Unglück auf Rezept - Peter Ansari - E-Book

Unglück auf Rezept E-Book

Peter Ansari

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Beschreibung

Immer mehr Menschen werden mit Antidepressiva behandelt und kommen nicht wieder davon los. Auf dem aktuellen Stand der medizinischen Forschung wird in einfachen und klaren Worten beschrieben, warum Antidepressiva die Erwartungen nicht erfüllen. Dr. Peter und Mahinda Ansari decken auf, wie wenig gesichertes Wissen es über die Wirksamkeit gibt, wie gravierend die Nebenwirkungen sein können und wie schwierig das Absetzen ist. Bundesweit leiden etwa vier Millionen Menschen unter therapiebedürftigen Depressionen. Die Behandlung erfolgt meist über die Einnahme von Antidepressiva. Aktuelle Erhebungen zeigen, dass Antidepressiva - die Besserungsrate bei Patienten nicht erhöhen, - die Krankheitsdauer nicht verkürzen - und die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls nicht senken. Außerdem können sie starke Nebenwirkungen hervorrufen und Suizidabsichten sogar verstärken. Die Autoren stellen die Behandlung mit Antidepressiva infrage und stellen bewährte Alternativen zur medikamentösen Therapie vor. Sie geben Ratschläge, worauf Betroffene und Angehörige unbedingt achten sollten. Ein Buch für Betroffene, Angehörige und verunsicherte Ärzte

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Seitenzahl: 346

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DR. PETER ANSARIMAHINDA ANSARI

UNGLÜCK AUF REZEPT

DIE ANTIDEPRESSIVA-LÜGE UND IHRE FOLGEN

mit einem Vorwort von Prof. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen

Klett-Cotta

Impressum

Werden im Text Handelsnamen genannt, so handelt es sich in aller Regel um eine subjektive Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann daher nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Handelsnamen handelt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von Image Source / gettyimages

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-98060-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10033-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort

von Professor Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen

Vorwort der Autoren

Hinweise:

Antidepressive Medikamente – Überblick

Patient

Vier Millionen Menschen nehmen Antidepressiva

Suizide trotz antidepressiver Therapie

Die Qualen beim Absetzen

Psychopharmaka

Die Biochemie der Depression ist unbekannt

Antidepressiva sind unwirksam

Die verschwiegenen Nebenwirkungen

Sexualität

Herz

Schlaf

Gewicht

Schwangerschaft

Benommenheit

Fahrtüchtigkeit

Stimmung

Pharmaskandale

Milliardenstrafen für Hersteller

Lügen bei der Zulassung von Antidepressiva

Wie die Pharmaindustrie die Ärzte beeinflusst

Psychiater

Die Serotonin-Lüge

So diagnostizieren Psychiater eine Depression

Gesundheitsfragebogen für Patienten (

PHQ

-9)

Die Auswahl des passendenAntidepressivums

SSRI

SNRI

Na

SSA

(auch Alpha2-Antagonisten oder Tetrazyklika)

Trizyklika

MAO

s

NDRI

Pillenhistorie

Die Erfindung des ersten Antidepressivums

Der Siegeszug der Antidepressiva

Therapien von Hippokrates bis heute

Perspektive

Weshalb die Ära der Antidepressiva endet

Lügen haben kurze Beine

Alternative Behandlungsmöglichkeiten

Psychotherapie

Bewegung

Biofeedback

Kräuterextrakte

Massagen

Experte werden

Tagebuchschreiben

Meditation

Glauben

Weitere Hilfen

Ein Konzept für die Welt

Danksagung

Anmerkungen

Wir widmen dieses Buch allen Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden und ihren Angehörigen.

Vorwort von Professor Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen

Vier Millionen Menschen in Deutschland werden mit Antidepressiva behandelt, in den USA sind es mehr als 10 % der Bevölkerung; bedenklicher noch: fast 5 % der 12–17-jährigen nordamerikanischen Mädchen nehmen Antidepressiva – und wer weiß noch wie viele andere Pillen. Freilich: Auch Menschen mit Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck oder Herzkranzarterienverengung bekommen über viele Jahre Medikamente verordnet, und dies zeigt über längere Zeiten deutliche Erfolge. Das Risiko des Herzinfarktes etwa sinkt seit mehreren Jahren in vielen Ländern, wobei hierfür aber nicht nur die Medikamente verantwortlich sind. Wie sieht es bei der Depression aus? Nehmen ihre Häufigkeit und ihre sozialen Folgen ab? Die Daten der Krankenkassen sagen leider etwas anderes. Und dies, obwohl die Verordnung von Antidepressiva seit 1990, d.h. seit Einführung der neueren Substanzen, insbesondere der sog. SSRI-Antidepressiva, ständig ansteigt.

Das ebenso kritische wie kenntnisreiche Buch von Peter und Mahinda Ansari zeigt, woher dieser scheinbare Widerspruch rührt, welche Machenschaften, ja teilweise fast kriminell zu nennenden Handlungen der pharmazeutischen Industrie dafür verantwortlich sind und wie in einer gruslig-faszinierenden Weise die Gehirnwäsche einer ganzen Generation von Psychiatern bewerkstelligt wurde, im Klartext: wie man die Ärzteschaft und die Öffentlichkeit glauben machen konnte, die Depression sei eine Serotoninmangelkrankheit.

Es ist dringend notwendig, dass ein Buch zu diesem Thema erscheint, und ich bin den Autoren dankbar, dass sie diese Aufgabe übernommen haben. Peter Ansari, dessen kritisches Engagement mich sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht mit allen seinen Aussagen in jedem Detail übereinstimme, hat bereits in seiner Doktorarbeit zeigen können, dass die Einführung der ersten Antidepressiva (z.B. »Tofranil«) in den 60er Jahren zunächst keineswegs zu einer Behandlungs»revolution« in Deutschland führte und dass sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Patienten in den psychiatrischen Kliniken dadurch nicht verkürzte.

Die große Veränderung begann erst 1988, als Eli Lilly, eine amerikanische Firma und bis dahin mit der Herstellung von Insulinen und Antibiotika beschäftigt, beschloss, mit »Prozac« ins Psychiatrie-Geschäft einzusteigen und damit den Fuß auch auf den europäischen Kontinent zu setzen.

Dieses Buch beschreibt den Siegeszug der Antidepressiva von damals bis heute und zeigt, auf welch schwachen wissenschaftlichen Füßen er stand und wie die eigentlich sehr bescheidene Wirksamkeit der Antidepressiva dennoch zu einer kommerziellen Erfolgsstory transformiert werden konnte.

Als ehemaliger Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft habe ich gelernt, wie schwer es ist, der Kollegenschaft Arzneimittel-Risiken zu kommunizieren, die bislang (angeblich) nicht bekannt waren oder schlicht paradox anmuten. So ist es mit der suizidprovozierenden Wirkung der modernen Antidepressiva gewesen, die in der häufig industrie-gesponserten ärztlichen Fortbildung weiterhin heruntergespielt wird. Es ist der deutschen Arzneimittelbehörde positiv zuzuschreiben, dass sie aufgrund dieses Phänomens, das schon in den vom Hersteller eingereichten Zulassungs-Studien zu erkennen war, einem der frühesten SSRI-Antidepressiva die Zulassung zunächst verweigerte.

