Unsere Schweiz - Matthias Zehnder - E-Book

Unsere Schweiz E-Book

Matthias Zehnder

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Beschreibung

Was ist "Heimat" – und wem "gehört" sie? Wenn von der Schweiz als "Heimat" die Rede ist, geht es meistens um traditionelle Bilder: Berge und Sennen mit sich rötendem Alpenfirn und Wilhelm Tell. Der Heimatbegriff wird gerne von nationalkonservativen Kreisen gekapert. Das muss nicht sein. Zur Rückeroberung eines instrumentalisierten Begriffs geben 50 Schweizer Persönlichkeiten in unterschiedlichen Textgattungen Auskunft über "ihre" Schweiz. Mit Beiträgen von (u.a.): Vania Alleva, Martin R. Dean, Daniela Dill, Jacqueline Fehr, Anita Fetz, Tim Guldimann, Andrea Hämmerle, Franz Hohler, Helmut Hubacher, Knackeboul, Georg Kreis, Ueli Mäder, Kurt Marti, Antoinette Rychner, Ruth Schweikert, Silva Semadeni, Aline Trede, Julia Weber.

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Seitenzahl: 333

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UNSERESCHWEIZ

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Mit freundlicher Unterstützung durch

© 2019 Zytglogge Verlag AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Matthias Zehnder, Thomas Gierl

Umschlagbild: Nicolas d’Aujourd’hui

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN epub: 978-3-7296-2292-0

ISBN mobi: 978-3-7296-2293-7

www.zytglogge.ch

Beat Jans, Guy Krneta undMatthias Zehnder (Hrsg.)

UNSERE SCHWEIZ

Ein Heimatbuch für Weltoffene

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Identität

Was die Schweiz zusammenhält

Von Benedikt Weibel

Nach vorn: Vom ‹Heimet› zum Ausbau des Sozialstaats

Von Daniel Rothenbühler

Solide Schweiz

Von Knackeboul

Wegen der Mentalität

Von Martin Naef

Was heisst hier ‹wir›?

Von Lisa Christ

Was die Schweiz ausmacht

Von Aline Trede

Wer sind wir eigentlich?

Unsere vermeintlichen Vorzüge und verkannten Qualitäten

Von Tim Guldimann

plusminus

Von Lukas Rohner

Typisch!

Von Franz Hohler

Die Schatzinsel / Gibt es die Schweiz?Ein gwundriges Selbstgespräch

Von Fatima Moumouni

Geschichte

Schon immer frei? 1291 als Metapher

Von Bruno Meier

Die Juden in der Schweiz. Eine Erfolgsgeschichte?

Von Simon Erlanger

Als die Schweiz die fortschrittlichste Verfassung hatte

Von Josef Lang

Heimat mit links: Kein Abschluss ohne Anschluss!

Von Hans-Jürg Fehr

Zäme geits

Von Flavia Wasserfallen

Mythen

Si hei dr Wilhälm Täll ufgfüert im Löie z Nottiswil

Von Georges Delnon

Von Mythen, Symbolen und Taten

Von Andrea Hämmerle

Heidi wohnt längst in der Stadt

Von Min Li Marti

ursprung der welt

Von Anja Nora Schulthess

Wir bleiben!

Von Franco Supino

Das Tessin wird nicht von den Deutschen regiert

Von Marko Miladinovic

Manchmal

Von Julia Weber

Unsere Heimaten

Von Matthias Zehnder

Heimat

Die Vervielfältigung der Heimat

Von Martin R. Dean

Wie viel an der Schweiz ist SP?

Von Helmut Hubacher

Ein anderer im Pass

Von Kurt Marti

Die Alpen als Heimat

Von Köbi Gantenbein (Text) und Ralph Feiner (Bilder)

Streitkultur statt Leitkultur

Von Jacqueline Fehr

Es ist grossartig, was die Schweiz erreicht hat

E.K. im Interview mit Beat Jans

Freiheit zur Demokratie

Von Balthasar Glättli

Von Doppeladlern und Loyalitäten

Von Cédric Wermuth

Schnitzelbangg 2019

Von Spitzbueb

Welt-Heimat

Von Beat Ringger

Das Wohl der Schwachen

Von Guy Krneta

Heimat liegt immer in der Vergangenheit

Von Matthias Zehnder

Sprache

Vorbild für Europa

Von Silva Semadeni

Mehr Mehrsprachigkeit Zur Sprachenpolitik der Schweiz seit den 1990er-Jahren

Von Daniel Rothenbühler

Alles heisst noch etwas anderes, und das ist gut so

Von Annette Hug

Blausee

Von Antoinette Rychner

Meine Freunde

Von Matthias Aebischer

Diheime

Von Katarina Holländer

Wirtschaft

Teilhabe für alle statt Privilegien für wenige

Von Daniel Schläppi

Die Schweiz funktioniert

Von Rudolf Strahm

Soziale Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung

Von Carlo Knöpfel

Harte und weiche Standortqualitäten der Schweiz

Von Georg Kreis

Die Bevölkerung als Korrektiv zur Wirtschaft

Von Beat Jans

Ein Land geprägt von Verbänden

Von Ursula Schneider Schüttel

Service public vor Ort – ein Lob

Ueli Mäder

Auf dem Weg zu einer sozialen Schweiz

Von Vania Alleva

Die Falschmünzer

Von Daniela Dill

Zukunft

Die Schweiz als Pionierin für die Humanisierung der digitalen Revolution

Von Anita Fetz

Klima und Energie: Die Schweiz kann das!

Von Roger Nordmann

Das Paradox der Migration Überlegungen zu einer Neuen Schweiz

Von Kijan Espahangizi

Die Schweiz als Friedensnation

Von Laurent Goetschel

Mein Jaba’jaba, meine Schweiz

Von Jacqueline Badran

Über die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Sosehr wir uns auch bemühen, global zu denken und Grenzen zu überwinden – wir werden doch immer wieder auf unsere Herkunft zurückgeworfen. Bekanntlich geschieht dies erst recht dann, wenn wir auf Reisen gehen.

«Bist du stolz, Schweizer zu sein?» Als ich als 24-Jähriger in Paraguay arbeitete, stellte mir José diese Frage. José war Agro­ingenieur, ein Arbeitskollege, den ich sehr schätzte. Seine Frage war mir unangenehm. Ich wich aus, starrte ins Lagerfeuer und fragte, ob er denn stolz sei, Paraguayer zu sein. Für ihn war die Antwort klar: «Wir Paraguayer sind stolz auf unsere Wurzeln. Wir sind Teil von Paraguay. Paraguay ist ein Teil von uns.»

