Unsere Geschichte mit Sex - Daniel Wegner - E-Book

Unsere Geschichte mit Sex E-Book

Daniel Wegner

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Beschreibung

Über Sex werden viele verschiedene Geschichten erzählt – auch im christlichen Kontext. Jede Einzelperson hat ihre eigene Geschichte mit Sex. Die empirica Sexualitätsstudie hat untersucht, welche Geschichten über Sex in christlichen Büchern, Zeitschriften und Social Media erzählt werden und wie sie sich im Leben von 14 jungen Christ:innen widerspiegeln. Wahrnehmbar werden laute Debatten über Solosexualität oder Sex vor der Ehe und leise Lebensgeschichten wie die von Rahel oder Juliano. Die wichtigsten Ergebnisse werden in diesem Buch gut nachvollziehbar vorgestellt.

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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Diese Studie ist lehrreich. Präzise werden drei Grundverständnisse von Sexualität unter hochreligiösen Christen herausgearbeitet. Die Stärke liegt aber zweifellos in den sehr persönlichen und offenen Interviews, die einen Einblick geben in die sexualethischen Einstellungen, Verhaltensweisen und theologischen Sichtweisen einzelner Christen. Nach der Lektüre frage ich mich, ob wir nicht viel zu sehr fixiert sind auf das Einhalten einer vermeintlich eindeutigen christlichen Sexualethik. Vor diesem Hintergrund machen manche Interviews in dem Buch sprachlos und traurig. Wir brauchen beim Thema Sexualität einen an der Bibel orientierten menschlichen Umgang miteinander. Hier gibt es für christliche Gemeinden und Kirchen viel hinzuhören und zu lernen. Insbesondere für Seelsorgerinnen und Seelsorger und alle Verantwortlichen in der Gemeinde- und Jugendarbeit unbedingt lesenswert!

CHRISTOPH STIBA, GENERALSEKRETÄR DES BEFG

Dem Forscherteam der CVJM-Hochschule ist mit einer mehrjährigen Forschung ein längst überfälliger, aber nun großer Wurf zum Thema Sexualität gelungen! Im Buch geht es um den Background der Teilnehmenden, ihre Haltung zu Sex vor der Ehe, um Gemeinde und Sexualität, theologische Argumentation, die Wortwahl bei sexuellen Themen, Zweigeschlechtlichkeit und vieles andere. Besonders gefallen mir die zu jedem Thema gehörenden Berichte Betroffener und die Emotionen und Gedanken der vier Forschenden während des Prozesses.

MARTINA KESSLER, THEOLOGIN UND AUTORIN

»Unsere Geschichte mit Sex« ist ein mutiges und aufschlussreiches Buch. Es beleuchtet die komplexen und oft kontroversen Themen rund um Sexualität und christlichen Glauben. Es bietet eine differenzierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven und ist ein Muss für alle, die festgefahrene Debatten endlich aufbrechen wollen. Die Verbindung von Forschungsergebnissen und persönlichen Geschichten regt zu einem offeneren und ehrlicheren Umgang mit Sexualität an, den wir in unseren Gemeinden und Kirchen dringend nötig haben.

MARTIN BENZ, SELBSTSTÄNDIGER THEOLOGE

Ist eine wissenschaftliche Forschungsarbeit auch dann eine, wenn sie sich phasenweise spannend wie ein Roman und berührend wie ein Liebesbrief liest? Ja. Die hier schon.

Würde ich Ihnen verraten, auf welchen Seiten die überraschendsten, die ärgerlichsten und die erfreulichsten Forschungsergebnisse stehen, läsen Sie vielleicht ja nur die. Deshalb, psst, sag‘ ich nix. Nur so viel: Lesen Sie alle! Lohnt sich.

ANDREAS MALESSA, HÖRFUNKJOURNALIST UND THEOLOGE

Eines der großen Tabus vieler kirchlicher Gemeinschaften ist das Thema Sexualität. Dieses außerordentlich gelungene Buch, dessen Mittelpunkt ausführliche Interviews mit religiösen Menschen bildet, findet einen neuen Zugang. Es zeigt das große Dilemma lang praktizierter Sexualskepsis und die Not, die daraus oftmals für junge Menschen entsteht, die sich zwar zu einer Kirchengemeinschaft und ihrer Herkunftsfamilie zugehörig fühlen, andererseits aber auch unbedingt und mit Recht eine lebendige und schöne Zweierbeziehung leben wollen, in der Sexualität einfach dazugehört, auch wenn man (noch) nicht verheiratet oder homosexuell ist. Das Buch zeigt die große Bandbreite des Umgangs mit Tradition und Zukunftsaufgaben auf eindrückliche Weise. Ein berührendes Beispiel für eine christliche Ethik der Vielfalt, angekommen mitten im einundzwanzigsten Jahrhundert.

ANDREAS HEEK, LEITER DER KIRCHLICHEN ARBEITSSTELLE FÜR MÄNNERSEELSORGE UND MÄNNERARBEIT IN DEN DEUTSCHEN DIÖZESEN

Spannend, lehrreich, wirklich wichtig. Eine Tiefenbohrung in ein zentrales, aber komplexes Thema, das uns alle betrifft und von dem wir meistens nur die dürftige Oberfläche kennen.

GOFI MÜLLER, THEOLOGE UND HOST DES PODCASTS »HOSSA TALK«

Die Sexualstudie zeigt, wie tiefgreifend die gesellschaftlichen Veränderungen rund um das Thema Sexualität auch Christ*innen in ihrer Sexualität und ihren Beziehungsformen beeinflussen. Wer sich für das Verhältnis von christlicher Religiosität und Sexualität interessiert, findet hier eine wahre Goldgrube an Impulsen.

JONAS SIMMERLEIN, THEOLOGE UND HOST DES PODCASTS »LIEBESÄPFEL«

Daniel Wegner | Jennifer Paulus | Leonie Preck | Tobias Künkler

UNSERE GESCHICHTE MIT SEX

EINBLICKE IN LAUTE DEBATTEN UND LEISE LEBENSGESCHICHTEN

R. Brockhaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die empirica Sexualitätsstudie, deren Ergebnisse die Grundlage für dieses Buch bilden, wurde von der Stiftung Christliche Medien gefördert.

© 2025 R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: brockhaus-verlag.de

Die Bibelverse folgenden Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Used by permission. (LUT)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart. (EÜ)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Lektorat: Christiane Kathmann; www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter; grafikbuero-sonnhueter.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-417-27136-2

