was ich habe!« Sie hält eine Handvoll Reklamehefte hoch. »Guckt doch mal, wie bunt!« Sie setzt sich zu uns auf den Boden und hilft uns, Supermarktwerbung in Streifen zu schneiden. Wir basteln Papierketten und führen sie von der Zimmermitte in alle Ecken, schmücken jeden Türrahmen. »Ist das nicht tausendmal besser als weißes Papier?«

Weiß ist die Farbe der Trauer, Rot ist die Farbe des Blutes, des Lebens und des Sonnenaufgangs, und Schwarz ist die Farbe des Abends. Aber die Sommerabende hier sind eher pastellfarben, das Wetter ist milder als in Südostasien. Alles in diesem neuen Land wirkt irgendwie verhaltener, dunstig wie ein leicht bedeckter Himmel, ohne rote, orange oder gelbe Streifen, die das Auge und die Sinne betören.

Abends werden die Fenster aufgerissen, und wir sitzen draußen in dem Anhänger, den Dad von der Alcan-Fabrik mitgebracht hat. Unter dem großen, rotvioletten Pflaumenbaum in unserem verwilderten Vorgarten zu sitzen ist toll, und wir knallen gern hier und da ans Blech. Der Baum ist der größte weit und breit, er streckt seine Äste wie verlängerte Arme über den gesamten Vorgarten und die Hälfte der Veranda, und darunter recken sich die kleineren Bäume, Sträucher, Farne nach Licht. Der ganze Boden ist von rotem Laub bedeckt, und alles wirkt wie ein Regenwald ohne Regen. Man sieht dem Haus nicht an, dass hier Chinesen wohnen. Kein sechseckiger I-Ging-Spiegel an der Eingangstür, keine Ermahnungen, keine getrimmte Hecke und nirgends das Doppelglück-Zeichen, es sei denn, man wollte den Namen Bliss Street so verstehen. Am Eingang keine hübsch beschnittenen kleinen Kumquat-Bäume als Glücksbringer.

Wir versuchen uns anzupassen, uns nicht von unseren Nachbarn abzuheben, keine Schande über unsere gesamte Rasse zu bringen, indem wir im Garten hinter dem Haus Hühner oder Ziegen halten, wie wir es in der alten Heimat gewohnt waren. Wir ziehen Nutzpflanzen im Hintergarten – scharfe Thai-Minze, Basilikum, Frühlingszwiebeln und Zitronengras –, und im Vorgarten haben wir Geranien und Oleander.

Wer von außen schaut, sieht die runzelige asiatische Großmutter mit dem Gartenschlauch die Strelizien wässern. Durch das Küchenfenster hinten im Haus ist die Mutter beim Geschirrspülen zu sehen, und im Vorgarten bohren die beiden Kinder, deren Frisuren aussehen wie halbe Kokosnüsse, Löcher in die Erde, weil sie schwarze Zuckerapfelkerne pflanzen wollen. Und alles wirkt so typisch und bieder, dass niemand im Inneren des Hauses ein Kuriositätenkabinett vermuten würde, das uns stolz und glücklich macht. Mein Vater klatscht entzückt in die Hände, als er zu den Gesichtern der ganz normalen Australier aufblickt, die wir aus der Supermarktreklame ausgeschnitten, mit Tesafilm zu Ketten verarbeitet und in allen Zimmern drapiert haben.

Papierketten und Plastiksandalen sind nur das eine – als die beiden jüngeren Schwestern meiner Mutter nachkommen, erlebe ich zum ersten Mal das, was ich für den Gipfel neuesten chinesischen Schicks halte. Als sie aus dem Flugzeug steigen, sehen Tante Ly und ihre kleine Schwester Sim aus wie die Heldinnen aus einem Kinofilm, der vor dem Krieg in Shanghai spielt – jener großen, florierenden Metropole voll von unbedarften Frauen, frisch angekommen, die braunen Kastenkoffer in der Hand, im Gesicht noch das breite Lächeln aus dem Dorf und im Herzen die wilde Entschlossenheit, es zu schaffen. Ihre Traumabsätze glitzern wie ihre Träume. Flitter, Goldlamé und Strass, hoppla, hier komm ich! Sie tragen fließende, selbst genähte Kleider – Polyester ist Seide, die weniger gebügelt werden muss, und die es in unendlich vielen Farben gibt.

