Unser aller Toten: Horror-Romane und -Erzählungen - W. H. Pugmire - E-Book

Unser aller Toten: Horror-Romane und -Erzählungen E-Book

W. H. Pugmire

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Beschreibung

Lynda Lys präsentiert eine Auswahl von Horror-Romanen, -Novellen und -Erzählungen von Autoren die sie gern selbst liest.
Wer W. H. Pugmires Geschichten noch nicht kennt, wird angenehm überrascht sein, dass er Lovecrafts Fantasien kongenial weiterspinnt. Auch die Zuhörer von Stephan Peters Lesungen mit seinen rabenschwarzen, morbiden und gruseligen Kurzgeschichten, die in einer Werkausgabe vereint bei Bärenklau Exklusiv erscheinen, werden begeistert sein.
Asmodina Tears, eine schon seit einigen Jahren umtriebige Autorin deutscher Belletristik eröffnet dem Leser neue unheimliche Welten, ebenso, das Autorenteam Roland Heller & Marten Munsonius, deren Novelle im beschaulichen Wien angesiedelt ist, allerdings einem alternativen Wien, wo nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

In diesem Band sind folgende Romane, Sammlungen und Erzählungen enthalten:
› Der Endkrist – Roland Heller & Marten Munsonius
› Der düstere Fremde – W. H. Pugmire
› Schattenreich: Die Schwingen des Todes – Asmodina Tear
› Ekstase der Angst – W. H. Pugmire
› Der Kinderschlächter zu Hameln – Stephan Peters (Erzählsammlung)
› Ein letzter Diebstahl – W. H. Pugmire

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Roland Heller & Marten Munsonius / W. H. Pugmire /

Stephan Peters / Asmodina Tear

Unser aller Toten

Horror-Romane und -Erzählungen

Herausgegeben von Lynda Lys

Impressum

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven von edeebee (KI), 2025

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

www.baerenklauexklusiv.de / [email protected]

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten

Das Copyright auf den Text oder andere Medien und Illustrationen und Bilder erlaubt es KIs/AIs und allen damit in Verbindung stehenden Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren oder damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung erstellen, zeitlich und räumlich unbegrenzt nicht, diesen Text oder auch nur Teile davon als Vorlage zu nutzen, und damit auch nicht allen Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs nutzen, diesen Text oder Teile daraus für ihre Texte zu verwenden, um daraus neue, eigene Texte im Stil des ursprünglichen Autors oder ähnlich zu generieren. Es haften alle Firmen und menschlichen Personen, die mit dieser menschlichen Roman-Vorlage einen neuen Text über eine KI/AI in der Art des ursprünglichen Autors erzeugen, sowie alle Firmen, menschlichen Personen , welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren um damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung zu erstellen; das Copyright für diesen Impressumstext sowie artverwandte Abwandlungen davon liegt zeitlich und räumlich unbegrenzt bei Bärenklau Exklusiv. Hiermit untersagen wir ausdrücklich die Nutzung unserer Texte nach §44b Urheberrechtsgesetz Absatz 2 Satz 1 und behalten uns dieses Recht selbst vor. 13.07.2023

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Zum Buch

Unser aller Toten

Endkrist

Teil 1 – Diese Seite

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Teil 2 – Die andere Seite

4. Kapitel

5. Kapitel

Teil 3 – Diese Seite

6. Kapitel

Der düstere Fremde

1

2

3

4

5

6

7

8

Schattenreich – Die Schwingen des Todes

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Epilog

Ekstase der Angst

1.

2.

3.

4.

5.

Der Kinderschlächter zu Hameln

1. Der Griff aus dem Dunkel

2. Der 7. Hochzeitstag

3. Der Computer – Ein Fluch

4. Der Kinderschlächter zu Hameln

5. Auf-Lösung

6. Hochzeitsnacht

7. Nights in white Satin

9. Observierung

9. Zwei alte Knochen

10. Die Spökenkieker von Bad Salzuflen

Ein letzter Diebstahl

1

2

3

4

5

Zum Buch

Lynda Lys präsentiert eine Auswahl von Horror-Romanen, -Novellen und -Erzählungen von Autoren die sie gern selbst liest.

Wer W. H. Pugmires Geschichten noch nicht kennt, wird angenehm überrascht sein, dass er Lovecrafts Fantasien kongenial weiterspinnt. Auch die Zuhörer von Stephan Peters Lesungen mit seinen rabenschwarzen, morbiden und gruseligen Kurzgeschichten, die in einer Werkausgabe vereint bei Bärenklau Exklusiv erscheinen, werden begeistert sein.

Asmodina Tears, eine schon seit einigen Jahren umtriebige Autorin deutscher Belletristik eröffnet dem Leser neue unheimliche Welten, ebenso, das Autorenteam Roland Heller & Marten Munsonius, deren Novelle im beschaulichen Wien angesiedelt ist, allerdings einem alternativen Wien, wo nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

In diesem Band sind folgende Romane, Sammlungen und Erzählungen enthalten:

› Der Endkrist – Roland Heller & Marten Munsonius

› Der düstere Fremde – W. H. Pugmire

› Schattenreich: Die Schwingen des Todes – Asmodina Tear

› Ekstase der Angst – W. H. Pugmire

› Der Kinderschlächter zu Hameln – Stephan Peters (Erzählsammlung)

› Ein letzter Diebstahl – W. H. Pugmire

Unser aller Toten

Endkrist

von Roland Heller und Marten Munsonius

***

Personen

Mysteriöser Autor Hans Stahl – ca. 1450 – Buch: Bataille-Monument – Zauberbuch

Nicholas Tulp Detektiv

Gaspard Dieb

Hermine Duschek Eine alte Dame, die verbotenerweise Tauben füttert

Jakub Kopecky Ihm wird ein mächtiges Buch gestohlen

Gerard Roux Pariser Detektiv

León Morin Mitglied des Merlin-Zirkels

Raphael Dämonenfürst

Die Fore Herrscher über das Reich der Wiener Friedhöfe

Desdämona Sie ist eine männerverführende Sirene.

Kolpak Ein dunkler Engel

Balan Kriegerdämon

Arioch Dämon des Zorns

Driskoll Kriegerdämon

Eisheth Dämonin der Verführung

Jael Rachedämon

Kolok Nachtaktiver Dämon

Lyriel Er taucht seine Opfer in Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit

Morax Vermittelt Wissen in verbotenen Bereichen

Hubertus Friedhofswächter in den Katakomben

Heket Dämon, die über Fruchtbarkeit und Geburt herrscht

Teil 1 – Diese Seite

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.

Woher kommt mir Hilfe?

Die Hilfe kommt vom Herrn,

der Himmel und Erde gemacht hat.

1. Kapitel

Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft.

Die ersten Strahlen der Sonne stahlen sich bereits in den Lichthof des sechsstöckigen Gebäudes im zweiten Gemeindebezirk, in dem Hermine Duschek verbotenerweise ihrer allmorgendlichen Tätigkeit des Taubenfütterns nachging.

Das Licht war heute irgendwie anders.

Das oberste Stockwerk des rund um den Lichthof geschlossenen Ensembles glänzte bereits in der Morgensonne. Bis die Sonnenstrahlen den Grund erreichten, dauerte es noch eine gute Stunde. Orange wirkte das Licht. Als könnte es sich nicht entscheiden, zu einem Morgenrot zu mutieren, wie es öfters zu sehen war.

Hermine Duschek war fast jedes Mal bei dem Anblick dieses Morgenrots unsicher, welcher Reim zutraf: »Morgenrot-Gutwetter-Bot« oder »Morgenrot–Schlechtwetter- droht«. Sie konnte die beiden Merksätze einfach nie richtig zuordnen. Sie verwechselte sie ständig, vielleicht auch deshalb, weil sie bislang noch nicht festgestellt hatte, dass die Richtigkeit der alten Bauernregel auch immer zutraf.

Am Boden des Hofes herrschten noch die Schatten. Ihre Bank war noch feucht vom Tau. Die Sitzbank gehörte nicht ihr, aber sie war diejenige Person im Haus, die am öftesten hier saß. Und das meist schon in der Früh, wenn jeder vernünftige Mensch noch im Bett lag, besonders jetzt im Herbst, da die Tage immer kürzer wurden und die Sonne sich immer später blicken ließ. Dieser späte Sonnenaufgang fiel gerade in diesen Tagen besonders auf, da man erst vor einer Woche zu der Normalzeit zurückgekehrt war. Das leidige Verstellen der Uhr sollte hoffentlich bald der Vergangenheit angehören. Seit Jahren versprachen die Gewaltigen an der Macht hier eine Besserung. Hermine Duschek war nicht sicher, ob sie das überhaupt noch erlebte.

Das Gurren der Tauben drang an ihr Ohr und erinnerte sie daran, weshalb sie überhaupt in den Lichthof gegangen war. In ihrer linken Hand trug sie die Papiertüte vom Bäcker, in dem sie die Brotreste – fein säuberlich zerkleinert – sammelte. Die Tauben sollten ohne viel Mühe zu ihrem Recht gelangen. Hermine wusste genau, dass das Füttern verboten war. Den Grund dafür konnte sie sehen, wenn sie sich rund um »ihre« Bank umsah – und auch die unschönen Streifen entlang der Fassade des Hauses blieben ihr nicht unbemerkt –, aber sie verharrte eisern auf dem Standpunkt, dass die ›armen Viecherl› sonst ja niemanden hatten, der sich um sie kümmerte.