Auch die quälenden Symptome beim Absetzen eines längere Zeit eingenommenen Antidepressivums scheinen vielen Kollegen nicht so geläufig zu sein, dass sie in die Aufklärung der Patienten regelhaft einfließen.

Die generelle Botschaft und das Fazit der Autoren entspricht meinen eigenen langjährigen Erfahrungen und meiner daraus resultierenden Kritik: Es werden zu viele Antidepressiva verordnet, und die Verordnung geschieht vermutlich oft nicht nach einer adäquaten Aufklärung der Patienten. Deshalb empfehle ich die Lektüre des Buches nicht nur interessierten Patienten und ihren Angehörigen, sondern allen in der praktischen Psychiatrie Beschäftigten. Antidepressiva sind keine besonders wirksamen Medikamente, in vielen Fällen sind sie gar nicht indiziert. Da wo sie vielleicht helfen könnten, sollten sie dann aber auch mit der notwendigen Kritik und fachlichen Kompetenz angewandt werden. Antidepressiva sind keine Lollipops.

Berlin, im März 2016

Univ. Prof. em. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen, vormals Leiter der Forschergruppe Klinische Psychopharmakologie an der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin

Vorwort der Autoren

Wir haben mehr als zehn Jahre theoretisch und praktisch zum Thema Antidepressiva geforscht. Dabei sind wir sehr gründlich vorgegangen, haben Monate in Kellerarchiven von psychiatrischen Anstalten verbracht und Patientenakten verglichen. Wir haben uns mit der Geschichte der Erkrankung beschäftigt, sämtliche verfügbaren alten und neuen Studien genau unter die Lupe genommen und Betroffene befragt. Alle beklagten eine unzureichende Information über Risiken, Nebenwirkungen und Absetzschwierigkeiten. Meist ist in den kurzen Quartalsbesuchen beim Arzt keine Zeit für eine ausführliche Aufklärung. Die wichtigsten Informationen haben wir in diesem Buch für Sie zusammengestellt.

Bei den Recherchen ist uns aufgefallen, Antidepressiva werden viel zu schnell verordnet und den Patienten regelrecht aufgezwungen. Wir legen in diesem Buch dar, dass viele Menschen und ganze Branchen von der schnellen und dauerhaften Verschreibung der Antidepressiva profitieren. Jeden einzelnen Menschen, der seelisches Leid erlebt und in seiner Verzweiflung Tabletten dagegen einnimmt, können wir zutiefst verstehen. Niemand braucht sich schlecht zu fühlen, wenn er Psychopharmaka einnimmt. Sollten die Medikamente bei Ihnen jedoch nicht die gewünschte Wirkung erzielen, heißt das nicht, dass Sie ein hoffnungsloser Fall sind. In diesem Buch beschreiben wir, warum Antidepressiva so oft versagen. Einer Dauerverschreibung über Jahre, womöglich bis ans Lebensende, stehen wir kritisch gegenüber. Vor dem Aufkommen der Antidepressiva wurden Depressionen nicht als chronische Krankheit betrachtet, sondern als vorübergehendes Leiden. Depressionen sind oft langwierig, aber sie hören immer auf. Dunkelheit für immer gibt es nicht. Sollten Sie sich für eine medikamentöse Behandlung entscheiden, empfehlen wir, nach dem Abklingen der depressiven Episode die Medikamente langsam wieder auszuschleichen, um einen Gewöhnungseffekt zu vermeiden. Dies sollte in ganz kleinen Schritten geschehen. Ein abruptes Absetzen von Psychopharmaka kann lebensbedrohliche Folgen haben. Sie sollten sich dafür Unterstützung suchen. Wenn sich beim Absetzen körperliche und psychische Symptome einstellen, heißt das nicht, Ihre Krankheit ist zurückgekehrt. Das Absetzen der Medikamente verursacht ähnliche Symptome wie die Krankheit, gegen die sie eingenommen wurden. Auch darüber finden Sie Informationen in diesem Buch. Am Ende des Buches zeigen wir Alternativen zur medikamentösen Behandlung auf, die sich in der Praxis bewährt haben.

Möge dieses Buch bei der Wahl der bestmöglichen Therapie helfen.

Hinweise:

Bei unseren Fallgeschichten handelt es sich ausschließlich um wahre Begebenheiten. Die Namen haben wir zum Schutz der Persönlichkeit geändert.

Im vorliegenden Buch wird, wenn von antidepressiven Medikamenten gesprochen wird, der Wirkstoffname verwendet. Die einzige Ausnahme bildet das Medikament Prozac. Bei diesem ist der US-Handelsname gewählt worden.

Bei allen kursiv gedruckten Textstellen handelt es sich um Originalzitate.

Setzen Sie Psychopharmaka niemals von heute auf morgen ab. Holen Sie sich Hilfe. Machen Sie einen Absetzplan und versuchen Sie nicht, alleine die Medikamente zu entziehen.

Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie den Verein depression-heute-hilft, der sich für sofortige Hilfe bei psychischen Krisen einsetzt.

Antidepressive Medikamente – Überblick

Wirkstoff

Substanzklasse

Deutschland

Österreich

Schweiz

Citalopram

SSRI

Cipramil

Seropram

Seropram

Escitalopram

SSRI

Cipralex

Cipralex

Fluoxetin(Prozac)

SSRI

Fluctin

Fluctine

Fluctine

Fluvoxamin

SSRI

Fevarin

Floxyfral

Floxyfral

Paroxetin

SSRI

Seroxat

Seroxat

Deroxat

Sertralin

SSRI

Zoloft

Zoloft

Zoloft

Vortioxetin

SSRI

Brintellix

Brintellix

Brintellix

Duloxetin

SNRI

Cymbalta

Cymbalta

Cymbalta

Venlafaxin

SNRI

Trevilor

Efectin

Efexor

Mirtazapin

TetraZA (NaSSA)

Remergil

Remeron

Remeron

Maprotilin

TetraZA

Ludiomil

Ludiomil

Ludiomil

Amitriptylin

TZA

Saroten, Tryptizol

Saroten

Saroten

Clomipramin

TZA

Anafranil

Anafranil

Anafranil

Doxepin

TZA

Aponal

Sinequan

Sinequan

Imipramin

TZA

Tofranil

Tofranil

Tofranil

Nortriptylin

TZA

Nortrilen

Nortrilen

Opipramol

TZA

Insidon

Insidon

Insidon

Tianeptin

TZA

Stablon

Stablon

Trimipramin

TZA

Stangyl

Surmontil

Tranylcypromin

MAO

Jatrosom

Cypromin

Moclobemid

MAO

Aurorix

Aurorix

Aurorix

Agomelatin

Melatonerg

Valdoxan

Valdoxan

Valdoxan

Bupropion

NDRI

Elontril

Wellbutrin

Wellbutrin

Trazodon

PPD

Thombran

Trittico

Trittico

Reboxetin

NARI

Edronax

Edronax

Edronax

SSRI= Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

SNRI= Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

NARI= Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

TZA= Trizyklisches Antidepressivum

TetraZA = Tetrazyklisches Antidepressivum

MAO= Monoaminooxidase-Hemmer

NDRI= Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer

PPD= Phenylpiperazinderivat

NARI= Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Patient

Vier Millionen Menschen nehmen Antidepressiva

In Deutschland nehmen vier Millionen Menschen Antidepressiva. Viele bekommen ihr erstes Rezept nach wenigen Minuten beim Arzt verschrieben und werden nicht über Nebenwirkungen aufgeklärt. Was kaum einer weiß, diese Menschen können ihre Medikamente oft nur unter großen Schwierigkeiten wieder absetzen, manche gar nicht, und einige erleiden eine jahrelange Entzugshölle.1 Eine von ihnen ist die heute 28-jährige Karina.

