Unser kreatives Gehirn - Dick Swaab - E-Book

Unser kreatives Gehirn E-Book

Dick Swaab

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Beschreibung

Dick Swaab beschreibt in seinem ebenso informativen wie zugänglichen Grundlagenbuch zur Hirnforschung, wie die Entwicklung unseres Gehirn durch unsere Umwelt beeinflusst wird. Unser Leben ist komplex: Wir arbeiten, treiben Sport, befassen uns mit Kunst und Musik, sind Teil eines großen sozialen Gefüges. Wie wir leben, was wir tun, aber auch was wir erleiden, das alles prägt unser Gehirn. Der international renommierte niederländische Hirnforscher Dick Swaab beschreibt in seinem neuen Buch, wie unsere jeweilige Umgebung und ihre spezifischen Reize die Entwicklung unseres Gehirns bestimmen. War Swaabs letztes Buch "Wir sind unser Gehirn" ein Blick in unser Inneres, richtet der populäre Wissenschaftler nun den Fokus auf die die Wechselwirkung zwischen der Welt und unserem Gehirn.

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Seitenzahl: 816

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Dick Swaab

Unser kreatives Gehirn

Wie wir leben, lernen und arbeiten

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Knaur e-books

Über dieses Buch

Unser Leben ist komplex: Wir arbeiten, treiben Sport, befassen uns mit Kunst und Musik, sind Teil eines großen sozialen Gefüges. Wie wir leben und was wir tun, aber auch was wir erleiden, das alles prägt unser Gehirn. Der international renommierte niederländische Hirnforscher Dick Swaab beschreibt in seinem neuen Buch, wie unsere jeweilige Umgebung und ihre spezifischen Reize die Entwicklung unseres Gehirns bestimmen.

War Swaabs letztes Buch Wir sind unser Gehirn ein Blick in unser Inneres, richtet der populäre Wissenschaftler nun den Fokus auf die Wechselwirkung zwischen der Welt und unserem Gehirn.

Inhaltsübersicht

MottoSchematische Darstellung des Gehirns [...]EinleitungGehirn und UmgebungDas Gehirn im ZentrumKommunikation und KreativitätKreative EvolutionKreative RevolutionDer Aufbau dieses BuchesDie Entwicklung unseres Gehirns im kulturellen UmfeldI Neurodiversität: Jedes Gehirn wird zu etwas Einzigartigem1. Die Entwicklung unseres Charakters2. Vor der Empfängnis3. Intrauterine Entwicklung4. ZwillingsstudienII Entwicklung und Organisation unseres Gehirns1. Das Gehirn als selbstorganisierendes System2. Wettstreit um die besten Kontakte: neuronaler Darwinismus3. Kritische Entwicklungsphasen: jetzt oder nie4. Chemische Substanzen und Hirnentwicklung: funktionelle Teratologie5. Ausdifferenzierung der Hirnrinde durch SinnesinformationenIII Entwicklung und Umgebung1. Die sexuelle Differenzierung des Gehirns2. Geschlechterunterschiede im Reifungsprozess3. Intelligenz4. Übung versus BegabungIV Unsere soziale Entwicklung1. Soziale Faktoren: individuelle Variationen im Sozialverhalten2. Die Entwicklung unseres sozialen Gehirns3. Kulturelle Wissensvermittlung4. Spiegelneuronen5. Emotionen spiegeln6. Moralverhalten7. Oxytocin, Vasopressin und Sozialverhalten8. Oxytocin, Vasopressin und Psychiatrie9. Kindesmisshandlung10. Sexueller Missbrauch11. Armut und sozioökonomischer StatusV Entwicklung und Kultur1. Kulturelle Faktoren2. Sprache und Hirnentwicklung3. Spiritualität und Glauben4. Eine anregende, vielfältige Umgebung und Bildung5. Adoleszenz: eine Phase der Anpassung an eine neue Gesellschaft6. Partnerwahl7. Politische Präferenz8. Kommt die Evolution des Menschen zum Stillstand?Die Kunst und das GehirnVI Die Kunst und die Evolution des Gehirns1. Das Entstehen von Kunst während der Evolution unseres Gehirns2. Frühe Vorläufer der Höhlenkunst3. Der evolutionäre Vorteil von Kunst4. Kunst als einzigartige menschliche ErrungenschaftVII Kunst wahrnehmen1. Ästhetische Prinzipien in der bildenden Kunst2. Das visuelle System3. Synästhesie4. Abstrakte KunstVIII Gehirne und Gehirnerkrankungen in der Kunst1. Die Darstellung von Gehirnen, Gehirnerkrankungen und ihrer Behandlung in der Kunst2. Gehirnerkrankungen bei KünstlernIX Entstehen und Stimulation von Kreativität1. An Kreativität beteiligte Gehirnregionen2. Kreativität, Musik und Tanz3. Intuitive Ideen4. Das Gehirn als Filter5. Improvisation6. Neurotransmitter7. Kreativität und psychiatrische Erkrankungen8. Kunst als Therapie und Therapie bei KünstlernX Neuroästhetik1. Ist Schönheit etwas Objektives oder etwas Subjektives?2. Universelle Komponenten der Schönheit in der Kunst3. Wissenschaft und Schönheit4. Hirnstrukturen und die Wahrnehmung von Schönheit5. Belohnende Hirnregionen6. EmotionenDie Musik und das GehirnXI Musik und Entwicklung1. Begabung versus Übung2. Musik stimuliert die Gehirnentwicklung3. Langfristige Auswirkungen von musikalischem Training auf Gehirnstrukturen und -funktionenXII Musik und Evolution1. Sind Tiere musikalisch?2. Hat Musik einen evolutionären Vorteil?3. Zusammenhang zwischen Musik und SpracheXIII Die Wirkung der Musik auf das Gehirn1. Unmittelbare Auswirkungen der Musik auf Gehirnstrukturen und Gehirnsysteme2. Musik und Emotionen3. Auswirkungen von Musik auf Stimmung, Angst und Schmerz4. Chemische Botenstoffe und MusikXIV Musik wahrnehmen, gebrauchen und missbrauchen1. Gehirnkrankheiten und Musik2. Musiktherapie3. Neuroästhetik des TanzesGehirn, Beruf und AutonomieXV Gehirn und Beruf1. Begabung kann berufsentscheidend sein2. Beruf, Training und Hobby verändern unser Gehirn3. Berufswahl in Relation zu Geschlecht und sexueller Orientierung4. Berufswahl und Psychiatrie5. Schädigungen des Gehirns durch Beruf und UmweltXVI Stress- und charakterbedingte Berufskrankheiten1. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)2. Psychopathie bei CEOs, Bankern und SoldatenXVII Ohne Autonomie funktionieren1. Der Mensch als Superorganismus2. Die Autonomie des autonomen Nervensystems durchbrechen3. Genetische Anomalien des autonomen Nervensystems als JahrmarktsattraktionenDie Umgebung und das geschädigte GehirnXVIII Gesunde Hirnalterung versus Alzheimer-Krankheit1. Gesunde Hirnalterung2. Der Alterungsprozess3. Die Alzheimer-Krankheit und andere Formen der Demenz4. Die Stadien der Alzheimer-Krankheit5. Genetische Veranlagung6. Zusätzlichen Schaden verhindern7. Durch Stimulation zusätzliche Reserven aufbauen8. Use it or lose it9. Spontane Aktivierung und Reaktivierung von Hirnzellen bei Alzheimer10. Alzheimer-Therapien11. Spontane Verringerung von Alzheimer in den letzten zwanzig JahrenXIX Hirnkrankheiten und Umgebung1. Depression2. Selbsttötung3. Schizophrenie4. Neonatizide5. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)6. Parkinson7. Umgebung als RisikofaktorXX Heilung von Hirnkrankheiten: die Umgebung als Medizin1. Neurogenese im erwachsenen Gehirn2. Neuropsychotherapie3. Placebowirkung und Zwangsmedikation4. Plastizität und eine einfache Behandlung von Phantomschmerz5. EMDR6. NeurorehabilitationDas Denken über das Gehirn und uns selbstXXI Veränderungen im Denken über das Gehirn1. Teleologie: das »Ziel« unseres Lebens2. Geist versus Seele3. Der Geist ist materiell (objektiv)4. Unbewusst reagieren und bewusst vorausdenkenXXII Das allzeit aktive Gehirn1. Das Gehirn in »Ruhe«2. Gestörtes Körperbild3. Halluzinieren und träumenXXIII Lokalisierung von Hirnfunktionen und freier Wille1. Lokalisierung von Hirnfunktionen2. Lokales Bewusstsein3. Freier Wille?4. NeurodeterminismusXXIV Aggression und Kriminalität1. Abnahme von Gewalt2. Gut und böse3. Freier Wille und Strafe4. Hirnentwicklung und Verantwortung5. Zurechnungsfähigkeit6. Moralische VerantwortungNeue Entwicklungen und gesellschaftliche KonsequenzenXXV Hirnkrankheiten vermeiden und behandeln1. Die komplexe Hirnentwicklung2. Früherkennung und Behandlung von Hirnkrankheiten3. Vorsorgemaßnahmen vor der Empfängnis und während der Schwangerschaft4. Nahrung und Esskultur5. Die Umgebung nach der Geburt6. Auswirkungen von chemischen Substanzen und Anästhesie auf die Hirnentwicklung7. Schulkinder8. Nicht angeborene Hirnschädigungen9. Hirnblutungen und Hirninfarkte10. Plastizität11. Suizid12. Die aktuelle Verbindung zwischen Neuro- und Sozialwissenschaften13. Neuroarchitektur14. Einblicke in das GehirnXXVI Das kriminelle Gehirn1. Psychiatrie bei Straftätern2. Hirnscans im Gerichtssaal3. Es ist mehr möglich als Repression4. Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung5. Verbesserungen des Verhaltens durch Sozialisierung6. Kriminalitätsprävention bei Jugendlichen7. Problematische Jugendliche mit psychischen Störungen8. TBSXXVII Lebensendeproblematik1. Aktive Sterbehilfe / Beihilfe zum Suizid2. Psychiatrie3. Vollendetes Leben4. Behandlungsverbot und Ablehnung der ReanimationXXVIII Ein Ausblick1. Computer versus Gehirn2. Warum Hirnforschung?3. Stigmata und TabusDankGlossarNachweiseZitiertesLiteraturAllgemeinEinleitungKapitel I-VKapitel VI–XKapitel XI–XIVKapitel XV–XVIIKapitel XVIII und XIXKapitel XXKapitel XXI–XXIVKapitel XXV–XXVIII
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Dem Geheimnis schadet es nicht,

wenn man etwas mehr darüber weiß.