Die Hausgemeinschaft hatte ihr angedroht, sie zur Kasse zur bitten, wenn sie die Hausfassade ausbessern lassen musste. Der Taubenkot arbeitete aggressiv am Mauerwerk und sorgte für massive Zerstörungen an der Hauswand. Er fraß sich richtiggehend durch den Stein.

Aus diesem Grund sah sich Hermine Duschek genau um und ließ ihre Augen über die Fenster streichen, ob sie jemand beobachtete, bevor sie wie zufällig ihre Brotreste zu Boden fallen ließ.

Die Tauben hatten nur darauf gewartet.

Ihr Flügelschlag verriet es Hermine. Sie kamen herabgesaust. Manche flogen so dicht an der alten Dame vorbei, dass sie fürchtete, von dem Schnabel aufgespießt zu werden. Die Tauben nahmen keine Rücksicht auf sie.

Ihr Gurren hatte sich zu einer solchen Lautstärke vervielfacht, dass es nicht mehr geheim bleiben konnte, dass Hermine Duschek schon wieder die lästigen Tauben fütterte.

»Verdammtes Weib!«, keifte eine erste Stimme aus dem zweiten Stock. »So werden wir die Viecher nie los!«

Aus einem anderen Fenster, etwas verschoben, aber ein Stockwerk darunter, bestärkte sie eine zweite Stimme, ebenfalls weiblich und mit einem durchdringenden Timbre, welches das gesamte Haus aufweckte.

Das Gurren der Tauben ging fast unter in den Ratschlägen, die aus zahlreichen Fenstern klangen. Manche der Stimmen wünschten die alte Frau an den Galgen, andere klangen nicht so radikal, aber alle waren sich einig, dass die Polizei der »guten Frau« den Ernst der Lage klarmachen musste.

Sämtliche Bewohner der vier Gebäude, die diesen Innenhof umschlossen, konzentrierten ihr Interesse nur mehr auf den Innenhof. Was im Rest des Gebäudes vor sich ging, blieb in diesen Minuten des frühen Tages unbemerkt.

Diesen Umstand nutzte ein Mann aus, der das Gebäude bereits seit mehreren Tagen beobachtete und nur auf einen Augenblick wie diesen gewartet hatte, wann er möglichst unbemerkt seinen Geschäften nachgehen konnte.

*

Gaspard war ein Dieb. Diese Tätigkeit betrieb er professionell. Wenn seiner Arbeit nicht der Makel der Ungesetzlichkeit anhängen würde, hätte er diese Bezeichnung sogar offiziell als seine Berufsbezeichnung angegeben, aber in der von Gesetzen geregelten Welt, in er ein rigider Eigentumsbegriff vorherrschte, war das natürlich nicht möglich. Dabei betrachtete er seine Arbeit als eine künstlerische Betätigung. Welcher Außenstehende wusste schon, worauf er in seinem Beruf zu achten hatte. All die Feinheiten, die er bedenken musste, all der Aufwand, den er betreiben musste, um ungesehen seiner Arbeit nachgehen zu können und vor allen unbemerkt und ohne Spuren zu hinterlassen den Ort seiner künstlerischen Tätigkeit zu verlassen, diese Aspekte gingen unter in dem – zugegeben – niedrigen gesellschaftlichen Ansehen, den sein Beruf bei der Allgemeinheit genoss.

Gaspard jedoch liebte seinen Beruf.

Anerkennung bekam er in seinen eigenen Kreisen, und das genügte ihm, denn das Urteil in diesem Kreis kam aus einem profunden Mund.

Gaspard wartete nur darauf, dass Hermine Duschek ihrer Leidenschaft des Taubenfütterns nachging und mit ihrem Tun begann. Von der ersten Sekunde an hielt er sich bereit einzugreifen und die Bewohner darauf aufmerksam zu machen, dass die alte Dame ihre Brotkrümel in dem Innenhof ausstreute, sollte keiner der Bewohner von sich aus ihre Tätigkeit bemerken und mit einem lauten Schrei – wie üblich – der alten Dame zu erkennen geben, dass ihr Tun nicht länger geheim war. Sie konnte es nicht mehr abstreiten, wenn das halbe Haus Zeuge geworden war.

Sein Eingreifen war zumindest in dieser Hinsicht an diesem Tag nicht mehr nötig.

Die Aufmerksamkeit der Bewohner richtete sich auf den Innenhof.

So gelangte Gaspard ungesehen in das Haus, fand das richtige Stiegenhaus auf Anhieb und stürmte ohne weitere Vorsichtsmaßnahme bis in das oberste Stockwerk. Absichtlich benutzte er nicht den Lift, denn der einzige unvorhersehbare Moment war jener, in dem die Lifttür an seinem Ziel aufging, weil er nie planen konnte, ob jemand davorstand und den Lift benützen wollte.

Wie er erwartet hatte, fand er das Stiegenhaus unbesetzt. Die absoluten Frühaufsteher hatten das Haus längst verlassen und alle anderen schliefen entweder noch oder saßen beim Frühstück. Arbeit und Schule starteten in der Regel nicht vor acht Uhr in der Früh. Er hatte nicht umsonst genau diese Zeit für seinen Coup geplant.

Die beiden obersten Stockwerk gehörten einem Sonderling. Gaspard wusste nicht viel über ihn, nur so viel, wie er für die Erledigung seines Auftrages brauchte. Da sein Auftraggeber dafür gesorgt hatte, dass der zu bestehlende Sonderling zu einer fingierten Besprechung nach Prag abgereist war, fürchtete er keine Entdeckung, sowie er einmal in die entsprechenden Räumlichkeiten eingedrungen war. Um 6:30 hatte der Mann das Haus verlassen. Jetzt zeigte seine Uhr 7 Uhr 10 an. Hier oben gab es außer dem Wohnbereich des Sonderlings keine weitere Wohneinheit. Er konnte sich in Ruhe seinem Auftrag widmen.

Die untere Ebene der beiden zur Wohnung gehörenden Geschoße beherbergte die Wohnung. Diese Räume interessierten ihn nicht. Ihn trieb es in die direkt unter der Dachschräge liegende Fläche, die zu einer riesigen Bibliothek ausgebaut worden war. Schrank reihte sich an Schrank. Die Zahl der Bücher erreichte nach Gaspards vorsichtiger Schätzung sicherlich eine fünfstellige Zahl. Ihm stand also eine langwierige Suche bevor.

Zum Glück war die Bibliothek übersichtlich aufgebaut und nach logischen Sachgebieten geordnet. Was es nicht gab in dieser Bibliothek, waren Bücher, die man unter dem allgemeinen Begriff Belletristik zusammenfasste. Damit hatte der Besitzer anscheinend nichts am Hut. Dafür gab es eine Unmenge an populärwissenschaftlichen Wälzern so gut wie aller der Wissenschaft bekannten Gebiete, die unter dem Oberbegriff Sachbuch liefen und unter diesem Namen auch an den Seitenwänden der Schrankwände gekennzeichnet waren.

Der größte Teil der Bibliothek umfasste Fachbücher. Ernsthafte wissenschaftliche Arbeiten. Zu Gaspards Verwunderung liefen unter dieser Rubrik auch die zahllosen Bücher, die sich mit dem Gebiet der Esoterik, der Magie und der lediglich in der Vorstellung mancher Phantasten existierender Zauberei beschäftigten.

Er hatte gar nicht gewusst, wie viele Bücher es gab, die sich mit all diesen Dingen beschäftigten.

Aber nun stand er direkt vor dieser Abteilung innerhalb der Bibliothek. Mehrere Bücherwandreihen umfasste diese Sammlung. An einer der Seitenwände gab es als Orientierungshilfe eine Ordnungsübersicht. Die war aber weder alphabetisch nach Autoren noch nach Wissensgebieten geordnet. Vermutlich kannte sich selbst der Besitzer ohne weitere Hinweise in diesem Wirrwarr nicht aus. Der hatte allerdings keinen Grund gesehen, einem Fremden das Suchen nach einem bestimmten Titel zu erleichtern.

Gaspard besaß zum Glück mehrere Hinweise, die ihm bei der Suche helfen sollten.

Das Buch, nach dem er Ausschau hielt, war circa 400 Jahre alt. Das war bereits ein wertvoller Hinweis, denn es verriet viel über die Machart des Buches. All die neueren, in Leinen oder gar Karton gebundenen Bücher konnte er außer Acht lassen.

Als weiteren Hinweis wusste er, dass der Einband schmucklos und ohne jeglichen Hinweis auf den Inhalt war. Wenn er das Buch öffnete, bekam er ein Sammelsurium von verschiedenen Sprachen – offizielle und Geheimsprachen – zu sehen, schön verzierte Seiten befanden sich neben wie rasch hingekritzelten Merkblättern. Der Inhalt stammte nicht von einem einzelnen Autor.

Es handelte sich um eine Sammlung, die vor 400 Jahren ein Freund dieser Materie zu einem einzigartigen Band zusammengefügt hatte.

Es gab nur dieses eine Exemplar.

Von seiner Existenz wussten weltweit nur wenige Leute. Diejenigen, die allerdings eine Ahnung davon hatten, fürchteten sich im Geheimen vor dem Tag, an dem dieses Buch wieder in das Bewusstsein der Allgemeinheit trat, denn sie kannten die Brisanz des Inhalts.

Gaspard machte sich auf die Suche.

*

Im Innenhof steigerte sich der Lärmpegel. Verantwortlich dafür waren nicht nur die erbosten Bewohner, die zwischenzeitlich aus mindestens sieben Fenstern der alten Frau Duschek ihren Unmut entgegenschrien.