KARINA ist 18 Jahre alt, als sie von heftigen Panikattacken heimgesucht wird. Wie viele junge Menschen, die noch nicht wissen, wo sie hingehören, befindet sie sich in einer instabilen Lebensphase. Immer wieder überfällt sie die Angst, sterben zu müssen. Schließlich sucht sie Hilfe bei einer Psychiaterin.

Es dauert keine zehn Minuten, bis die Ärztin ihr eine Packung Citalopram überreicht. Den Beipackzettel nimmt die Ärztin an sich, um die »Panik nicht zu verschlimmern«. Die Ärztin erläutert kurz die gute Wirkung des Medikaments und macht deutlich, Nebenwirkungen seien nicht zu befürchten. Sie sagt, es werde einige Zeit dauern, bis die Besserung eintritt, und anfangs könne es zu einer Symptomverschlimmerung kommen.

Karina ist nach diesem ersten Besuch nicht überzeugt. Tagelang liegt die Packung Citalopram unberührt auf ihrem Küchentisch. Es geht ihr schlecht. Die Panikattacken überrollen sie in einer Heftigkeit, die ihr den Atem nimmt. Immer wieder wacht sie nachts auf und geht in die Küche. Dort liegt die vermeintliche Rettung. An einem Sonntagmorgen nimmt sie ihre erste Tablette. Eine Entscheidung, von der sie später sagt, sie habe ihr Leben für eine lange Zeit zerstört.

Wenn Karina heute über ihren ersten Arztbesuch vor zehn Jahren spricht, mischt sich noch immer Wut in ihre Stimme. »Ich kann nicht fassen, dass mir damals auch noch Zopiclon verschrieben wurde.« Zopiclon ist ein sehr starkes Schlafmittel, mit hohem Abhängigkeitspotenzial. Über ein halbes Jahr holt Karina ihre Rezepte an der Rezeption ab, ohne die Ärztin zu Gesicht zu bekommen. Irgendwann bemerkt die 18-Jährige, deren Pubertät noch nicht abgeschlossen ist, dass sie ohne die nächtliche Pille nicht mehr einschlafen kann. Eigenständig setzt sie Zopiclon ab. Täglich reduziert sie die Dosis. Zum Schluss zerkleinert sie die Tabletten mit einer Küchenraspel und leckt sich die Krümel von den Händen. Sie schafft den Entzug ganz allein.

Unter Citalopram kommt es zunächst zu einer Verschlimmerung der Symptome. Da die Ärztin darauf hingewiesen hat, wartet Karina ab. Nach einigen Wochen bemerkt sie eine Verbesserung. Sie wird ruhiger, die Panik ebbt ab, ihre Gefühle verflachen. Irgendwann stellt sie fest, dass sie kaum noch weinen oder lachen kann. Schnell nimmt sie dreißig Kilogramm Gewicht zu. Ohne größere innere Beteiligung, wie in Watte gepackt, schafft sie es, ihre Ausbildung zur Hebamme zu beenden.

Wenn es ihr während der Einnahme schlecht geht, nimmt sie an, ihr krankes »Ich« sei schuld. Nach drei Jahren lässt sie das Medikament zum ersten Mal weg. Genau elf Monate später bewirkt der Entzug einen traumatischen Einbruch. Sie entwickelt starke Suizidgedanken und ist sicher, dass sie nicht überleben wird. Sie muss Tag und Nacht betreut werden.

In Deutschland hat sich von 1990 bis 2000 die Anzahl der Verordnungen für Antidepressiva verdoppelt. Bis zum Jahr 2010 ist die Zahl noch einmal um das 2,5-fache angestiegen. 2014 verschrieben die Ärzte 1401 Millionen Tagesdosen Antidepressiva, siebenmal so viel wie 1990.2 Trotzdem nimmt die Zahl der leidenden Menschen nicht ab. Die Anzahl der Fehltage wegen Depressionen ist seit 1997 um 162 Prozent angestiegen. Die Frühberentungen aufgrund von depressiven Störungen haben sich innerhalb von zehn Jahren verdreifacht.3 Wenn es eine effiziente Medizin gegen Depressionen geben würde, müssten die Fehltage und die Frühberentungen sinken. Da sich aber ein starker Anstieg zeigt, muss man vermuten, die Medikamente helfen den Betroffenen nicht, sondern machen sie dauerhaft krank.

Zu diesem Ergebnis kamen bereits 1969 die Psychiater Hanns Hippius und Jules Angst.4 Sie verglichen die prophylaktische Wirkung bei ehemals depressiven Patienten. Eine Gruppe erhielt zur Vorbeugung Antidepressiva, die andere nicht. Beim Vergleich beider Gruppen beobachteten die Psychiater mehr depressive Rückfälle unter antidepressiver Dauermedikation und empfahlen schon damals, Antidepressiva nicht zur Vorbeugung einzusetzen.

Die vielen Millionen Menschen, die dauerhaft Antidepressiva einnehmen, leiden nicht unter einer chronischen Erkrankung. Nach dem Abklingen der Depression sind sie gesund. In dieser Phase macht es keinen Sinn, den Körper mit Medikamenten zu belasten. Auch wenn eine Depression wiederkehren kann, liegen zwischen den Episoden fast immer viele gesunde Jahre.

Die Dauerverschreibung von Antidepressiva hat eine alte Gewissheit der Medizin verschüttet. Bis in die 1960er Jahre wusste man, Depressionen sind – auch ohne Behandlung – eine vorübergehende Erkrankung mit guter Prognose. Heute wird von Psychiatern standardmäßig eine medikamentöse Behandlung, oft bis zum Lebensende, empfohlen. Um diese Veränderung zu begreifen, muss man wissen, dass die Pharmaindustrie stärkste – auch illegale – Marketinganstrengungen unternommen hat, um die Menschen von der Wirksamkeit ihrer Medikamente zu überzeugen.

Für Psychiater ist eine medikamentöse Therapie zeitsparend. Sie müssen sich nicht wirklich mit den Problemen der Menschen beschäftigen. Außerdem garantiert eine Dauermedikation regelmäßige Einnahmen durch einfache Rezeptverschreibung. Ein anderer wichtiger Grund, der zur Langzeiteinnahme geführt hat, sind die Probleme, die beim Absetzen der Psychopharmaka auftreten. Je länger die Medikamente eingenommen werden, desto schwieriger wird es, sie wieder loszuwerden.

Es gibt noch weitere Gründe für die Massenverschreibung. In der heutigen Zeit werden Antidepressiva nicht nur bei Depressionen eingesetzt. Sie kommen auch bei vielen anderen Indikationen zum Einsatz wie Angst- und Zwangsstörungen, Menstruationsbeschwerden, Rückenschmerzen, vorzeitiger Samenerguss, Beschwerden in den Wechseljahren, Inkontinenz, Schmerzzuständen, Alkoholismus, Essstörungen.