RICHARD FEYNMAN,

Physiker und Nobelpreisträger

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Schematische Darstellung des Gehirns im Längsschnitt

1) Hirnrinde (Cortex) mit Windungen des Großhirns (Cerebrum)

2) Balken (= Corpus callosum, Verbindung zwischen linker und rechter Hirnhälfte)

3) Epiphyse (= Zirbeldrüse, produziert nachts das Schlafhormon Melatonin, das bei Kindern in jüngerem Alter auch das Einsetzen der Pubertät hemmt)

4) Fornix (transportiert Information aus dem Gedächtnis vom Hippocampus zum Corpus mamillare im hinteren Teil des Hypothalamus. Informationen aus dem Gedächtnis werden dann zum Thalamus und zum Cortex weitergeleitet)

5) Thalamus (hierhin gelangen die Informationen aus den Sinnesorganen und dem Gedächtnis)

6) Hypothalamus (von wesentlicher Bedeutung für das Überleben des Einzelnen und der Gattung)

7) Sehnervkreuzung (optisches Chiasma)

8) Hypophyse

9) Kleinhirn (= Cerebellum)

10) Hirnstamm

11) Rückenmark

© Maartje Kunen

 

Die verschiedenen Teile der Hirnrinde

(F) frontaler Cortex, (P) parietaler Cortex, (O) okzipitaler Cortex, (T) temporaler Cortex, (C) Cerebellum, (H) Hirnstamm, (SC) Sulcus centralis, (FL) Fissura lateralis.

© Maartje Kunen

 

Die Gebiete der Hirnrinde

(1) Primäre sensorische Rinde, (2) Hörrinde, (3) motorische Rinde und (4) Sehrinde (visueller Cortex). Außerdem: (5) der Gyrus temporalis medius, (6) der Gyrus temporalis superior und (7) der prämotorische Cortex.

© Maartje Kunen

 

(T) Thalamus, (I) Insula, (NST) Nucleus subthalamicus, (A) Amygdala, (Hi) Hippocampus, (CC) Corpus callosum, (S) Striatum), (C) Claustrum.

© Maartje Kunen

 

Präfrontaler Cortex (PFC)

medialer präfrontaler Cortex (mpfC); dorsolateraler präfrontaler Cortex (dlpfC), orbitaler präfrontaler Cortex (opfC), cingulärer Cortex (Cing), fusiformer Gyrus (FU) und Gyrus parahippocampalis (Parah).

© Maartje Kunen

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Einleitung

Alle Menschen sind ungleich.

Prof. Hans Galjaard

Gehirn und Umgebung

Hirnforscher bekommen oft zu hören, dass »es doch mehr geben muss als das Gehirn«. Diese Idee ist nicht neu – die Legende des heiligen Dionysius (französisch: Saint Denis), des ersten Bischofs von Paris, nährt von alters her diese Vorstellung. Der heilige Dionysius wurde von Papst Clemens I. als Missionar nach Gallien entsandt, aber um 250 n. Chr. auf Anordnung der römischen Machthaber an der Stelle enthauptet, die heute Montmartre heißt. Mit diesem Ort seiner Enthauptung war er jedoch nicht einverstanden, daher hob er seinen abgehackten Kopf auf, wusch ihn in einer Quelle und lief zehn Kilometer nach Norden bis zu der Stelle, die er sich selbst als seine letzte Ruhestätte auserwählt hatte und die heute nach ihm benannt ist. Ohne Gehirn scheint also noch eine Menge möglich zu sein.

Wenn man nachfragt, was das eigentlich heißen soll: Es müsse mehr geben als das Gehirn, bekommt man zu hören, wir Hirnforscher würden den Kontext, in dem sich ein Verhalten ereignet, vernachlässigen. Doch jeder Hirnforscher ist sich dessen bewusst, dass das Gehirn in ständiger Interaktion mit der Umgebung agiert; diese Interaktion bildet auch in der Hirnforschung einen zentralen Punkt.

Der Vorwurf ist also unsinnig. Wir Menschen sind ständig einem enormen Strom von Informationen ausgesetzt, der aus der Außenwelt auf uns einströmt und aus unserem Gehirn aufsteigt. Kreativität bedeutet, diese Informationen neu zu kombinieren. Diese neuen Ideen bilden die Grundlage für neuartige Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft und Technik. Unter »Kunst« verstehe ich in diesem Buch: kreative Ausdrucksformen ohne praktischen Nutzen, die einen ästhetischen Genuss erzeugen. Mir ist bewusst, dass diese Definition viele Haken und Ösen hat. Kunst assoziieren wir schnell mit Schönheit oder einem angenehmen Empfinden, Kunst kann aber auch schockierend und hässlich sein. Schon Aristoteles hat darauf hingewiesen, dass Menschen von der Darstellung von Dingen fasziniert sind, vor denen sie sich fürchten oder ekeln, und diesem Phänomen begegnen wir auch in der Kunst.

Unser Gehirn und die Welt legt den Nachdruck auf die enormen kreativen Fähigkeiten unseres Gehirns, die unsere komplexe Welt ermöglicht haben. Das kulturelle Umfeld, das wir erschaffen haben, hat seinerseits wiederum die Entwicklung unseres Gehirns und unseres Verhaltens vorangetrieben. In diesem Buch werden viele Beispiele für Interaktionen zwischen dem Gehirn und unserem kulturellen und beruflichen Umfeld gegeben. Aber auch hier ist es ausschließlich unserem kreativen Gehirn zu verdanken, dass sich unsere Berufe weiterentwickelten, dass aus Farbe und Stein Kunst wurde, dass sich Schwingungen in Musik und Informationen verwandelten, wissenschaftliche Erkenntnisse entstanden und neue Behandlungsmethoden entwickelt wurden. Es ist daher nicht mehr als logisch, unserem Gehirn eine zentrale Stellung zuzuweisen.

Die wichtigste Aufgabe des Körpers besteht darin,

das Gehirn mit sich herumzutragen.

Thomas A. Edison

Abb. 1 Der heilige Dionysius (Saint Denis) wird in vielen Kirchen mit dem Kopf in seinen Händen abgebildet, zum Beispiel im Giebel von Notre-Dame in Paris.© Zvonimir Atletic/Shutterstock.com

Das Gehirn im Zentrum

Einige Philosophen taten sich mit dem Titel meines letzten Buches Wir sind unser Gehirn schwer. Sie sahen darin zu Recht einen »mereologischen Fehlschluss«, was besagt: Ein Teil eines Ganzen wird fälschlicherweise mit dem Ganzen gleichgesetzt. Das ist als logischer Fehler anzusehen. Der Titel war aber bewusst so gewählt, um die wesentliche Bedeutung unseres Gehirns für das, was wir sind, besonders hervorzuheben. Es ist das Gehirn, das unseren Charakter, unsere einzigartigen Möglichkeiten und Einschränkungen bestimmt. Aus der Transplantationschirurgie wissen wir, dass die Transplantation des Herzens, der Lungen, der Nieren oder anderer Organe uns nicht zu einer anderen Person macht. Eine Läsion an einer strategisch wichtigen Stelle des Gehirns kann uns hingegen in eine völlig andere Person verwandeln. Ein Tumor im Hypothalamus kann bei einem heterosexuellen Menschen pädosexuelle Neigungen hervorrufen, und ein Gefäßverschluss im Thalamus kann Demenz bewirken.

Ein wesentlicher Aspekt des Konzepts von Wir sind unser Gehirn ist jedoch die Erkenntnis, dass wir allesamt unterschiedlich sind, weil jeder von uns über ein einzigartiges Gehirn verfügt. Die Unterschiede zwischen den Menschen beginnen mit den kleinen Varianten in unserer DNA, die wir von unseren Eltern geerbt haben. Darüber hinaus bilden sich ständig neue Varianten. Im Lauf unserer Entwicklung und in Interaktion mit der Umgebung nehmen die Unterschiede zwischen uns immer mehr zu. Die Wahl zwischen nature or nurture (Natur vs. Kultur) ist eigentlich überholt: Die Entwicklung des Gehirns beruht von Anfang an zu hundert Prozent auf einer Interaktion zwischen Vererbung und Umgebung.

Kreativität ist ein Lernprozess, bei dem Lehrer

und Schüler ein und dieselbe Person sind.

Arthur Koestler

Abb. 2 Salvador Dalí, Galacidalacidesoxyribonucleicacid oder: Hommage an Watson und Crick, die Entdecker der Doppelhelix-Struktur der DNA im Jahr 1953. Der Titel dieses Gemäldes von Salvador Dalí (1963) setzt sich aus dem Namen von Dalís Frau Gala, seinem eigenen Namen Dalí und dem Begriff Desoxyribonucleinsäure (DNA) zusammen. Das Gemälde entstand in Dalís »nuklearer mystischer« Phase, die mit der Atombombe auf Hiroshima im Jahr 1945 einsetzte. Später war Dalí von der DNA als Grundlage des Lebens fasziniert. Er sagte auch, jede Hälfte der DNA sei mit einer anderen verbunden, so wie er mit seiner Frau Gala.© Sammlung Salvador Dalí Museum, St. Petersburg, Florida

Kommunikation und Kreativität

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ohne eine soziale Einbettung gestaltet sich das Überleben unter stressigen Bedingungen, etwa bei einer Verwundung oder Krankheit, schwierig. Soziale Zurückweisung oder Isolation setzt daher im Gehirn alle Alarmsysteme in Gang, umgekehrt führt soziale Anerkennung einen starken belohnenden Effekt mit sich.

Ein bedeutsamer Anreiz für das Größenwachstum des Gehirns war im Lauf der Evolution die gesteigerte Komplexität der Gesellschaft. Mehr oder weniger monogam im Familienverband in einer äußerst komplexen Gesellschaft zu leben fordert bekanntermaßen all unsere Kräfte. Die härteste Strafe für einen Menschen ist Einzelhaft, und die Isolationszelle wirkt sich auch auf psychiatrische Patienten äußerst negativ aus. Umgekehrt wird die Frage immer bedeutsamer, wie Hirnkrankheiten in unserer komplexen, extrem anspruchsvollen Gesellschaft die damit verbundenen Prozesse beeinflussen.