»Warte nur, bis die Polizei kommt!«

»Dich sollte man auch auf Brotkrümeldiät setzen!«

Das waren noch die harmlosesten Beispiele an Zurufen, die an das Ohr von Hermine Duschek drangen, aber sie genügten, die alte Frau in Verwirrung zu stürzen. Hier gab es für sie keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ein paar kümmerliche Gewächse begrünten zwar den Innenhof, Sichtschutz, vor allem von oben, boten sie allerdings keinen. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Aber eine gewisse Hartnäckigkeit hieß sie bleiben. Sollte die Polizei ruhig kommen. Sie kannte das bereits. Wegen einer Tauben fütternden alten Dame rückten die garantiert nicht aus. Die hatten Wichtigeres zu tun.

Sie hatte die Brotkrümel ohnehin bereits ausgestreut.

Üblicherweise setzte sie sich nach dem Ausstreuen auf »ihre« Garten-Bank. In dem Lichthof gab es drei Stück, aber sie benütze ständig »ihre« Bank und sah den Tauben zu. Ihr Herz ging ihr jedes Mal auf, wenn sie zusah, wie sie eifrig ihr Köpfchen zu Boden senkten und Brösel für Brösel aufpickten. Und wenn dann eines der Tiere bei dieser Tätigkeit innehielt und zu ihr hochblickte, durchströmte sie ein Glücksgefühl, das sie an verflossene Zeiten erinnerte, als ihr Ehemann noch unter den Lebenden geweilt hatte und sie gemeinsame Tage des Glücks wie im Rausch erlebt hatten – in ihrer Wohnung mit drei Hunden und zwei Katzen.

Nun waren ihr nur mehr die Tauben geblieben, um die sie sich kümmern konnte. Und selbst diese Tätigkeit vermiesten ihr die herzlosen Nachbarn. Hermine Duschek kam es in Situationen wie dieser stets in den Sinn, dass eigentlich nur mehr alte schrullige Leute in dem Gebäude wohnten. Das Alter musste ihre Herzen versteinert haben.

Vielleicht wären ihre Gedanken noch mehr in das Negative abgedriftet, wenn nicht plötzlich etwas eingetreten wäre, das auch Hermine Duschek in Panik versetzte.

Eine merkwürdige Unruhe griff nach den Tauben. Wie auf ein stilles Kommando hielten sie plötzlich im Picken nach den Brotkrümeln auf. Ihre Köpfchen ruckten nach allen Seiten herum, als suchten sie etwas Bestimmtes.

Krächzen mischte sich unter die keifenden Stimmen aus den Fenstern.

Krähen waren es. Tiefschwarze Tiere, eine mehrere Tiere umfassende Gruppe, die in den Innenhof einfiel.

Als würde den Tauben eine plötzliche Gefahr bewusst, verstärkte sich ihre Unruhe. Die ersten Tiere erhoben sich in die Luft. Ihr Gurren klang auf einmal anders. Kürzer und panischer fast.

Während die meisten Tauben wie gelähmt auf dem Boden für eine Sekunde verharrten, stürzten sich die Krähen auf all jene Tauben, die hoch auf das Dach fliegen wollten, wo sie vermutlich eine Öffnung in den Dachboden gefunden hatten, in den sie flüchten wollten.

Mit Entsetzen sah Hermine Duschek, was sich nun in der Luft abspielte. Nicht nur Hermine bekam ein ungewohntes Schauspiel zu sehen, auch all die Bewohner, die an den Fenstern hingen und der alten Frau Duschek die Hölle an den Hals wünschten.

Die Tauben besaßen keine Chance. Krallen und Schnäbel waren die Werkzeuge, die sich tief in das Fleisch der Tauben gruben. Zuallererst flogen die Federn. Die kleineren Tauben wehrten sich nach Kräften, versuchten gewagte Flugmanöver, aber selbst die Flugkünste der Krähen überstiegen jene der Tauben – oder hatte es nur in dem engen Raum, der zur Verfügung stand, den Anschein?

Unwillkürlich hielt sich Hermine Duschek die Ohren zu. Die Schreie der Tauben schmerzten sie selbst. Sie sah die ersten Körper zu Boden fallen, zerzaust und mit blutigen Wundmalen übersät.

Die Rabenkrähen hatten noch nicht genug.

Nachdem sie den Fluchtversuch der ersten Vögel vereitelt hatten, kamen die restlichen Tauben an die Reihe.

In einem ersten Reflex zog Hermine Duschek ihre Beine an und sprang auf der Bank in die Höhe, als könnte sie das vor der heranbrausenden Gefahr retten. Die Krähen flogen dicht an ihr vorbei, streiften sie mit ihren Flügeln.

Irgendwann einmal in dieser Sekunde wurde ihr bewusst, dass die selbst schutzlos den Vögeln ausgeliefert war, wenn diese sie ebenfalls angreifen wollten. Dass es sich um einen gezielten Angriff handelte, erkannte sie intuitiv. Es war nicht normal, dass Krähen die kleineren Tauben angriffen. Die Vögel stritten sich zwar öfter um Futter, diese Streiterei blieb allerdings im üblichen Konkurrenzverhalten um das vorhandene Futter.

Ihr Verhalten war abnormal. Jederzeit konnten die Krähen auch Hermine Duschek angreifen. Ihre Schnäbel waren scharf genug, damit sie ihr gefährliche Wunden schlagen konnten. Es genügte ja schon, wenn sie es auf ihre Augen abgesehen hatten. Die kamen Hermine irgendwie besonders gefährdet vor.

Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, während dessen diese Gedanken ihr Gehirn beherrschten, dann endlich löste sich aus ihrem Mund der befreiende Schrei, der ihre Erstarrung mit einem Mal beendete.

Sie sprang von der Bank und lief die wenigen Schritte bis zur Eingangstür und brachte sich dort in Sicherheit. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür hinter sich zu.

Ihr folgte jedoch keine Krähe.

Die richteten allerdings ein regelrechtes Blutbad unter den Tauben an.

Später, als die Polizei den merkwürdigen Vorfall untersuchte, bemerkte einer der Bewohner, der sich bereits mit Kommentaren hervorgetan hatte, als Hermine Duschek noch mit dem Taubenfüttern beschäftigt war: »Ich hätte es mir zwar anders gewünscht, aber das Problem mit den Tauben wäre damit zumindest gelöst.«

*

In all dem Trubel blieb der Einbruch in die Bibliothek lange Zeit unbemerkt.

Die Entdeckung des Diebstahls geschah erst am nächsten Tag, als Jakub Kopecky sehr schlecht gelaunt aus Prag nach Wien zurückkehrte. Während der Rückfahrt im Zug hatte er krampfhaft überlegt, wer ihm diesen Streich gespielt haben könnte, ihn zu einem Treffen in Prag zu bitten, das offensichtlich nur dazu diente, ihn aus Wien wegzulocken.

Ein schrecklicher Verdacht begleitete ihn, seit er in dem besagten Hotel angekommen war und dort niemand etwas von einem Treffen wusste. Es waren auch keine entsprechenden Räumlichkeiten reserviert worden, und von einer Zimmerreservierung für Jakub Kopecky hatte auch noch niemand etwas gehört. Er dachte augenblicklich an die Schätze, die sich in seiner Wohnung befanden. Einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen, weshalb man ihn weglocken wollte.

Doch hinter welchem Schatz war derjenige her?

Kopeckys Interessen – oder besser gesagt: sein Hobby – bewegten sich in einem engen Gebiet, hier allerdings rühmte er sich, eine bedeutende Sammlung von Büchern zu besitzen, die sich ganz allgemein mit dem Thema Magie und Zauberei beschäftigten, wobei der Unterschied der beiden Begriffe für Kopecky klar war: Zauberei benötigte materielle Hilfsmittel, Zauberei arbeitete mit Illusion und handwerklicher Geschicklichkeit. Man konnte die Dinge in die Hand nehmen. Magie verzichtete auf jegliche physischen Beigaben. Magie spielte sich in der gedanklichen Welt ab, auch wenn die Auswirkungen sich sehr wohl materiell zeigen konnten.

Er besaß einige Werke, die einzigartig auf der Welt waren. Zumindest waren von diesen Werken selbst in Kennerkreisen keine weiteren Exemplare bekannt – und dann gab es noch die Handschriften. Hier sagte der Name bereits, dass es sich um Unikate handelte. Und hier vermutete er, bei seiner Rückkehr einen Fehlbestand zu entdecken.

Der Zug fuhr ihm viel zu langsam. Er hielt es kaum auf seinem Sitz aus. Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, war er der Erste, der aus dem Waggon stürmte und zu der Straßenbahn eilte, als könnte es ihm noch gelingen, den Diebstahl zu verhindern, wenn er jetzt ein paar Minuten früher ankam.

Die letzte Wegstrecke legte er zu Fuß und im Laufschritt zurück.

Bevor er noch das Haus betreten konnte, in dem er die obersten zwei Stockwerke sein Eigen nannte, wusste er, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Vor dem Eingang in den Innenhof baumelte noch ein vergessenes Band einer polizeilichen Absperrung. Ein Einsatzfahrzeug stand zudem vor dem Haus. Und ein Beamter bewachten jeweils einen der vier Eingänge, die zu den Wohnungen in den vier Gebäuden führten, die den Innenhof umschlossen.

Atemlos, weil er so schnell gelaufen war, kam Kopecky bei dem Polizisten an.

»Was ist hier passiert?«, fragte er.

»Wohnen Sie hier?«, kam die Gegenfrage, als müsste sich der Beamte zuerst überzeugen, ob der Fragesteller berechtigt war, eine Antwort zu bekommen.