Artikelnummer: D70010440

INHALT

DANK

COLLAGE – EINE (NICHT GANZ) FIKTIVE WOCHENENDFREIZEIT

EINLEITUNG – EINE FORSCHUNGSREISE ZU LAUTEN DEBATTEN UND LEISEN LEBENSGESCHICHTEN

1 WO WIR HERKOMMEN … STREIFZÜGE DURCH DIE GESCHICHTE DER SEXUALITÄT

KAPITEL 2

RAHEL - WIE SEX EINE FAMILIE SPALTET

2 VON FEUER, ÖL UND REGENBÖGEN – WIE SEXUALITÄT VERSTANDEN WIRD

KAPITEL 3

OLIVER - GOTTES WILLE FÜR UNSERE SEXUALITÄT

SINA - SEX VOR DER EHE UND DIE WEIBLICHE LUST

3 DER KLASSIKER – KEIN SEX VOR DER EHE

KAPITEL 4

SIMON - ZWISCHEN PURITY UND PORNO

4 GEMEINDE UND SEXUALITÄT – EINE ON-OFF-BEZIEHUNG

KAPITEL 5

MANUEL - GOTTES GUTE VORSTELLUNGEN

ANNE - FEHLENDE FREUDE AM SEX

5 WIE THEOLOGISCH ARGUMENTIERT WIRD

KAPITEL 6

NAEMI - WIE ICH MEINE KINDER ERZIEHEN WILL

6 SEX EDUCATION – ODER: WIE ÜBER SEX GESPROCHEN WIRD

KAPITEL 7

IAN - SEXUALITÄT OHNE PARTNERSCHAFT GESTALTEN

7 ICH UND SEX – WIE CHRIST:INNEN SOLOSEXUALITÄT ERLEBEN

KAPITEL 8

TERESA - HADERN MIT DER TRADITIONELLEN ROLLE

HANNAH - DIE BÜRDE DES FRAUSEINS

8 ZWEI GESCHLECHTER, ZWEI SEXUALITÄTEN?

KAPITEL 9

DAMARIS - DER KAMPF MIT SEXUELLEM MISSBRAUCH

9 DIE SCHATTENSEITEN VON SEXUALITÄT – GEWALT UND MISSBRAUCH

KAPITEL 10

JULIANO - QUEERSEIN UND GEMEINDE

LEA - SEXUELLE ORIENTIERUNG UND IDENTITÄT

10 DIE DEBATTE UM SEXUELLE VIELFALT

KAPITEL 11

TOM - WENN GOTT KEINE KINDER SCHENKT

11 WAS SONST NOCH WICHTIG IST

EPILOG – UNSERE (WEITERE) GESCHICHTE MIT SEX

AUTOR:INNEN

HILFREICHE LINKS

ANMERKUNGEN

DANK

Bevor Unsere Geschichte mit Sex beginnt, wollen wir kurz auf unsere Geschichte mit diesem Buch und der empirica Sexualitätsstudie eingehen, die nicht denkbar wäre ohne die vielen Menschen, die sie mitgeschrieben haben. Dazu gehören natürlich die über 10 000 Personen, die an der Online-Befragung teilgenommen haben, und die vielen Gesprächspartner:innen in unseren Familien und unter unseren Freund:innen und Kolleg:innen, die sich mit uns auf das Thema Sexualität und Glaube eingelassen haben. Einige Personen möchten wir an dieser Stelle nennen, weil sie besonders stark mit der Entstehung des Buchs verbunden sind:

Tabea Halbmeyer, Caro Schubert und Hans-Werner Durau, unsere Wegbegleiter:innen für dieses Projekt im SCM Verlag. Andy Sonnhüter, der als Grafiker nicht nur stets unkompliziert und angenehm ansprechbar war, sondern sichtbar eine wunderbare Arbeit geleistet hat. Christiane Kathmann, die als Lektorin das Skript final geprüft und mit ihrem ganz besonderen Feinschliff zu diesem Buch beigetragen hat. Allen, die unsere Kapitel kritisch gegengelesen und sie damit besser gemacht haben: Lenni Berger, Simone Dengler, Kalle Wegner, Ursula Wegner, Philine Wienand. Allen, die neben uns Autor:innen an diesem Forschungsprojekt mitgearbeitet haben: Tobias Faix, der als Teil der Institutsleitung von der Initiierung bis zur Auswertung insbesondere dafür gesorgt hat, dass blinde Flecken aufgedeckt wurden. Ramona Wanie und Tabea Peters, die sich über ihre wertvolle Mitarbeit in Teilstudie 3 hinaus Zeit für ein kritisches Feedback zu diesem Buch genommen haben. Lucas Döbel, Amelie Knappe und Céline Fischer für die kompetente Arbeit in Teilstudie 3. Lenni Berger, Daniel Ivanov und Dorothee Müller, die zu Beginn wichtige Beiträge zur Studie geleistet haben. Und natürlich: Anna Storz, Philipp Manthey und vor allem Victoria Lang, die als studentische Hilfskräfte das Projekt in unterschiedlichen Phasen unterstützt haben. Den Expert:innen aus unseren drei Beiräten, die uns vielfältig treffsicher beraten und die Studie konstruktiv kritisch begleitet haben. Der CVJM-Hochschule und allen, die sie gestalten – durch ihr tolles institutionelles Gefüge mitsamt den großartigen Menschen hat sie erst ermöglicht, dass dieses Forschungsprojekt durchgeführt werden konnte. Den Interviewpartner:innen, die uns ihre Zeit geschenkt haben, aber vor allem Anteil an ihren Erfahrungen, ihrem Glauben und ihren Geschichten – den schönen wie den schweren. Sie zeigen, wie auf faszinierende Art über Sexualität gesprochen werden kann.

Wir sagen von ganzem Herzen Danke! Und wir freuen uns darüber, wie viele und wie vielfältige Menschen dazu beigetragen haben, dieses Projekt auf die Beine zu stellen und gelingen zu lassen.

DANIEL WEGNER, JENNIFER PAULUS, LEONIE PRECK & TOBIAS KÜNKLER

COLLAGEEINE (NICHT GANZ) FIKTIVE WOCHENENDFREIZEIT

»Dort an der Haltestelle neben dem Bahnhofsgebäude, das müssten Sina und Juliano sein«, denkt Lea. Die beiden haben eine Mitfahrgelegenheit gesucht, weil der Bus nur selten fährt. Nachdem sie sich begrüßt haben, fahren sie die letzte Wegstrecke zu dem etwas abgelegenen Freizeitheim, in dem die Wochenendfreizeit zum Thema Sexualität stattfindet.[1]

Als sie ankommen, sitzen die anderen elf jungen Erwachsenen bereits beim Abendessen. Juliano, der am stärksten in die Organisation eingebunden war, begrüßt die Teilnehmenden offiziell: »Wow, schön, dass ihr hier seid und dass wir das in dieser Vielfalt hinbekommen haben. Sieben sind Mitglieder in evangelischen Landeskirchen, sieben besuchen Freikirchen. Für mich ist das was ganz Besonderes. Wie schade, dass sich niemand aus der katholischen Kirche angemeldet hat.«

DER KENNENLERNABEND: GLAUBE UND KIRCHE - UND DIE BEDEUTUNG FÜR SEX

Wenig später sitzen alle beim Kennenlernabend zusammen. Es geht um die Bedeutung von Glauben und Gemeinde für Sexualität. Damaris beginnt: »Mein Glaube oder Kirche spielen heute keine große Rolle mehr, wenn es um Sexualität oder meinen Umgang damit geht. Einfach weil ich nicht mehr so glaube, wie ich früher geglaubt habe.«[2] Naemi stimmt ihr sofort zu: »In meiner Ehe stehen Glaube und Gemeinde nicht mehr so weit oben auf der Ratgeberliste.«[3]

Teresa erklärt, dass es ihr prinzipiell ähnlich geht. Aber als nach dem dritten Kind die Frage nach Verhütung aufkam, hat sie sich schon die Frage gestellt, was Gott eigentlich möchte. Zwischen Gemeinde und Sexualität gibt es für sie keine Verbindung, zwischen Glaube und Sexualität punktuell.