HERR WOLKE ist 39 Jahre alt und wohnt in Bayern. Er ist Diplom-Informatiker, verheiratet und hat fünf Kinder. Wegen Problemen mit »Unstrukturiertheit im Alltag« und seinem Hang zur Unordnung bitten ihn seine Angehörigen, einen Psychiater aufzusuchen. Dieser diagnostiziert in der ersten Sitzung ein Messie-Syndrom und verschreibt Paroxetin. Der Psychiater erklärt, amerikanische Studien hätten gezeigt, SSRIs würden beim Messie-Syndrom helfen. Über Nebenwirkungen und Risiken wird nicht gesprochen.

Die Familie wartet vergeblich auf Veränderung. Herr Wolke räumt nicht mehr und nicht weniger auf als vorher. Nach acht Wochen Einnahme von Paroxetin wird er lethargisch und apathisch. Er schläft auch tagsüber und zieht sich zurück, alles wird ihm zu viel. Die Beziehung zu seiner Frau leidet unter seiner geistigen Abwesenheit und seinen medikamentös bedingten sexuellen Schwierigkeiten.

Die Situation ändert sich erst, als er mehrere Tage lang vergisst, seine Tabletten einzunehmen. Daraufhin erlebt er einen körperlichen und emotionalen Zusammenbruch, wie er ihn noch nie zuvor erfahren hat. Er wird aggressiv, tobt und läuft von zuhause weg. Er weiß nicht mehr, wer er ist. An diesem Punkt wird ihm klar, dass er das Medikament loswerden muss. Er wechselt den Arzt und erhält einen Reduzierungsplan. Der Plan geht nicht auf. Die Schritte sind viel zu groß. Nach ein paar Tagen im Entzug ereignet sich der gleiche psychische und physische Zusammenbruch wie beim ersten Mal. Diesmal mit verstärkten Symptomen. Er erlebt Realitätsverlust, Verfolgungswahn und ein Gefühl der Fremdbestimmung. Seine Stimmung wechselt von angetrieben bis apathisch. Es folgen Suizidgedanken und ein Suizidversuch.

Heute nimmt er kein Paroxetin mehr ein. Bei ihm ist eine medikamenten-induzierte Epilepsie aufgetreten, zu deren Behandlung er Lamotrigin einnehmen soll. An seinem Hang zur Unordnung hat sich nichts geändert.

Es sind immer wieder Fälle von Patienten bekannt geworden, die aus anderen Gründen Antidepressiva erhalten haben. Im Verlauf der Medikamenten-Therapie entwickelten sie – obwohl sie zuvor nie depressiv waren – eine klinische Depression. Depressive Menschen finden sich in allen sozialen Schichten und in jeder Altersgruppe.5 Auch der Beruf hat keinen Einfluss. Für den Ausbruch einer Depression scheint es nicht entscheidend zu sein, ob der Mensch Familie hat, in einer Partnerschaft lebt oder allein. Statistisch sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Noch vor 50 Jahren war die Anzahl der Frauen drei Mal höher, heute erkranken immer mehr Männer an Depressionen. Aktuell gelten in Deutschland 6,1 Prozent der Männer und 10,2 Prozent der Frauen als depressiv.6

Aktuellen Erhebungen zufolge gibt es zwei Faktoren, die eine Depression begünstigen. Ein niedriger Verdienst scheint belastend zu wirken, genau wie Arbeitslosigkeit. Arbeitslose Menschen bekommen besonders häufig Antidepressiva verschrieben. Genauso ergeht es älteren Frauen. Die Verordnung bei Frauen über 50 Jahren ist aktuell am stärksten angestiegen. Obwohl das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2010 eine sogenannte PRISCUS-Liste herausgibt und in dieser vor »potenziell inadäquaten Medikamenten für ältere Menschen« warnt.7 Die meisten Antidepressiva finden sich auf dieser »schwarzen Liste«. Umstritten ist ebenfalls, ob Antidepressiva Arbeitslosen wirklich helfen können. Trauer über den Verlust des Arbeitsplatzes ist eine normale Reaktion. Sobald sich eine neue Perspektive ergibt, löst sich die Trauer auf. Da Antidepressiva die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen und schwer wieder abzusetzen sind, kann der zuvor gesunde Arbeitslose durch die Medikamente in einen Teufelskreis geraten.

Der Trend, negative menschliche Gefühle als krankhaft zu betrachten, ist ebenfalls eine Ursache für das massenhafte Verschreiben von Antidepressiva. Seit ihrem Aufkommen ist die Wirksamkeit dieser Medikamentengruppe von Fachleuten immer wieder bezweifelt worden. Bei gesunden Menschen richten die Tabletten Schaden an. Die frühesten Experimente dieser Art stammen aus den 50er Jahren. Die deutschen Forscher Grünthal und Degkwitz gaben damals einigen ihrer psychisch völlig gesunden Studenten diese »neuartigen« Medikamente. Die Professoren notierten die Reaktionen ihrer Studenten und veröffentlichten sie. Jeder Student reagierte anders auf die Medikamente, allen Teilnehmern ging es unter der Medikation schlecht. Die Teilnehmer berichteten über Konzentrationsschwäche, beschrieben eine Einschränkung im Denkvermögen sowie eine Abstumpfung ihres Gefühlslebens: »Nach Imipramin [das älteste Antidepressivum] rührt einen die Umwelt gar nicht mehr, man ist geistig lahm und unbeteiligt.«8 Ein stimmungsaufhellender Effekt wurde bei keinem Studenten beobachtet.

Bereits 1962 wurde auf eine Absetzproblematik hingewiesen, die auch bei gesunden Menschen auftritt. Die Teilnehmer der Studie von Rudolf Degkwitz entwickelten nach Beendigung der Medikamenteneinnahme Entzugserscheinungen.9 Die zuvor nichtdepressiv Erkrankten wirkten psychisch stark verändert. Jeder litt unter anderen Symptomen. Sie waren nervös, angetrieben oder schlafgestört. Zu konzentrierter Arbeit waren sie nicht mehr fähig. Erst nach zwei bis drei Wochen klang dieser Zustand ab. Die Erkenntnisse aus den frühen 60er Jahren wurden später bestätigt. Sie widersprechen der gängigen Ansicht heutiger Psychiater. Diese ordnen alle Symptome, die beim Absetzen der Medikamente entstehen, der »ursprünglichen Erkrankung« zu.

KARINA wechselt nach ihrem ersten Absetzversuch den Psychiater. Er stellt sie wieder auf Citalopram ein. Zusätzlich verschreibt er das Benzodiazepin Tavor. Ihr Zustand bessert sich. Sie nimmt das Antidepressivum weitere drei Jahre täglich ein. Genau wie zuvor mit dem Schlafmittel Zopiclon gelingt es ihr hingegen, Tavor erfolgreich loszuwerden.