Und als sie ihre Wohnung beziehen, zeigen sie uns, dass häuslicher Glanz nicht auf die Vororte beschränkt sein muss. Die Sozialwohnungen sind viel schöner als die Wohnungen in den Fernsehserien aus Hongkong, die meine Großmutter mit meiner Mutter guckt, und die mitsamt Reklame aus dem Hongkonger Fernsehen aufgenommen sind, so dass man dauernd vorspulen muss. Diese Videokassetten werden unerlaubt nach Australien eingeführt, wo sie die Regale illegaler Videotheken füllen und von Großfamilien untereinander weitergereicht werden wie verbotene Köstlichkeiten. Diese Serien füllen achtundzwanzig, neunundzwanzig Videokassetten, und meine Mutter und Großmutter diskutieren die Handlung, während sie am Küchentisch Möhren schälen und Bohnen schneiden, denn meine Großmutter ist eine ganz wunderbare Geschichtenerzählerin und Gesprächspartnerin, wenn sie darauf verzichtet, andere mit spitzen Worten zu pieksen.

Aus den oberen Stockwerken des Mietshauses schaut man auf den Park und die Spielgeräte – in Hongkong gibt es solche privaten Parkanlagen überhaupt nicht! Die Wohnungen haben zwei oder sogar drei Zimmer, ein Bad und eine Küche mit schwarzen und weißen Fußbodenfliesen – oh, wie vornehm! Genau wie die schwarzen und weißen Fliesen in den Villen der Reichen, zwar aus Laminat, aber dafür leichter sauber zu halten.

In den Schränken dieser Wohnungen gibt es Kaffeepulvertütchen und gesüßte Kondensmilch ohne Ende und massenweise Instantnudeln. Und wenn es draußen kalt ist, ist es drinnen immer warm. Vom elften Stock sieht man immerzu Leute durch ihre Türen rein- und rausgehen, es sind immer so viele Menschen in der Nähe. Immer hängt Wäsche draußen, und überall stehen Plastikeimer, in der Mehrzahl rote, weil Rot so schön bunt ist – und vielleicht, weil es ein wenig den nassen Moosgeruch der Treppenschächte vergessen lässt.

Meine Tanten kaufen Nagellack für zwanzig Cent die Flasche und setzen sich in ihren Zimmern auf den Boden, um sich die Fußnägel zu lackieren. Sie besuchen Freundinnen, die sich zu Friseurinnen ausbilden lassen, und lassen sich von ihnen Locken machen. Die vielen Alten, die inzwischen mit der Familie befreundet sind, passen gut auf die jungen Frauen auf und erklären ihnen, welche Männer etwas taugen, während sie gleichzeitig danach ausschauen, welche junge Frau am besten zum Sohn oder Vetter von Soundso passen würde. »Ach, Ly, ich weiß einen guten Mann für dich.« Und dann singen sie das Lob eines Sohnes oder Bruders von Bekannten – ohne jemals Namen zu nennen. Jeder ist ein Sohn oder Bruder oder Vetter, weil sie losgelöst von ihrer Familie überhaupt nicht existieren. Keiner existiert losgelöst von seiner Familie, und wenn doch, dann gibt es in den Sozialwohnungen jede Menge alte Leute, die sich um sie kümmern und um die sich gekümmert werden muss, deren Söhne und Töchter ihnen die Wohnung und die Babys überlassen, während sie selbst beide arbeiten gehen, um genug für sich und ihre Kinder zu verdienen, die in der alten oder der neuen Heimat geboren sind.