Das sieht Tom ein wenig anders. Auch für ihn spielt es inzwischen keine Rolle mehr, was in seiner Gemeinde zu Sexualität gesagt wird, aber er sagt: »Mein Glaube ist das, was meinen Umgang mit Sexualität am meisten prägt. Ich will nichts tun, wo ich das Gefühl habe oder weiß, dass es nicht im Sinne Gottes oder seiner Maßstäbe ist. Das ist keine Pflicht, sondern es sind gute Maßstäbe zu gutem Leben.«[4]

Etwas irritiert meldet sich Oliver zu Wort, der erst vor Kurzem Christ geworden ist. Er erklärt, dass er in seinem Glauben starken Halt findet, und ergänzt: »Seitdem ist es mein Ziel, mein ganzes Leben und damit natürlich auch Sexualität nach Gott auszurichten.«[5] Hannah pflichtet ihm bei: »Mein Glaube spielt eine ganz zentrale Rolle für meine Sexualität. Gebet, Bibellesen und die Gemeinschaft sind ganz wichtige Säulen in meinem Leben – gerade auch die Gemeinschaft in der Kirche.«[6]

Der Abend wird länger …

MORGENANDACHT: SEX ALS ANBETUNG

Der nächste Morgen beginnt mit einer Andacht, die Anne vorbereitet hat. Sie möchte anderen die Wahrheiten weitergeben, die in der Bibel stehen: »Gott hat sich Sexualität ausgedacht. Was ist das für ein verrückter Gott, der sich Sexualität ausdenkt. Wir schließen Gott so oft aus diesem Thema aus, aber er hat sich das erdacht und möchte, dass wir Freude daran haben.«[7] Sie fährt fort: »Meine Botschaft für euch ist, dass wir unsere Sexualität als Anbetung verstehen«, und ergänzt: »Gott möchte, dass unsere Ehe ein Spiegel für ihn ist.«[8] In diesem Moment erklingt ein lautes Amen von Oliver, der ergänzt: »Dieses Thema wird eigentlich zu wenig besprochen in der Gemeinde und unter Geschwistern. Ich habe bis jetzt keine Predigt dazu gehört.«[9]

»Dabei ist unser Glaube doch selbst so persönlich und intim«, fügt Ian hinzu. Er schnappt sich seine Gitarre und stimmt den bekannten Worship-Song Jesus My Everything von Chris und Joe Lee an.

WORKSHOP I: GEMEINDLICHE PRÄGUNG VON SEXUALITÄT

Nach einem ausgiebigen Frühstück – ohne den typischen Gästehaustee – steht ein erster Workshop auf dem Programm zum Thema: gemeindliche Prägung von Sexualität. Wie aus der Pistole geschossen, sagen Tom und Rahel gleichzeitig: »Kein Sex vor der Ehe.«[10] Rahel ergänzt: »Kirche hatte zumindest in meinem Upbringing einen extrem großen Einfluss auf meinen Blick auf Sexualität. Also, da war ich noch stark in diesem Schwarz-Weiß-Denken.«[11]

»Ja«, stimmt ihr Tom zu, »früher war das Bild von Kirche und Gemeinde eher negativ auf Sexualität gerichtet. Masturbation und so was ist eher Sünde, so Gefühle habe ich von der Kirche oder Gemeinde vermittelt bekommen.«[12] Teresa erinnert sich: »Da gab es auch dieses Angebot, sich einen Ring zu kaufen, der einen immer daran erinnern sollte, dass man keinen Sex vor der Ehe haben soll, und der dann durch den Ehering ausgetauscht werden sollte.«[13]

Jetzt meldet sich Sina zu Wort. Sie findet es krass, dass die anderen quasi schon im Kindergottesdienst mit sexueller Enthaltsamkeit groß geworden sind. Sie ist erst als junge Erwachsene Christin geworden und erzählt: »Da wurde mir gesagt, was quasi ins Paket gehört, und da gehört halt auch Enthaltsamkeit bis zur Ehe rein. Das war irgendwie spannend, weil es das komplette Kontrastprogramm zu dem war, wie ich aufgewachsen bin.«[14] In Teresas Familie hat der Glaube ebenfalls keine große Rolle gespielt: »Wir haben nicht gebetet oder gesungen. Zum Gottesdienst sind wir an Weihnachten gegangen, aber an Ostern nicht.«[15]

Lea hat bisher nur zugehört und immer wieder etwas verwundert geguckt. Sie meint: »Ich bin in einer sehr liberalen Gemeinde aufgewachsen, wo ich nicht das Gefühl hatte, dass ich in diesem Thema in die eine oder andere Richtung gedrängt werde.«[16] Auch nicht beim Thema Homosexualität. Lea betont, dass sie in ihrer Gemeinde »klassische Werte« vermittelt bekommen hat, wie »nicht fremdgehen, nicht lügen, nicht betrügen.«[17]

Nach dem Austausch wird gemeinsam gekocht. Zum Nachtisch hat Paul amerikanischen Apfelkuchen mitgebracht.

FREIE ZEIT: SPORT, ENTSPANNUNG UND GESPRÄCHE

Der Nachmittag ist frei. Einige spielen zusammen Volleyball, ein paar machen Mittagsschlaf. Damaris und Hannah verabreden sich zum Spazierengehen. Sie unterhalten sich darüber, wie sie durch ihre christliche Prägung in ihrem Selbstbild beeinflusst wurden. »Ich habe natürlich gelernt, dass man sich als Mädchen in so einer Gemeinschaft zurücknimmt. Dass man sich selbst geringer achtet, dass man demütig und barmherzig ist.«[18] Hannah erzählt: »Ich hatte oft Angst, etwas falsch zu machen, hatte aber Lust auf Sexualität. Das wurde aber verteufelt. Uns Mädchen wurde erzählt, dass man mit Sex bis zur Ehe warten soll. Den Jungs zum Beispiel gar nicht so sehr, warum auch immer.«[19] Das hat etwas mit ihrer Identität gemacht.

Naemi und Rahel nutzen die Mittagspause, um die kleine Bibliothek der Freizeitanlage zu erkunden. Und siehe da, sie finden in einer dunklen Ecke ein Regalbrett mit der Aufschrift »Sexualität«. Naemi entdeckt sofort zwei Bücher, die sie von früher kennt: »Made in Heaven« und »Ungeküsst und doch kein Frosch«.[20] »Als das Buch auf den Markt gekommen ist, war das ein Riesenthema: Auf jeden Fall zwischengeschlechtliche Freundschaften nicht zu ernst werden lassen, bevor man reifer ist.«[21] Rahel kennt die Bücher und schmunzelt. Sie zückt ihr Handy und öffnet auf Instagram den Post eines christlichen Influencers: »Selbstbefriedigung ist Gottesdienst«[22] ist dort zu lesen. Sie schauen sich kurz an und müssen lachen. Rahel erzählt, wie sie in ihrer Gemeinde geprägt wurde: »Masturbation ist Sünde. Das habe ich dann eben geglaubt.«[23] Ihnen wird deutlich, wie vielfältig christliche Meinungen sein können.

LAGERFEUERABEND: ERFAHRUNGEN MIT SEXUALITÄT IN GEMEINDE

Wie auf Freizeiten üblich, ist der Samstagabend ein Highlight. Während sie Stockbrot machen, sitzen alle um ein großes Lagerfeuer und erzählen, was sie in ihren Gemeinden im Zusammenhang mit Sexualität erlebt haben. Das Gespräch kommt schnell auf negative Erfahrungen. Teresa berichtet: »Ich bin ziemlich früh schwanger geworden. Da waren wir fünf Monate zusammen und noch nicht verheiratet. Das hat in der Gemeinde für einige Kommentare und schiefe Blicke gesorgt. Weil wir eben nicht verheiratet waren und trotzdem miteinander geschlafen haben.«[24] Sie haben sich dann schnell verlobt und geheiratet, und nun schien für die Gemeinde alles in Ordnung. Naemi hat Ähnliches erlebt: »Unser Pastor hat mir ziemlich klar gesagt: ›Wenn du mit deinem Freund zusammenlebst, dann können wir dich nicht als Mitglied nehmen‹. Das hat mich in dem Moment extrem verletzt.«[25] Heute ist sie dem Pastor für diese klare Linie dankbar.