Als es ihr über einen langen Zeitraum besser geht, unternimmt sie einen weiteren, verhängnisvollen Absetzversuch, der sie über Monate in eine Klinik bringt. Diesmal tritt der Zusammenbruch nach fünf Monaten ohne Medikament ein, dafür noch extremer. Immer wieder wird sie von Beschwerden gepeinigt, die sie nie zuvor erlebt hat. Ein unkontrollierbares Inferno: Magen-Darmbeschwerden mit Appetitlosigkeit, Würgereiz – innerhalb von vier Monaten nimmt sie 24 Kilogramm an Gewicht ab –, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Angstzustände, Depression, Paranoia, Wahnvorstellungen. Die Zustände von Hoffnungslosigkeit, minütliche Stimmungsschwankungen, Aggressionen, Heulkrämpfen, Rastlosigkeit, Stimmenhören und die Unfähigkeit, allein zu sein, beschreibt sie als »kognitive und emotionale Horrorzustände«.

Suizidideen begleiten sie von Anfang bis zum Ende. Bis heute kann sie sich nicht erklären, wie sie das Ganze überlebt hat. Es gibt nichts, was ihr in diesem Entzug hilft. Karina fällt aus ihrem gesamten Leben heraus und wird zum Pflegefall. Sie befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Immer wieder bekommt sie neue Diagnosen angehängt, keine passt zum plötzlichen Auftreten der Symptomflut. Von Absetzerscheinungen will niemand etwas hören.

Da Karina rund um die Uhr Betreuung benötigt, muss sie ihre Wohnung verlassen und in ihr Elternhaus zurückziehen. Die Suizidgedanken sind so stark, dass sie sicher ist, dem Drang irgendwann zu erliegen. Nach einer Weile glaubt Karina, alle seien von der häuslichen Betreuung überfordert und lässt sich in eine Privat-Klinik für Psychosomatik einweisen. Dort wird von Citalopram auf Escitalopram umgestellt. Als es nicht anschlägt, wächst Karinas Widerwille. Sie teilt den Ärzten mit, keine Medikamente mehr einnehmen zu wollen. Die Ärzte reagieren mit Widerstand. Karina beginnt, Symptome zu verschweigen und über ihr Befinden zu lügen.

Depressive Menschen erfüllen nicht das Bild, das Medien häufig von psychisch Kranken vermitteln. Die meisten sind kaum von gesunden Menschen zu unterscheiden. Viele Erkrankte schleppen sich weiterhin zur Arbeit, ohne Kollegen oder Vorgesetzte zu informieren. Die Langwierigkeit ihrer seelischen Verstimmung zwingt sie in die Knie, und sie wenden sich dann mit ihren Beschwerden an ihren Hausarzt oder einen Psychiater. Nach wenigen Minuten verlassen viele die Praxis mit einer Probepackung Antidepressiva.

Depression-Heute, eine unabhängige Internetplattform, hat untersucht, welche Motive Menschen zur Einnahme von Antidepressiva bewegen.

»Ich war völlig erschöpft. Immer wieder musste ich Kurse vor vielen Menschen geben und habe mich selber unter Druck gesetzt. Irgendwann fehlte mir die Kraft und ich wurde hoffnungslos.« (Maria, 34 Jahre, Wien, Trainerin in der Erwachsenenbildung)

»Ich hatte immer Rückenschmerzen und mein Hausarzt meinte, dass Antidepressiva da super wären. Ich vertraute ihm.« (Anonym)

»Ich hatte familiäre Probleme, dazu kamen unbestimmte körperliche Symptome. Zuerst habe ich eine Therapie gemacht. Erst später habe ich mich entschieden, Antidepressiva auszuprobieren. Zitat des verschreibenden Psychiaters: ›Die sind so gut verträglich wie Leitungswasser‹.« (Markus, 42 Jahre, Ravensburg, Software Entwickler)

»Mein Mann hatte ein schweres Nierenproblem. Da bekam ich Angst vor dem Alleinsein. Ich litt unter Herzrasen und Kopfschmerzen. Mein Hausarzt empfahl mir Antidepressiva.« (Elisabeth, 81 Jahre, Hildesheim, Rentnerin)

»Ich litt jahrelang unter Migräne und hatte gehört, dass Antidepressiva da helfen können. Ich war neugierig und wollte das ausprobieren.« (Corinna, 28 Jahre, Linz, Sozialpädagogin)

»An meinem Arbeitsplatz wurde ich von meinem Chef und von meinen Kollegen gemobbt. Die Situation wurde so unerträglich, dass ich nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Ich fiel in ein tiefes Loch. Das ging ein Dreivierteljahr so. Nach zwei Monaten entschloss ich mich, Antidepressiva einzunehmen.« (Anonym)

Die meisten Patienten dieser Umfrage bekamen bereits beim ersten Arztbesuch Antidepressiva verschrieben. Der zweite Termin fand meist erst vier Wochen später statt. Alle Menschen der Erhebung bemängeln eine ungenügende Aufklärung über Nebenwirkungen. Probleme, die beim Absetzen auftreten können, sprach keiner der Ärzte an.

Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung ist in Deutschland nicht ausreichend gewährleistet. Ein Mensch, der dringend Hilfe benötigt, hat nur eine Möglichkeit. Er muss sich in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie aufnehmen lassen, und selbst das gelingt oft nur, wenn Suizidabsichten verkündet werden. Ansonsten muss er sechs Monate bis zu einem Jahr auf einen Therapieplatz warten.

»Es gibt einen Skandal in Deutschland, und niemand schaut hin. Der Zusammenbruch der ambulanten Versorgung schwer psychisch kranker Menschen ist eine tägliche Katastrophe. Vor 30 Jahren bekam ein schwer depressiver Patient in drei Tagen einen ambulanten Termin. Heute dauert das drei Monate. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich menschliche Tragödien. Denn wer wirklich problemlos drei Monate auf eine Behandlung warten könnte, wäre nicht wirklich krank«10, beklagte der Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz 2014.

Die mangelnde ambulante Versorgung ist ein weiterer Grund, warum so viele Menschen an den Antidepressiva festhalten. Die Medikamente geben ihnen in Zeiten größter Hilflosigkeit und Unsicherheit das Gefühl, etwas gegen ihre Depression zu unternehmen. Aber nicht alle Menschen, die Antidepressiva einnehmen, leiden wirklich an einer psychischen Erkrankung. Der Unterschied zwischen existenziellen Krisen und einer krankhaften Depression muss sorgfältig geprüft werden. Dafür benötigt der behandelnde Arzt viel Zeit und Einfühlungsvermögen. Eine psychiatrische Diagnose sollte auf mehreren Sitzungen basieren. Dabei muss genau abgewogen werden, ob die Gabe eines Antidepressivums überhaupt hilfreich ist. Ein Antidepressivum kann Probleme – wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, schwere körperliche Erkrankung, Verluste oder zu wenig Anerkennung – nicht lösen. Werden die Probleme, die zu einer Depression geführt haben, bewältigt, löst sich der Grauschleier meist von allein wieder auf. Die dämpfende Wirkung, die bei manchen Antidepressiva auftritt, kann Betroffene daran hindern, ihre Probleme tatkräftig anzugehen.

In England hat sich das britische Arzneimittelbewertungsinstitut NICE zur Verschreibungspraxis geäußert. Es rät dringend davon ab, leichte und mittelschwere Depressionen mit Antidepressiva zu behandeln.11 Auch in Deutschland gibt es eine Leitlinie für Ärzte, die empfiehlt, Antidepressiva nicht bei leichten Depressionen einzusetzen.12 In der Praxis wird dies bislang nicht umgesetzt.