 

Für das Zusammenleben in unserer komplexen Gesellschaft ist eine effiziente Kommunikation zwischen den Menschen entscheidend. Im Lauf der Evolution entwickelten sich mit Sprache und Kultur spezielle Formen menschlicher Kommunikation. Kreative Ausdrucksformen unseres Gehirns geben der Kultur in Musik und Tanz, in bildender Kunst, Architektur und Literatur immer wieder neue Gestalt. Die Vorhut der kreativen Entwicklungen, die unserem Hirn entspringen, bilden nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Künste. Jeder kreative Prozess beginnt mit einer originellen Idee, mit Vorstellungskraft. Während Naturwissenschaftler den Prozess des Denkens chemisch und physikalisch untersuchen, erkunden Künstler den Geist, die Gedanken und Gefühle auf künstlerischem Wege. Die Begegnung dieser beider Welten rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses.

 

Ein Menschenhirn ist kaum mehr

als ein aufgemotztes Affenhirn.

Frans de Waal

Kreative Evolution

Alles, was für unser Fortbestehen als Individuen und als Gattung entscheidend ist – Ernährung und Sex –, war während des evolutionären Prozesses mit unseren belohnenden und emotionalen Hirnsystemen verbunden. Auch unser künstlerisches und musikalisches Schaffen und Erleben und unser Beitrag zu technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen vermitteln uns ein angenehmes Gefühl. Nahrung, Sex, Wissenschaft, Technik, Kunst und Musik sind evolutionär von Vorteil. Doch darin liegt nicht der Grund dafür, dass wir diesen Betätigungen nachgehen. Wir tun es, weil wir sie als köstlich, angenehm, interessant oder beglückend empfinden. Aber während wir uns selbst damit belohnen, hat unsere Beschäftigung auch Auswirkungen auf die Gesellschaft und fördert das Fortbestehen unserer Gattung und das Überleben des Einzelnen. Wissenschaft und Technik haben die Gesellschaft verändert. Musik und Tanz bringen Menschen zusammen und verstärken den Gruppenzusammenhalt; Musik kann sich bei gemeinsamen Aktionen als außerordentlich effektiv erweisen. Nicht ohne Grund gingen bei den Kämpfen der Schotten die Dudelsackspieler vorneweg.

 

Visuelle Kunst ist ungefähr vor 30 000 Jahren an unterschiedlichen Orten der Welt, offenbar unabhängig voneinander, entstanden. Unser Gehirn hatte damals ein Gewicht von 1500 Gramm erreicht. Sprache und Musik hatten sich schon viel früher entwickelt, obwohl das älteste Musikinstrument, das in der Slowakei gefunden worden ist, erst etwa 50 000 Jahre alt ist. Die ersten Zeugnisse bildender Kunst standen vor etwa 30 000 Jahren vor allem im Dienst überlebenswichtiger Bereiche: der Kommunikation über die Fortpflanzung, über die Nahrungssuche – insbesondere über die Jagd – und möglicherweise auch der Kommunikation über spirituelle Gefühle.

Bis vor ein paar hundert Jahren hatte die Kunst in der Kirche noch immer diese erzählerische kommunikative Funktion: das Vermitteln der Bibelgeschichten an die Gläubigen, die nicht lesen konnten. Mittelalterliche Kunst machte den Gläubigen anschaulich, dass Christus, auch wenn ihr Leben schwer und voller Prüfungen war, unendlich viel mehr gelitten hatte als sie und dass Glauben, Beten, Duldsamkeit und vor allem eine Lebensführung nach den Regeln der Kirche ihnen nach ihrem Tod eine Belohnung in Aussicht stellten: das ewige Leben im Himmel.

Wer sich nicht an die Regeln hielt, konnte sich auf den Darstellungen auch die Alternative dazu vor Augen führen, und damit war nicht zu spaßen: Die Verdammten erwarteten die schrecklichsten Strafen. Sünder wurden übrigens nicht ausschließlich nach ihrem Tod bestraft. Auch Krankheiten wie Wahnsinn und Epilepsie galten in vielen Kulturen und Religionen als eine Strafe Gottes für das Übertreten der Regeln, eine Vorstellung, die in der Tabuisierung und Stigmatisierung von Hirnkrankheiten weiterlebt und auch in unserer Gesellschaft noch immer virulent ist.

Abb. 3Die Hölle, Teil der Darstellung »Die Sieben Todsünden« und »Die vier letzten Dinge«. Ob das Werk, das sich heute im Museo del Prado in Madrid befindet, von Hieronymus Bosch stammt, ist umstritten. Medaillon in der Ecke der Tischplatte, die im Auftrag von König Philip II. von Spanien angefertigt wurde; er ließ sie wahrscheinlich 1574 in den Escorial bringen. Abscheuliche Dämonen, die foltern, den Sündern Gliedmaßen abbeißen, sie aufspießen und in die Hölle führen, wo diese Praktiken bis in alle Ewigkeit fortgesetzt werden. Man vermutet, dass Mutterkorn-Halluzinationen die Inspirationsquelle für die Dämonen im Werk von Bosch gewesen sind. Im Mittelalter kam es häufiger zu Vergiftungen durch Mutterkorn (Ergot), einen Schimmel, der auf feuchtem Getreide wächst und Halluzinationen, epileptische Anfälle und Wahnvorstellungen verursachen kann. Hieronymus Bosch hat wahrscheinlich selbst eine solche Vergiftung durchlitten.© Madrid, Museo Nacional del Prado

Kreative Revolution

Unsere kreative Revolution bekam vor ungefähr 14 000 Jahren Auftrieb, als Menschen im Mittleren Osten mit Ackerbau und Viehzucht begannen. Die Nahrungsversorgung wurde effizienter, so dass immer mehr Menschen für andere Aufgaben abkömmlich waren. Die ersten chinesischen Schriftzeichen und die Keilschrift haben sich erst vor etwa 5000 Jahren unabhängig voneinander entwickelt. Die Keilschrift wurde zu 90 Prozent für die Buchhaltung des Handelns mit Datteln, Korn und Schafen genutzt, aber auch literarische, religiöse und wissenschaftliche Schriften sind entziffert worden. Vor mehr als 2000 Jahren hat ein babylonischer Astronom sogar mit geometrischen Methoden die Bahn berechnet, die der Jupiter am Himmel zurücklegte.

In den größer werdenden Gemeinschaften standen immer mehr Menschen miteinander in Kontakt, neue Informationen konnten effizienter ausgetauscht werden, und unsere gebündelte Kreativität trieb über Wettbewerb und Zusammenarbeit die technologische Entwicklung zügig voran. Die Menschen haben Techniken entwickelt, um all diese Informationen zu speichern, wodurch die nachfolgenden Generationen auf dem Wissen der vorherigen Generationen aufbauen konnten.

In jüngerer Zeit trat eine weitgehende Spezialisierung der Menschen hinzu sowie die Entwicklung immer besserer Transport- und Kommunikationsmittel, die nun auch internationale Zusammenarbeit und internationalen Wettbewerb ermöglichten. Unsere kreative Entwicklung hat sich dadurch erheblich beschleunigt. Die im späten 18. Jahrhundert einsetzende industrielle Revolution und die sich daran anschließenden Schübe wirtschaftlichen Wachstums sind in erster Linie einer relativ kleinen Zahl wissenschaftlich und technologisch hochkreativer Menschen zu verdanken; ihre Erfindungen haben die Lebensumstände der gesamten Bevölkerung verbessert.

Kinder lernen, wenn sie spielen. Am wichtigsten ist,

im Spiel lernen sie, wie man lernt.

O. Fred Donaldson

Unser Gehirn ist außergewöhnlich. Wir lernen mehr und besser als andere Tiere, obwohl sich die Grundmechanismen gleichen. Auch für Affen ist kulturelles Lernen wesentlich. Indem sie ihre Eltern nachahmen, lernen sie, wie sich mit einem Stöckchen Termiten fangen lassen und wie sie mit einem Stein Nüsse knacken können. Nicht von ungefähr sprechen wir von »nach-äffen«. Die neurobiologische Grundlage des sozialen Lernens (Lernen von anderen) sind die Spiegelneuronen in unserem Gehirn, die der amerikanische Neurologe Ramachandran als »die Grundlage unserer Zivilisation« bezeichnet hat.

 

Was uns zu Menschen macht, ist unser spezifisch menschliches Gehirn. Es ermöglicht uns Kultur und Selbstreflexion. Unsere enorme Kreativität bringt sich in einem beständigen Strom neuer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen sowie in Kunst und Musik – einer Kombination von Technik, Kreativität und Emotionen – zum Ausdruck. Mit seinem großen kreativen Gehirn und dessen überschüssigen Zellen und Verbindungen kann sich der Mensch besser als andere Gattungen an eine sich verändernde Umgebung anpassen. Außerdem erschafft er sich damit spezielle Werkzeuge sowie eine komplexe andere kulturelle, soziale und sprachliche Umgebung, die wiederum die Hirnentwicklung in einer für die Umgebung spezifischen Weise beeinflusst. Als unsere Vorfahren damit vor etwa 50 000 Jahren begannen, wurden wir zum modernen Menschen. Wir sind unser kreatives Gehirn.

Der Aufbau dieses Buches

»Wir sind unser Gehirn« schreibt der Hirnforscher Dick Swaab.

Mein Kollege Frank Koerselman machte einen großartigen Vergleich:

Das sei in etwa so, als sage man, jedes Gemälde bestehe aus Farbe.

Prof. René Kahn

Ja, alles beginnt mit Farbe auf einer Leinwand und einer Person, die sie betrachtet. Aber anders, als dieses Zitat suggeriert, bin ich durchaus der Auffassung, dass ein Gemälde mehr ist als Farbe. Es ist ein Werk, in das der Künstler sein Gehirn, sein technisches Können und seine Emotionen hineingelegt hat, um uns etwas mitzuteilen und auch in unserem Gehirn Emotionen wachzurufen. Dadurch wird die Farbe zu Schönheit, zu etwas Erstaunlichem oder Erschütterndem. Der Künstler hat die Farbe zum Leben erweckt, und die Kunsterfahrung ergibt sich aus dem Dialog des Bildes mit dem Betrachter. Ebenso wie ein Gemälde mehr ist als ein paar Farbkleckse auf einer Leinwand, so ist auch ein Gehirn mehr als ein Sack voller toter Moleküle: Es besteht aus einer äußerst grazilen Struktur lebendiger, funktionaler Zellen, die auf außerordentlich komplizierte Art und Weise miteinander und mit der Umgebung kommunizieren.