Ganz anders Sina. Sie erzählt, dass sie aus der Leitung rausgenommen wurde, als sie unverheiratet mit ihrem jetzigen Mann zusammenzog. »Natürlich durfte ich noch in den Gottesdienst kommen. Aber ich durfte nicht mehr die sein, die vorne steht und prägt und predigt, Leitung hat.«[26]

Naemi kommt ein wenig ins Reflektieren: »Ich hatte häufig den Eindruck, dass es Gemeinden ein großes Anliegen ist, alle Schäfchen ins Trockene zu bringen. Also, man versucht, junge Erwachsene bis zur Ehe zu begleiten und alles safe zu machen. Und wenn man sie verheiratet hat, puh, dann ist es geschafft. So ungefähr.«[27]

Nach einem kurzen Schweigen meint Lea, dass sie gern noch mal über Homosexualität reden würde. Juliano nimmt den Faden auf und erzählt, dass er bisexuell sei, in seiner Gemeinde wurde er als schwul wahrgenommen. Wegen seiner Orientierung wurde er dort ausgegrenzt. Er berichtet von einer Seelsorgeerfahrung: »Heute würde ich sagen, dass da geistlicher Missbrauch stattgefunden hat. Die Leute haben ihre Position benutzt. Angstmechanismen waren auch dabei. Und dass man das irgendwie wegbeten muss und dass ich jetzt aufpassen soll, wenn ich mit anderen Jungs unterwegs bin.«[28] Das hat ihn sehr verletzt und dafür gesorgt, dass er sich zurückzog.

Teresa ist empört: »Ich bin der Meinung, dass Gott jeden Menschen so geschaffen hat, wie er ist – auch in der Sexualität.« Nach einer kurzen Pause fährt sie fort und erzählt von ihren eigenen Erfahrungen: »Ich hatte oft Angst und das Gefühl, ich würde etwas Verbotenes tun.«[29] »Ja«, bestätigt Hannah, »ich habe irgendwie auch oft Angst gehabt, dass ich was falsch mache.«[30]

Manuel meint: »Wenn dann Prediger zum Thema Sexualität gepredigt haben, haben sie betont, wie wichtig es ist, das Thema Reinheit auf dem Schirm zu haben. Was für riesige Gefahren mit Sexualität verbunden sind. Das Thema Sünde war ganz, ganz groß, und sie haben betont, wie sehr man sich versündigt, wenn man die Regeln nicht einhält.«[31] Rahel erzählt, dass sie deshalb ein Jahr lang alles unterdrückt hat, was mit Sexualität zu tun hatte: »Weil ich eben auch so stark geglaubt habe, dass Masturbation Sünde sei und halt die perfekte Jugendleiterin sein wollte.«[32]

Manuel erklärt, dass er erlebt hat, wie andere aufgrund ihrer »sexuellen Verfehlungen« ausgeschlossen wurden: »Heute würde ich dem auf jeden Fall entgegenwirken, weil die Verletzungen und Herabwürdigungen in Gemeinden wirklich dramatische Folgen haben können.«[33]

Simon scheint diese betrübte Stimmung am wenigsten aushalten zu können. Er erwähnt die positiven Erfahrungen: »Die Gemeinde hat einen Einfluss auf den Einzelnen, und ich fand das immer sehr gut. Ich habe mich immer sehr gefreut, dass der Einfluss der Gemeinde mich positiv mitgeprägt hat – auch meine Sexualität.«[34]

Wieder schnappt Ian sich die Gitarre. Diesmal stimmt er ein Lagerfeuerlied an.

MORGENANDACHT 2: DIE BIBEL KONTEXTUELL LESEN

Für den Sonntag ist wieder eine Morgenandacht angesetzt. Nach der kurzen Nacht sind einige davon genervt. Aber Tom besteht darauf, seine Andacht zu halten. Die gestrige sei ihm ein wenig zu konservativ gewesen. Er will seine Perspektive auf die Bibel mit den anderen teilen.

Seine Kernbotschaft lautet: »Ich würde jedem, der jetzt in einer Beziehung ist oder so, nicht abraten, die Sexualität miteinander auszuleben. Ich glaube, dass das Bild von Ehe eben früher ein anderes war als heute.«[35]

Die Andacht kommt nicht bei allen gut an.

ABSCHLUSSRUNDE: AUSTAUSCH UND OFFENHEIT ODER EINE KLARE LINIE

Nach dem Frühstück – es gibt Bagels und Baguette – treffen sich alle zu einer Abschlussrunde. Um gestärkt und zukunftsorientiert nach Hause zu fahren, einigen sie sich auf das Thema: »Amen, aber sexy – Das wünsche ich mir für meine Kirche«. Wieder ist es Simon, der die positiven Aspekte von Gemeinde zu Sexualität hervorhebt: »Ich habe mir eine Gemeinde gesucht und Freunde gefunden, Leute, die wirklich coole Menschen sind. Auch tolle Vorbilder, im Glauben oder in ihren Ehen und Familien. Und mit denen habe ich teilweise wirklich tolle Gespräche geführt, darüber, wie die ihre Sexualität ausleben.«[36] Das wünscht er sich weiterhin, genauso wie Hannah: »In der Gemeinde sind ja auch Menschen, mit denen ich mich gern umgebe.«[37] Das sei gerade im Teenageralter wichtig gewesen. Gemeinde sollte bei Sexualität ein Ort voller Vorbilder und Freund:innen[38] sein, mit denen man sich austauschen kann.

Sina wünscht sich, in ihrer Ehe begleitet zu werden und in eine christliche Gemeinschaft eingebunden zu sein. Diesen Wunsch hatten ihr Mann und sie bei der Trauung öffentlich ausgesprochen. Sie stellt enttäuscht fest: »Da übernimmt meine Gemeinde bisher eher eine klägliche Rolle.«[39]

Lea ergreift das Wort und zielt in eine ganz andere Richtung. Sie wünscht sich queersensible Seelsorge und queere[40] Gottesdienste, um in der Gemeinde ihren Platz zu finden.[41] Juliano schließt mit seinem Wunsch an: »Von der Kanzel soll nicht über Sexualmoral gesprochen werden, sondern eher von Werten.«[42] Bis dahin wirkt es wie eine harmonische Abschlussrunde, aber gegen Ende wird es ein bisschen kontrovers. Teresa findet, dass Kirche in Bezug auf Sexualität sehr schwammig ist – insbesondere in den Landeskirchen: »Ich wünsche mir, dass sie da einfach klarer wären.«[43]

Sofort haken Hannah und Simon ein. Es brauche nicht mehr Klarheit, sondern Offenheit und Austausch. Dass Sexualität mehr ein sachliches Thema ist.[44] »Ich habe mir immer gewünscht, dass Leute ein bisschen authentischer über Sexualität reden, also ein bisschen offener, ehrlicher. Auch wenn es bedeutet, dass manche aus dieser Scham herausgehen müssen«[45], sagt Simon.

Mehr klare Statements oder mehr offener Austausch in Gemeinden? Die Frage bleibt in der abschließenden Runde ungeklärt. Aber die 14 Leute, die an der Freizeit teilgenommen haben, können diese Spannung aushalten, nachdem sie sich drei Tage lang in ihrer Vielfalt und in ihren Erfahrungen in Bezug auf Gemeinde und Sexualität kennengelernt haben.

Es ist Zeit zum Abschiednehmen. Ein paar letzte Umarmungen. »Das ist jetzt der Geh-Punkt[46]«, sagt Ian mit einem Schmunzeln. Lea hupt, und Sina und Juliano steigen zu ihr ins Auto.

EINLEITUNGEINE FORSCHUNGSREISE ZU LAUTEN DEBATTEN UND LEISEN LEBENSGESCHICHTEN

»In einer Jugendgruppe wird eine Übung durchgeführt: Ein Junge soll ein Kaugummi kauen. Dann fordert die Jugendleiterin ihn auf, das Kaugummi dem nächsten Jungen zu geben und ihm zu sagen: ›Jetzt kau du es.‹ Dieser lehnt ab. Nun sagt sie: ›Das ist deine Jungfräulichkeit. Wenn du sie einer Person gibst, wird sie kein anderer mehr haben wollen und es wird nie mehr dasselbe sein.‹«[47]

Joyce Wagner & Mark Rehfuss

»Ich (Gott) gebe ihn (Sex) der Menschheit. Als ein Geschenk. Aber ich hoffe, dass sie behutsam damit umgehen. Denn so mächtig wie er ist, so zerbrechlich ist er, er kann auch zerstört werden. … Geht sorgsam damit um. Wenn er sorgsam behandelt und im richtigen Kontext ausgelebt wird, ist es absolut wunderschön und unglaublich.«[48]

Andy Stanley

»In der Sexualität steckt auch ohne Zensur ein unverständlicher, unbequemer und unliebsamer Rest, der nicht restlos positiv werden kann. Eine geile Welt ist eine heikle Welt.«[49]

Marco Kammholz

INTIMSTE GEDANKEN

Im Jahr 2022 haben wir uns mit dem Team empirica auf den Weg gemacht. Nicht auf den Weg zu einer Wochenendfreizeit, sondern auf eine lange Forschungsreise mit dem Ziel, herauszufinden, was Christ:innen über Sexualität[50] denken und wie sie ihre Sexualität leben.