»Ja«, sagte Kopecky überrascht, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass der Polizist ihm etwa die Antwort verweigern konnte. »Ich bewohne die obersten Etagen, ich wohne dort und habe das Dachgeschoss als Bibliothek ausgebaut.«

»Aha«, sagte der Beamte. »Auf Sie haben wir gewartet. Ich informiere den Inspektor.«

»Weshalb? Wenn sie mir sagen, was geschehen ist …«

»Das war so …« Jetzt erfuhr Jakub Kopecky von dem seltsamen Vorfall im Lichthof, der einer Taubenpopulation das Leben gekostet hatte. Seltsamerweise war von den Krähen keine Spur mehr entdeckt worden – soweit man das bei freilebenden Vögeln bestimmen konnte.

Der Beamte hatte seine Zusammenfassung der Ereignisse gerade zu Ende gebracht, als der Kiminalinspektor im Hauseingang auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jakub Kopecky bei sich allerdings schon längst beschlossen, der Polizei gegenüber einem möglichen Diebstahl nicht anzuzeigen.

2. Kapitel

Nicholas Tulps Gesicht zeigte keine Regung, während er sein Gegenüber musterte, obwohl der Anblick gewöhnungsbedürftig war: groß gewachsen, durchaus schlank, elegant gekleidet, Typ Business-Look der gehobenen Klasse. Der Anzug stammte nicht von der Stange, das sah man ihm an. Tulp hatte es sich angewöhnt, auf jene Anzeichen zu achten, die eine maßgeschneiderte Arbeit erkennen ließen. Diesmal war es der fehlende Faltenwurf unter dem Kragen-Rücken des Jacketts, das sich vollkommen glatt präsentierte. Das Außergewöhnliche stellte die Maske dar, die der Mann trug.

»Sie haben mir Inkognito zugesichert«, sagte der Mann. Anhand seiner Stimme ließ sich das Alter ebenso wenig exakt bestimmen wie an dem fehlenden Blick auf etwaige Fältchen im Gesicht oder an Strähnen im Haar, die eine Verfärbung andeuteten. »Ich muss trotzdem auf Nummer Sicher gehen und habe mich für diese Maskerade entschieden. Ich kann Ihnen zusätzlich nochmals versichern, dass mein Anliegen absolut nicht dem Gesetz widerspricht.«

»Wir haben dieses Detail bereits am Telefon besprochen und ich habe mich einverstanden erklärt, mir Ihr Anliegen anzuhorchen. Ich stehe zu meinem Wort. Zuerst jedoch würde ich von Ihnen gerne wissen, wie Sie gerade auf mich gekommen sind.«

Die Gestalt vor ihm schien sich mit jeder Sekunde sicherer zu fühlen. Ihr ganzes Gehabe deutete darauf hin, dass sich eine innere Ruhe in ihr ausbreitete. »Das ist Ihr gutes Recht. Ich weiß, es ist nicht jedermanns Sache, mit einem anonymen Auftraggeber zu verhandeln, aber ich bin leider gezwungen, diesen Weg zu beschreiten. Ich will keine zusätzliche Gefährdung für Sie und auch für mich heraufbeschwören. Ich will es kurz machen: Man hat Sie mir empfohlen. Ein guter Freund, dem Sie aus der Patsche geholfen haben, hat mich an sie verwiesen. Deutlicher will ich nicht werden, nur so viel, auch bei diesem Fall gelangte keine Information an die Öffentlichkeit. Lediglich in eingeweihten Kreisen geht seither die Rede davon um. Ein Geheimnis sowohl um Sie als auch um den Fall wird geflüstert weitererzählt. Die Wahrheit kennt allerdings niemand. Außer Ihnen natürlich.«

»Der Spekulationen sind viele!«, bestätigte Nicholas Tulp. »Ich weiß, auf welches Ereignis Sie sich beziehen. Werfen wir den Mantel des Schweigens über diese Angelegenheit.«

Tulp wusste, dass der Unbekannte auf seine unbekannte Abstammung anspielte und die Folgen, die sich in ungewöhnlichen Erscheinungen rund ihm abgespielt hatten.

Der Unbekannte nickte. »Sie gefallen mir«, merkte er an und fixierte Tulp mit seinen Augen, als versuchte er ihn zu hypnotisieren. »Ich denke, ich werde mit einem ähnlichen positiven Eindruck von Ihnen dereinst Abschied nehmen können. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass unsere Geschäftsbeziehung für immer geheim bleibt. Aus diesem Grund werde ich auch Ihr Honorar bar begleichen.«

»Sie kennen meinen Preis.«

»Ich bin im Bilde. Wir haben uns auf eine Grundsumme für jeden Tag geeinigt und natürlich die Übernahme sämtlicher Spesen. Dieses Geld steht Ihnen zu bei Erfolg und auch Misserfolg. Im Erfolgsfall können sie mit einer niederen sechsstelligen Summe rechnen. Sie sehen, ich lasse mir die Sache einiges kosten.«

»Klären Sie mich bitte darüber auf, was ich zu tun habe.«

»Einem guten Freund von mir ist etwas gestohlen worden. Ein Buch, um genau zu sein. Ein außergewöhnliches Buch, wie ich zugeben muss. Die meisten Leute könnten damit nichts anfangen, ja, sie könnten es nicht einmal lesen, aber für wenige Auserwählte bedeutet es Macht und Einfluss, wenn man den Inhalt des Werkes entziffern kann.«

»Ihre Andeutungen klingen interessant, allerdings werden Sie nun konkret werden müssen, damit ich mit diesen Angaben etwas anfangen kann.«

Der Unbekannte nickte. »Das Buch, von dem die Rede ist, ist unter Kennern als das »Bataille-Monument« bekannt, das Zauberbuch des berühmt-berüchtigten Hans Stahl.«

»Weder der Titel noch der Autor sagen mir etwas«, gab Nicholas Tulp zu, »aber ich werde mich schlau machen.«

»Für Ihren Auftrag ist es unerheblich, dass Sie über den genauen Inhalt Bescheid wissen. Es nicht notwendig, dass Sie das Buch lesen. Dazu sind Sie vermutlich nicht in der Lage«, sprach der Unbekannte weiter. »Es gibt nur wenige Leute auf der Welt, die mit dem Buch etwas anfangen können – und es gibt noch weniger Diebe, die so ein Buch stehlen können, denn das Buch – wie soll ich sagen – schützt sich selbst. Nicht jeder kann es berühren, es entzieht sich den Händen der Leute unserer Art, und es offenbart nicht sein wirkliches Aussehen. Wenn ich es in die Hand nehmen würde, würde ich lediglich bunte und vollgekritzelte Buchseiten sehen und einen absolut sinnlosen Inhalt entziffern können. Eingeweihte allerdings können daraus die letzten Geheimnisse der Welt lesen, soweit sie Hans Stahl natürlich entschlüsselt hat.«

»Wie soll ich unter diesen Umständen das Buch erkennen?«, wunderte sich Tulp.

»Sie bekommen nicht nur eine genaue Beschreibung des Aussehens – außerdem vermute ich, dass Sie den wirklichen Inhalt des Buches erkennen können. Und Sie können es mit Ihren Händen greifen und festhalten. Vertrauen Sie vorerst meinen Worten. Sie werden im Laufe Ihrer Ermittlungen herausfinden, was es damit auf sich hat.«

»Was bringt Sie zu dieser Vermutung?«

»Sie haben einem Freund von mir sehr geholfen. Der hat mir erklärt, dass Sie offen sind für die Geheimnisse des Lebens. Und dass Sie auf der Suche nach Ihrer wahren Abstammung sind. Ich denke, auch in dieser Sache könnten sich im Laufe der Ermittlungen für Sie neue Hinweise eröffnen Und ich will Ihnen einen weiteren Hinweis geben, wie Sie dieses Buch finden können.«

»Ich bin für jeden Hinweis dankbar«, sagte Tulp ruhig. Die Andeutungen des Unbekannten waren bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Sache interessierte ihn.

»An meinen Ausführungen haben Sie vermutlich bereits erkannt, dass der Kreis der Menschen, die mit diesem Werk etwas anfangen können, relativ beschränkt ist. Das gleiche trifft auf den Kreis der Diebe zu. Ich kann Ihnen sogar den Namen des Diebes verraten. Wo er allerdings zu finden ist, das müssen Sie herausfinden. Und auch wer sein Auftraggeber ist. Allerdings bin ich mir sicher, dass er in dem Kreis der Magier zu finden ist, die sich unter dem Namen »Loge der Zehn« zusammengefunden haben.«

»Der Name verrät mir nichts«, musste Tulp zugeben, machte sich aber eine Notiz. Seine erste Vermutung ging in die Richtung der Freimaurer. Er wusste immerhin, dass die in Logen organisiert waren.

»Sie haben mir den Namen des Diebes noch nicht verraten«, erinnerte er sein Gegenüber.

»Sein Name lautet Gaspard. Nur der Vorname. Ich nehme an, dass er sich lediglich so nennt, aber unter diesem Namen kennt ihn die Unterwelt.«

»Der Name klingt französisch«, merkte Tulp an. »Gibt es einen Hinweis, wo er zu finden ist?«

»Als der Diebstahl geschah, ereignete sich in dem Gebäude, indem sich die Bibliothek befindet, ein seltsamer Vorfall. Er versetzte die Bewohner dieses Wohnblocks in Angst und Schrecken. Eine Schar von Rabenkrähen fiel über die Tauben her, die eine alte Dame im Innenhof fütterte. Die alte Dame erlitt daraufhin einen Schock und ist seither nicht mehr ansprechbar. Von den Tauben überlebte übrigens keine. Gaspard hat auf Auftrag den Diebstahl durchgeführt. Wenn man seinen Namen als Indiz annimmt, liegt die Vermutung nahe, dass der Auftraggeber in Frankreich zu finden ist.«

Nicholas Tulp nickte zustimmend. »Ich denke, dann macht es wenig Sinn, wenn ich hier in Wien nach ihm suche.