Dieses Buch liefert Beispiele dafür, wie unser kreatives Gehirn durch Kunst, Musik, Wissenschaft und Technik unsere Umgebung erschafft und verändert, und auch Beispiele dafür, wie die Umgebung die Entwicklung und Funktionalität unseres Gehirns beeinflusst. Aufgrund der komplexen Art und Weise, in der sich unser Gehirn innerhalb dieses Interaktionsprozesses entwickelt, werden wir alle einzigartig, haben alle verschiedene Interessen und reagieren unterschiedlich auf unsere Umgebung. Hier und da erlaube ich mir in diesem Buch, als interessierter Laie persönlichen Vorlieben nachzugehen, Exkurse einzuschieben und womöglich unhaltbare Standpunkte zu vertreten in der beruhigenden Überzeugung, dass Kunst eine persönliche Erfahrung ist und glücklicherweise immer bleiben wird.

 

Das Buch setzt ein mit der Entwicklung unseres Gehirns im kulturellen Umfeld (Kapitel I–V). Die neurobiologischen Entwicklungsmechanismen, die Genetik und Selbstorganisation des Gehirns, die den persönlichen Charakter, den IQ, die kreativen Fähigkeiten und die sexuelle Differenzierung des Gehirns bestimmen, sowie die Epigenetik – die Art und Weise, in der die Umgebung im Lauf der Entwicklung unsere Funktionsweise fortwährend beeinflusst – stehen hier im Mittelpunkt.

 

Im zweiten Teil, Die Kunst und das Gehirn (Kapitel VI–X), lege ich dar, wie das Gehirn des modernen Menschen im Lauf der Evolution den Umfang erreichte, der es ihm ermöglichte, Kunst hervorzubringen. Für unser Sehen und Erleben wie auch für die Gefühle und Emotionen, die Kunst zu wecken vermag, nutzen wir die gleichen Hirnsysteme wie für unser alltägliches Leben. Künstler richten sich offenbar unbewusst an den Prinzipien aus, nach denen diese Gehirnsysteme funktionieren. Prof. Semir Zeki sagte daher: »Ein Künstler ist in gewissem Sinne ein Neurowissenschaftler, der die Möglichkeiten und Eigenschaften des Gehirns erkundet, allerdings mit anderen Instrumenten.«

Prof. Zeki hat den Forschungsbereich der Neuroästhetik initiiert. Hier werden die Mechanismen des Gehirns erforscht, die dafür maßgeblich sind, dass wir etwas oder jemanden als »schön« empfinden. Einige halten diesen Ansatz für »reduktionistisch«. Das ist Unsinn. Ein Hirnforscher kann Kunst genauso genießen und sich ebenso verlieben wie jeder andere auch. Hirnforschung schmälert nicht die Emotionen, die mit dem alltäglichen Gebrauch des eigenen Gehirns einhergehen. Das Wissen über die daran beteiligten Hirnmechanismen fügt den Emotionen, die Kunst zu wecken vermag, vielmehr die Bewunderung für diese wunderbare, außerordentlich komplexe Maschine hinzu.

Kunst kann zur Behandlung von Hirnkrankheiten eingesetzt werden, umgekehrt können Hirnkrankheiten das Werk von Künstlern tiefgreifend beeinflussen. Nach meinen Vorlesungen über Gehirn und Kunst an der Chinese Academy of Art und an der Zhejiang-Universität in Hangzhou wurde mir am häufigsten die Frage gestellt: »Muss man verrückt sein, um hervorragende Kunst zu schaffen?« Meine Antwort: »Man muss nicht, aber manchmal hat es geholfen«, führte immer wieder zu ziemlichem Aufruhr und zu Diskussionen unter den Studenten.

 

Danach kommt im Teil Die Musik und das Gehirn (Kapitel XI–XIV) zur Sprache, wie die Musik in allen Phasen unseres Lebens den Bau und die Funktion unseres Gehirns und damit auch unser Leistungsvermögen beeinflussen kann. Musik hat im Lauf der Jahrhunderte in jeder Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt. Schon ein Kind in der Gebärmutter ist empfänglich für Musik; Musik stimuliert die Hirnentwicklung und wirkt Alterserscheinungen entgegen. Sie wirkt sich auf viele Hirnregionen und zahlreiche chemische Botenstoffe aus und damit auch auf unsere Emotionen. Dadurch kann sie Schmerzen lindern und therapeutische Wirkungen bei der Behandlung von Hirnkrankheiten erzeugen. Auch Tanz kann sich günstig auswirken, zum Beispiel bei der Parkinson-Krankheit.

 

Unsere Funktionsfähigkeit in ständiger Interaktion mit der sozialen Umgebung ist das Thema des Teils Gehirn, Beruf und Autonomie (XV–XVII). Unsere Hirnentwicklung führt zu einer bestimmten Begabung, manchmal sogar zu einem ausgesprochenen Talent für Musik oder Kunst. Die Palette von Möglichkeiten und Einschränkungen, die während der Entwicklung zur Ausprägung kommen, beeinflusst unsere Berufswahl. Wir wählen mit Vorliebe Berufe, die unserem Gehirn entsprechen. Unter CEOs und Bankdirektoren begegnet man daher häufiger Menschen mit speziellen Charaktereigenschaften. Aber unser Beruf beeinflusst umgekehrt auch den Bau und die Funktion des Gehirns, wie es beispielsweise bei Taxifahrern in London nachgewiesen werden konnte.

Andererseits kann man am Arbeitsplatz durch Giftstoffe Hirnschäden erleiden oder aufgrund emotionaler Erlebnisse an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkranken. Wenn Menschen einfach nur funktionieren und dabei ihre Autonomie aufgeben, entstehen Massenbewegungen, die im Lauf der Geschichte zu Katastrophen geführt haben. Und wenn das autonome Nervensystem nicht richtig funktioniert, ergeben sich für den Einzelnen lebensbedrohliche Situationen.

 

Auch für die Entstehung von Hirnkrankheiten ist das Zusammenspiel mit der Umgebung entscheidend. Unsere genetische Veranlagung und die Entwicklung entscheiden, wie anfällig wir für Hirnkrankheiten wie Alzheimer, Depressionen und Schizophrenie sind. Doch unser Umfeld entscheidet, ob die Hirnkrankheit zum Ausbruch kommt, und es kann sowohl auf die Vorbeugung als auch auf die Genesung solcher Krankheiten großen Einfluss ausüben, wie wir im Teil Die Umgebung und das geschädigte Gehirn (Kapitel XVIII–XX) sehen werden. Zweisprachig aufzuwachsen ist für das kindliche Gehirn beispielsweise eine so starke Stimulanz, dass unter jenen, die an Alzheimer erkranken, die zweisprachig Aufgewachsenen durchschnittlich vier Jahre später daran erkranken als die, die einsprachig aufgewachsen sind.

 

Aufgrund der neueren Hirnforschung haben wir begonnen, anders über die Funktionsweise unseres Gehirns, über den freien Willen, über unbewusste Entscheidungen, moralisches Verhalten, Schuld und Strafe zu denken. Die experimentellen Neurowissenschaften haben ein Terrain betreten, das bis vor kurzem noch der Philosophie vorbehalten war, dies kommt in Das Denken über das Gehirn und uns selbst (Kapitel XXI–XXIV) zur Sprache.

 

Die Kenntnisse über unser Gehirn führen nicht nur zu neuen Behandlungsstrategien und Maßnahmen zur Vorbeugung von Hirnkrankheiten, sondern im Bildungswesen, der Justiz, der Politik und in der Lebensendeproblematik auch zu immer mehr gesellschaftlichen Konsequenzen. Darauf gehe ich im Teil Neue Entwicklungen und gesellschaftliche Konsequenzen (Kapitel XXV–XXVIII) ein. Es ist jedoch ebenso wichtig, ein breites öffentliches Interesse für die Forschung zur Funktionsweise unseres Gehirns und zu den charakteristischen Merkmalen von Hirnkrankheiten zu wecken, um der immer noch existenten Tabuisierung von Hirnkrankheiten entgegenzuwirken. Die Ergebnisse der Hirnforschung können zu der dringend notwendigen Entstigmatisierung neurologischer und psychiatrischer Krankheiten beitragen.

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Die Entwicklung unseres Gehirns im kulturellen Umfeld

I Neurodiversität: Jedes Gehirn wird zu etwas Einzigartigem

Erkenne dich selbst.

INSCHRIFT AM APOLLONTEMPEL IN DELPHI

 

Scanne dich selbst.

Ein KOLLEGE VON DICK FRANS SWAAB (DFS)

Die Interaktion zwischen Gesellschaft und Gehirn hat im Zuge der evolutionären Menschwerdung nicht nur unser soziales Gefüge äußerst kompliziert gemacht, sondern auch unser Gehirn ungeheuer komplex werden lassen. Es besteht aus 80 bis 100 Milliarden Gehirnzellen – die Anzahl entspricht dem Zwölffachen der Weltbevölkerung. Diese Zellen sind innerhalb weniger Monate von ihrem Entstehungsort in der Nähe der Hirnventrikel zu ihrem Bestimmungsort im Gehirn gewandert, wo sie dann den Rest unseres Lebens bleiben, sich ausdifferenzieren, ihre Ausläufer bilden und Kontakte zu anderen Hirnzellen knüpfen. Jede einzelne Gehirnzelle, für sich genommen schon atemberaubend komplex, steht schließlich mit 1000 bis 100 000 anderen Gehirnzellen in Kontakt. An diesen Kontaktstellen, den Synapsen, werden übrigens die Informationen »im Gedächtnis« gespeichert.