Diese Antwort liess mich nicht mehr los. Wieso brachte er einen so unverblümten Patriotismus über die Lippen? Er, der wie viele Oppositionelle Paraguays vom Stroessner-Regime eingesperrt und gefoltert worden war? Ich hingegen, der aus einem Land mit langer demokratischer Tradition stammte, das mir, einem Arbeitersohn, eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglicht hatte, sträubte mich gegen patriotische Gefühle.

Warum war er stolzer auf sein Land als ich auf meins? War es seine Euphorie, weil Paraguays Diktator Stroessner nur wenige Monate vorher gestürzt worden war? Oder war es meine Scham, weil derselbe Stroessner viel Geld, das er der paraguayischen Bevölkerung gestohlen hatte, auf Schweizer Bankkonten versteckt hielt?

José ist längst nicht der einzige regierungskritische Patriot, den ich auf meinen Reisen kennenlernte. Selbst in Haiti, einem der ärmsten Länder der Welt, das jährlich Tausende Menschen verlassen, um der Hoffnungslosigkeit ihrer Wirtschaft zu entfliehen, in diesem Land der Ausgebeuteten und Chancenlosen sind Oppositionelle stolz, da geboren zu sein. Sie lieben ihre Heimat, den Geruch, die Farben – und kämpfen doch täglich gegen korrupte Regierungen, die ihnen Demokratie vorenthalten, sich bereichern und die Chancengleichheit ihrer Landsleute mit Füssen treten.

Was hält mich und viele Schweizer Freunde davon ab, Euphorie für unser Land zu äussern? Diese Fragen beschäftigten mich fortan und vor allem die Frage, der ich ausgewichen war: Bin ich stolz, ein Schweizer zu sein?

Heute, Jahrzehnte später, habe ich meine Antwort gefunden. Nein, ich bin nicht stolz auf die Schweiz. Stolz kann nur sein, wer etwas selbst erschaffen hat. Aber es gibt Errungenschaften dieses Landes, die gut sind. Sie sind nicht einzigartig. Es gibt sie in ähnlicher Ausprägung auch in anderen Ländern. Aber ja, sie sind mir wichtig. Für einige Errungenschaften bin ich meinen Vorfahrinnen und Vorfahren dankbar, und für manche will und werde ich mich weiter einsetzen.

Wie ‹Unsere Schweiz› entstand

Später stellte ich fest, dass die Frage, ob es einen linken Patriotismus gibt und worin er bestehen könnte, auch zwei Freunde von mir umtreibt. Der Autor Guy Krneta hatte schon Kulturprojekte dazu lanciert, und der Publizist Matthias Zehnder erklärte mir eines Tages, warum die Rechtskonservativen ihre Wahlen gewinnen. Es sei, meinte er, weil sie ihren Wählern Identität vermitteln können – etwas, was die Arbeiterbewegung einst auszeichnete. Und so beschlossen Guy Krneta, Matthias Zehnder und ich, ein Buch herauszugeben und verschiedene Persönlichkeiten einzuladen. Wir fragten politisch Aktive, die im linken Lager politisieren oder pointiert weltoffene Positionen vertreten, wir fragten wissenschaftlich tätige Menschen, von denen wir interessante Arbeiten kannten, und wir fragten wortstarke Kulturschaffende. Und allen stellten wir dieselben Fragen: Was ist ‹unsere› Schweiz? Was macht sie aus? Was gefällt euch an ihr?

Zu unserer Freude erhielten wir viele Zusagen und eine Vielfalt an Beiträgen, welche die unterschiedlichsten Facetten unseres Landes zeigen. Einige Angefragte sagten aber auch ab, vielleicht, weil es sie zu viel Überwindung kostet, ihre Distanz zur Schweiz zu überwinden. Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger begründete seine Absage schalkhaft und ehrlich: «Falls Helvetia auch eine Muse ist, statt nur eine Matrone mit Lanze und Wappenschild, hat sie mich, zumindest bis jetzt, noch nicht derart geküsst, dass ich zu einem Beitrag, wie du ihn gerne von mir hättest, in der Lage bin.» Eine Antwort, die zeigt, dass dieses Buch etwas Ungewöhnliches versucht. Es ist für viele weltoffene und intellektuelle Menschen, welche dieses Land mitgestalten, offenbar nicht selbstverständlich, ihre Verbundenheit zur Schweiz ausdrücken zu wollen.

Die Suche nach Heimat

Dass Weltoffene oder Linke lieber ihre ablehnende Haltung zur offiziellen Schweiz zeigen, hat vielleicht auch mit den gros­sen Schweizer Intellektuellen Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu tun. Ihre Schriften prägten ganze Generationen. Sie waren die eloquentesten Kritiker der Schweiz und wehrten sich entschieden «gegen Geschichtsfälschung als Heimatkunde», wie Max Frisch die Heimattümelei in seiner berühmten Rede ‹Schweiz als Heimat?› nannte. Dass sie zeitweise gar als Nestbeschmutzer galten, war allerdings ein grober Irrtum ihrer Kritiker, in deren Verständnis ein Patriot ist, wer sich anpasst. Denn sowohl die Texte des stets in der Schweiz arbeitenden Dürrenmatt als auch die des Weltenbummlers Frisch zeugten von gelegentlich mehr als liebevollem Interesse am Land und an seinen Menschen. Ihre Kritik an der Schweiz war geradezu getrieben von Verbundenheit und der Suche nach Heimat. Max Frisch sagte es so: «Ein Patriot – ohne Anführungszeichen – wäre einer, der seine Identität gefunden oder nie verloren hat und von daher ein Volk als sein Volk erkennt.» Und Dürrenmatt beschrieb in seiner bekannten Rede an Vaclav Havel die Schweiz zwar «als ein Gefängnis», aber «als ein freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden, lieber Havel, als ein Gefängnis, wo hinein sich die Schweizer geflüchtet haben».

Kann es Heimat für Weltoffene überhaupt geben? Odermuss ein moderner, global denkender Mensch den Begriff ‹Heimat› verachten, weil er letztlich ein selbst gewähltes Gefängnis schafft?

Es hilft vielleicht, ‹Heimat› nicht mit ‹Heimatland› zu verwechseln. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zwar der Ort, an dem wir geboren sind und sozialisiert wurden. Echtes Heimatgefühl verlangt aber mehr: an Vertrautheit, gemeinsamer Weltauffassung und gegenseitigem Verständnis. Solche Gefühle lassen sich kaum von Grenzen diktieren. Wenn etwa mein Landsmann Roger Köppel seine Weltanschauung zum Besten gibt, dann löst das bei mir Befremden aus, aber ­sicher kein Zugehörigkeitsgefühl. Da waren die Gespräche mit dem Paraguayer José viel verbindender. «Nie», so Max Frisch, «habe ich so scharfes Heimweh erfahren wie in der Armee, die sich unsere Armee nennt.» Heimat entsteht also nicht dort, wo unsere Passfarbe vorherrscht, sondern dort, wo wir uns verstanden fühlen, wo Gleichgesinnte sind. Dieses Bedürfnis dazuzugehören teilen wohl alle sozialen Menschen. Es zu benennen, für sich zu definieren, ist nicht verwerflich, sich als Linker damit auseinanderzusetzen schon gar nicht. Sind es doch gerade linke Weltanschauungen, die das Wohl im Gemeinsamen suchen.