Die jungen Frauen sind, schon weil sie jung sind, stolz und schön, und sie lächeln, dass ihre Wangen glühen. Eigentlich könnten sie ihre hübschen Gesichter so, wie sie sind, in den Park tragen – aber sie tupfen sich fuchsiafarbenes Rouge auf die Wangen und tuschen sich die Wimpern. Mit ihren 50-Cent-Lippenstiften und ihren High Heels von der Heilsarmee wollen sie sein wie die taiwanesische Sängerin Teresa Tang.

Sie finden viele Freunde – Frauen wie sie selbst, in der Blüte der Jugend und auf dem Höhepunkt ihrer Fruchtbarkeit. Und in diesem Land voll hart arbeitender männlicher Immigranten mit Entschlossenheit im Blick, in deren Bauch das Feuer desselben Traumes brennt (und die Fabrikarbeiterkost in Form von Zwei-Minuten-Nudeln), hat keiner Angst, keine Familie zu finden. Die jungen Frauen aus Südostasien sind überhaupt vertrauensselig, sie glauben, weil man ihnen diese Wohnungen und dieses neue Leben gegeben hat und weil der Staat sich so gut um sie kümmert, alle Australier wären gleich.

Deswegen meint Ah Ngo, eine Freundin meiner Tante Ly, als sie telefonieren muss, weil sie Lys Wohnungsnummer vergessen hat, einfach an eine beliebige Wohnungstür klopfen zu können – denn bestimmt sind alle Australier so nett wie die Damen vom St.-Laurentius-Orden, die ihr das Kleid geschenkt haben, das sie gerade trägt, weiß mit kleinen braunen und blauen Blumen, mit einem knielangen, fließenden Monroe-Rock und einem schmalen, passenden Gürtel um die Mitte. Die Haare frisch durchgestuft und gefönt, die Lippen geschminkt, in hochhackigen Pumps, stellt sie sich hin und klopft an irgendeine Tür.

Die Tür geht auf, und sie legt lächelnd eine Hand ans Ohr und sagt: »Fon, Fon?«, weil sie weiß, dass das Telefon in diesen Wohnungen in der Nähe der Küche ist, die wiederum in der Nähe der Wohnungstür ist, und der große bullige weiße Mann im Unterhemd lässt sie ein. Als Asiatin zieht sie natürlich am Eingang die Schuhe aus. Dann geht sie zum Telefon, und gerade, als sie in ihrer Handtasche nach dem Stück Papier kramt, auf dem Lys Telefonnummer steht, gerade, als sie den Hörer zwischen Kopf und Schulter klemmt, um das kleine Stück Papier auseinanderzufalten und die Nummer zu wählen, spürt sie einen harten Stoß an ihrem Hintern. Die Hände des Australiers begrapschen sie und er presst seine Vorderseite an ihren Rücken. Ihr fällt der Telefonhörer aus der Hand, sie schreit und stürzt so schnell aus der Wohnung, dass er mit einem Paar weißer High Heels zurückbleibt, die für die Füße jeder westlichen Frau zu klein sind und mit denen er nichts anzufangen weiß. Er hebt die Schuhe auf, betrachtet die kleinen Absätze und die Plastikschleifen. Dann lugt er aus dem Fenster zum Park hinunter, wirft einen nach dem anderen nach unten und sieht ihnen nach, bis sie auf dem Beton aufschlagen. Anschließend macht er das Fenster wieder zu und setzt sich, um noch ein bisschen fernzusehen.