Apropos, darf ich fragen, in welcher Stadt Sie leben?«

»Fragen dürfen sie natürlich, eine zufriedenstellende Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Nur so viel: ich halte mich meistens in der Nähe auf, so dass ich jederzeit mit Ihnen in Kontakt treten kann.«

»Woran erkenne ich Sie?«

»Ich bitte Sie, Herr Tulp. Wenn Sie unser Gespräch nicht an die große Glocke hängen, sollte außer uns beiden niemand von unserer Verbindung etwas wissen. Also erübrigt sich ein langwieriges Identifizierungsverfahren.«

*

Nicholas Tulp war gewillt, das Spiel seines Auftraggebers mitzuspielen und dessen Identität geheim zu belassen.

Das Buch hatte man aus dem Besitz von Jakub Kopecky gestohlen. War er sein Auftraggeber? Es lag natürlich nahe, aber Tulp war geneigt, dass ein Dritter die Gelegenheit ausnützte, um in den Besitz des Buches zu gelangen. Weshalb hätte Kopecky seine Identität verheimlichen sollen? Als Bestohlener erschien es legitim, dass er seinen Besitz zurückhaben wollte. Und man gestand ihm auch den Zweifel an einer erfolgreichen Wiederbeschaffung durch die Polizei zu.

Für seinen Auftrag war diese Frage vorerst nicht von entscheidender Bedeutung. Tulp rechnete mit beiden Wahrscheinlichkeiten: Kopecky und einer weiteren Person.

Für einen gewissen Kreis musste das Buch eine enorme Bedeutung besitzen. Das erklärte auch den Diebstahl und die Versuche, das Buch wiederzubeschaffen.

Der Unbekannte und auch Kopecky mochten ihre Gründe haben. Geheimhaltung gehörte ohnehin zu Tulps Job wie das Beichtgeheimnis zum Priesteramt.

Nachdem ihn der mysteriöse Besucher verlassen hatte, saß Tulp eine geschlagene halbe Stunde an seinem Schreibtisch und ließ die Gedanken in seinem Gehirn frei wandern. Das gehörte zu seiner Arbeitsweise. Wie eine Statue saß er die meiste Zeit ruhig auf seinem Stuhl und nur alle paar Minuten variierte er ein wenig seine Sitzhaltung, dann war er sich über sein weiteres Vorgehen im Klaren.

Er musste nach Paris.

Gaspard war Franzose. Es lag nahe, dass sein Auftraggeber ebenfalls Franzose war. War die Übergabe des gestohlenen Buches bereits erfolgt?

Von Wien aus konnte er das nicht feststellen.

Zuallererst informierte er sich, wie er am schnellsten nach Paris gelangte. Naheliegend war das Flugzeug als Verkehrsmittel, allerdings musste er gleich die Verfügbarkeit überprüfen. Das war eine Sache von vier Minuten. Die Buchung des Fluges nahm ein paar Minuten mehr in Anspruch. Bis zum Abflug blieben ihm noch fünf Stunden. Zeit genug, für eine Bleibe in Paris zu sorgen und einen dort arbeitenden Kollegen von seiner Ankunft zu informieren.

*

»Du wandelst wieder auf den alten Spuren«, sagte Gerard Roux. Er schüttelte gleichzeitig den Kopf, als wollte er ihm andeuten, dass er nicht damit einverstanden war, dass er sich erneut auf so eine mysteriöse Sache eingelassen hatte.

»Es ist ein neuer Fall. Er hat nichts mit unserer gemeinsamen Vergangenheit zu tun«, versicherte er seinem alten Freund. »Ich habe absolut kein Interesse, erneut in meiner Vergangenheit herum zu wühlen. Ich habe eingesehen, dass es sinnlos ist.«

Gerard Roux klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. »Nichts für ungut, alter Freund. Es freut mich, dass du dich wieder einmal blicken lässt.« Ihre Begrüßung fiel herzhaft und kurz aus, danach führte Roux ihn in sein Arbeitszimmer, vorbei an seiner skeptisch blickenden Frau, die als seine Vorzimmerdame und Sekretärin tätig war. Sie übernahm diesen Job in schöner Regelmäßigkeit, wenn sein Verdienst zu wünschen übrigließ. Jetzt war es anscheinend wieder einmal so weit.

Tulp erklärte ihm die Fakten und schilderte sein Problem

»Da hast du dir etwas aufgehalst, das dich Kopf und Kragen kosten kann«, meinte Roux und blickte besorgt, ehe er unvermittelt aufstand und kurz sein Büro verließ. Nach einer halben Minute kehrte er zurück.

»Ich habe veranlasst, dass sämtliche Zugänge doppelt gesichert werden«, sagte er. Aus seinem Gesicht war jede Spur von einem freundlichen Lächeln verschwunden. »Bist du dir im Klaren, in welches Wespennest du hineinstichst?«

»Du weißt offensichtlich mehr als ich«, gab Tulp zurück. »Was versetzt dich so in Panik?«

»Weißt du, wer Gaspard ist?«

»Ich bin zu dir gekommen in der Hoffnung, dass du mich aufklärst.«

»Gaspard ist ein Dieb, ja. Aber er ist mehr als das. Ein Dieb besonderer Art, könnte man sagen. Er arbeitet nicht für jeden. So viel weiß man über ihn. Manche bezichtigen ihn, mit dem Teufel im Bunde zu sein. das ist natürlich kompletter Nonsens, aber erklärt auf simple Weise, weshalb er nicht zu fassen ist. Man sagt ihm eine unheimliche Beherrschung von Tieren nach. Er kann sie zu Handlungen lenken, die untypisch für diese Tiere sind. Kein Polizist gelangt in seine Nähe. Immer lenken sie Ratten, Vögel oder anderes Getier, das gerade zur Stelle ist, vom Eingreifen ab. Ein Mann wie Gaspard ist nicht zu fassen, es sei denn, er verspürt den Wunsch, sich mit dir zu unterhalten.

Wenn du dachtest, ich könnte dich zu ihm führen, muss ich dich leider enttäuschen. Ich kann dir mit Hinweisen und Vermutungen dienlich sein, ich kann dir vielleicht einige Hintergründe erhellen, aber eine konkrete Lösung deines Problems kann ich nicht anbieten.«

»Dessen war ich mir von Vorneherein bewusst. Aber ich hänge in der Luft. Wie erkenne ich Gaspard«, kam Tulps erste Frage.

»Damit fängt das Problem bereits an. Gesicherte Kenntnisse sind rar. Er ist ein Mann, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Eine ungewöhnliche Erscheinung. Jene, die ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden sind, haben von einem erschreckenden Anblick erzählt. Jede Beschreibung weicht allerdings so stark von einer anderen ab, dass nur wenige Gemeinsamkeiten überbleiben. Gaspard hat die Angewohnheit, sein Gesicht im Schatten zu verbergen, so dass sämtliche Zeugen sich lediglich darüber einig sind, dass seine Augen strahlen. Sie verbreiten so etwas wie einen strahlenden Kranz von Licht, der den Rest seines Gesichts im Verborgenen hält. Zu erkennen sind lediglich die tiefen Falten, die jedem Zeugen aufgefallen sind. Gekleidet ist er ganz in Grau, von den Schuhen bis zu der Kapuze. Er erinnert an ein Chamäleon, so vollständig soll er mit der Umgebung verschmelzen können.«

»Das ist immerhin schon etwas«, meinte der Wiener Detektiv. »Das beschreibt natürlich nur seine Arbeitskleidung. Wie er sich im Privatleben kleidet und gibt, wird sich wesentlich davon unterscheiden.«

»Das ist zu befürchten«, sagte Roux und stand wieder auf. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Einen ausgezeichneten Cognac? Wenn du erst einmal seine Spur aufgenommen hast, wirst du nicht mehr dazu kommen, dich eines leiblichen Genusses erfreuen zu können.«

»Du machst mir Angst«, unkte Tulp. Er blickte ihm zu, wie er zwei Cognacschwenker drei Finger breit füllte. Anschließend verschloss er sorgfältig die Flasche und stellte sie in den Barschrank zurück, den er danach ebenfalls schloss. Wer Roux kannte, wusste, dass das bedeutete, ein zweites Glas gab es vorerst nicht. Da musste schon etwas Außerordentliches geschehen oder eine überraschende Erkenntnis aufgetaucht sein, damit er seine Prinzipien umstieß.

Sie prosteten sich zu. Das Getränk wärmte angenehm. Tulp erkannte seine hervorragende Qualität nach dem ersten Schluck.

»Dieser Cognac wird in einem Weingut nahe Bordeaux abgefüllt. Ein Freund von mir. Sein Geschäft mach er eigentlich mit Tischwein, seine Freude gehört allerdings diesem Destillat. Obwohl er auf jede Werbung verzichtet, ist er meist ausverkauft, bevor er überhaupt mit dem ersten Brennen beginnt. Ich sehe dir an, dass er dir mundet, deshalb verrate ich dir gleich, wie sinnlos es ist, ihn bei mir zu ordern. Weshalb ich darauf zu sprechen komme, hängt mit Gaspard zusammen. Mein Freund ist ein Opfer der Kunst von Gaspard geworden. Sein Cognac ist vor einigen Jahren durch Zufall zu einem Sommelier in Rennes gekommen und als ausgezeichnet erkannt worden. Das hat eine Reihe von Interessenten auf den Plan gerufen, die aus sehr betuchten Kreisen stammen.