Christsein und Sex – passt das überhaupt zusammen? Natürlich, schließlich ist Kinderkriegen eine der wichtigsten Missionsstrategien – Stichwort »natürliches Gemeindewachstum«. Spaß beiseite: Die Frage nach einem guten Leben ist für den christlichen Glauben elementar. Und dazu gehört natürlich die Frage nach guter Sexualität. Kein Wunder, dass die Bibel sich damit befasst. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen. Da geht es um Beziehungen, Körpererfahrungen, Erotik und Leidenschaft (und zugegebenermaßen bereiten einige Passagen manchen Menschen Schwierigkeiten). Und so beschäftigt der Wunsch nach guter Sexualität einzelne Christ:innen und ganzen Kirchen durch die Geschichte bis heute.

Gleichzeitig ist das christliche Verhältnis zur Sexualität irgendwie unrund. Christliche Sexualmoral ist vor allem dafür bekannt, dass vieles eingeschränkt oder verboten wird. Das wird deutlich, wenn man in einer bekannten Suchmaschine die Begriffe »Christen« und »Sex« eingibt. Die automatische Vervollständigung macht daraus »Christen Sex vor der Ehe« und spuckt über 350 000 Ergebnisse aus, darunter mehr als 5000 Videos.

Und dann ist da ja noch diese große Schattenseite, über die man bis heute in Kirchen allzu oft schweigt. Auch die findet sich schnell im Internet: Zu »Kirche sexualisierte Gewalt« werden knapp 500 000 Suchergebnisse ausgespuckt.

Damit sind bereits zwei relevante und brisante Themen benannt, aber es gibt noch viel mehr: Die Einstellungen zu LGBTQIA+-Themen[51], der Umgang mit Solosexualität[52] und die Einstellungen zu Geschlechterrollen – alles Themen, die in christlichen Kreisen oft zu kontroversen Diskussionen führen. Exemplarisch dafür ist etwa die Debatte um Homosexualität, die bis heute ganze Kirchen, Gemeinden, Familien und einzelne Christ:innen zerreißt.[53] Dabei stehen zumindest konservative[54] Positionen in starkem Kontrast zu einer gesamtgesellschaftlichen Liberalisierung in Fragen der Sexualität.

Welche unterschiedlichen Verständnisse von Sexualität gibt es aus christlicher Sicht? Was wird wie in christlichen Büchern, Zeitschriften und Social-Media-Beiträgen über Sexualität thematisiert? Und was warum nicht oder kaum? Wie haben Menschen ihre christliche Prägung beim Thema Sexualität erfahren und wie hat sich das im Laufe des Lebens verändert? Das sind nur einige Fragen, denen wir in unserer Studie nachgegangen sind.

In diesem Buch präsentieren wir die wichtigsten Ergebnisse zweier Teilstudien aus der großen empirica Sexualitätsstudie. Das Forschungsprojekt mit dem wissenschaftlichen Titel »Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen (hoch-)religiöser Christ:innen« wurde vom Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur & Religion durchgeführt. Wir als Autor:innen sind Teil des Forschungsinstituts, das an der CVJM-Hochschule in Kassel angesiedelt ist.

Das mehrjährige Forschungsprojekt (2022–2025) besteht aus drei Teilstudien mit unterschiedlichen methodischen Zugängen:

Teilstudie 1: Diskursanalyse von christlichen Ratgeberbüchern (1970 bis heute), Zeitschriftenartikel aus den letzten zehn Jahren und aktuelle Social-Media-Posts (Analyse von Sinnfluencer:innen und Christfluencer:innen auf Instagram, die die Themen Glaube und Sexualität thematisieren).Teilstudie 2: Qualitative Interviewstudie, die vor allem der Frage nachgeht, welche Spannungen und Dilemmas Christ:innen zum Thema Sexualität wahrnehmen und wie sie damit umgehen.Teilstudie 3: Quantitative Onlinebefragung.

In diesem Buch werden ausschließlich die Ergebnisse der ersten beiden Teilstudien vorgestellt und eingeordnet. Die Ergebnisse der dritten Teilstudie finden sich im zeitgleich erscheinenden Buch Sexualität und Glaube.[55] Beide Bücher sind so geschrieben, dass sie für sich stehen und in sich verständlich sind. Für einen umfassenden Blick empfehlen wir natürlich, beide zu lesen. Auf unserer Homepage kann zudem eine kurze Zusammenfassung der Gesamtstudie heruntergeladen werden, die die Ergebnisse von allen Teilstudien integriert und die Methodik noch etwas genauer skizziert.[56]

Die vorliegenden Ergebnisse geben einen Einblick in die sexuellen Einstellungen und das Verhalten von Christ:innen und zeigen teilweise starke Spannungen zwischen diesen auf. In erster Linie machen sie aber deutlich, wie vielfältig Christ:innen über Sexualität denken, wie sie damit umgehen und welche Erfahrungen sie dabei machen und gemacht haben.

Als wir diese Studie geplant haben, war unsere Hoffnung, dass einzelne Christ:innen bereit sind, mit uns über ihre Sexualität ins Gespräch zu kommen. Uns beeindruckt tief, wie viele Stunden Interviewmaterial entstanden sind, in denen junge Menschen intimste Gedanken, Erfahrungen von sexualisierter Gewalt, Zweifel und Wünsche, Glücksmomente und Trauer mit ihrer Sexualität teilen. Im Alltag haben wir das hohe Interesse an diesem Thema gespürt, wenn wir in unserem Umfeld erzählt haben, wozu wir forschen. Glaube und Sex – das scheint für viele ein bedeutendes und zu stark vernachlässigtes Thema zu sein.

Natürlich reicht es als Begründung für eine wissenschaftliche Untersuchung nicht aus, dass ein Thema interessant ist und bei vielen Menschen auf Resonanz stößt. Wir beschäftigen uns auch deshalb damit, weil Sexualität ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens ist. Und weil sich im Blick auf Christ:innen und Gemeinden vielfältige Fragen ergeben und es sich lohnt, Antworten darauf zu finden. Antworten, die christlichen Kirchen, Gemeinden, Eltern, Singles, Paaren und vielen anderen Menschen Orientierung und Inspiration geben können.

Zu den Besonderheiten der ersten beiden Teilstudien zählt, dass wir uns mit Menschen beschäftigen, für die der christliche Glaube so wichtig ist, dass sie alle Bereiche des Lebens durch diese Brille betrachten – auch ihre Sexualität.[57] In diesem Sinne ist es natürlich interessant, wie sich Religiosität auf die Sexualität, auf sexuelle Einstellungen und das Verhalten auswirkt.