Mittlerweile rennt Tante Lys Freundin Ah Ngo die Treppen hinauf, weil sie nicht weiß, wohin, und bis nach unten wären es sechs Stockwerke, und sie kann nicht klar denken, ihr einziger Gedanke ist: weg, also rennt sie nach oben, denn das scheint die einzige mögliche Richtung zu sein, die Treppe vor ihr führt nach oben, also rennt sie nach oben, was sonst? Sie keucht und schluchzt und läuft die Treppe hinauf, und mittendrin, als sie schon glaubt, ihre Beine wollten versagen, hört sie eine vertraute Stimme: »Hey, hey, wo willst du denn hin? Ich wollte gerade runtergehen und nach dir suchen.« Und sie blickt auf und sieht meine Tante Ly, und meine Tante Ly sieht ihr an, dass etwas passiert ist. Und sie nimmt ihre Freundin mit in ihre Wohnung, wo sie barfuß, aber sicher ist. Und beiden geht auf, dass sie hier doch nicht so sicher sind, und dass sie, auch wenn sie jung und hübsch sind, noch lange nicht unbesiegbar sind.

Meine Mutter erzieht mich zu Gehorsam gegenüber älteren Familienangehörigen, und der Respekt vor den Älteren wird mir durch alle Poren eingeflößt – wenn wir mit meiner Großmutter essen, fängt niemand an, bevor sie ihre Stäbchen zur Hand genommen hat. Meine Großmutter sitzt am Kopf des Tisches, und ich muss immer zu ihrer Rechten sitzen. Jedes Mal wenn eine arglose Seele ihre Stäbchen zu früh in die Hand nimmt, sagt sie, zu mir gewandt: »Weißt du, Agheare, wenn deine Onkel und dein Vater, als sie klein waren, ihre Stäbchen vor den Erwachsenen in die Hand genommen oder ihre Reisschalen nicht ordentlich gehalten haben, dann habe ich gesagt: ›Keine Manieren, was?‹ Und sie haben mich gebeten, es ihnen richtig beizubringen. ›Ma‹, hat dein Onkel gesagt, ›hau mir kräftig auf die Finger, wenn ich das noch einmal mache!‹« Meine Großmutter liebt es, mit dieser Geschichte von meinem Vater und seinen sadomasochistisch veranlagten Brüdern zu zeigen, wie gut sie ihre Kinder erzogen hat – aber da ich sie mit der Zeit oft gehört und außerdem miterlebt habe, wie mein Vater mir dabei über den Tisch zulächelt, wage ich, Zweifel anzumelden.

Als Nächstes spricht meine Großmutter ihre Version eines Tischgebets. »Ah, Buddha, segne unseren lieben, guten Vater Staat«, frohlockt sie. »Der uns besser behandelt als unsere eigenen Söhne. Der den alten Menschen alle vierzehn Tage Geld gibt.«

»Agheare«, sagt sie zu mir, »wenn du alt genug bist und gut genug Englisch kannst, musst du der Regierung einen Brief schreiben.«

»Ja, Ma.«

»Ich möchte, dass du in dem Brief schreibst, wie dankbar die alten Menschen für das Geld sind.«

»Ja, Ma.«

Sie denkt einen Augenblick nach. »Es ist so viel. Oh, es ist alles viel zu viel. Ich möchte, dass du das schreibst.«

»Ja, Ma.«

»Besser als die eigenen Söhne!«, ruft meine Großmutter und ignoriert meinen Vater, der nun nicht mehr lächelt. »Buddha segne den lieben, guten Vater Staat!« Sie sagt »lieber, guter Vater Staat«, wie kleine Kinder »lieber, guter Weihnachtsmann« sagen – als wäre der Staat ein freundlicher Guru aus Fleisch und Blut, mit weißem Bart und einem unerschöpflichen Sack voller Schecks auf dem Rücken. Vater Staat hat sich unser angenommen, als das Mutterland China uns nicht wollte, und uns zu sich genommen, als die wütende, junge Waise Kambodscha beschloss, uns Bruder Nummer Eins auszuliefern. Mein Großvater war unter Ah Pot gestorben, und meine Großmutter adoptierte bereitwillig einen neuen Vater für ihre Kinder: »Vater Staat kümmert sich so rührend um uns alle!«