KARINA weiß heute nicht mehr, woher sie damals die innere Stärke nahm, standhaft die Medikamente zu verweigern. Während ihres Klinikaufenthalts beginnt sie, sich mit dem Thema SSRI zu beschäftigen. Ein amerikanischer Psychiater beschreibt, dass sich ein Absetzsyndrom auch noch Monate nach der letzten Tablette ereignen kann. Sie nimmt Kontakt zu ihm auf. Er bestätigt, was sie tief in ihrem Inneren weiß: Das Absetzen ist der Grund für ihre komplexe Symptomatik. Sie findet Leidensgenossen und erfährt im Austausch Trost und Sicherheit. Die Zeit bringt Distanz zu den traumatischen Erlebnissen.

Am schmerzhaftesten ist für sie, dass sie nie erfahren wird, zu was für einem Menschen sie ohne SSRI herangewachsen wäre. Vage kann sie sich erinnern, wie sich echte Leidenschaft und Begehren anfühlten. Im Alter von 18 Jahren wurde die Jugendliche von ihren Gefühlen abgeschnitten. Sie durfte sich nie richtig kennen lernen. Heute lebt sie medikamentenfrei und arbeitet als Hebamme. Noch immer ist sie durch Entzugserscheinungen beeinträchtigt. Karina engagiert sich für Menschen mit ähnlichem Schicksal. Sie ist bereit, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten, um über die Risiken von Antidepressiva aufzuklären.

Suizide trotz antidepressiver Therapie

Duloxetin ist derzeit das teuerste Antidepressivum auf dem deutschen Markt. 2004 wollte die Herstellerfirma Eli Lilly das Mittel für stressbedingte Inkontinenz zulassen. Dazu wurde eine Studie mit gesunden Probanden angefertigt. Ein Mitglied dieser Gruppe war die 19-jährige Studentin Traci Johnson. Im Verlauf der Testphase erhängte sich die zuvor vollkommen gesunde junge Frau mit einem Schal in den Duschräumen der Firma Eli Lilly.13 Die Absenkung der Suizidrate durch Antidepressiva ist ein Mythos. Dort wo viele Antidepressiva verschrieben werden, ereignen sich mehr Suizide.

STEFAN ist Profisportler. Seine Karriere verläuft glatt, er gilt als ruhig, besonnen und zuverlässig. Schon in jungen Jahren lernt er seine spätere Frau kennen. Sie gibt dem grüblerischen jungen Mann die notwendige Stabilität.

Als die großen Klubs anfragen, ist sie an seiner Seite. Als er beruflich ins Ausland wechseln muss, gibt sie ohne Zögern ihr Studium auf. Stefan hat Angst vor dem fremden Land. Er spricht die Sprache nicht und kommt mit dem Trainer nicht klar. Er hat Angst, der großen Aufgabe und dem vielen Geld, das für ihn gezahlt wurde, nicht gerecht zu werden. Wie gelähmt liegt er in seinem Hotelzimmer. Überall warten Fotografen und Presseleute. Er ist nicht in der Lage, vor die Kameras zu treten.

Schnell erfinden sein Manager und seine Frau eine Grippeerkrankung. Stefan will zurück in die Heimat. Nur mit Mühe ist er zum Bleiben zu bewegen. Schließlich hat er einen Vertrag zu erfüllen. Ein befreundeter Arzt wird zurate gezogen. Er diagnostiziert eine Depression, die es unbedingt zu verheimlichen gilt. Die vorgetäuschte Grippe gibt dem angeschlagenen Sportler Zeit, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Sein engstes Umfeld reagiert mit Verständnis. Schritt für Schritt kämpft sich Stefan ins Leben zurück. Mit jedem Tag hellt sich seine Stimmung auf und er gewinnt Zuversicht, den neuen Anforderungen gewachsen zu sein. Die Erleichterung ist groß, als Stefan langsam wieder der Alte wird. Problemlos kann er am Training teilnehmen, seinen Vertrag und die Erwartungen erfüllen.

Zunächst genießt Stefan seine Rückkehr ins Leben. Es kommt ihm strahlender vor. Er nimmt Farben und Gerüche intensiver wahr. Sportlich ist er kraftvoller und siegreicher denn je. Als sich sein Traum erfüllt, wieder in der Heimat spielen zu können, nimmt er das Angebot glücklich an. Er kauft ein Haus und lässt sich nieder. Seine Leistung wird von niemandem mehr infrage gestellt. Nach einem privaten Schicksalsschlag melden sich plötzlich die grüblerischen Zweifel zurück. Er bemerkt eine körperliche Erschöpfung und glaubt zunächst, sich diesmal wirklich eine Grippe eingefangen zu haben. Manchmal fällt es ihm schwer, morgens aufzustehen. Lustlos fährt er zum Training. Bei Spielen ist er unkonzentriert und begeht Fehler, die er sich nicht verzeihen kann. Er bekommt Angst, vor den Augen der Fans zu versagen. Keiner merkt ihm etwas an. Nur sein engstes Umfeld macht sich Sorgen.

Es kommt die Zeit, in der er morgens nicht mehr aufsteht und apathisch im Bett liegt. Er schafft es gerade noch, die Vorhänge, die seine Frau aufgezogen hat, wieder zuzuziehen, bevor er sich zurück ins Bett legt. Ein Psychiater wird zu Hilfe gerufen. Da Stefan bereits zu einem früheren Zeitpunkt unter einer schweren Depression gelitten hat, empfiehlt der Arzt ein Antidepressivum der neueren Art. Die Nebenwirkungen seien gering, Stefan könne bald wieder spielen.

Stefan schleppt sich nur noch unter großen Anstrengungen und mit vielen Hilfen durch das Leben. Er glaubt keine Alternative zu den Tabletten zu haben und beginnt mit der Einnahme. Ohne dass seine Mitspieler etwas bemerken, nimmt er wieder am Training teil. Bei den Spielen wirkt er seltsam unbeteiligt. Zuhause macht er sich bittere Vorwürfe wegen Fehler im Spiel. Er hält sich für unfähig, die Tabletten behindern ihn, er wird langsamer, schwerfälliger.

Die Medikamente bessern seine Stimmungslage nicht. Das steigert seine Verzweiflung in ungeahnter Weise. In ihm wächst die Angst, es gäbe nichts mehr, dass ihm helfen kann. Sein engstes Umfeld ist in Alarmbereitschaft. Der behandelnde Psychiater rät Stefan dringend, sich einweisen zu lassen. Seine Frau erfährt von einer diskreten Privatklinik. Vor den Toren der Klinik entscheidet er, sich auf keinen Fall psychiatrisch aufnehmen zu lassen. Er malt sich aus, wie die Öffentlichkeit von seiner Krankheit erfährt, sein Ruf ruiniert ist und er als Sportler nicht mehr ernst genommen wird. Ohne das Krankenhaus betreten zu haben, fährt ihn seine Frau zurück. Keiner weiß, ob er bereits zu diesem Zeitpunkt den Entschluss fasst, sich umzubringen.