Ein menschliches Baby kommt unbeholfen und hilfsbedürftig, mit einem weitgehend unausgereiften Gehirn zur Welt. Das Gehirn eines Neugeborenen wiegt 350 Gramm. Das bedeutet, dass noch 75 Prozent des Netzwerks angelegt werden müssen, ein Prozess, auf den das soziale und kulturelle Umfeld einen bedeutenden und dauerhaften Einfluss ausüben kann. Dieser Einfluss macht sich, besonders was die »höheren Funktionen« angeht, beim Knüpfen von Verbindungen geltend. Denn die 17 Milliarden Hirnzellen in der Hirnrinde, die für unsere spezifisch menschlichen Leistungen, einschließlich denen unserer Kultur, verantwortlich zeichnen, sind größtenteils schon vor unserer Geburt, in der Gebärmutter, entstanden.

Allerdings müssen sich auch nach unserer Geburt noch etwa 60 Milliarden Hirnzellen im Cerebellum, dem Kleinhirn, bilden. Das Kleinhirn organisiert nicht nur die Feinmotorik und die Bewegungen, die wir erst erlernen müssen, um sie später automatisch ausführen zu können. Aktuelle Studien belegen, dass auch kulturelle Aspekte unbewusst erlernt und vom Kleinhirn im Zusammenspiel mit der Hirnrinde verinnerlicht werden. Auch die Zellen des Gyrus dentatus im Hippocampus, die für Gedächtnisprozesse wesentlich sind, müssen sich nach der Geburt erst entwickeln. Eine relativ geringe Anzahl von Neuronen des Hippocampus kann sich sogar noch im Erwachsenenalter neu bilden (siehe XVI.1).

Der rasante Entwicklungsprozess des Gehirns in den ersten Lebensjahren lässt sich übrigens durch Messungen des kindlichen Schädelumfangs leicht nachverfolgen. Zwischen dem Schädelumfang eines Kindes und der DNA-Menge in seinem Gehirn, die für die Zahl der Gehirnzellen steht, besteht ein linearer Zusammenhang.

Früher, als ich als Famulus auf der Entbindungsstation Kindern auf die Welt geholfen habe und die Aufgabe hatte, ihren Schädelumfang zu messen, war dieser Zusammenhang noch nicht bekannt. Es ist wichtig, die Entwicklung des Gehirns im Blick zu behalten, denn eine Entwicklungsstörung des Gehirns erhöht das Risiko auf spätere psychiatrische Erkrankungen, und zusätzliche Stimulation kann dazu beitragen, eine Verzögerung der geistigen Entwicklung zu kompensieren.

Abb. I.1 Pablo Picasso, Paulo dessinant (1923). Eine behagliche Umgebung.© akg-images

 

Die Bildung von Nervenfaserverbindungen zwischen den verschiedenen Hirnregionen wird noch lange fortgeführt, im präfrontalen Cortex, der Struktur, wo unser moralischer Rahmen abgesteckt wird und unsere Impulse gehemmt werden, sogar noch bis zum 24. Lebensjahr. Demzufolge kann das soziale und kulturelle Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, im positiven wie im negativen Sinn großen Einfluss auf die Entwicklung dieser Hirnregion ausüben. Faktoren, die sich positiv auswirken, sind eine sichere, liebevolle und anregende Umgebung, in der ein Kind aufwächst, und eine ausreichende und qualitativ gute Ernährung. Negative Faktoren sind ein stressiges Umfeld, Vernachlässigung, Missbrauch und eine unzureichende oder qualitativ minderwertige Ernährung.

Jedes Hirnsystem muss sich in einem bestimmten Zeitraum entwickeln. Daher gibt es jeweils eine Phase, in der ein Kind am besten eine Sprache, lesen und schreiben oder ein Musikinstrument spielen lernt. Diese »kritische« Phase ist sowohl günstigen als auch ungünstigen Faktoren gegenüber besonders sensibel. Ist sie abgeschlossen, hat sich das Erlernte in den dafür vorgesehenen Kreisläufen der Gehirnstrukturen verankert; sind die entsprechenden Dinge in diesem Zeitraum nicht gelernt worden, werden die jeweiligen Hirnkreisläufe für andere Aufgaben genutzt. Das Erlernen solcher Kompetenzen fällt dann später viel schwerer oder ist sogar unmöglich. Daher können sich Ernährungsmangel vor oder nach der Geburt, Vernachlässigung, Armut und soziale Diskriminierung dauerhaft auf die Hirnentwicklung und damit auch auf das Verhalten und die Fähigkeiten eines Kindes auswirken.

In Bezug auf die epigenetischen Veränderungen der DNA, die für diese dauerhaften Umgebungseffekte verantwortlich sind, gibt es einige neue Erkenntnisse. Epigenetische Veränderungen sind chemische, umweltinduzierte Veränderungen der DNA, die Gene entweder dauerhaft stilllegen oder gerade aktivieren. Womöglich sind einige dieser Effekte sogar vererbbar. Vielleicht besteht deshalb bei den Kindern von Holocaust-Überlebenden ein größeres Risiko, später an einer Angststörung zu erkranken. Epigenetische Effekte stehen zurzeit im Fokus von relativ neuen Forschungsrichtungen, der sozialen und kulturellen Neurowissenschaften. Die Kombination von Hirnforschung und Sozialwissenschaften hat in letzter Zeit einen rasanten Aufschwung genommen.

1. Die Entwicklung unseres Charakters

Wenn sich jemand auf eine für uns ärgerliche Weise verhält,

vermuten wir, dass er schlecht ist,

und weigern uns, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass sein unangenehmes Verhalten die Folge von Ursachen ist,

die, wenn man sie weit genug zurückverfolgt, bis weit vor

seine Geburt führen und daher bis zu Ereignissen, für die er

in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann.

BERTRAND RUSSELL

Unser Charakter lässt sich durch das Maß beschreiben, in dem die fünf Dimensionen, die in der Psychologie als die »Big Five« bekannt sind, darin zum Tragen kommen. Diese fünf Dimensionen sind:

 

Offenheit versus Introversion

Verträglichkeit versus Herrschsucht

Gewissenhaftigkeit versus Nachlässigkeit

Emotionale Stabilität versus emotionale Instabilität

Intellektuelle Autonomie versus Abhängigkeit

Auch um den Charakter von Haustieren zu beschreiben, und sogar von Pferden, wird auf diese fünf Faktoren zurückgegriffen. Die Erblichkeit jedes dieser fünf Persönlichkeitsmerkmale liegt bei schätzungsweise 33 bis 65 Prozent. Der Rest des Charakters bildet sich in der Frühphase der Entwicklung aus. Um im Leben erfolgreich zu sein, braucht man neben einem einigermaßen hohen IQ, Neugier, Ehrgeiz und Motivation auch eine gute Mischung der Big Five.

Meiner Auffassung nach ließen sich die Big Five noch durch andere charakterprägende Aspekte ergänzen, etwa Männlichkeit versus Weiblichkeit, Heterosexualität versus Homosexualität, den IQ, Kreativität versus Einfallslosigkeit sowie vorhandene oder fehlende Spiritualität. Das Wort »Charakter« stammt aus dem Griechischen und bedeutet »eingeprägt«. Die Merkmale unserer Persönlichkeit ändern sich im Lauf unseres Lebens nur geringfügig, sie stabilisieren sich in der mittleren Lebensphase. Genetische Faktoren prägen vor allem die Persönlichkeitsmerkmale im Kindes- und Jugendalter, wohingegen sich Umgebungsfaktoren das ganze Leben lang auf sie auswirken können. Daher nimmt der relative Anteil an Ererbtem mit dem Alter ab.

Abb. I.2 Gustav Klimt, Danaë (1907/1908). Links Zeus’ goldene Spermien, rechts Zellen eines Embryos im Frühstadium, die die Empfängnis symbolisieren. Klimt hat Darwin gelesen und war fasziniert von der Struktur der Zelle als Baustein des Lebens. In Wien besuchte er auch Obduktionen menschlicher Körper des Pathologen und Anatomen Emil Zuckerkandl, der auf seine Bitte hin für eine Gruppe von bildenden Künstlern, Schriftstellern und Musikern eine Reihe von Vorlesungen zur Biologie und Anatomie hielt (Kandel, 2012). Klimt nutzte sein Wissen auch in der Praxis: Er hatte mindestens 14 Kinder von mehreren Frauen.© Galerie Würthle, Wien

Den resting state nennt man in einem funktionellen Scan die Hirnaktivität, bei der die Testperson wach ist, aber keinerlei Aufgabe ausführt. Eigentlich ist die Bezeichnung etwas unglücklich, weil das Gehirn niemals ruht. Doch lässt sich in einem solchen Ruhezustand erkennen, welche Hirnregionen und welche Verbindungen zwischen ihnen sehr aktiv sind. Denn diese Regionen weisen zur gleichen Zeit die gleichen Fluktuationen von Aktivität auf. Diese Fluktuationen sind entscheidend dafür, wie unser Gehirn mit der Außenwelt interagiert.

Im Ruhezustand besteht zwischen den Werten, die eine Person hinsichtlich der Big-Five-Kategorien erreicht, und der Aktivität in unterschiedlichen Hirnregionen eine deutliche Korrelation. Das Merkmal »Offenheit« geht mit Aktivität zwischen anderen Gebieten einher als das Merkmal »Gewissenhaftigkeit«. Die Fähigkeit, kreative Ideen zu entwickeln, ist mit der Eigenschaft Offenheit und mit einer gesteigerten funktionellen Aktivität im unteren Teil des präfrontalen Cortex und im Default-Netzwerk (dem System, das in »Ruhe« sehr aktiv ist) verbunden.

Der Resting State spiegelt also Merkmale unseres Charakters wider. Auch Genderidentität und sexuelle Orientierung stehen im Ruhezustand nachweislich in einem Zusammenhang zur Aktivität einiger Hirnregionen. So gibt es beispielsweise bei Homosexualität Mann-Frau-Umkehrungen in den Verbindungen zur linken Amygdala. Auch bei Pädosexualität lassen sich im Ruhezustand Veränderungen in der funktionellen Konnektivität zwischen bestimmten Hirnregionen beobachten.

Unsere Persönlichkeitsmerkmale sind auf einer Reihe von Chromosomen und in den Strukturen einiger Hirnregionen lokalisiert. Die individuellen Unterschiede in der Struktur und der Funktion des erwachsenen Gehirns entstehen aufgrund unserer genetischen Ausstattung und unserer Entwicklungsprozesse in Interaktion mit der Umgebung. Ab der Empfängnis wirken viele Faktoren und Prozesse auf die Gehirnentwicklung ein, die Selbstorganisation des Gehirns, die Geschlechtshormone, Stress, Ernährung, chemische Substanzen, die die Plazenta passieren oder denen das Gehirn des Kleinkindes nach der Geburt ausgesetzt ist, desgleichen viele soziale und kulturelle Faktoren wie die sprachliche Situation, Sicherheit, Geborgenheit, der Grad der intellektuellen Stimulation und die finanzielle Lage des Umfelds, in dem ein Mensch aufwächst, sowie seine Ausbildung und seine Beziehungen.