Unter anderem einen Herrn, dem man eine Naheverhältnis zum Zirkel der Merlin-Söhne nachsagt.«

Er legte eine Pause ein und beobachtete Tulps Reaktion auf die Nennung der Bezeichnung Merlin-Söhne. In der Tat stieß der Detektiv einen lauten Schnaufer aus.

»Jetzt fehlt mir nur noch der Name«, erinnerte Tulp ihn, weil er plötzlich schwieg.

»Ja. León Morin ist sein Name. Morin ist ein Träumer. Er spürt den alten Vorstellungen von Zauber und Magie nach, von deren Wirklichkeit er überzeugt ist. Das hat ihn in den Zirkel der Merlin-Söhne gebracht. Die Mitglieder berufen sich auf die Verwandtschaft mit dem Zauberer Merlin. Einer der ersten Söhne – ihrer Vorstellung nach – war jener berühmte Merlin, der in Großbritannien König Artus auf den Thron verholfen hat.«

»Gibt es diesen Zirkel immer noch? Ich habe ihn stets für ein Märchen gehalten.«

»Wahrscheinlich ist auch nicht mehr dahinter. Die Vereinigung gibt es noch. Dem Vernehmen nach handelt es sich um alte Männer, die nicht wahrhaben wollen, dass die Welt nach Naturgesetzen funktioniert.«

»Aber in diesen Kreisen kann es Interessenten geben, die das Bataille-MonumentBuch interessiert«, vermutete Tulp.

»Deshalb habe ich dir diese Geschichte erzählt. Hier kannst du mit deinen Recherchen ansetzen. Morin ist sicherlich nicht der Auftraggeber des Diebstahls, über ihn findest du vielleicht zu einem anderen Mitglied Kontakt, das enger mit der Führungsriege in Kontakt steht.«

»Dieser Jemand wird nicht so ohne Weiteres die Geheimnisse des Zirkels ausplaudern«, fürchtete Nicholas Tulp.

»Wieso nicht. Die Söhne Merlins gehören nicht zu diesen Geheimbünden, die eisern ein gemeinsames Geheimnis hüten, sondern stehen im realen Leben in beinharter Konkurrenz untereinander. Sie sind Suche des Wissens. Hier will jeden den anderen übertrumpfen. Sie sehen in der gesunden Konkurrenz den optimalen Antrieb. Es gibt keine Geheimnisse, die sie nicht weitergeben dürfen. Sie nehmen es vielleicht mit der Wahrheit nicht ganz so genau, aber sie achten peinlich darauf, sich innerhalb der Gesetze Frankreichs zu halten. Diebstahl gehört nicht dazu. Gut möglich, dass allein aus diesem Grund mancher bereit ist, einen Verdacht auszusprechen, der zu dem gestohlenen Buch führt.«

*

Das Problem, vor das sich Nicholas Tulp gestellt sah, lautete schlicht und einfach:  Wie konnte er die Spur aufnehmen?

Er kannte sich in Paris leidlich aus. Im Zentrum getraute er sich zu, ohne einen Stadtplan die wichtigsten Touristen-Hotspots zu finden.

Ein Dieb hängte seinen Aufenthaltsort naturgemäß nicht an die große Glocke.

León Morin sollte sich nach Aussage seines Freundes in Paris aufhalten, so dass er sich die Reise zu dem Weingut sparen konnte.

Morin konnte mit den Namen Roux Gott sei Dank etwas anfangen. Obwohl er über den Besuch des Privatdetektivs alles andere als erfreut war, empfing er ihn. »Sie haben die weite Reise von Wien hierher nicht gescheut, das gefällt mir, denn es beweist ihre Hartnäckigkeit. Das muss irgendwie belohnt werden, obwohl ich Ihnen in der eigentlichen Sache nicht weiterhelfen kann.«

León Morin sah nicht aus wie jemand, der sich mit okkulten Geheimnissen beschäftigte, eher wie ein betuchter Geschäftsmann, der im maßgeschneiderten Seidenanzug seinen Reichtum genoss. An seinem Äußerem stimmte jedes Detail. Seine graumelierten Haare sahen topfit aus. Man sah ihnen an, dass der alte Herr ohne Haarspray auskam. Trotz seines Alters besaß Morin seinen vollen Kopfschmuck. Von einer Glatze war nichts zu bemerken. Lediglich die Falten, die sich rund um seine Augen vor allen an den Seiten angesiedelt hatten, zeugten von seinem Alter. Tulp wusste zufälligerweise von seinem Pariser Freund, dass León Morin die Sechziger weit überschritten hatte. Man konnte ihn kurz als elegante Erscheinung beschreiben.

»Vielleicht können Sie doch weiterhelfen«, hoffte Tulp und erklärte die Hintergründe, soweit sie ihm bekannt waren. Er erzählte von dem Vorfall in Wien, den Morin sich ungerührt anhörte, lediglich als die Tatsache zur Sprache kam, dass die Krähen ein Rudel Tauben massakriert hatten, zeigte er eine Regung.

León Morin horchte Nicholas Tulp weiter ruhig zu und erst als dieser sein Anliegen vorgebracht hatte, ergriff er das Wort.

»Natürlich kenne ich das Bataille-Monument, und natürlich lehne ich die Methode ab, wie das Buch seinen Besitzer gewechselt hat. Bei aller Konkurrenz, die unter den Mitgliedern unseres Zirkels herrscht, ich traue niemandem eine solche Gemeinheit zu. Sie verstößt eindeutig gegen den Ehrenkodex, der unter uns herrscht. Ich kann Ihnen folglich nur den guten Rat geben, Ihre Ermittlungen auf eine andere Spur zu konzentrieren. Vielleicht führt diese zum Erfolg.«

Unvermittelt stand er auf und schritt zu einem kleinen Ablagetisch, auf dem mehrere Zeitungen ausgebreitet waren. Mit einem sicheren Griff fischte er eine Zeitung heraus, blätterte kurz darin und hielt Tulp die geöffnete Zeitung vor Augen.

»Nehmen sie diese Zeitung. Ich benötige sie nicht mehr. Ich habe Ihnen die entsprechende Nachricht aufgeschlagen. Suchen Sie diesen Bezirk auf und warten sie ab, was sich tut.«

»Können Sie sich näher erklären?«, fragte Tulp hoffnungsvoll.

»Nein, das kann ich nicht, oder anders ausgedrückt: ich will nicht. Ich kann den Mächten, die Sie suchen, nicht befehlen. Die Entscheidung, ob sie einen Hinweis bekommen, liegt nicht bei mir.«

*

Nicholas Tulp kam alles reichlich mysteriös vor. Bereits als sein Freund Roux ihm von dem Zirkel der Söhne-Merlins erzählt hatte, war er nahe daran gewesen, alles als Unsinn abzutun, was man versuchte, ihm hier aufzutischen. Nach seinem Besuch bei Morin verstärkte sich dieses Empfinden sogar. Weshalb tat der Mann so geheimnisvoll? Wollte er damit lediglich die Wirkung verstärken, die man seinem Zirkel zusprach? Die Bereitschaft der Menschen, sich von der Wissenschaft abzuwenden und sich den spirituellen Erkenntnismöglichkeiten zuzuwenden, war in den letzten Jahren stetig gestiegen.

Lag ein Grund vielleicht darin zu suchen, dass es diese Pfade neben der rationalen Wissenschaft wirklich gab?

Tulp kämpfte sogar eine Zeitlang mit sich, ob er den Rat von Morin befolgen sollte. Schließlich siegte seine Neugierde doch und er wandte sich erneut dem Artikel in der Zeitung zu. Bereits in der Wohnung von Morin hatte er die Überschrift und den fett gedruckten Aufmacher überflogen, daraus allerdings nichts Brauchbares für sich entdecken können.

Nun saß er in einem Café und las den Artikel erneut aufmerksam durch.

Der kurze, sensationell aufgemachte Artikel beschrieb die Auffindung einer Toten, deren Todesursache mehr als mysteriös war. Als auffallendes Merkmal konnte man eine unübliche Masse von Keller-Asseln anführen, die rund um den Körper aufgetürmt waren. Die meisten der Tiere waren erdrückt worden. Die Tote musste einen längeren Todeskampf mitgemacht haben. Seltsamerweise fanden sich weiters keine Spuren einer äußeren Gewaltanwendung. Die Vermutung des Journalisten – und vermutlich auch der Polizei und der Ärzte – ging dahin, dass die Tiere in die Atemwege gekrochen waren und damit das Opfer ersticken ließen.

Nicholas Tulp überlegte lange, wo eine Verbindung zu seinem Fall zu finden sein könnte und kam letztlich zu dem Schluss, dass als einziges verbindendes Element die Tierwelt überblieb.

Gerard Roux war mit von der Partie. Sie verließen die Metro in der Nähe des Tatorts und suchten die angegebene Adresse auf.

Es war eine der typischen Mietskasernen. Grau in Grau. Im Stiegenhaus sollte sich der Vorfall ereignet haben.

Gerard Roux griff nach dem Türknauf. Im nächsten Moment schrie er auf. Ein Blitz zuckte um seine Hand und erschrocken zog er seine Hand zurück.