EXKURS: UNSERE FRAGEN UND UNSER VORGEHEN

Das Thema Sexualität ist so groß und umfangreich, dass wir uns mit sechs Fragen besonders intensiv beschäftigt haben:

Sexualitätsverständnisse von Christ:innen: Welche Grundverständnisse von Sexualität haben Christ:innen?Sexuelles Selbstkonzept: Welche sexuellen Selbstkonzepte weisen Christ:innen auf? Schwerpunkte sind das Verhältnis zum eigenen Körper und die sexuelle Zufriedenheit.[58]Sexualethische Einstellungen: Welche sexualethischen Einstellungen haben Christ:innen? Schwerpunkte sind die Einstellung zu Solosexualität, zur Legitimität von Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe, Einstellungen zu Genderfragen sowie zu Homosexualität und sexueller Vielfalt.Sexuelles Verhalten: Welches sexuelle Verhalten praktizieren Christ:innen? Schwerpunkte sind sexuelle Fantasien, Praktiken der Solosexualität, Konsum von Pornografie, Paarsexualität, Kommunikation über Sexualität und Geschlechterdifferenzen.Zusammenhänge von Sexualitätsverständnis, sexuellem Selbstkonzept, sexualethischen Einstellungen und sexuellen Verhaltensweisen mit theologischen Annahmen: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Sexualitätsverständnis, sexuellem Selbstkonzept, sexualethischen Einstellungen, sexuellen Verhaltensweisen und theologischen Annahmen? Schwerpunkte sind die Gottesbeziehung, das Schriftverständnis, das Sündenverständnis, das Menschenbild sowie Annahmen zur Schöpfungsordnung und Reinheit/Heiligkeit.Dilemma/Spannung zwischen theologischen Annahmen, gesellschaftlichen Kontextbedingungen und biografischen Erfahrungen: Welche Spannungen und Dilemmas zum Thema Sexualität nehmen (hoch-)religiöse Christ:innen wahr und wie gehen sie damit um?

Eine wichtige Querschnittsfrage bei allen diesen sechs Schwerpunkten ist: Welche Rolle spielen Kirche und Gemeinde für die Sexualität von (hoch-)religiösen Christ:innen?

In diesem Buch stehen vor allem die Fragen nach den Sexualitätsverständnissen von Christ:innen und nach Dilemmas und Spannungen zwischen theologischen Annahmen, gesellschaftlichen Bedingungen und biografischen Erfahrungen im Fokus. Die übrigen Punkte werden stärker im Buch zu Teilstudie 3 behandelt.

Um eine hohe wissenschaftliche Qualität und zugleich eine hohe Praxisrelevanz sicherzustellen, wurde die empirica Sexualitätsstudie von Beginn an von drei beratenden Gremien begleitet:

Ein wissenschaftlicher Beirat aus Fachpersonen, die zu inhaltlichen, methodischen und methodologischen Fragen beraten haben.Ein Beiratsgremium, das sich aus möglichst hochrangigen Leitungspersonen unterschiedlicher christlicher Denominationen, Verbände und Werke zusammensetzt.Ein sogenannter Praxisbeirat mit Vertreter:innen aus der Gemeinde- und Beratungspraxis.

In der Besetzung aller Gremien wurde auf Vielfalt und Heterogenität der beteiligten Personen geachtet, insbesondere hinsichtlich theologischer Positionen und konfessioneller Zugehörigkeit. Die Geschlechterverteilung wurde berücksichtigt, aber nicht mit dem Ziel einer paritätischen Besetzung.[59] In den Gremien sind auch erste Ideen, Themen und Schwerpunktthemen entstanden und wurden dort diskutiert.

Die Datengrundlage für dieses Buch bilden drei Ausschnitte des vielfältigen christlichen Diskurses zum Thema Sexualität:

17 christliche Ratgeberbücher, die sich mit Sexualität befassen und im Zeitraum von 1977 bis 2021 in Verlagen erschienen sind, die heute zur SCM Verlagsgruppe gehören.[60]125 Artikel aus Jugend- (Teensmag, DRAN) und Erwachsenenzeitschriften (AUFATMEN, Family, JOYCE, MOVO) vom SCM Bundes-Verlag aus dem Zeitraum 2013 bis 2021, die Sexualität zum Thema haben.[61]Posts zum Thema Sexualität von sechs reichweitenstarken evangelischen Influencer:innen auf der Social-Media-Plattform Instagram zwischen 2019 und 2023.[62]

Natürlich gibt es innerhalb der christlichen Welt noch eine große Vielfalt anderer differenzierter Meinungen und Meinungsäußerungen.

Anschließend haben wir als Teilstudie 2 per Sprachnachrichten Interviews mit 14 Christ:innen im Alter von 25 bis 35 Jahren geführt.[63] Die Daten wurden angelehnt an die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet.[64] Zitate aus den Interviews werden im Text nur beispielhaft genannt.

In diesem Buch präsentieren und diskutieren wir die wichtigsten Ergebnisse auf eine hoffentlich verständliche und interessante Weise. Wer sich genauer für das methodische Vorgehen interessiert, kann den wissenschaftlichen Forschungsbericht zur Studie kostenlos herunterladen.[65]

In diesem Buch lassen wir die unterschiedlichen Ergebnisse miteinander ins Gespräch kommen und orientieren uns im Aufbau an den zentralen Themen, die sich im Forschungsprozess entwickelt haben. Zur grundlegenden Einordnung dienen dabei die Kapitel 1 und 2, die sich mit der Geschichte christlicher Sexualität und aktuellen Grundverständnissen beschäftigen. In den folgenden fünf Kapiteln werden einzelne Querschnittsthemen behandelt. Das achte Kapitel befasst sich mit Geschlechterrollen. In den Kapiteln 9 bis 11 werden sexualisierte Gewalt, sexuelle Vielfalt und weitere Themen aufgenommen, die uns in der Untersuchung begegnet sind. Das Buch endet mit abschließenden Gedanken.

Grundsätzlich geht es darum, die vielfältigen Ergebnisse darzustellen und aufeinander zu beziehen. Vereinzelt wollten wir uns als Analysierende jedoch bewusst nicht im Urteil zurückzuhalten, vor allem in Anbetracht der negativen Auswirkungen und Folgeschäden, die durch bestimmte Bilder und Aussagen entstehen können.

Ab Kapitel 2 werden die einzelnen Kapitel jeweils durch kurze Porträts eingeleitet, die auf Grundlage der Interviews entstanden sind. Sie geben einen lebendigen Einblick in die vielfältigen Erfahrungen, die Christ:innen mit Sexualität und Glauben machen, und in die Spannungen, die dabei entstehen.

TRIGGERWARNUNG

Dieses Buch behandelt verschiedene Themen – insbesondere rund um sexualisierte Gewalt, Geschlechtervorstellungen und sexuelle Vielfalt – bei denen sensible, diskriminierende, belastende und verstörende Darstellungen vorkommen. Dies betrifft ausgrenzende Sprache, Missbrauch, (psychische und physische) Gewalt, Traumata und die psychischen Auswirkungen. Immer wieder kommen Zitate vor, die diskriminieren, indem sie sexistische und rassistische Sprache nutzen. Diese Sätze werden nicht immer kommentiert oder eingeordnet. Wir wollen diese Aussagen nicht reproduzieren, sondern sie als Teil des (lauten) Diskurses aufzeigen. Leser:innen, die mit diesen Themen Schwierigkeiten haben, sollten die Lektüre gegebenenfalls unterbrechen.

Falls Sie merken, dass Sie hier Gesprächsbedarf haben oder Unterstützung brauchen, finden Sie hilfreiche Links am Ende des Buchs.

1WO WIR HERKOMMEN … STREIFZÜGE DURCH DIE GESCHICHTE DER SEXUALITÄT

»Der Mensch ist gemacht aus Staub, Kot und Asche – und, noch gemeiner, aus unflätigem Samen. Anlass zu seiner Empfängnis war der Reiz des Fleisches und das Glühen der Begierde: in der Fülle der Ausschweifung und unter dem Makel der Sünde.«[66]

Papst Innozenz III.