Schweiz

Warum widmet sich dieses Buch denn der Schweiz, wenn doch Heimat gegenüber Heimatland vorzuziehen ist? Sollten wir das Nationale nicht einfach ignorieren? Wieso soll Helvetia eine Muse sein, wie Moritz Leuenberger fragt?

Weil die Nationen erstens eine Realität sind und politisch nach wie vor zentral. Sie ermöglichen Demokratie. Solange die EU oder die UNO keine demokratische Mitwirkung anbieten, sind die Staaten die wichtigsten Gebilde, welche es den Menschen erlauben, sich einzubringen und mitzubestimmen. Der französische Philosoph Ernest Renan definierte 1882: «Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das von zwei Pfeilern getragen wird: von einem geistigen Erbe, das als gemeinsamer Besitz anerkannt wird, und vom Willen einer Gesellschaft, gemeinsam in die Zukunft zu gehen.» Diese Beschreibung hat auch in globalisierten Zeiten nichts an Bedeutung verloren. Wer die Zukunft mitgestalten will, kommt um den Nationalstaat vorerst nicht herum.

Und zweitens, weil das Ignorieren der Nationalstaaten nicht funktioniert. Nationen waren immer wieder eine Projektionsfläche für Mythen und Weltanschauungen. Nationen wurden von den Mächtigen immer wieder zurechtgebogen, um Identität zu schaffen, und nicht selten, um die eigenen Privilegien zu sichern. Das gilt auch für die Schweiz. In den letzten Jahren wieder vermehrt. Wahrscheinlich steigern fortschreitende Vernetzung und Globalisierung das Bedürfnis nach Orientierung. Die Rechtsnationalen nützten das gezielt aus und feierten in ganz Europa Erfolge. Die grösste Partei der Schweiz, die SVP, nannte ihr Parteiprogramm schon vor zehn Jahren ‹Mein Zuhause – Unsere Schweiz›. Und der neuste Wahlslogan der FDP heisst: ‹Unsere Schweiz, unsere Heimat›. Ironie der Geschichte: dass die beiden Parteien nun unter Druck geraten durch ein eigentlich ‹bewahrendes›, ‹die Heimat erhalten› wollendes Anliegen. Nämlich die berechtigte Angst vor verheerenden Klimaveränderungen, die das Leben auf dem Planeten bedrohen.

Im Zentrum der rechtsnationalen Rhetorik steht eine verklärte, uniforme und meist ausgrenzende Definition von Heimat. Nationalrat Peter Keller, ein bei der ‹Weltwoche› angestellter Hofberichterstatter der SVP, nannte es so: «Heimat ist Vertrautheit, Heimat ist das, was wir vermissen, wenn wir auswärts sind. Die Berge, die Seen, der Cervelat und das Aromat…» SVP-Übervater Christoph Blocher füllte über Jahrzehnte Säle mit seinen pseudohistorischen Deutungen der Schweizer Seele. Und sein Ziehsohn Roger Köppel darf noch heute auf ausländischen Fernsehkanälen in die Mikrofone diktieren, was schweizerisch sei. Menschen, die andere Interpretationen bevorzugen, werden hart attackiert. Ueli Maurer, damals noch SVP-Präsident, bezeichnete sie 2007 als «altbekannte Nestbeschmutzer und notorische Heimatverächter» und forderte: «Nur, wenn wir die sozialistischen, antiautoritären und multikulturellen Experimente beenden, können wir bewahren und weitergeben, was die Schweiz auszeichnet.»

Das vorliegende Buch will nicht in dieselbe Falle tappen und keine neue nationale Monokultur beschwören. Sie will im Gegenteil das Monopol aufbrechen. Denn die verzerrten und diktierten Selbstbilder setzen sich fest. Wenn wir den Rechtsnationalen die Interpretation überlassen, macht diese sich selbstständig.

Bestes Beispiel dafür ist Xherdan Shaqiri. Der Muskelzwerg, wie er in Deutschland liebevoll genannt wird, ist ein Schweizer Exportschlager. Wenn er an guten Tagen in seiner unverkennbar druckvollen Art die allesamt viel grösseren Verteidiger von Weltrang schwindlig spielt, dann hüpfen Schweizer Fussballherzen und die Sportwelt applaudiert. Mit seinem Fallrückzieher an der EM 2016 hat er Landesgeschichte geschrieben. Genau genommen ist Shaqiri ein Schweizer Nationalheld.

An der WM 2018 geriet er aber ins Kreuzfeuer der Kritik, weil er im Rummel nach einem herrlichen Treffer seine Hände selbstbewusst zum albanischen Doppeladler geformt hatte. Bemerkenswert war nicht die kleinmütige Reaktion der Kritiker, die dem Nationalspieler vorwarfen, kein echter Schweizer zu sein. Das war zu erwarten. Bemerkenswert war seine eigene Reaktion. Denn als der durch die Kritik sichtlich Gezeichnete nach Wochen an die Medien trat, zeigte er Reue, entschuldigte sich bei allen, die sich durch den Doppeladler angegriffen gefühlt hätten, zum Beispiel «bei den Menschen in den Bergen».

Das Bild spricht Bände: Der Immigrantensohn Shaqiri wird bezichtigt, kein echter Schweizer zu sein, also entschuldigt er sich bei den echten Schweizern, und das sind «die Menschen in den Bergen». Die Vorstellung, dass echte Schweizer Bergler seien, ist nicht seine Erfindung. Es ist ein Stereotyp, das unter dem Diktat von Nationalpolitik und Switzerland-Marketing über Jahrzehnte gepflegt wurde. In diesem Heimatbild ist die Schweiz das Land von fleissigen Sennen und Bauern. Und das hallt nach. Die Landwirtschaft stellt zwar nur noch vier Prozent der Arbeitsplätze, dennoch ist der Bauernverband bis heute die stärkste Lobby in Bundesbern. Agrarsubventionen sind heilig, sie zu kürzen grenzt an Landesverrat.