Diese Prozesse machen jedes Gehirn zu etwas Einzigartigem, selbst die Gehirne eineiiger Zwillinge. Die daraus resultierenden Unterschiede beeinflussen alle unsere personalen Funktionen wie Charakter, Genderidentität, sexuelle Orientierung, das Interesse an Kunst und Musik, Kognition und Verhalten, Intelligenz, das Maß an Empathie und anderen Aspekten moralischen Verhaltens, die politische Orientierung sowie die Anfälligkeit für körperliche und psychiatrische Erkrankungen. Die folgenden Kapitel widmen sich detaillierter der Hirnentwicklung in all ihrer Komplexität.

2. Vor der Empfängnis

In den Testikeln erwachsener Männer bilden sich täglich

200 bis 300 Millionen Samenzellen. Warum bin

aus dieser einen Samenzelle gerade ich entstanden?

DFS

Der evolutionäre Vorteil der geschlechtlichen Fortpflanzung liegt in der enormen Steigerung der Vielfalt von Individuen durch die Kombination mütterlicher und väterlicher DNA. Vielfalt war der Motor der Evolution und ermöglichte es unserer Art, sich an eine sich verändernde Umwelt anzupassen.

Die Verschiedenartigkeit der Menschen beginnt schon bei ihrer DNA, sie ist bei jedem einzigartig. Im Zuge der Evolution sind in unserer DNA zahllose kleine Variationen entstanden; sie bildeten die Grundlage unserer Menschwerdung. Zu einem Teil handelt es sich dabei um alte, von unseren Eltern ererbte Mutationen, die lediglich zur Vielfalt der Menschen beitragen; zum anderen Teil sind es krankheitsbedingte Mutationen oder Mutationen, die zu einer Anfälligkeit für eine bestimmte Störung führen.

Jedes Kind trägt im Durchschnitt einen neuen Defekt in seiner DNA. Meistens sind das harmlose Mutationen. Gleichwohl werden mehr als 60 Prozent aller Fälle angeborener schwerer Intelligenzminderung von solchen neuen Mutationen verursacht. Auf mütterlicher Seite gibt es Mutationen, die mit zunehmendem Alter der Mutter zu einem stark erhöhten Down-Syndrom-Risiko des Kindes führen, Mutationen auf väterlicher Seite erhöhen mit zunehmendem Alter des Vaters das Risiko für psychiatrische Erkrankungen.

In der männlichen Linie ergeben sich mehr genetische Defekte als in der weiblichen. Frauen produzieren ihre gesamten Eizellen schon vor ihrer Geburt; von diesen im Eierstock ruhenden Eizellen reift jeden Monat eine heran. Männer produzieren aus Stammzellen ständig Spermien. Zwischen der Eizelle, aus der eine Frau hervorgegangen ist, und der Eizelle, die sie weitergibt, finden ungefähr zwanzig Zellteilungen statt, während bei einem Mann von Ende zwanzig schon ungefähr 300 Zellteilungen zwischen der Spermie, aus der er geworden ist, und den Spermien, die er weitergibt, liegen. Daher ist das Risiko einer Mutation auf väterlicher Seite höher. Dieses Problem ist bei älteren Männern natürlich größer als bei jüngeren. Kinder von späten Vätern tragen daher ein höheres Risiko einer psychiatrischen Erkrankung. Fruchtbarkeitsprobleme der Eltern erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer psychiatrischen Erkrankung des Kindes um ein Drittel. Denn psychiatrische Erkrankungen und Fruchtbarkeitsprobleme haben eine gemeinsame genetische Grundlage.

Abb. I.3 Leonardo da Vinci, ca. 1510© Windsor Castle, Royal Library

3. Intrauterine Entwicklung

Nach der Empfängnis reift das befruchtete Ei in der Gebärmutter zu einem Kind heran. Immer wieder lodert in diesem Zusammenhang die Diskussion auf, ob unsere Eigenschaften von »Veranlagung« oder der »Umgebung« bestimmt werden. Pure Veranlagung lässt sich beispielsweise im intuitiven Verhalten von Neugeborenen erkennen. Wenn es uns nicht intuitiv gelungen wäre, die Brustwarze der Mutterbrust zu finden und daran zu saugen, gäbe es uns heute nicht.

Intuition spielt auch bei Angst eine Rolle. Es ist viel leichter, uns vor einer Schlange als vor einer Blume zu fürchten. Bei Affen, die noch nie eine Schlange gesehen haben, fand man Hirnzellen, die stark »feuerten« – das heißt, elektrisch aktiv wurden und mit anderen Hirnzellen Informationen austauschten –, wenn sie mit einem solchen Tier konfrontiert wurden. Diese Angst ist den Primaten also im Lauf der Evolution vererbt worden. Viele Verhaltensweisen, auch die Bausteine unserer moralischen Regeln (siehe IV.6), wurden uns tatsächlich im Lauf unserer evolutionären Entwicklung genetisch vererbt.

Entscheidend ist jedoch, dass sich unser Gehirn von seinen ersten Anfängen an vor allem durch eine intensive Interaktion zwischen »Veranlagung« und »Umgebung« entwickelt. Unsere genetische Ausstattung interagiert bei der Hirnentwicklung intensiv mit der Umgebung. Die Umgebung einer Nervenzelle wird von Milliarden anderer Nervenzellen gebildet, von chemischen Substanzen, die diese Nervenzellen absondern, von den Hormonen eines Kindes, den Hormonen und Nährstoffen der Mutter und von den chemischen Substanzen aus der Umwelt. Unsere Industriegesellschaft wirkt sich schon in der Gebärmutter dauerhaft auf ein Kind aus, zum Beispiel durch die Chemikalien in dem von Autos und Industrie verbreiteten Feinstaub, die die Plazenta passieren, die Hirnentwicklung beeinflussen und damit das Autismusrisiko eines Kindes erhöhen. Sinneseindrücke beeinflussen die Hirnentwicklung schon in der intrauterinen Phase. Knoblauch im Fruchtwasser wirkt sich auf das spätere Geschmacksempfinden des Kindes aus, und Musik, die ein Kind in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft hört, erkennt es noch Monate nach der Geburt.

Gen-Umgebungs-Interaktionen lassen sich etwa an der Beobachtung festmachen, dass die Sensibilität des kindlichen Gehirns gegenüber Umgebungsfaktoren von der genetischen Ausstattung des Kindes abhängig ist. Wenn eine Frau während der Schwangerschaft raucht und ihr Kind genetisch über zwei Varianten von Dopaminrezeptoren verfügt, ist dessen Risiko, an ADHS zu erkranken, neunmal höher als das eines Kindes ohne diese genetische Variante.

Pränataler Stress der Schwangeren kann bei ihrem Kind später Verhaltens- und Temperamentsprobleme, Autismus, ADHS, Depressionen und Angst hervorrufen. Auch stressige Ereignisse während der Schwangerschaft wie Krankheiten, finanzielle Probleme oder gewalttätige Übergriffe des Partners können sich dauerhaft auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns auswirken. Im Alter von sieben Jahren wurden Kinder mit MRT-DTI (Diffusions-Tensor-Bildgebung, einer Technik, die Verbindungen zwischen Hirnstrukturen im Scan sichtbar macht) untersucht. Stressige Ereignisse während der Schwangerschaft korrelierten bei den Kindern mit strukturellen Veränderungen in den Verbindungen zwischen der Amygdala und dem präfrontalen Cortex. Daher werden diese Kinder mit Stress und Angst anders umgehen.

Schon von Geburt an ist das Gehirn jedes Kindes anders. Die Ursache dafür liegt in der Interaktion zwischen der genetischen Veranlagung und den Umgebungsfaktoren, die sich auf die Hirnentwicklung in der Gebärmutter auswirkt, in der lokalen Selbstorganisation einzelner Hirnregionen und dem Zufall, der dabei eine große Rolle spielt. Das bedeutet auch, dass jeder Mensch andere Begabungen und Begrenzungen hat, sich anders verhält, anders auf seine Umgebung reagiert und sich unter anderen Bedingungen wohlfühlt. Das macht einen Teil der enormen individuellen Vielfalt der Menschheit aus, die es in der Evolution immer schon gab und immer geben wird. Daher sollten wir die Unterschiedlichkeit der Menschen besser akzeptieren, wie es der Buddhismus von jeher lehrt.

Abb. I.4 Gustav Klimt, Die Hoffnung I (1903)© National Gallery Canada

4. Zwillingsstudien

Zwillingsstudien belegen die Bedeutsamkeit genetischer Faktoren für die Hirnentwicklung. In diesen Untersuchungen wurden eineiige Zwillinge, bei denen die Gene zu 100 Prozent identisch sind, mit zweieiigen Zwillingen verglichen, die 50 Prozent ihrer Gene gemeinsam hatten. Aus der Zwillingsforschung weiß man beispielsweise, dass unser Glücksempfinden zu 40 Prozent und unser IQ im Erwachsenenalter zu mehr als 80 Prozent genetisch bedingt sind.

Die Zwillingsforschung zeigt zudem, dass die Menge an grauer Substanz (Hirnzellen und Kontakte) und weißer Substanz (Nervengewebe) zu 82 bis 90 Prozent erblich vorgeprägt ist. Was das Volumen der einzelnen Hirnregionen anbetrifft, ist der erbliche Faktor jedoch sehr unterschiedlich, er variiert offenbar zwischen 17 und 88 Prozent.