Die Einzige, die nichts von der allumfassenden Liebe dieses Vaters spürt, ist meine Mutter. Ihr ist durch gewisse Leute der Weg zum Licht seiner unerschöpflichen Güte versperrt. Durch meine Großmutter, der sie all ihr Geld überlässt. Und meinen Vater, der immer noch der ergebene Sohn seiner Mutter ist. Deswegen nimmt mir meine Mutter nicht das Versprechen ab, Vater Staat Briefe zu schreiben. Sie sitzt am Tisch und malt mit schlichten Worten aus der Grundschule Briefe an ihre Eltern. »Liebe Ma. Dieses neue Land ist wunderschön. Wir wohnen in einem Haus, viel größer als das von Tante Mao in Vietnam. Agheare ist jetzt zwei Jahre alt. Sie redet schon viel. Wie geht es der Familie in der Heimat? Hoffentlich ist Ba nicht mehr krank. Er wird hier glücklich sein. Wir werden euch bald herholen.« Sie kann nicht schreiben, was sie wirklich sagen möchte, weil meine Großmutter alle Briefe zur Post bringt und meine Mutter in diesem Holzhaus mit den dünnen Wänden gefangen ist.

»Hast du Briefe, die zur Post müssen?«, fragt meine Großmutter morgens. »Ich gehe zur Bank und nehme Agheare auf einen Spaziergang mit.« Auf Teochew ist die Bereitschaft, überall hinzugehen, ein Bild für »kindliche Ergebenheit«, und meine Mutter sieht zu, wie ihre Tochter sich fertig macht, um mit der Gegenpartei wegzugehen. Sie steht am Waschbecken, der Seifenschaum weicht ihre Haut auf. Sie sieht ihre Tochter und krümmt die Finger in der Lauge, aber sie finden keinen anderen Halt als leeres Wasser. Sie wischt sich die Hände an der blauen Jogginghose ab, geht in ihr Zimmer und kommt mit ihrem Brief wieder.

Wenn meine Großmutter weg ist, denkt sie sich den Brief aus, den sie eigentlich schreiben möchte. Zuerst kommt nichts als eine dicke schwarze Wolke, doch dann tauchen aus dem Smog Wörter auf. »Liebe Ma, diese Familie behandelt mich wie eine Dienstmagd, wie die Dienstmagd Rote Bohne, die sie aus China nach Kambodscha mitgebracht hatten, damit sie in der Fabrik und im Privathaus arbeitet.« Meine Mutter hält inne und denkt an das kleine Dienstmädchen zurück, das die Schultern immer gebeugt hatte und immer feuerrot im Gesicht war wie eine kleine rote Gewehrkugel. »Ma, warum hast du mich gehen lassen?«, will sie schreiben. Meine Mutter hat das Gefühl, auch ihr Herz ist eine kleine rote Gewehrkugel, die in ihrer Brust rumort und nach einem Ausgang sucht.

Als meine Großmutter sich bei der Bank anstellt, um das abzuholen, was sie »das Gold der Alten« nennt, beobachtet sie die Mienen der anderen, die mit den Händen tief in den Taschen dort anstehen, und fragt sich, warum sie sich nicht mehr über die Güte des lieben, guten Vater Staats freuen. Einige von ihnen sehen sogar eher aus, als hätten sie sieben Zitronen gegessen und vergessen, die Kerne auszuspucken. Sie lächelt über die bleichgesichtigen, blassäugigen Trauerklöße. »Agheare, diese Leute wissen gar nicht, wie gut sie es haben. Ah, genau wie deine Mutter, die immer mit einem Gesicht durch die Gegend schlurft wie frisch aus dem Leichenschauhaus!« Sie ist so von Liebe und Großzügigkeit beseelt, dass sie beschließt, gutes Karma zu verbreiten, indem sie eine gute Tat vollbringt. Nachdem sie ihr Geld entgegengenommen hat, geht sie mit mir in Footscray zu dem Laden, der Aquarien im Fenster hat und ein Schild, auf dem steht: »Fische zum Essen, keine Haustiere.« Sie kauft einen roten Plastikeimer und einen triefäugigen Fisch mit grauen Schuppen, und wir steigen in einen Bus.