In den Geschichten, die um die Welt ziehen, dominiert die Schweiz von Johanna Spyri und Alois Carigiet. Heidi und Schellenursli grüssen aus den Bergen. Es ist die Schweiz, die von ‹Schweiz Tourismus› gerne im Ausland präsentiert wird und selbst bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen, die in den Agglomerationen gross wurden, hängen bleibt. Wie sollen sich Secondos und Expats integrieren, wenn die offizielle Schweiz ein Selbstbild pflegt, das fast alle ausschliesst?

Ein gesundes Heimatverständnis schafft Geborgenheit, Zuversicht und Selbstvertrauen, es nimmt die Angst vor Fremdem und öffnet den Blick für Neues und anderes. Interessierte Reisende, die ihre Heimat kennen, schätzen und hinterfragen, spiegeln in der Fremde immer sich selbst, und das macht sie reicher. Unhinterfragte Erhöhung des eigenen Heimatlandes hingegen ist zerstörerisch. Die Geschichte zeigte leider viel zu häufig, wie blinder Nationalismus in sinnlose Menschenverachtung, Feindseligkeit und Krieg umschlugen. Deshalb muss die Auseinandersetzung mit der Heimat immer auch kritisch sein oder, wie Frisch es sagte: «Heimat ist nicht durch Behaglichkeit definiert. Wer Heimat sagt, nimmt mehr auf sich.» Dazu gehört die Bereitschaft, verschiedene Heimaten und verschiedene Denkweisen zu akzeptieren. Dazu gehört aber auch das kritische Hinterfragen historischer Ereignisse und aktueller Zustände genauso wie die Suche nach positiven Gefühlen, Werten und Erlebnissen. Und davon soll dieses Buch handeln.

Denn die Schweiz ist auch ‹unsere Schweiz›. Sie gehört nicht nur denjenigen, die Schweizer Fahnen auf Balkone hängen. Alle Menschen, die hier leben, machen die Schweiz aus. Auch diejenigen, die ihr Heimatland nicht kitschig verklären, die sich von einigen Ereignissen der Schweizer Geschichte distanzieren und die politischen Mehrheiten kritisieren. Wir alle haben ein Anrecht auf die geistigen, kulturellen und politischen Errungenschaften dieses Landes.

Basel, April 2019, Beat Jans

Identität

Was die Schweiz zusammenhält

Von Benedikt Weibel

Vor Jahren war ich in Münchenstein zu einem Vortrag geladen. «Geschätzte Baslerinnen und Basler», eröffnete ich, worauf man im Saal schallend lachte. Ich hatte keine Ahnung, warum. Erst als man mich nach meiner Rede aufklärte, lernte ich Basler/-innen von Baselbieter/-innen zu unterscheiden.

Als Bergführer und SBB-Chef glaubte ich, die Schweiz zu kennen. Ich irrte mich. Die kleine Geschichte zeigt, welche Vielfalt an Kulturen auf engstem Raum die Schweiz ausmacht. Als ich in Solothurn zur Schule ging, haben wir uns über den Dialekt der Langendörfer lustig gemacht. Langendorf erreicht man von der Stadt aus zu Fuss in einer Viertelstunde. Wenn wir, um eine neue Wortschöpfung zu bemühen, den Bratwurstgraben überqueren oder gar den Röstigraben, werden die Unterschiede noch offensichtlicher. Die Schweiz ist ein pluralistisches Land, geprägt durch die lateinische und alemannische Kultur, die uralten Gegensätze zwischen Stadt und Land und unzählige Mikrokulturen.

Etwas habe ich als SBB-Chef gelernt: Wer nicht im Grossraum Zürich lebt, kultiviert die Idee, er lebe in der Peripherie. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieser selbst deklarierten Randregionen sehen sich gegenüber der einzigen Agglomeration im Land, die ganz entfernt einer Metropole ähnelt, grundsätzlich und immer benachteiligt. Der Anti-Zürich-Reflex bildet eine zuverlässige Klammer um das Land. Die Suisse Romande hat sich zwar zwischenzeitlich emanzipiert. Dafür hat die Swissair gesorgt, die sich aus wirtschaftlichen Überlegungen vom Flughafen Genève verabschiedet hat. Die Empörung der Westschweizer über die Geldsäcke aus Zürich war riesig. Die Aussichtslosigkeit des Protestes einsehend, hat man sich mental von Zürich verabschiedet und das Schicksal in die eigenen Hände genommen. Der Flughafen Genève wurde zum ersten Schweizer Hub für EasyJet. Seit 2000 wächst sein Passagieraufkommen um durchschnittlich 5 Prozent pro Jahr. In Zürich sind es gerade einmal 1,6 Prozent.

Der Anti-Zürich-Reflex ‹Outre-Sarine› (jenseits der Saane) ist mittlerweile einer Gleichgültigkeit gewichen, wie auch das umgekehrte Verhältnis der Deutschschweiz gegenüber unseren welschen Kompatrioten. Kaum jemand nimmt da wahr, wie sehr sich das Bassin Lémanique wirtschaftlich und unter der Führung der EPFL auch wissenschaftlich entwickelt hat. Die Annexion der Westschweizer Medien durch ein Zürcher Medienhaus hat die Abneigung wieder revitalisiert.

Ein anderer Reflex hält die multikulturelle Schweiz ebenfalls zusammen. Er generiert eine – vorsichtig ausgedrückt – Zurückhaltung gegenüber unseren Nachbarn im Süden, Westen und Norden. Klein gegen Gross, David gegen Goliath – trotz unseres bisweilen etwas übersteigerten Selbstbewusstseins schwingt da ein gewisser Minderwertigkeitskomplex mit.

Herkunft und Abgrenzung haben zu dem geführt, was man heute ‹Willensnation› nennt. Nun schleicht sich seit einiger Zeit ein neuer Schlüsselbegriff in die Debatte: die Identität. Francis Fukuyama, der «eminente Zeitdiagnostiker», wie ihn die ‹NZZ› nennt, plädiert in diesem Zusammenhang für eine «nationale Bekenntnisidentität». Diese sollte auf Grundwerten und -überzeugungen beruhen. Das ist eine einleuchtende Definition einer Willensnation. Es war allerdings keineswegs ein fester, einheitlicher Wille, der 1848 zur modernen Schweiz geführt hat. Das Bonmot von Arnold Winkelried, «Wär het mi gschüpft?», ist auch in dieser historischen Situation zutreffend. Es war notwendig, einen Staat zu gründen, um mit anderen Nationen auf Augenhöhe zu verhandeln. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die erste Bundesverfassung aus einem Bürgerkrieg entstanden ist.