Abb. I.5MRT-Scan eines eineiigen Zwillingspaars. Zwischen dem P und dem Pfeil hat das Gehirn des oberen Kindes drei Hirnwindungen, das des unteren vier (Steinmetz et al. 1994). Das Muster der Hirnwindungen und -furchen entwickelt sich vor allem in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten. Die Ursache für diese nicht genetisch bedingten Unterschiede muss sich also in dieser Phase manifestiert haben.© Steinmetz et al., 1994

Zwillingsstudien haben zwar belegt, dass die Dicke der präfrontalen Hirnrinde zu mehr als 80 Prozent genetisch bestimmt wird, sie haben aber auch gezeigt, dass die Hirnrinden-Dicke der parietalen Assoziationsfelder zu mehr als 80 Prozent von der Umgebung beeinflusst wird. Die Stärke der Umgebungseinflüsse variiert also je nach Hirnregion gravierend. Allerdings lässt sich gegen die Prämissen der Zwillingsforschung mittlerweile einiges einwenden. Lange Zeit ging man davon aus, eineiige Zwillinge seien genetisch identisch. Doch Studien unter Zuhilfenahme des niederländischen Zwillingsregisters haben erwiesen, dass sich auch nach der Befruchtung in der Gebärmutter noch genetische Differenzierungen einstellen können.

Unsere Hirnstruktur und unser Verhalten sind allerdings keineswegs ausschließlich genetisch bedingt. Die Grundlage für die Eigenarten in den Charakteren eineiiger Zwillinge sind mögliche Unterschiede ihrer Gehirne, die sich selbst mit bloßem Auge erfassen lassen. Die Hirnentwicklung, die sich im Muster der Hirnwindungen und -furchen manifestiert, muss also schon während der Schwangerschaft stark von nicht genetischen Faktoren beeinflusst worden sein, beispielsweise von einer etwas unterschiedlichen Umgebung in der Gebärmutter und den lokalen Prozessen des Selbstorganisationsprinzips. In diesen Prozessen konkurrieren die Hirnzellen lokal um die besten Verbindungen (siehe II.1). Nach der Geburt spielt für die Entwicklung struktureller und funktioneller Unterschiede der Gehirne auch das Lernen eine Rolle, was sich unter anderem in berufsbedingten Differenzierungen bei Musikern und Taxifahrern zeigt (siehe XV.2).

Jedes Gehirn ist einzigartig. Das illustrieren die amerikanischen siamesischen Zwillinge Abby und Brittany Hensel eindrucksvoll. Sie verfügen über dieselbe genetische Ausstattung, leben in einem gemeinsamen Körper und haben von Anfang an jeden Moment ihres Lebens in derselben Umgebung verbracht und dasselbe erlebt. Jede von ihnen hat einen Arm und ein Bein. Um Autofahren zu lernen, mussten sie eng zusammenarbeiten. Als sie mit sechzehn ihren Führerschein machen wollten, diskutierte die Behörde die Frage, ob sie einen oder zwei Führerscheine bekommen sollten. Aus Sicht der Hirnforschung wurde die richtige Entscheidung getroffen: Sie haben zwei Gehirne, sind also zwei Personen, daher mussten sie auch zweimal den Führerschein machen. Am Ende eines bemerkenswerten Films über ihr Leben sagen sie: »Wir sind zwei völlig verschiedene Personen!« So berichten auch Eltern zweieiiger Zwillinge bereits wenige Monate nach der Geburt, dass sich ihre Kinder, wenngleich sie sich sehr ähnlich sehen, doch anders verhalten und verschiedene Charaktere haben.

Abb. I.6 Die siamesischen Zwillinge Abby und Brittany Hensel. »We are totally different persons!«

II Entwicklung und Organisation unseres Gehirns

1. Das Gehirn als selbstorganisierendes System

Alle Menschen sind gleich erschaffen.

AUS DER PRÄAMBEL DER AMERIKANISCHEN UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG,

IM WESENTLICHEN VERFASST VON THOMAS JEFFERSON (1776)

Im Gegensatz zu der Vorstellung, die diese berühmte Zeile nahezulegen scheint, sind alle Gehirne verschieden, auch deshalb, weil sich das Gehirn wie ein selbstorganisierendes System entwickelt und entsprechend funktioniert. Darunter ist zu verstehen, dass sich in einem chaotischen System spontan Strukturen bilden. Selbstorganisation findet in komplexen Systemen statt, und ihre Prinzipien lassen sich überall beobachten: in einem Ameisenhaufen, im Wirtschaftsleben, im Weltall. Selbstorganisation kann sogar dazu führen, dass eine Population als eine Einheit, als ein Superorganismus zu funktionieren beginnt (siehe XVII.1).

Ein gutes Beispiel für Selbstorganisation ist das Schwarmverhalten der Stare. Sie fliegen zunächst in kleinen Gruppen von ihren Futterplätzen zu einem Sammelplatz. Dort führen sie ihre spektakuläre akrobatische Flugshow auf, um dann plötzlich mit großem Getöse in ihre Schlafbäume einzufliegen. Bei ihrem Flug müssen sie einen festen Abstand zu ihren Nachbarn einhalten. Außerdem halten sie den Schwarm halbwegs transparent, indem sie nicht zu dicht zusammen fliegen. Auf diese Weise sind sie durch ihre Nachbarn geschützt und können gleichzeitig Ausschau nach Raubvögeln in der Ferne halten. Das setzt eine sehr schnelle Verarbeitung und Weitergabe von Informationen voraus. Ein wichtiger Wesenszug der Selbstorganisation liegt darin, dass es keinen Leitvogel gibt, der dem Schwarm eine zielgerichtete Struktur vorgibt.

Auch in der Wirtschaft erkennt man mittlerweile die Vorteile der Selbstorganisation: Mehr horizontale und weniger vertikale Organisation, lautet die Devise. Die Mitarbeiter organisieren ihre Arbeit möglichst eigenständig, ohne Anweisung von oben. Die Planung, die Steuerung einschließlich der damit verbundenen Koordinationsprozesse, die Umsetzung und die Evaluation der Arbeitsergebnisse hängen nicht von einer zentralen Führung ab, sondern basieren auf Eigeninitiative. Es gibt heutzutage erfolgreiche Unternehmen, die ohne Management auskommen. Die Verantwortung im lokalen Bereich zu belassen ist eine großartige Sache. Dennoch bedarf die Arbeit in einem großen internationalen Unternehmen mit zahllosen Niederlassungen in vielen Ländern einer zentralen Koordination. Diese sollte sich jedoch auf große strategische Entscheidungen beschränken. Unser Gehirn hat das schon vor Millionen von Jahren begriffen.

 

Abb. II.1 Starenschwarm. Ein Beispiel von Selbstorganisation.© Franke de Jong/Shutterstock.com

Unser Gehirn ist zu komplex, um sich ausschließlich aufgrund genetischer Informationen zu entwickeln oder aufgrund der Lenkung einer einzigen Hirnregion zu funktionieren. Es entwickelt sich wie ein komplexes, selbstorganisierendes System, und als solches arbeitet es auch unser Leben lang. Dementsprechend wird im Lauf seiner Entwicklung so viel wie möglich lokal nach den besten Lösungen zur Ausbildung dieses komplexen Netzwerks gesucht. Die wichtigsten Ingredienzien zur Selbstorganisation sind im Gehirn vorhanden:

Das Netzwerk der Hirnzellen ist äußerst komplex.

Zwischen den einzelnen Teilen des Gehirns ist eine rasend schnelle Kommunikation möglich.

In den lokalen Netzwerken treten Veränderungen auf, die auf Erfahrung zurückzuführen sind; es finden also Lernprozesse statt.

Möglichst viele Prozesse werden an ein niedrigeres Niveau delegiert, so dass in unserem Gehirn vieles auf lokaler Ebene automatisch und daher unbewusst geregelt und entschieden wird.

Es gibt kein Zentrum, das ständig bis in alle Einzelheiten diese lokalen Prozesse nachvollzieht und regelt.

Der Nachteil dieser lokalen Organisationsform besteht darin, dass das Gehirn weder die Vorgänge in den einzelnen Hirnregionen noch deren Funktionszusammenhang ständig im Detail überblickt. Deshalb können ihm auch funktionelle Schwierigkeiten einzelner Systeme entgehen. So zeigen zum Beispiel Patienten bei Demenz oder psychiatrischen Störungen oft keine Krankheitseinsicht. In manchen Fällen denken sie, mit ihnen sei alles in Ordnung oder die Probleme würden nicht von ihnen selbst, sondern von ihrer Umgebung verursacht. Man spricht in einem solchen Fall von Anosognosie.

Funktioniert das Gehirn jedoch gut, und es tritt ein Bedarfsfall – eine neue Situation oder ein Notfall, in dem viele Hirnsysteme koordiniert werden müssen – ein, kann ein »höheres« Hirnsystem, etwa der präfrontale Cortex, die strategischen Entscheidungen an sich ziehen. Dann werden alle Systeme für das eine Ziel eingesetzt: überleben. Als würden sich alle Neuronen zu einem Superorganismus organisieren. Sobald eine solche Situation überstanden ist, werden die unterschiedlichen Funktionen wieder an die jeweilige lokale Ebene delegiert.

Bei Markierung E ist eine Pyramidenzelle zu sehen. Die baumförmige Struktur oberhalb des Zellköpers wird von den Dendriten gebildet. Hier werden die Informationen von Tausenden anderen Zellen empfangen und verarbeitet. An jeder Knospe auf einem Dendriten sitzt ein Zellkontakt, eine Synapse. Eine Nervenfaser läuft schnurgerade nach unten: das Axon. Über das Axon sendet diese Pyramidenzelle ihre Entscheidungen über die eingehenden Informationen wiederum zu Tausenden anderen Zellen. Wie in dieser Darstellung erkennbar ist, hat Cajal seine Federzeichnungen mit weißer Farbe korrigiert. Die Originale sind auch heute noch im Cajal Institut in Madrid zu sehen.

Cajal war ein spanischer Arzt und Histologe, der die Struktur und die Verbindungen der Hirnzellen unter dem Mikroskop erforscht und hervorragende Zeichnungen davon angefertigt hat.

Schon mit acht Jahren verspürte er, so schrieb er selbst, einen unwiderstehlichen Drang zu zeichnen. Er zeichnete heimlich, da seine Eltern Zeichnen als sündigen Zeitvertreib ansahen. In der Schule sperrte man ihn zur Strafe in einen dunklen Karzer, weil er mit großem Erfolg – zumindest bei seinen Mitschülern – Karikaturen seiner Lehrer angefertigt hatte. Cajals Vater schickte ihn sogar als Schuhmacherlehrling ein Jahr fort, um ihm das Zeichnen auszutreiben. Letztendlich gelang es Cajal, seinen Wunsch zu zeichnen auf geniale Weise mit seiner Hirnforschung zu verbinden.