»Ma, was machen wir?«, frage ich. Die Leute im Bus sehen zu, wie meine Großmutter sich setzt und den Eimer zwischen ihre Füße stellt. Sie klemmt ihn mit den Beinen fest. »Wir werden den Fisch freilassen.«

»Warum, Ma?«

»Weil Buddha uns gesegnet hat! Er hat uns gesegnet!«

Der Fisch zappelt so kräftig im Eimer, dass Großmutters flauschige Hose nass wird. Als der Bus über eine kleine Brücke fährt, beschließt sie, dass es Zeit ist, auszusteigen. Dann hievt sie den Eimer auf das Brückengeländer. »Schwimm, kleiner Fisch! Schwimm und genieß dein Leben! Möge Buddha dich beschützen.« Sie dreht den Eimer um. Der Fisch landet mit einem kleinen Platsch im Wasser, oder genauer gesagt in der durchfallbraunen Brühe des Maribyrnong.

»Äh, Ma, das Wasser ist aber trübe.«

»Das macht nichts, der Mekong ist auch trübe, und trotzdem holen sie da jeden Tag jede Menge Fisch raus. Ah, aber das verstehst du nicht, du hast ja das Glück gehabt, in diesem gesegneten Land geboren zu sein, du wirst nie den Mekong sehen, aus dem sie in den Jahren unter Ah Pot auch Menschen gefischt haben, die schlammig waren und sich nicht bewegten. Aiyah, das waren schreckliche Jahre, aber wah, jetzt ist Vater Staat so gut zu uns!«

Als meine Großmutter und ich von unserem Spaziergang wiederkommen, ist die Wäsche gewaschen und meine Mutter macht Mittagessen. Großmutter setzt sich an den Tisch und fängt an, ihr Vater-Staat-Geld zu zählen. Zu ihrem Vater-Staat-Geld zählt sie auch das Geld, das mein Vater verdient, denn er gibt alles an sie ab. »Hier sind zwanzig Dollar für die Lebensmittel nächste Woche«, sagt meine Großmutter. Dann notiert sie etwas auf einem Zettel. Wahrscheinlich den genauen Betrag, denkt meine Mutter, damit ich ihr auch bestimmt das Wechselgeld wiedergebe. »Tu es an einen sicheren Platz«, sagt meine Großmutter. Sie kann es nicht gut haben, wenn Geldscheine kleingemacht werden. Wenn sie einkaufen geht, bezahlt sie immer gerne den exakten Betrag. Das falsche Wechselgeld zu bekommen kann sehr unangenehm sein, wenn man kein Englisch kann, deswegen lässt sie die teiggesichtigen jungen Leute hinter der Theke immer gnadenlos warten, bis sie ihr Geld haargenau abgezählt hat, bis zum letzten, braunen Eincentstück.

»Wenn du morgen einkaufen gehst«, rät meine Großmutter, »versuch dich von der älteren dunkelhaarigen Frau mit dem Damenbart bedienen zu lassen. Die jungen werfen sich schon immer Blicke zu, wenn ich komme. Die jungen Leute heutzutage sind so ungeduldig. Ich will nicht hoffen, dass Agheare ein ähnliches Naturell entwickelt.«

Ja, wie wird sie wohl werden, fragt sich meine Mutter am nächsten Tag, als sie fürs Abendessen einkauft. Was soll aus dem Mädchen werden, wo es ihr doch ständig entzogen wird? Je mehr Menschen sie lieben, desto besser