Die Verfassung von 1848 machte die Schweiz zu einer demokratischen Insel inmitten von Monarchien. Schon in der alten Eidgenossenschaft hat es nie Könige, Fürsten oder Herzoge gegeben, obwohl auch hier Klientelismus und Nepotismus verbreitet waren. Aber das Höfische ist uns stets fremd geblieben, was mir immer wieder auffällt, wenn ich in Frankreich und Österreich tätig bin. Die Verfassungen, über die 1848, 1874 und 1999 abgestimmt wurde, waren stets fortschrittlich. Aber selbst die Verfassung von 1874, welche die ersten Elemente der direkten Demokratie einführte, wurde von neun Ständen abgelehnt (1999 waren es übrigens elf). Dass ausgerechnet die Urkantone jede dieser drei Verfassungen massiv ablehnten, ist Ironie der Geschichte.

Die zwei wichtigsten Klammern über der Schweiz sind die direkte Demokratie und der Föderalismus. Die direkte Demokratie ist ein wirkungsvoller Mechanismus gegen Machtmissbrauch. Wir sind stolz darauf, auch wegen der Einzigartigkeit dieses Systems. Seine Schwächen blenden wir aus. «Das hat beim Souverän keine Chance», ist der sicherste Killer jeder Vorlage. Die Folge sind mangelnde Gestaltungskraft und Immobilismus, gerade in den dringendsten Fragen: AHV, Pensionskassen, Pflegeversicherung, Gesundheitskosten, Rahmenvertrag mit der EU … Die Essenz des Föderalismus ist das Subsidiaritätsprinzip, das die Verantwortung für eine Sache jeweils der untersten möglichen Hierarchiestufe zuordnet. Diese Zuordnung ist im ständigen Fluss. Es ist eine Tatsache, dass der Trend in Richtung Zentralisierung geht, oft ausgelöst durch globale Veränderungen. Umso mehr müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Autonomie der Gemeinden und Kantone im grösstmöglichen Umfang gewahrt wird.

Ein Blick auf die Abstimmungsresultate jeder Volksabstimmung zeigt, wie breit das politische Spektrum in unserem Land ist. Deshalb ist eine der wichtigsten Klammern, welche die Schweiz zusammenhält, der Kompromiss, den man auch als freundeidgenössisch bezeichnet. Es gibt ein schönes Wort dafür: der helvetische Pragmatismus. Deshalb haben unsere klugen Vorfahren auch Andersdenkende in die Regierung aufgenommen. Die Radikalen haben den Platz frei gemacht für die Konservativen und später beide zusammen für die Sozialdemokraten.

Dem helvetischen Pragmatismus und einigem Glück haben wir zu verdanken, dass wir zwei Weltkriege, die im engsten Umland tobten, relativ schadlos überstanden haben. Nicht weil wir den strammen Max gespielt haben, sondern weil wir klug, manchmal auch opportunistisch waren. Wenn wir das in diesen extremen Zeiten fertiggebracht haben, muss es doch wesentlich leichter sein, eine vernünftige Partnerschaft mit der EU zu vereinbaren. Wer hier mit dem Verweis auf eine Autonomie, die es in dieser Welt gar nicht mehr geben kann, den strammen Max spielen will, handelt unschweizerisch. Er sucht nicht den Kompromiss, sondern die Konfrontation. Zum Schaden des Landes.

Ein immer professionelleres Politmarketing führt zu einer zunehmenden Instrumentalisierung unserer Volksrechte, namentlich der Initiative. Professionelles Politmarketing heisst Zuspitzung und Polarisierung. Das Ergebnis ist, wie man neuerdings sagt, die Zentrifugation der Parteienlandschaft. Das kennen wir vom Tumbler: Die Zentrifugalkraft macht die Mitte frei. Die sozialen Medien verstärken den Trend. Mani Matter meinte in einem seiner berühmten Lieder, dass es die Hemmungen seien, die uns vom Schimpansen unterscheiden. Wenn dem so ist, dann nähern wir uns wieder den Primaten an.

Nach den amerikanischen Midterm-Wahlen stellte die ‹NZZ› auf ihrer Frontseite unter dem Titel ‹Das Organisieren von Hass› ganz ungeniert das ultimative Rezept für erfolgreiches Politmarketing vor: «Dass Abneigung, Angst und Ablehnung für die Mobilisierung der eigenen Anhänger bedeutend wirkungsvoller und mächtiger sind als Zuneigung oder Zustimmung, mag dem Wunschtraum einer harmonischen Ausgeglichenheit der Welt widersprechen. Es ist aber hundertfach bewiesen.» Dann tritt die ‹NZZ› mit einem über 100-jährigen Zitat noch nach: «In ihrer Anwendung war Politik schon immer das systematische Organisieren von Hass.» Die Frucht solchen Politmarketings ist ein Populismus, der, unabhängig von seiner politischen Verortung, dem politischen Gegner jede Legitimität abspricht. In dieser Ausprägung ist er antipluralistisch und damit antischweizerisch. Was auch für die zunehmende Tendenz gilt, die Argumentieren durch Moralisieren ersetzt.

Das Ideal der lebendigen Demokratie ist nicht die Harmonie. Es ist der hart, aber fair ausgetragene Streit, der schliesslich in einen Kompromiss mündet, den die einen mit einer mittleren Zufriedenheit, die anderen mit einer mittleren Unzufriedenheit akzeptieren. Harte Tacklings sind erlaubt. Fair ist der Streit, wenn der politische Gegner respektiert wird. Zum Respekt gehört, dass man ihm zuhört.

Dieses Ideal war nie so gefährdet wie vor gut hundert Jahren. Die Front zwischen Frankreich und Deutschland im Ersten Weltkrieg teilte auch unser Land. Es folgte die Zerreissprobe des Generalstreiks. Daraus hat die Willensnation gelernt. Als die äussere Bedrohung wieder zunahm, schlossen Gewerkschafter und Arbeitgeber der Metallindustrie 1937 das Friedensabkommen und machten damit den Weg frei für eine moderne Sozialpartnerschaft. Diese Sozialpartnerschaft ist so selbstverständlich geworden, dass man sie als Klammer, die unser Land zusammenzuhält, kaum mehr wahrnimmt. Auf einer kürzlich publizierten Liste mit Gründen, warum die Schweiz so reich ist, sind sieben Punkte aufgeführt. Die Sozialpartnerschaft ist nicht dabei. Das ist wie mit der Bahn. Da merkt man auch erst, wenn man im Ausland gefahren ist, was man an der SBB hat.