An Cajals Zeichnungen können Fotos niemals heranreichen. Denn diese Zeichnungen sind Kompilationen, in denen Fragmente jahrelanger Studien zu einer korrekten Struktur zusammengefügt wurden. Cajal verwendete eine verbesserte Golgi-Färbung, die von tausend Hirnzellen nur eine einfärbt, diese eine eingefärbte Zelle dafür aber zur Gänze sichtbar macht. Diese Methode des Einfärbens wurde von dem italienischen Arzt Camillo Golgi (1843–1926) entwickelt. Für seine Entdeckungen erhielt Cajal 1906 gemeinsam mit Golgi den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Cajal hat nachgewiesen, dass das Nervensystem aus unabhängigen Neuronen besteht, die über spezialisierte Synapsen miteinander kommunizieren. Bis zu seinem Tod, ja sogar in seiner Nobelpreisrede, bestritt Golgi diese Erkenntnis Cajals: Seiner Ansicht nach bestand das Nervensystem aus einem Netzwerk kommunizierender Zellen. Cajal sollte jedoch recht behalten: Bei Nervenzellen handelt es sich um unabhängige Einheiten. Er kam schließlich zu dem Schluss, dass die Überlegenheit des menschlichen Gehirns auf seine in ihrer Anzahl und Form einzigartige Fülle von Nervenzellen mit kurzen Axonen zurückzuführen ist, also auf die lokalen Netzwerke in der Hirnrinde.

Abb. II.2 Die Nervenzellen in der menschlichen Hirnrinde, gezeichnet von Santiago Ramón y Cajal (1852–1934).

2. Wettstreit um die besten Kontakte: neuronaler Darwinismus

Cells that fire together, wire together.

DONALD HEBB (1949)

Wegen der unvorstellbar großen Anzahl von Gehirnzellen und zu legenden Kontakten spielen in der Hirnentwicklung selbstorganisierende Prinzipien eine wichtige Rolle. Ihnen ist es zu verdanken, dass jedes Gehirn – selbst wenn seine genetische Ausstattung mit der eines anderen übereinstimmt – im Lauf seiner Entwicklung einzigartig wird. Es bildet sich ein Netzwerk aus Milliarden von Neuronen, die über Synapsen mit jeweils 1000 bis 100 000 anderen Neuronen in Kontakt treten. Dieses extrem komplexe Netzwerk kann nicht per Synapse genetisch genau programmiert werden. Die genetische Ausstattung liefert in groben Zügen die Instruktionen zur Strukturierung des Gehirns und gibt die Prinzipien für die lokalen selbstorganisierenden Prozesse vor. Die Details werden dann im lokalen Funktionszusammenhang der Hirnzelle im Fortgang der Entwicklung ergänzt.

In der Entwicklungsphase bildet sich ein Übermaß an Zellen, Nervenfasern und Kontakten. Später entsteht zwischen ihnen ein Wettstreit, aus dem die am besten funktionierenden Verbindungen als Sieger hervorgehen. Und auch dabei spielt die Umgebung der Hirnzelle für ihre Entwicklung eine große Rolle. Zunächst bildet sich lokal spontane elektrische Aktivität im Netzwerk der Nervenzellen. In einem späteren Stadium wird die elektrische Aktivität auch von den Informationen bestimmt, die von unserem Körper und durch die Sinnesorgane von unserer Außenwelt kommen, wie etwa sensorische Wahrnehmungen durch das Rückenmark, visuelle Informationen durch die Augen und Geräusche durch das Gehör.

Unter dem Einfluss der elektrischen Aktivität in der Entwicklungsphase werden mit großer Präzision zwischen verschiedenen Hirnregionen und Hirnzellen Verbindungen gelegt. Wenn Zellen intensiv in Kontakt stehen, wird dieser Kontakt verstärkt. Wenn die elektrische Aktivität die Zellkontakte erreicht, werden dort chemische Botenstoffe abgesondert, die auf die Zelle, mit der Kontakt aufgenommen wird, einwirken. Zellen, die gemeinsam feuern (das heißt gemeinsam elektrisch aktiv sind), bauen Verbindungen zueinander auf. Wenn der Kontakt schwach ist, löst er sich mit der Zeit auf, und in der Folge lösen sich auch die beteiligten Hirnzellen auf. Zellsterben ist übrigens in der Hirnentwicklung ein völlig normaler Prozess. Es geht hier also um ein survival of the fittest. Wir produzieren fünfmal so viele Hirnzellen, wie wir letztlich übrig behalten; dieser Prozess wird daher auch »neuronaler Darwinismus« genannt.

Später werden die nicht optimal funktionierenden und überflüssigen Kontakte gekappt. Letztlich bleiben schätzungsweise mehr als eine Million Kilometer Nervenfasern in unserem Gehirn übrig. Die Anzahl ist so groß, dass der Zufall dabei zu individuellen Unterschieden führen muss. Die Hirnzellgruppen, die sich im Zuge der Hirnentwicklung miteinander verbinden, finden zunächst mit Hilfe genetischer Programme, die chemische Botenstoffe verwenden, grob zusammen, um dann ihre Verbindungen im Funktionszusammenhang genauer zu justieren. Auf diese Weise beeinflusst die Aktivität der Hirnzellen das Bilden von Verbindungen und damit auch die Entwicklung des Gehirns. Die miteinander verbundenen Hirnstrukturen kooperieren später auch in Lern-, Denk- und Erinnerungsprozessen.

Das bedeutet nicht, dass unser Gehirn damit ein für alle Mal festgelegt wäre. Geringfügige Schädigungen oder Entwicklungsstörungen lassen sich oftmals durchaus reparieren, aber in welchem Umfang dies möglich ist, hängt vom Grad der Störung und dem Alter des Betroffenen ab. Je jünger das Gehirn ist, desto größer seine Plastizität. Auf der Mikroebene bleibt die Plastizität auch später noch erhalten.

3. Kritische Entwicklungsphasen: jetzt oder nie

Auf Grundlage der genetischen Ausstattung und des Prozesses eines neuronalen Darwinismus formen sich die Hirnsysteme eines Kindes in seiner Entwicklung vor und nach der Geburt aus. Als Beispiel für den Verlauf dieses Prozesses können wir die Ausbildung des visuellen Systems nachverfolgen (siehe VII).

Die Neuronen (Hirnzellen), die im Inneren des Gehirns, in der Nähe der Ventrikel, entstehen, erhalten den genetischen Auftrag, sich zu einem bestimmten Zelltyp zu entwickeln. Dann kriechen sie, gleich einem Spähtrupp, entlang den Nervenzellen der Gliazellen in die primäre Sehrinde (V1) und differenzieren sich dort aus. Gliazellen galten früher als Hilfszellen der Neuronen, sie spielen aber offenbar in der Entwicklung des Gehirns und bei der Übertragung chemischer Botenstoffe eine sehr aktive Rolle. Die Neuronen ziehen nun mit Hilfe einer chemischen Botschaft die Nervenfasern der Zellen aus dem Thalamus (Corpus geniculatum laterale) an, damit diese die Informationen aus dem Auge empfangen und verarbeiten können.

Bei der Ausbildung der Kontakte zwischen den einwachsenden Nervenfasern und den Zellen der Hirnrinde ist die elektrische Aktivität, die innerhalb dieses Systems durch das Sehen hervorgerufen wird, unerlässlich für die Reifung und Aufrechterhaltung der typischen Hirnrindenstruktur des Sehsinns. Das System muss während einer sehr sensiblen – kritischen – Entwicklungsphase nach der Geburt »sehen lernen«. Menschen, die mit einer undurchsichtigen Linse im Auge (angeborenem Star) geboren werden, können nicht mehr sehen lernen, wenn ihnen erst nach dieser kritischen Entwicklungsphase eine neue Linse ins Auge eingesetzt wird. Sorgt das »träge Auge« eines schielenden Kindes in der kritischen Entwicklungsphase der Sehrinde nicht für ausreichend Hirnzellenaktivität, reagiert die Sehrinde später nicht mehr auf Informationen aus diesem trägen Auge. Deshalb deckt man das gesunde Auge eines schielenden Kindes für eine gewisse Zeit ab, um das träge Auge zu zwingen, Informationen dieses Auges an die Sehrinde zu senden. Auf diese Weise lässt sich die Funktion der Hirnrinde erhalten.

Umgekehrt sind Verbindungen, die sich in der kritischen Entwicklungsphase gebildet haben, lebenslang sehr stabil. Jeder kleine Hirnbereich – und innerhalb eines solchen kleinen Bereichs jede einzelne Hirnzelle – hat eine andere kritische Phase, innerhalb derer eine normale Hirnentwicklung stattfinden kann. Die Hirnregionen, die für unsere Genderidentität (das Gefühl, ein Mann oder eine Frau zu sein) und für unsere sexuelle Orientierung bedeutsam sind, werden vor unserer Geburt programmiert (III.1), und die Hirnregionen und Systeme, mit deren Hilfe wir unsere Muttersprache sprechen lernen, nach der Geburt (V.2; V.3).

4. Chemische Substanzen und Hirnentwicklung: funktionelle Teratologie

Die medizinische Wissenschaft hat so ungeheure Fortschritte gemacht,

dass es praktisch keinen gesunden Menschen mehr gibt.

ALDOUS HUXLEY

Die Entwicklung des Gehirns vollzieht sich aufgrund chemischer Signale zwischen den Hirnzellen. Das macht diese Entwicklung für Substanzen, die die Plazenta passieren, angreifbar. Auch nach der Geburt können chemische Substanzen die Hirnentwicklung noch drastisch beeinflussen. Im Unterschied zur Wirkung chemischer Substanzen auf das Gehirn eines Erwachsenen wirken sich diese Stoffe in der Entwicklungsphase auf die Ausgestaltung der Bausteine des kindlichen Gehirns aus; damit können sie die Struktur und folglich auch die spätere Funktion des Gehirns dauerhaft beeinflussen. In einem solchen Fall wirkt ein Kind bei der Geburt zwar gesund, doch später treten die Effekte dieser chemischen Substanzen auf die Hirnentwicklung in Lern- und Verhaltensproblemen oder psychiatrischen Störungen zutage. Dieses Fachgebiet wird »funktionelle Teratologie« oder »Verhaltensteratologie« genannt.