»Aus der Angst vor fleischlichen Gelüsten und der Leugnung sexueller Bedürfnisse entstanden eine körperlose Theologie und ein großer Haufen Scham. Ein Blick in die Geschichte offenbart den tiefen Graben zwischen Sexualität und Spiritualität, der für das Christentum charakteristisch ist.«[67]

Karen A. McClintock

»Generell braucht Sex aber (fast) gar nichts mehr zu bedeuten.«[68]

Thorsten Benkel

An dieser Stelle wollen wir den etwas waghalsigen Versuch unternehmen, uns auf Streifzüge durch das dicke Geflecht der Geschichte der abendländischen Sexualität zu begeben. Diese Geschichte ist unglaublich komplex und facettenreich, aber auch voller schräger Typen, Gedanken und Phänomene.

Vermutlich empfinden viele Christ:innen, dass die historischen Fakten für die Praxis gelebter Sexualität keine offensichtliche Rolle spielen. Wir gehen jedoch davon aus, dass es kein »zeitloses« Sexualitätsverständnis gibt, das frei von Einflüssen der Historie ist. Niemand kann sich vom »Zeitgeist« befreien, selbst wenn er oder sie das ausdrücklich anstrebt, und die Aussagen der Bibel sprechen in den »Zeitgeist« der Antike hinein. Es erscheint uns daher wichtig, im Hinblick auf unsere Fragestellungen ein Bewusstsein für folgende Tatsachen zu schaffen: Zum einen wurden die Aussagen der Bibel und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, über die Jahrhunderte hinweg sehr unterschiedlich aufgefasst. Zum anderen prägt uns unser Umfeld, ob es nun explizit christlich ist oder nicht, immer mit.

Was wir in diesem Kapitel beschreiben, kann nicht annäherungsweise die gesamte Geschichte abbilden. Daher wurden vor dem Hintergrund zweier Ziele gewisse Themen ausgewählt:

Zum einen ist es von Bedeutung, dass die Ergebnisse unserer Studie historisch verortet werden können. Das hilft, zu verstehen, woher manche Gedanken kommen, was neu ist und was eine lange Geschichte hat. Zum anderen kann man aus der Geschichte lernen, dass Christ:innen Sexualität in verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich verstanden, bewertet und gelebt haben. Der Blick in die Geschichte hilft somit, zu erkennen, dass das, was uns heute selbstverständlich und natürlich erscheint, vielleicht ganz anders sein könnte.

Beginnen wir mit der Antike.

BEGEHRENDE KUGELWESEN

Wahrscheinlich fragen sich Menschen seit jeher, wie man sich die starke Kraft des sexuellen Begehrens und die Geschlechtlichkeit erklären kann. Eine sehr frühe Erklärung dafür stammt von Platon.[69] Einerseits mutet sie sehr fremd an, andererseits eigentümlich bekannt, da sie gut zum heute so wichtigen romantischen Liebesverständnis passt. Sie wird bei Platon von einem Promi der Antike, dem Komödiendichter Aristophanes, erzählt und hat folgenden Inhalt:

Einst waren die Menschen Kugelwesen, die vier Hände, vier Füße und eine Art Doppelkopf mit vier Ohren hatten. Sie waren mit den äußeren Geschlechtsmerkmalen eines Mannes und einer Frau ausgestattet. Da diese Kugelwesen sich quasi rollend und unglaublich schnell fortbewegten, fühlten sie sich so stark, dass sie die Götter angriffen. Das konnten die Götter natürlich nicht zulassen. Da sie auf die Verehrung und die Opfer der Kugelwesen nicht verzichten wollten, wollte Zeus sie schwächen, indem er sie in zwei Hälften zerschnitt. Die Gesichter wurden dabei umgedreht, »damit der Mensch durch den Anblick seiner Zerschnittenheit gesitteter würde«. Die Geschlechtsteile befanden sich also auf der anderen Seite, sie »erzeugten und gebaren nicht ineinander, sondern in die Erde«. Damit entstand eine neue Problematik:

Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnitten war, trat jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlangen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangen die Arme umeinander und hielten sich umfasst, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen; und so starben sie vor Hunger und Vernachlässigung ihrer sonstigen Bedürfnisse, da sie nichts getrennt voneinander tun mochten.

Um sie vor dem sicheren Aussterben zu retten, verlegte Zeus die Geschlechtsteile nach vorn, sodass sie »von ihrem Zusammensein eine Befriedigung hätten und so davon gesättigt inzwischen ihren Geschäften nachgingen und für ihre übrigen Lebensverhältnisse Sorge trügen.«[70]

Nach Platon ist die menschliche Anziehungskraft in erster Linie nicht sexuell: »Seit so langer Zeit ist demnach die Liebe zueinander den Menschen eingeboren und sucht, die alte Natur zurückzuführen und aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen.« Vielmehr dient das, was wir heute im engeren Sinn als Sexualität beschreiben würden, zu einem anderen Zweck: Es soll die noch stärkere soziale Anziehungskraft eingrenzen, damit die Menschen, nachdem sie ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigt haben, ihren anderen Bedürfnissen nachgehen können. Ohne sie würden die Menschen vor lauter Liebesbedürftigkeit und Vollkommenheitssehnsucht verhungern.

WARUM ES FRÜHER KEINE SEXUALITÄT GAB

Nun machen wir einen weiten Sprung in moderne Zeiten: Sexualität ist nämlich ein durch und durch modernes Phänomen. Nicht nur der Begriff Sexualität, sondern auch das damit zusammenhängende implizite Verständnis ist erst im 19. Jahrhundert entstanden.[71] Erst seit dieser Zeit meinen Menschen, eine Sexualität zu haben.

Das hängt zum einen mit dem zusammen, was Soziolog:innen etwas sperrig »die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften« nennen. Vormoderne Gesellschaften waren ein großes System, in das alles einsortiert wurde, in dem alles seinen Platz und seine Ordnung hatte und in dem alles mit allem zusammenhing. Im christlichen Mittelalter war das die göttliche Ordnung, die sich zum Beispiel in der gesellschaftlichen Hierarchie abbildete, mit dem Herrscher als Vertreter Gottes. Für die Moderne ist hingegen bezeichnend, dass unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme entstehen, die jeweils einer eigenen Logik folgen. Es fehlt eine übergeordnete Ordnungsperspektive, wie sie zum Beispiel die christliche Religion im Mittelalter geben konnte.

Auch das sexuelle Begehren, die Ordnung der Geschlechter und anderes hatte in den vormodernen Ordnungen seinen Platz. Mit der Moderne kam es jedoch zur Aufsplitterung der Gesellschaft und der Persönlichkeit. Dadurch wurde eine Eigensphäre geschaffen, die vom Rest der Persönlichkeit als getrennt betrachtet und als »Sexualität« bezeichnet wird.

Damit geht kurioserweise einher, dass dieser Bereich, insbesondere die Geschlechtszugehörigkeit und die sexuelle Orientierung, gleichzeitig als grundlegend für die persönliche Identität angesehen werden.