Wenn die ‹NZZ› recht hätte, dass erfolgreiches Politmarketing auf Hass beruht und die sozialen Medien die Schraube noch zusätzlich anziehen, dann hätte das Freundeidgenössische keine gute Zukunft. Aus der Willensnation würde eine gespaltene Nation, wie das anderswo auch gerade geschieht. So nehmen wir die sanfte Kampagne der Befürworter der Selbstbestimmungs-Initiative als gutes Signal, dass die Zeichen der Zeit erkannt wurden. Dass wir die Willensnation nicht zu Tode polarisieren wollen. Dass wir einsehen, dass wir dem freundeidgenössischen Kompromiss unseren Wohlstand verdanken. Helvetischer Pragmatismus heisst nicht, in vorauseilendem Gehorsam vor dem Stimmvolk Probleme zu verdrängen, sondern mutig nach Lösungen im Interesse des Landes zu suchen.

Nach vorn: Vom ‹Heimet› zum Ausbaudes Sozialstaats

Von Daniel Rothenbühler

In der Deutschschweiz sprach man bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht von Heimat, sondern von ‹Heimet›. Das Wort war sächlich, ‹ds Heimet›, und meinte das Anwesen, das Gotthelf 1854 in den ‹Erlebnissen eines Schuldenbauern› immer noch «das Heimat» nannte. ‹Ds Heimet› gehörte zur Wirtschafts- und Lebensform des ‹ganzen Hauses›, das den dazu Gehörenden unter patriarchaler Herrschaft die Einheit von Herkunft und Familie, Wohnen und Arbeiten, Schutz und Recht gewährte.

Diese Einheit erfuhr ab dem 18. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein eine immer radikalere Auflösung durch die «fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung», die Marx und Engels schon 1848 als Hauptkennzeichen der ‹Bourgeoisepoche› hervorhoben. Mit jedem grösseren Schub dieser Umwälzung, so auch heute mit demjenigen der fortgeschrittenen Globalisierung, beschworen rückwärtsgewandte Bewegungen mit dem Schlagwort der ‹Heimat› einen Ort des Schutzes von Leben, Arbeit und Besitz, der historisch längst verloren ist.

Als Fiktion hat er immer noch eine grosse Anziehungskraft. Am stärksten im deutschen Sprachraum, weil Deutsch als einzige Sprache in ‹Heimat› ein Wort hat, das alle Aspekte der ursprünglichen Einheit gleichzeitig anspricht: Herkunft, Zuhause, Gemeinschaft, Schutz und Recht. Keine andere Sprache hat ein entsprechendes Wort. Doch was Heimat ist, macht heute auch im deutschen Sprachraum jede und jeder mit sich selbst aus. Heimatgefühle können nur mehr subjektive Gefühle sein.

Politisch, als Angelegenheit eines Staatsverbandes aller Bürgerinnen und Bürger, schreiben sich den Begriff am häufigsten jene Kräfte auf die Fahne, die in der politischen Praxis genau das untergraben, was jeder und jede zunächst mit ihm verbindet: Geborgenheit. Diese kann die heutige Gesellschaft unmöglich bieten, indem sie zu alten Formen der Abgrenzung im ‹Heimet›, in der Gemeinde, im Kanton oder im ganzen Land zurückkehrt.

Am deutlichsten hat der marxistische Philosoph Ernst Bloch gefordert, der Heimatbegriff müsse demgegenüber nach vorn, auf die Zukunft hin orientiert werden. Die allerletzten Sätze seines anderthalbtausend Seiten umfassenden ‹Prinzip der Hoffnung› halten fest: «Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heisst sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäus­serung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.»

Um diesem Ziel nahezukommen, wenigstens schrittweise, haben die Arbeiterbewegung und die Parteien, die sie politisch vertreten, nicht einfach die grosse Wende einer Revolution abgewartet. Sie haben die ‹Genesis› dessen, was Bloch als Ziel vorschwebt, in ihren Kämpfen ‹angefangen›.

Dass der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründen kann, war Gegenstand dreier wesentlicher Forderungen im Landesstreik von 1918: Frauenstimmrecht, Beschränkung der Arbeitszeit, Alters- und Invalidenversicherung.

Es hat lange gedauert, bis diese Forderungen sich in der ganzen Schweiz durchgesetzt hatten. Am längsten mit dem Frauenstimmrecht auf Bundesebene, das erst 1971, mehr als ein halbes Jahrhundert später, eingeführt wurde. Am zweitlängsten mit der Invalidenversicherung, die erst 1960, mehr als vier Jahrzehnte später, zustande kam. Am drittlängsten mit der Alters- und Hinterbliebenenversicherung, die 1948, genau zwanzig Jahre später, eingerichtet wurde. Am schnellsten ging es mit der schon damals längst überfälligen Arbeitszeitverkürzung: 1919/20 wurde die 48-Stunden-Woche Gesetz, auch wenn den Unternehmern noch Ausnahmen zugestanden wurden.

Unsere heutige Schweiz ist die Schweiz, die den landesweit streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern von 1918 vorschwebte. Der Sozialstaat, den sie forderten, ist sukzessive, wenn auch schleppend, ausgebaut worden. Die soziale Sicherheit, die in vorkapitalistischen Zeiten mit dem ‹Heimet› verbunden wurde, ist nicht mehr ortsgebunden, sondern gilt für die ganze arbeitende Bevölkerung und muss auch für diejenigen gelten, die nicht das Schweizer Bürgerrecht haben.

Weil die soziale Sicherheit zunehmend ausgebaut wurde, nicht nur mit der AHV und IV, sondern auch mit der Arbeitslosenversicherung und den Einrichtungen der Sozialhilfe, hat auch der für die Schweiz typische Heimatort seine Funktion als Ort des letztinstanzlichen Schutzes verloren. Noch bis zum Ersten Weltkrieg waren die Heimatorte vollumfänglich für die Unterstützung der Bedürftigen unter ihren Heimatberechtigten zuständig, egal, wo diese wohnten.

Schrittweise wurde diese Pflicht ab 1918 auf den Wohnort übertragen. Aber erst seit 2012 ist der Heimatort ganz von der Pflicht zur Sozialhilfe für Heimatberechtigte in Not befreit. Und erst seit zwei Jahren, 2017, sind die Heimatkantone nicht mehr verpflichtet, den Wohnkantonen ihrer Heimatberechtigten das Geld zurückzuerstatten, das jene für die Sozialhilfe beanspruchen.

Heute hat der für die Schweiz typische Heimatort seine soziale Funktion ganz verloren und besitzt nur noch symbolischen Wert. Was früher Heimat, nicht als fiktive, sondern als tatsächliche Geborgenheit bieten sollte, das sichert heute der Sozialstaat. Ihn gilt es hochzuhalten, nicht einen chimärischen Heimatbegriff, der ausschliesst, statt aufzunehmen. Der Sozialstaat bietet ein Stück weit das, was das ‹Prinzip Hoffnung› zum Schluss skizziert. Er schwebt nicht in den Wolken, sondern setzt an den Wurzeln an: am arbeitenden, schaffenden, die Gegebenheiten umbildenden und überholenden Menschen. Und diesen sollte er das Seine möglichst ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründen lassen.