»Was war das?«, schrie er und besah sich seine Hand. Deutlich hatte er die Lichterscheinung gespürt. Er hatte sie nicht nur gesehen. Selbst jetzt fühlte er noch den Nachhall der Wärme, der ihn Sekundenlang umgeben hatte. Äußerlich sah die Hand unversehrt aus, wenn man davon absah, dass sie eine gesunde rote Farbe besaß. Zum Vergleich hielt Roux die andere Hand daneben. Man konnte deutlich den Unterschied in der Farbe erkennen.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, fluchte Roux und zog den Ärmel seines Pullovers über die Faust. Er dehnte den Stoff so weit aus, dass er gerade noch seine Form behielt. So wollte er erneut nach dem Türknauf greifen.

»Halt!«, rief Tulp, »so geht das nicht!«

»Irgendwie müssen wir hineingelangen. Kennst du einen anderen Weg, als durch eine Türe in ein Haus zu kommen?«

»Es geht nicht um die Türe, sondern um den Kontakt«, erklärte Tulp. »Ich zeige es dir.«

Nicholas Tulp hatte die Szene noch direkt vor Augen, als sein Freund nach dem Türknopf gegriffen hatte. Er wusste nicht, was er war, aber es musste eine Sperre vorhanden sein, die auf etwas reagierte, das Roux anhaftete.

Auch auf ihn?

Vorsichtig näherte er seine Hand dem Türknauf – und tatsächlich, als ihn nur noch ein Hauch von einem Millimeter trennte, umspielte ein heißes Licht den Türknauf. Auch Tulp spürte die Wärme.

Fragend blickten sich die beiden an.

»Wie kommen die Hausbewohner hinein und hinaus?«, überlegte Roux.

»Die Sperre reagiert vielleicht nur auf Fremde«, vermutete Tulp. Er blickte den runden Türknopf an. Wenn sie Glück hatten, war der Schnapper offen. Dann konnte er die Tür mit dem Gewicht seines Körpers öffnen. Schwieriger war es dann, wenn der Knauf gedreht werden musste.

Nicholas Tulp besah sich seinen Schuh. Er trug Mokassins mit einer dicken Gummisohle. Das müsste gehen, überlegte er. Die Gummischicht sollte als Isolation genügen.

Bevor er seinen Freund informieren konnte, hob er seinen Fuß und stieß ihn gegen die Tür.

Mit einem Knall flog sie auf, prallte an die Gangwand und kam wieder zurück. Bevor sie jedoch zuschlagen konnte, huschte Nicholas Tulp in den Gang. Mit dem Rücken stieß er die Tür erneut auf. Gerard Roux folgte augenblicklich.

Keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Moment erfüllte ein Brausen den engen Gang und jedes Licht erstarb. Absolute Dunkelheit umgab die beiden Männer plötzlich. Der brausende Ton ebbte ab. Dafür ertönte ein tiefes Brummen, das von lichtschwachem Flackern begleitet wurde.

Eine Gestalt näherte sich.

Nicholas Tulp spürte plötzlich Atemschwierigkeiten. Er machte eine hastige Bewegung, zog tief die Luft in seine Nase ein. Neben sich vernahm er das heftige Atemgeräusch seines Freundes. Er hatte mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen.

Das Gefühl, ersticken zu müssen, legte sich glücklicherweise nach wenigen Sekunden. Schwer atmend standen beide dann da und blickten der Gestalt entgegen, die auf sie zukam. Mit jedem Schritt, den sie auf sie zu tat, wurde auch das Licht stärker. Ein Gefühl der Unwirklichkeit kam in Tulp hoch. Die Konturen der Gestalt wollten sich nicht verfestigen. Deutlich konnte er erkennen, dass sie in der Grundform einem weiblichen Körper entsprach, aber irgendwie doch gänzlich anders wirkte.

Merkwürdigerweise empfand Nicholas Tulp in diesen Sekunden der Ungewissheit absolut keine Angst und fürchtete auch keine Gefahr. Sein Bewusstsein akzeptierte die Realität vorbehaltlos. Die Unmöglichkeit dessen, was er hierzu sehen bekam, nah er einfach hin. Er konnte später darüber nachdenken, was hier vor sich ging.

Nur einen Schritt von ihnen entfernt blieb die Gestalt stehen. Es handelte sich tatsächlich um eine Frau – gute zwei Meter groß, angetan mit einer knappen Hose, die kaum ihre Hüfte umschloss, und Halbstiefel. Beides stellte ihre einzigen Kleidungsstücke dar. Damit endetet die menschliche Entsprechung.

In dem blassen Licht erschien alles dunkel an ihr, ihre wilden Haare, ihre Kleidungsstücke. Ihre Haut umgab ein blasser Schimmer, der erkennen ließ, dass sie weder weiß noch schwarz war, sondern irgendwo dazwischen. Nur ihre Augen ließen so etwas wie Farbe erahnen. Sie leuchteten in einem hellen Rot. Sie bildeten einen deutlichen Kontrast zu der übrigen Erscheinung. Selbst ihre Zähne erwiesen sich als schwarz, als sie den Mund öffnete.

Ihre Andersartigkeit zeigte sich jedoch am deutlichsten an den mächtigen Schwingen, die aus ihrem Rücken wuchsen und rückwärts an ihren Armen entlangliefen.

Stumm musterten sie sich gegenseitig. Jeder versuchte wohl, den anderen einzuschätzen, zu eruieren, ob man einem Feind gegenüberstand oder jemandem, den man als Verbündeten gewinnen konnte.

»Wir suchen denselben Mensch!« Ihre Stimme klang wie ein raues, tief gestimmtes Instrument, das keinen klaren Ton zustande bringen konnte. »Wir sind keine Feinde! Der Feind ist derjenige, der versucht hat, euch am Betreten zu hindern!«

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich in keinster Weise, als sie sprach. Nicholas Tulps Augen hingen an ihrer Gestalt wie an einem Wunder. Er konnte sie nirgends zuordnen.

»Wer bist du?«, brachte er schließlich hervor, als ihn das Gefühl ergriff, dass er irgendetwas sagen musste, bevor die Situation in eine Peinlichkeit ausartete. Sein Freund Roux schien zur Säule erstarrt zu sein und keinen Gedanken, geschweige denn ein Wort hervorbringen zu können.

»Nenne mich Desdämona – eine Buchstabenfolge ist so gut wie eine andere, aber ich lese aus deinem Gedächtnis, dass du damit etwas anfangen kannst.«

»Du kannst meine Gedanken lesen? Dann brauche ich mich wohl nicht vorzustellen.«

»Deine Gedanken sind nicht so interessant, dass ich sie lesen muss. Aber ja, ich weiß, wer du bist. Du suchst einen Dieb und das, was er gestohlen hat. Und das, was er gestohlen hat, das suche ich ebenfalls. Denn das Buch birgt für deine wie auch meine Welt eine große Gefahr.«

»Dann sollten wir uns zusammentun«, schlug Tulp spontan vor.

Desdämona deutete auf Roux. »Er kann uns nicht helfen. Ich dringe nicht zu ihm durch. Er stört meine Wahrnehmung.«

»Was bedeutet das?«

»Dies ist nicht meine Welt. Hier kann ich nichts bewegen. Er sorgt dafür, dass das Wenige, das ich bewirken könnte, hinter einem Schleier verschwindet und mich erblinden lässt. Ich bin hilflos in seiner Nähe. Solange er anwesend ist, bin ich hilflos.«

In Sekundenschnelle sammelte er alles Wissen, das ihm über Geister-Gespenster als gesichertes Wissen bekannt war. Diese »ätherischen Wesen« konnten sichtbar und unsichtbar in der Welt der Menschen wandeln, waren aber nur in den seltensten Fällen in der Lage, Gegenstände zu berühren oder gar zu bewegen.

»Wieso? Bist du nicht körperlich hier?« Diese Möglichkeit schoss ihm von einer Sekunde zur anderen durch den Kopf. Die Unterscheidung von spiritueller und materieller Gestalt stand ihm mit einem Mal klar vor Augen. Ihre nächsten Worte bestätigten seine Vermutung.

»Irgendwie ja, irgendwie nein. Dein Freund stört meine Wahrnehmung.«

»Ich brauche aber seine Hilfe.«

»Entscheide dich! Er oder ich. Ich biete dir Wissen, das dir unbekannt ist. Was er dir bietet, weiß ich nicht. Aber in diesem Fall musst du auf meine Hilfe verzichten! Vertraue mir!«

»Wie sollte ich? Ich kenne dich nicht.« Tulp schwankte jedoch in seiner Ablehnung dieses so unvermittelt aufgetauchten Wesens. »Wie kommt es, dass wir uns unterhalten können?«

»Wir sind vom gleichen … Ort? Ich kann es nicht genauer ausdrücken. Aber wenn ich dich an den Ort geführt habe, den du suchst und an dem du dein Ziel erreichst, wirst du wissen, weshalb.«

*

Schließlich willigte Tulp ein, ohne seinen Freund Roux der sphärischen Gestalt der geflügelten Dämonin zu folgen. Er war sich des Risikos bewusst, denn Desdämona gehörte zu jenen verführerischen Dämoninnen, die in der Lage waren, Männer mit ihren körperlichen Reizen in den Wahnsinn zu treiben.

Als er ihr die Treppen in das nächste Stockwerk hinauf folgte, bemerkte er, dass ihre Füße den Boden gar nicht berührten. Sie schien zu schweben, dennoch erfolgten ihre Bewegungen so, als würde sie in einer anderen Welt ebenfalls eine Treppe ersteigen.