EINE FRAGE VON MACHT UND HERRSCHAFT

Blicken wir noch einmal zurück in die Antike, da hier der Umgang mit dem sexuellen Begehren gesellschaftlich ganz anders organisiert war. Etwas überspitzt formuliert, war man so weit vom heute gängigen selbstbestimmten Konsens entfernt wie nur möglich. In der Antike waren es allein Macht, Herrschaft und Status, die darüber entschieden, wer mit wem schlief. Der aktive Part, also das Penetrieren, galt als Ausdruck der Herrschaft sogenannter freier Männer, während Ehefrauen[72], Sklav:innen[73] oder Prostituierte[74] beiderlei Geschlechts sowie Minderjährige den passiven Part übernehmen mussten und quasi keine Rechte hatten.[75] Das Geschlecht des passiven Gegenübers war dabei egal.[76]

Der in der Antike nicht unübliche sexuelle Akt zwischen Männern galt entsprechend nicht als Ausdruck sexueller Orientierung. Diese Idee gab es noch nicht, und sie wäre den Menschen vermutlich bizarr vorgekommen.[77] Vereinzelt bewerten (meist dezidiert evangelikale) Theolog:innen die historische Quellenlage anders und kommen zu der Auffassung, dass es in der Antike schon gleichberechtigte homosexuelle Beziehungen gegeben hätte.[78]

Das Geschlecht spielte beim Sex also nur insofern eine Rolle, dass Frauen per se die passive, unterlegene Rolle zukam.[79] Das spiegelt sich in der wörtlichen Bedeutung des griechischen Begriffs für sexuellen Verkehr »Gebrauch« (einer Frau) (gr. chresis)wider, der in der Bibel verwendet wird. Selbst im Neuen Testament werden Frauen als »Gefäße« der Männer bezeichnet.[80]

Der Körper galt nach den Maßstäben der damaligen Medizin als ein fragiles Gemisch aus Körpersäften, deren Mischverhältnis nicht nur Charaktereigenschaften[81], sondern auch das Geschlecht eines Menschen festlegte. Männer galten als heiß, stark und aktiv, Frauen als kalt, passiv und schwach. Frauen benötigten den Geschlechtsverkehr mit Männern und insbesondere deren Samen, um belebt zu werden und im Gleichgewicht zu bleiben, weil sie monatlich Flüssigkeit verlieren. Entsprechend galten Frauen als das Geschlecht, das stärker sexuell begehrt und stärker von Trieben beherrscht wird. Männer waren hingegen in der beständigen Gefahr, zu weich und damit weiblich zu werden. Folglich entwickelte sich in der männlichen Elite eine Ethik der Sorge um den eigenen Körper. Regelmäßiger Sex galt zwar als gesundheitsnotwendig, aber zu viel davon als gesundheitsschädigend. Das galt besonders für Sex mit Frauen, da man an diese zu viel Hitze verlor.[82]

Vor allem im antiken Griechenland[83] war die sogenannte »Knabenliebe« – aus heutiger Sicht sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige – weit verbreitet. Sie wurde sogar in eine Art pädagogischen Zusammenhang gestellt: Freie, erwachsene Männer wählten sich einen »Zögling« und führten ihn in das Leben ein.[84]

REGULIERUNG DER FLEISCHESLUST IM CHRISTENTUM

Im Gegensatz zur griechischen und römischen Antike wurde im jüdischen antiken Kontext zunehmend das Ideal des stärker gleichwertigen Ehebundes zwischen einem Mann und einer Frau etabliert. Außerdem wurde vor- und außerehelicher Sex für beide Geschlechter verboten.[85] Vor dem Hintergrund des letzten Abschnitts sieht man, wie radikal und neu der neutestamentliche Gedanke einer Gleichheit aller Menschen ist. Und es wird klar, warum die Ehe einen Schutzrahmen gegenüber der als selbstverständlich geltenden sexualisierten Gewalt gegenüber den Schwächeren bot – vor allem in einer Zeit, in der es kaum wirksame Verhütungsmethoden gab.[86]

Die stärkeren Regulierungen der Sexualität im jüdischen und christlichen Kontext sollte man vor diesem Hintergrund sehen. Vieles, was aus unserer Sicht als Einengung und Unterdrückung erscheint, war, zumindest im Entstehungskontext, quasi eine Präventionsmaßnahme mit emanzipatorischem Potenzial.

Insbesondere das Handeln von Jesus gegenüber Frauen war von einer Gleichwürdigkeit und Gleichbehandlung geprägt, die geradezu rebellisch anmutet. Indem Jesus zum Beispiel das Verbot des Ehebruchs auch auf Männer anwandte, widersetzte er sich der Doppelmoral seiner Zeit. Die wechselseitige sexuelle Verfügbarkeit der Ehepartner:innen, zu der Paulus auffordert (1. Korinther 7,5), entsprach im damaligen Kontext einer ungehörigen Aufwertung der Frau.

Genauso kann es als Alternative zum vermeintlich natürlichen Zusammenhang von Sexualität und Gewalt verstanden werden, wenn Paulus Jungfräulichkeit gegenüber der Ehe höher bewertet. Sexuelle Abstinenz war eine Art soziale Innovation, die insbesondere für Frauen einen Freiheitsgewinn mit sich brachte.[87] Indem im Neuen Testament Männer zu einer stärkeren Disziplinierung ihrer Sexualität aufgefordert wurden, wurden umgekehrt die Frauen stärker beschützt. Entsprechend waren sie die Gewinnerinnen der vermeintlich antisexuellen Einstellung des frühen Christentums.[88] Jedoch hat sich diese emanzipative Dynamik in der Kirchengeschichte leider nicht durchgesetzt:

Angesichts der überwältigenden Autorität, welche die Bibel gewann, entstand eine doppelte Deutung mit viel nachfolgendem Streit: einmal Mann und Frau als gleichwertiges Ebenbild Gottes, zum anderen die Frau als Zweiterschaffene, als Verführerin, als Erstverfluchte. Heraus kamen die Dominanz des Mannes und die Unterordnung der Frau.[89]

So kam es, dass in einer qualitativ neuen Weise versucht wurde, das sexuelle Begehren zu regulieren. In der frühen Christenheit wurde das Ideal der Selbstkontrolle, das sich in der gesellschaftlichen Elite der Spätantike herausgebildet hatte, aufgenommen und zu einer neuen Sexualethik weiterentwickelt. Jungfräulichkeit, sexuelle Enthaltsamkeit und Reinheit[90] galten seitdem als Ideal für Männer wie Frauen. Das sexuelle Begehren geriet in Verdacht, und man regulierte es deshalb stark, unter anderem weil es die Menschen zu sehr an irdische Dinge und Verpflichtungen band.[91]

Bizarr wurde es, als der skizzierte Abstinenzgedanke mit dem Gedanken der Trennung und Abwertung des Körpers und der Vorstellung einer körperlosen Seele (dem sogenannten Leib-Seele-Dualismus) verschmolz, die ursprünglich aus dem griechischen Denken stammen. Beispielsweise entwarf der Kirchenvater Origenes bereits im 3. Jahrhundert eine Art Abstinenztheologie: Er meinte, Adam und Eva hätten asexuell gelebt. Erst nach dem Sündenfall hätte sich ihr zuvor ätherischer Leib materialisiert, womit die Voraussetzung für eine geschlechtliche Vereinigung geschaffen wurde.[92]

Ein besonders großer Einfluss auf das christliche Verhältnis zu Sexualität wird dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben.[93] Für ihn ist die Wurzel allen Übels die Fleischeslust, also die sexuelle Begierde. Er lehrte, dass der Triumph des Fleisches gegen Willen und Moral zum Sündenfall geführt hat und seither als Erbsünde weitergegeben wird.[94]

Vor diesem Hintergrund war in der Kirchengeschichte lange Zeit die Einstellung zur Ehe äußerst ambivalent. Einerseits sah man in ihr eine Hürde für echte Hingabe und Nachfolge. Luther äußerte beispielsweise: Wenn Gott ihn um Rat gefragt hätte, hätte er Gott geraten, das Erzeugen von Nachkommen ohne Sexualität zu regeln.[95] Andererseits war den Kirchenvätern klar, dass die Mehrheit der Christenheit wohl niemals zölibatär leben würde, sodass man in der Ehe einen akzeptablen Kompromiss sah. Wie für Paulus galt die Ehe daher lange Zeit als zweitbeste Variante im Vergleich zur Keuschheit.[96]

DER HÖHEPUNKT DER LEIB- UND SEXUALFEINDLICHKEIT

Manche Historiker:innen betonen, dass die Leib- und Sexualfeindlichkeit im Christentum nicht mit dem vermeintlich finsteren Mittelalter[97], sondern mit dem 16. und 17. Jahrhundert zum Höhepunkt gekommen sei.[98] Schon Jahrhunderte davor[99]