Solide Schweiz

Von Knackeboul

Als Kind in Portugal musste ich meinen Verwandten in der Schweiz regelmässig Notfallmeldungen senden: Schickt Gala-Chäsli und Pä (unsere eigenartige Kurzform für Le Parfait) und Schoggi und Mocca-Joghurt für meinen Bruder Fritzli! Gipfeli konnte man leider nicht per Post schicken, und die Flüge waren noch teuer in den späten Achtzigern, also war ich nur etwa alle zwei Jahre in der Heimat und kam in den Genuss von Gipfeli vom Beck, manchmal sogar mit Anke. Auch Schnee konnte man nicht per Post senden, und ich vermisste ihn sehr.

Ich war in der Schweiz geboren, verbrachte meine ersten Lebensjahre hier, zog aber mit fünf Jahren für fünf Jahre mit meiner Familie nach Portugal. Eine sehr prägende Zeit für ein Kind. Eine Zeit, die mir zeigte, in welchem Luxus wir in unserer alten Heimat schwelgten, auch wenn wir eine normale Arbeiterfamilie waren. Dass meine Eltern in Portugal Familien aus den Slums rund um Lissabon betreuten, machte diesen Kontrast noch deutlicher.

Das Portugal meiner Kindheit war warm und herzlich und abenteuerlich, aber es war ein Armenhaus, verglichen mit der Schweiz. Das Essen war sehr einfach. Im Laden in unserem Dorf gab es genau eine Frischkäse- und Joghurtsorte: Nature. Fritzli mischte Kaffee hinein, um sein Mocca-Joghurt zu simulieren. Brot war sozusagen inexistent. Die Pseudo-Weggli hiessen ‹Papos secos› und sie schmeckten, wie sie tönten: wie trockene Pappe. Die Spitäler, die Schulen, der öffentliche Verkehr und das Sozialwesen glichen den portugiesischen Strassen – sie waren voller Löcher und führten oft ins Nichts. Die öffentlichen Toiletten waren No-Go-Areas und überall lag Müll.

Wenn ich heute darüber schreibe, finde ich mich elitär und verweichlicht. Geht man nicht gerade deswegen in die Ferien und auf Reisen? Um der Biederkeit der Schweiz zu entrinnen, um die Hitze zu spüren und das Chaos und den Dreck und das Leben, das sich nicht an Fahrpläne hält?

Wahrscheinlich war ich schon als Kind ein Bünzli. Vielleicht ist das jeder Schweizer. Man sagt, man wolle Abenteuer und Ungewohntes, man beklagt sich über die Kälte, aber eigentlich fühlt man sich pudelwohl hier. Man liebt den Winter, kuschelt sich im heimeligen Häuschen in die eigene Egomanie ein und isst ein Stück Ruchbrot mit Greyerzer und Anke. Man fährt am Samstag pünktlich um 07:18 mit dem Zug in die Berge und weiss, wenn man sich auf der Piste ein Bein bricht, wird sich jemand darum kümmern und man wird weiterhin Lohn kriegen, wenn man krankheitsbedingt im Büro fehlt.

Man ist sich gewohnt, privilegiert zu sein. Man hat wenig Verständnis für Menschen, die ihre Heimat hinter sich lassen. Wie kann man nur? Es ist doch so schön hier! Und in den Ferien war ich in Marokko. Wunderschönes Land! Und alle immer am Lächeln. Ich wüsste nicht, wieso die ihr Paradies verlassen sollten.

Man ist verwöhnt, ohne es zu wissen. Oder man weiss es, ohne sich zu schämen. Oder man schämt sich, ohne was zu ändern.

Ich frage mich immer, was denn dazu geführt hat, dass die Schweiz so sauber ist. Dass das Essen, die Strassen, das Wasser, die Schulen, das Sozialwesen und der öffentliche Verkehr von überragender Qualität sind. Dass die Wanderwege und die Häuser und sogar die Natur, die Berge und das Wetter so solide sind.

Ich sitze in einer deutschen Raststätte und verarbeite bei einem schrecklich trockenen Sandwich den Eindruck, dass diese Wurst und dieses Brot von genauso geringer Qualität sind wie die Häuser, die vorher an mir vorbeizogen. Sogar die Kühe und das Gras sahen irgendwie matter aus auf der deutschen Seite. Was ist das nur? In der Schweiz ist alles so solide und massiv. Die Häuser haben Keller und die Wände sind dick. In Portugal werden Barracken mit dünnen Wänden direkt auf den Boden geklatscht, in den Staaten auch, und auch die deutschen Häuser sehen aus, als würden sie beim ersten Windhauch davongetragen. Was ist es also, das die Schweiz so solide macht? Ist das meine eigene patriotische Verblendung? Ist es die Verschonung vor Krieg und Katastrophen? Ist es das Klima? Ist es das viele Gold, das bei uns irgendwo unter dem Boden liegt? Treibt es seinen trügerischen Glanz in die Strassen und Bäume und Häuser? Sind die Banken verantwortlich für unseren Wohlstand? Oder sind es die Bauern? Sind es die Linken, die sich immer für gute Bildung und einen starken Sozialstaat stark gemacht haben? Sind es die Bünzlis, die Amok laufen, wenn der Zug drei Minuten später abfährt, und die Gütesiegel verlangen für jedes einzelne Produkt, das sie konsumieren? Oder sind es sogar die Rechten, die am liebsten eine Mauer um dieses Land bauen würden, damit niemand anderes von unserem Glanz etwas abbekommt?

Vielleicht ist es wirklich das Gold. Erbeutetes Gold, verschwiegenes Gold. Es macht uns stolz und satt und solide, obwohl es zwielichtig ist. Und somit sind wir das Land mit dem besten Essen, den besten Strassen, den besten Schulen und der besten Natur. Dafür auch das Land mit dem schlechtesten Gewissen. Das ist wohl das Psychogramm des Schweizers: Er versucht seinen Wohlstand zu geniessen, obwohl er unterbewusst weiss, dass er ihn nicht verdient hat. Ich bin definitiv ein Schweizer.