In dem langen Gang herrschte ein trübes Dämmerlicht, das zwar Einzelheiten erkennen ließ, zahlreiche Details aber im Dunkeln ließ.

»Ich zeige dir, was geschehen ist. Erschrick jetzt nicht. Du siehst dich zwar mitten im Geschehen, aber niemand kann dich wahrnehmen. Zu dem Zeitpunkt, als es geschah, warst du nicht anwesend.«

Im nächsten Moment blendete Tulp das helle Tageslicht, das durch ein Fenster hereinfiel. Die Sonne schien direkt durch das Fenster. Das bedeutete nichts anderes, als dass die Sonne bereits sehr tief stand. Für Tulp bildete das den eindeutigen Beweis, dass er seine Zeit verlassen hatte. Im gleichen Moment erinnerte er sich, in dem Artikel gelesen zu haben, dass der Mord an der jungen Frau in den späten Nachmittagsstunden geschehen war.

»Die Frau, die du gleich sehen wirst, heißt Valerie Vandell. Sie ist lediglich eine Botin jenes Mannes, der Gaspard den Auftrag für den Diebstahl gegeben hatte. Sie sollte hier dem Dieb einen weiteren Auftrag übergeben. Gaspard hingegen wollte das gestohlene Buch so schnell wie möglich loswerden, denn er ist sensibel genug, damit er die Gefahr spürt, die von dem Buch ausgeht. Was nun passiert, ist sein Ausdruck der Wut, weil Valerie Vandell nicht bereit war, das Buch entgegenzunehmen.«

Die Stimme Desdämonas war noch nicht ganz verklungen, als Nicholas das Trippeln von spitzen Stöckelschuh-Absätzen vernahm. Gleich darauf bog eine junge Frau in den Gang. Sie trug ein leuchtend rotes Oberteil und einen enganliegenden Rock in einem gegen das Oberteil verblassenden Rot. Sie schimpfte lautstark.

Hinter ihr erschien Gaspard.

Nicholas Tulp sah nun das erste Mal dieses Gesicht, von dem ein Schrecken ausging, der schwer in Worte zu fassen war.

»Mein Mandant erwartet dich in Wien. Das ist alles, was ich sagen kann! Und den Auftrag habe ich dir schriftlich ausgehändigt.«

»Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Ausgemacht war etwas anderes!«

Die Frau, Valerie Vandell, blieb plötzlich stehen und drehte sich abrupt um. »Ich bin lediglich die Übermittlerin. Mit mir wurde das ausgemacht, was ich nun umgesetzt habe!«

»Nehmen sie das Buch! Wie es in die Hände meines Auftraggebers gelangt, ist nicht mehr meine Sache!«

»Nein!«, schrie Valerie und wollte weitergehen, und da spürte sie das Krabbeln überall auf ihrem Körper. In einer instinktiven Bewegung fuhr sie mit dem Arm über ihr Gesicht und wischte sicherlich eine zweistellige Zahl von Käfern von ihrer Mund- und Nasenpartie fort. Das Kribbeln hörte jedoch nicht auf. Erst jetzt warf Valerie einen Blick auf ihre Hand und bemerkte, was verantwortlich war für das ungute Empfinden auf ihrer Gesichtshaut.

Ein Schrei löste sich von ihren Lippen. Sie musste den Mund dafür öffnen. Diese Gelegenheit nutzten Dutzende von Käfer, um in ihren Mund zu krabbeln. Und auch die Öffnungen ihrer Nase boten sich für die Käfer an. Valerie wehrte sich wild, fuhr mit Armen und Händen über ihr Gesicht, spuckte und blies verzweifelt die Luft aus der Nase, doch es half ihr nicht mehr. Irgendwann einmal erstickte sie, weil die Käfer die Luftröhre blockierten.

Der Todeskampf von Valerie Vandell dauerte mehrere Minuten, dann war sie nicht mehr fähig, das Buch entgegenzunehmen.

Die Dämonin wartete nicht ab, welchen Eindruck das Geschehen auf Tulp hinterließ. Sie sprach ihn direkt an: »Du bist um einen Tag zu spät gekommen. Wärst du gestern bereits hier gewesen, du hättest das Buch an dich nehmen können. Ich bin leider nicht fähig dazu.«

Es half nichts, einer verpassten Chance nachzuweinen.

Die Vergangenheit zeigte ihm noch eine letzte Begebenheit. Während die Frau ihren Todeskampf ausfocht, schlug Gaspard das Buch wieder in ein Tuch und verbarg es unter seinem weiten Gewand. Bevor sich der Dieb endgültig abwandte, warf er noch einen Blick auf die Frau, die ruhig dalag. Sie hatte ihren Kampf verloren.

*

Nicholas Tulp schilderte seinem Freund Gerard Roux detailreich die Erlebnisse, die ihm widerfahren waren. Bei seiner Beschreibung des Geschehens verzichtete er vorsichtshalber darauf, die körperlichen Vorzüge von Desdämona zu erwähnen. Kurz hatte Roux sie ja zu Gesicht bekommen. Ihrer Anziehungskraft wurde er sich so richtig bewusst, als er versuchte, seinem Freund die Gestalt so zu schildern wie einen xbeliebigen Dämon, dem man besser nicht begegnete. Ihm allerdings schwebten ihre festen Brüste, ihre ausladende Hüfte und ihre bloßen Schenkel bei jedem Wort vor Augen, weniger die Flügel, die sie jenseits allen weiblichen rückten. Als plötzliche Erkenntnis wurde ihm schlagartig bewusst, dass Desdämona ihn sexuell anzog. Er musste sich richtiggehend bemühen, sie aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Ist auch dafür ein Zauber verantwortlich? überlegte er später.

Gerard Roux kannte den Namen Desdämona und wusste über die Verführungskünste dieser Liebesdämonin durchaus Bescheid. Jetzt, im Nachhinein, tat es ihm leid, dass er sich nach ihrem Erscheinen so schnell hatte abwimmeln lassen. Er hätte sich gerne davon überzeugt, ob es stimmte, was man sich über ihre Verführungskünste erzählte.

3. Kapitel

Gaspard befand sich wieder in Wien.

Hier, inmitten zwischen den Buden des Naschmarkts, wanderte er auf und ab und wartete darauf, dass sein Auftraggeber sich zu erkennen gab.

Bislang hatte Gaspard nur über elektronische Medien mit ihm Kontakt gehabt. Nun, da die erste finanzielle Transaktion sein Konto gut gefüllt hatte, war es an der Zeit, die Übergabe hinter sich zu bringen.

Der Auftraggeber hatte diesen Markt gewählt, weil er glaubte, hier am ehesten in der Menge untertauchen zu können, zählte der Naschmarkt doch zu den Besucherhotspots, den nicht nur jene Menschen bevölkerten, die hier ihre Einkäufe tätigen wollten. Das vielfältige Angebot an exotischen Speisen aus aller Welt hatte, seit er Eingang in die Reiseführer aus aller Welt gefunden hatte, dazu geführt, dass die Besuchermassen den Markt regelrecht überfluteten. Hier herrschte das, was man allgemein als kulturelle Vielfalt bezeichnete.

In diesem Umfeld fiel auch Gaspard nicht auf. Er, der andernorts als unheimliche Gestalt sofort ins Auge stach, fügte sich in das exotische Bild des internationalen Marktlebens harmonisch ein.

Das Buch des Hans Stahl hatte er bei sich. Wie immer. Er wagte es nicht mehr, es aus seiner Hand zu legen. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn es ihm, dem Dieb, gestohlen würde, denn zwischenzeitlich wusste er um die Gefahr, die diesem Werk innewohnte, Bescheid. Seine bisherigen Versuche, es seinem Auftraggeber zukommen zu lassen, waren stets daran gescheitert, dass seine Kontaktleute mehr über dieses Buch zu wissen schienen als er. Also hatte er sich schlau gemacht. Kopecky, dem er das Buch gestohlen hatte, war lediglich durch Zufall in den Besitz dieses Werkes gekommen und wusste aus diesem Grund auch nicht um die Gefahr, die dem Werk innewohnte. Nun, nach dem Diebstahl, dürfte ihm erst klar geworden sein, welchen Schatz er besessen hatte. Da verstand es sich von selbst, dass er alle Hebel in Bewegung setze, um das Werk wieder in seinen Besitz zu bringen.

Kopecky konnte allerdings die Schrift nicht entziffern. Im Prinzip konnte er mit dem Buch also gar nichts anfangen. Ihm hatte ursprünglich das Buch rein optisch als Gegenstand zugesagt, deshalb hatte er es erworben, auch weil ihm der Inhalt des Werkes zusagte, über den er nur insofern informiert war, als es eine magische Kostbarkeit darstellte. Somit passte es gut in seiner Sammlung von Büchern ähnlichen Inhalts. Sein Wert lag für ihn als Büchernarr mehr im Ideellen. All das war jedoch zweitrangig. Er wollte es einfach zurückhaben. Jeder, der bereits einmal ein Opfer eines Diebes geworden war, verstand diese Haltung.

*

Kolpak streifte, unsichtbar für die Menschen dieser Seite Wiens, durch den Markt. Hätten sie ihn zu Gesicht bekommen, wäre die Panik unvermeidbar gewesen. Er glich einem zu Fleisch gewordenen Alptraum. Es gab eigentlich nichts, womit man ihn vergleichen konnte. Vielleicht ähnelte er am ehesten einer der dämonischen Figuren, wie sie auf mittelalterlichen Kirchenbauten als Abschreckung für die Gläubigen zu sehen waren, oder Bildnisse, die den Teufel in der Hölle verkörperten, um den Schrecken zu verdoppeln.