Antidepressiva bieten keinen Schutz vor Suiziden.14 In Deutschland wird die Medikation von Selbstmördern und Gewalttätern grundsätzlich nicht veröffentlicht. Als der Pilot Andreas Lubitz am 24. März 2015 mit einer Germanwings-Maschine sich und 149 andere Menschen an Bord tötet, wurde versucht, die Namen seiner Medikamente zu verheimlichen. Erst im Abschlussbericht der französischen Behörden war zu lesen, dass Lubitz das Antidepressivum Mirtazapin eingenommen und die Dosis 14 Tage vor der Tat verdoppelt hatte.15 Gleichzeitig verschrieb ihm derselbe Psychiater acht Tage vor dem Absturz das SSRI-Antidepressivum Escitalopram. Aus der Haaranalyse geht hervor, dass Lubitz diese Medikamente eingenommen hatte. Das Unglück reiht sich damit in eine lange Liste von SSRI-induzierten Delikten ein.16 Bereits seit 2007 ist bekannt, dass jeder fünfte Flugzeugabsturz von einem Piloten unter SSRI-Medikation verursacht wurde.17 90 Prozent der an Schulen verübten Massaker wurden unter Einfluss von Psychopharmaka verübt.

»Gewaltverbrechen und kriminelle Verhaltensweisen, die durch die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten verursacht wurden, sind das bestgehütete Geheimnis der Medizin«18, erklärt der renommierte Depressionsforscher David Healy.

Die Pharmahersteller kämpfen seit Jahren erfolgreich gegen eine Nennung ihrer Produkte im Zusammenhang mit Suiziden und Amokläufen. US-Gerichte haben dennoch bei vielen Gewaltverbrechen Antidepressiva eine Hauptschuld zugesprochen. Zu den berühmtesten Fällen gehört der sogenannte »Tobin Case«.19 Dabei ging es um die Wesensveränderung des zuvor liebevollen Großvaters Donald Schell durch Paroxetin. Der vollkommen unauffällige Rentner Schell hatte das Medikament wegen eines Schwächezustands eingenommen und anschließend seine Ehefrau, seine Tochter, sein neun Monate altes Enkelkind und sich selbst getötet. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Paroxetin für die Tat verantwortlich war. Die Herstellerfirma GlaxoSmithKline musste an die Hinterbliebenen 6,4 Millionen Dollar zahlen.

Dass Antidepressiva Suizidabsichten auslösen, wurde erstmals in Deutschland beobachtet.20 Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für Prozac (1984) bemerkten deutsche Psychiater, wie sich unter Prozac bei depressiven Patienten häufiger Suizidversuche ereigneten. Das Medikament der Firma Eli Lilly wurde an 1427 Patienten in 46 Studien getestet, von denen 25 wegen schwerer Nebenwirkungen abgebrochen werden mussten. Das Ergebnis war eine Katastrophe. Es gab 16 Suizidversuche, zwei davon vollendet, obwohl vorab Patienten mit Suizidabsichten von den Studien ausgeschlossen worden waren. Die Psychiater waren sich einig, dass das Medikament für die Suizidversuche verantwortlich war. In der Zusammenfassung schrieben die Gutachter des Bundesgesundheitsamts: »… wir denken, dass diese Arznei völlig unbrauchbar für die Behandlung von Depressionen ist.«21 Der Zulassungsantrag wurde abgelehnt.

Zunächst scheiterte im Januar 1988 auch der zweite Versuch, das Medikament in Deutschland auf den Markt zu bringen. Lilly hatte seine Daten umfangreich bearbeitet. Suizide waren in einer unbedeutenden Rubrik versteckt, und viele Patienten in den Studien hatten zusätzliche Beruhigungsmittel gegen Unruhezustände erhalten – was eigentlich nicht erlaubt ist. Der Antrag wurde wieder abgelehnt: Den Behörden fehlte diesmal der Wirkungsnachweis. Die Studienunterlagen konnten keine Besserung der depressiven Symptomatik zeigen. Nur ein Jahr später erhielt das unveränderte Medikament im dritten Anlauf die Zulassung für den deutschen Markt. Der deutsche Handelsname lautete: Fluctin.

Diesmal hatten Eli Lillys Mitarbeiter nichts dem Zufall überlassen. Journalisten des NDR und der Süddeutschen Zeitung deckten 24 Jahre später diesen Medizinskandal auf. Sie fassten zusammen: »Die Methoden [der Firma Lilly] erinnern an die eines Geheimdienstes im Kalten Krieg: Täuschen, Manipulieren, Lügen.«22 Nach der zweiten Ablehnung hatte sich das Unternehmen eine wohlwollende Studie am Institut von Deutschlands renommiertesten Pharmakologen Otto Benkert in Mainz gekauft.23

Dann griff das Unternehmen in das Zulassungsverfahren ein, was laut Geschäftsordnung des Bundesgesundheitsamtes (BGA) streng verboten ist. Die Lilly-Mitarbeiter wendeten sich direkt an mindestens zwei deutsche Psychiatrieprofessoren, die am Zulassungsverfahren beteiligt waren, was diese später bestätigten.

Zum gleichen Zeitpunkt war der Geschäftsführer von Lilly in Stockholm, John Virapen, mit der Zulassung von Prozac in Schweden beschäftigt.24 Die Chancen standen schlecht. Sämtliche Psychiater, die das Mittel an Patienten getestet hatten, hielten es für wirkungslos, manche sogar für schädlich. Virapen suchte unter den Psychiatern des Landes gezielt nach denjenigen, die an der Zulassung des Medikaments beteiligt waren. Dann verabredete er sich mit dem Hauptverantwortlichen mehrfach in teuren Restaurants. Die Firma zahlte die Rechnung. Der Lilly-Geschäftsführer erklärte, er wolle die Zulassung und fragte, was es koste. Der Gutachter25 verlangte 20 000 Dollar und Gelder für klinische Studien. Wieder zahlte die Firma. Virapen stieg später aus und berichtete über die Machenschaften des Konzerns. Seinen Worten zufolge wurden ähnliche Methoden auch in Deutschland angewendet.

Dort trafen sich Lilly-Mitarbeiter unter anderem mit Professor Hans-Jürgen Möller, dem wichtigsten Experten im deutschen Zulassungsprozess. Am Tag der Entscheidung sprachen Mitarbeiter des BGAs die erhöhte Suizidalität durch Prozac erneut an. Dieses Mal entkräftete Möller, gemeinsam mit dem anderen »beeinflussten« Professor Hellmut Kleinsorge, sämtliche Bedenken als nebensächlich. Das geht aus einem internen Memo der Firma Lilly hervor, das an die Öffentlichkeit gelangte.

Der damalige Leiter der entscheidenden Zulassungssitzung reagierte empört auf die späteren Enthüllungen. Hätte er davon gewusst, sagte er den Reportern, hätte er Möller durch einen neutralen Experten ersetzt. Rückblickend hält er die Zulassung von Prozac für keine gute Entscheidung.

Doch damit nicht genug. Das Bundesgesundheitsamt forderte einen Hinweis auf das erhöhte Suizidrisiko im Beipackzettel. Damit wäre das Produkt schlecht zu vermarkten gewesen. Dieser Hinweis musste verschwinden. Lilly kaufte sich den ehemaligen Leiter der Rechtsabteilung des BGAs.26 Er wurde fortan auf der Gehaltsliste von Lilly geführt und sollte Einfluss auf seine früheren Untergebenen nehmen. Der Plan ging auf. Ab 1990 wurde Prozac in Deutschland ohne Hinweis auf das erhöhte Suizidrisiko verkauft. Nachdem Lilly wie geplant die Zulassung erreicht hatte und Hinweise auf Suizide verhindern konnte, startete der Konzern die größte Marketingkampagne, die die Pharmabranche je erlebt hat. Ein wirkungsloses und schädliches Medikament wurde so zum bestverkauften Antidepressivum der Welt. Eli Lilly nahm mit Prozac mehr als 22 Milliarden Dollar ein. Mit dem Werbeslogan »Better than Good« avancierte Prozac zu einer Lifestyle-Droge und wurde auch von gesunden Menschen dauerhaft eingenommen. Lilly pumpte Milliarden in die Vermarktung. Obwohl heute alle Fakten bekannt sind, sind die Auswirkungen der damaligen Gehirnwäsche bis heute spürbar. Noch immer verschreiben viele Psychiater dieses zweifelhafte Medikament. Kein deutscher Direktor einer Universitätspsychiatrie hat sich bisher von Prozac distanziert. Vielleicht aus Angst. Denn es gehört zu den Gepflogenheiten der Firma Lilly, Kritiker von Prozac mundtot zu machen.

In den USA war Martin Teicher einer der ersten Psychiater, der Prozac verschrieb. Der Harvard-Arzt beobachtete, wie sich seine langjährigen Patienten unter der Einnahme von Prozac stark veränderten. Sechs von ihnen entwickelten eine starke Suizidalität, die nie zuvor bei ihnen aufgetreten war. Teicher beging den Fehler, seine Beobachtungen öffentlich zu machen.27 Als Kritiker des Medikaments stand er kurze Zeit später auf der schwarzen Liste des Pharmakonzerns und erhielt Drohungen. Bei einer öffentlichen Anhörung, in der Teicher als Psychiater über die Gefährlichkeit von Prozac aussagen sollte, dichteten ihm die Anwälte der Firma Lilly den sexuellen Missbrauch einer Patientin an, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Als Teicher dennoch nicht von seinen Ansichten abwich, kaufte sich Eli Lilly seine Frau. Der Konzern bot ihr eine Anstellung im entfernten Indianapolis als Chefwissenschaftlerin an, obwohl sie sich nicht beworben hatte. Teichers Frau nahm die Stellung an, ließ sich scheiden und zog mit den beiden gemeinsamen Töchtern nach Indianapolis.

Nur wenig später bestätigten mehrere Forscher die Beobachtungen von Teicher. Sie berichteten von Patienten, die das Medikament wegen Bulimie oder anderen, nichtdepressiven Erkrankungen erhielten und daraufhin Suizidversuche unternahmen.

Die Manipulationen um das Medikament Prozac sind besonders gründlich von den Psychiatern David Healy und Peter Breggin recherchiert worden. Sie erhielten als medizinische Gutachter Einblicke in konzerninterne Unterlagen und veröffentlichten mehrere Bücher darüber.28 Es stellte sich heraus, dass Lilly den Begriff »Suizid« aus seiner Datenbank der Nebenwirkungen gelöscht hatte und anstelle von »einem Suizidversuch unter Prozac« von einer Überdosierung sprach. Nicht allen Lilly-Mitarbeitern gefiel diese Vorgabe. Der deutsche Mitarbeiter Claude Bouchy schrieb in einem internen Memo: »Ich glaube nicht, dass ich dem Bundesgesundheitsamt, einem Richter, einem Reporter oder meiner Familie erklären könnte, warum wir das tun. Schon gar nicht, wenn es um so heikle Probleme wie Suizid und Suizidgedanken geht.«29

Die Machenschaften der Firma Lilly sind keine Ausnahme, andere Pharmafirmen nutzen dieselben Strategien. Vielleicht ist es nachzuvollziehen, dass eine Firma Interesse daran hat, ihre Produkte gewinnbringend zu verkaufen. Das Verschweigen von erhöhter Suizidalität steht dazu in keinem Verhältnis. Der Tod der 49-jährigen MONIKA KRANZ [echter Name] hätte durch einen Hinweis auf erhöhte Suizidalität im Beipackzettel verhindert werden können.

»Meine Frau könnte heute noch leben, wenn Pfizer rechtzeitig über die Risiken des Medikaments Sertralin informiert hätte«, sagt der Witwer Lothar Schröder [echter Name] in der ZDF Dokumentation »Das Pharmakartell«30. Für Lothar Schröder ist der Selbstmord seiner Frau Monika Kranz bis heute unfassbar. Er hatte die attraktive Bildbearbeiterin kurz zuvor geheiratet. Gemeinsam bereiteten sie ihren 50. Geburtstag vor. Von einer Operation an der Gebärmutter erholt sie sich nicht richtig. Sie fühlt sich schnell erschöpft und müde. Ihr Hausarzt verschreibt Sertralin. »Sie schluckte die Pillen als eine Art Vorsorge, damit sich ihre Depression nicht verschlimmert«, sagt Lothar Schröder später der Zeitschrift Focus.31

Es geht ihr von nun an immer schlechter. Sie ist unruhig und hat nachts Schweißausbrüche. Ihr Mann bemerkt eine Wesensveränderung. Nach zweiwöchiger Einnahme des Medikaments Sertralin legt sich Monika Kranz auf ein Bahngleis und lässt sich von einem Güterzug überfahren. Sie hinterlässt ihrem Mann und ihrer Tochter nicht mal einen Abschiedsbrief. Ihr Selbstmord kam für alle überraschend und widersprach dem Charakter der lebenslustigen Frau.

Manche Firmen sind für verkaufsfördernde Zwecke bereit, den Tod von Kindern und Jugendlichen zu akzeptieren. Die britische Firma GlaxoSmithKline kassierte 2012 für dieses Vergehen die Rekordstrafe von drei Milliarden Dollar.32 Als Folge dieses Skandals muss in den USA seit 2005 jedes antidepressive Medikament einen Warnhinweis tragen. Die Medikamente sollen wegen des erhöhten Suizidrisikos nicht von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eingenommen werden. Schwarz umrahmt, wie eine Traueranzeige, prangt diese Warnung auf jeder Packung Antidepressiva. Wie es zu diesem strengen Warnhinweis kam, liest sich wie ein Krimi.

Paroxetin ist ein SSRI-Antidepressivum, das in Großbritannien entwickelt wurde. Es ist seit 1996 in Deutschland zugelassen und wird auch unter den Handelsnamen Seroxat, Deroxat, Paroxalon, Paroxat und Tagonis verkauft. In den späten 90er Jahren wollte der britische Mutterkonzern das Medikament auch zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen verkaufen. Dazu mussten drei Studien angefertigt werden, in denen die Wirkung des Medikaments mit der Wirkung eines Placebos verglichen wird. Dabei wirkte die Zuckerpille erfolgreicher gegen die Depression der Kinder als das hauseigene Antidepressivum. Die Pharmamanager vereinbarten, diese Ergebnisse geheim zu halten: »Es wäre geschäftlich inakzeptabel bekannt zu machen, dass eine Wirksamkeit nicht vorhanden ist, denn dies würde dem Ruf von Paroxetin schaden.«33