Wegen der Mentalität

Von Martin Naef

«Also wissen Sie: Der Deutsche und der Franzose, die können halt ganz einfach nicht zusammen. Wegen der Mentalität.» Das war dann wirklich der Moment, als der Missionschef der Schweizer Botschaft bei der EU in Brüssel und ich uns irritiert angeblickt haben. Aber los ging es ja schon beim Salat. Gediegenes Essen in der Schweizer Residenz in Brüssel. Alle da. Wie wir Schweizer ja so sind. Wir laden alle ein. Alle. Zum Beispiel auch die Frau Europa-Abgeordnete dieser AfD-Nachfolgepartei mit so einer gemässigten Etikette. Die dann neben mir sass. Essen in Botschaftsresidenzen haben ja immer irgendetwas Feierliches. Neben mir also die Kollegin von der ‹gemässigten› AfD. Vielleicht war es auch die Suppe, nicht der Salat. Jedenfalls erläuterte sie mir ungefragt, wie viele Haftgründe es für Frau Merkel gäbe. Und für Europa. Wenn wir Europa denn inhaftieren könnten. Ich war wohl etwas zu skeptisch. Ich versuchte einen gepflegten Dialog über die Schönheit ihrer Heimatstadt Hamburg. Ging nicht so gut. Stattdessen liess ich mich ein auf einen hoffnungslosen Europadiskurs. Ich versuchte ausgerechnet anhand der Schweiz zu erklären, weshalb wirkliche Niederlassungsfreiheit, Lastenausgleich für sozial- und für strukturschwache Regionen schon funktionieren könnten. Von wegen Nord und Süd. Und wieso Volksabstimmungen häufig diese Politik bestätigen und nicht populistische Wünsche. Und überhaupt, dass man ja gerade darum mitbestimmen wolle, Frau Europa-Abgeordnete, wenn einem etwas nicht passe. In Europa (oder als Sozi in der Schweiz). Vergeblich. Irgendwann wusste die Abgeordnete nicht mehr so wirklich weiter. Und dann kam eben das mit dem Deutschen und dem Franzosen, die niemals miteinander könnten. Wegen der Mentalität. Da trafen sich meine Blicke mit dem Schweizer Missionschef. Kalte Verzweiflung, aber doch zwinkerndes Besserwissen. Doch, momoll, das geht imfall, und wie. Und dann noch schön. Natürlich habe ich mich frei jeder Hoffnung auf Einsicht patriotisch gewehrt. Und zwar so richtig. Ja, heftig. Verstanden hat sie es glaub nicht. Beim Rauchen haben wir dann über Hamburg gesprochen.

Was heisst hier ‹wir›?

Von Lisa Christ

An was denken Sie, wenn jemand vom ‹Schweizer Volk› spricht? Vor meinem inneren Auge blitzen Bierbäuche in roten Shirts mit weissem Plastikkreuzbedruck, grüne Wiesen, Bier und Cervelat auf. Vielleicht noch ein wenig verhalten-falscher Gesang vom ‹Morgenrot›, der nach der ersten Strophe verlegen leiser wird.

Klischeebilder sind schwer zu überwinden. Vermutlich fühle ich mich deshalb nicht als Schweizerin. Ich fühle mich eigentlich gar nicht als etwas, ausser als ich und manchmal auch als Frau. Aber Schweizerin bin ich. Das merke ich zumindest immer dann, wenn ich gerade nicht in der Schweiz bin.

Aber was verbindet uns denn? Was verbindet mich mit Menschen, die sich eine Schweizer Fahne in den Schrebergarten hängen?

Ist es der geografische Ort? Da, wo man aufwächst? Wo man wohnt? Dass wir im gleichen Laden einkaufen? Politische Weltanschauung und Werte sind es jedenfalls nicht. Ich bin laut Abstimmungen nicht selten in der Minderheit mit meiner Meinung. Wir sind also keine Interessengemeinschaft.

Ist unsere Normalität deckungsgleich? Sind es die öffent­lichen Orte, an die wir gewöhnt sind? Dass alles so aufgeräumt, übersichtlich, an seinem Platz ist? Jede Hecke geschnitten, jeder Rasen gemäht, jeder Wald kultiviert? Sind es die grünen Wiesen, die klaren Seen, die Schneeberge, die Postkartenlandschaft?

Die abfallfreien Strassen, die Zuständigkeiten, die Bürokratie? Sind es die pünktlichen Züge, die sauberen Fassaden? Ist es die geregelte Stille an einem Sonntagabend? Das oppositionsfreie System? Die Effizienz im Finanzsektor? Das Bank­geheimnis? Die Pauschalbesteuerung? Ist es das, was uns alle einigt? Diese wunderbar geölte Kapitalismusmaschine? Der Profit? Der Staat? Das Bundeshaus?

Oder sind es doch die kleinen Dinge, die sich einem erst beim näheren Hinsehen eröffnen? Die winzigen Risse in jeder Fassade, die abblätternde Farbe der Chassis? Das sich durch den Asphalt bahnende Unkraut, das winzige Blüten in Richtung Sonne treibt? Das Gerümpel hinter den Häusern? Der Staub unter jedem Bett? Die von Kalk zerfressene Waschmaschine? Die rostige Kirchenglocke? Die Acht in der Velofelge?

Oder ist es die Sprache? Sind wir dann ein uneinig Volk ­voller durch Sprache getrennter Menschen? Ein in vier Teile zerfallenes Grüppchen?

Wenn ich ein Gefühl von Fremde will, muss ich nicht mal ins Ausland. Italienisch gibt’s im Tessin, Französisch im Welschen und wenn ich jemanden Deutsch oder Englisch sprechen hören will, dann muss ich nur nach Zürich.

Aber wer sind wir denn jetzt? Wer gehört alles dazu? Gehören Zugewanderte aus Italien dazu? Aus Deutschland? Aus Portugal? Frankreich? Dem Kosovo? Aus Spanien? Der Türkei? Mazedonien? Serbien? Aus Österreich? Albanien? Armenien? Syrien? Brasilien? Den Philippinen? Aus Finnland? Schweden? Griechenland? Pakistan? Sri Lanka? Dem Tibet? Tunesien? Eritrea? Angola? Kamerun? Der Demokratischen Republik Kongo? Aus Nigeria? Algerien? Guinea? Sierra Leone?

Ist das ein Ratespiel? Können wir eigentlich selbst bestimmen, wer zu uns gehört? Oder bestimmt das jemand für uns? Wonach wird das bestimmt? Nach einem Test, den wir selbst nicht bestehen würden? Wie die Mutproben in der Schule, die immer nur von den Coolen ausgingen (die nur cool waren, weil sie geraucht haben)? Ist es das, was uns ausmacht? Dass wir die cooleren Sneakers haben? Den cooleren Pass?

Was macht es genau aus, Schweizer*in zu sein? Ein kleines, rotes Heftchen, das schwierig zu bekommen ist? Ist es demnach Willkür? Ich habe nichts dafür getan, Schweizerin zu sein. Trotzdem bin ich es. Geworden. Durch Geburt. Einfach so. Willkürlich.

Es gibt viele Leute, mit denen ich nichts teile ausser meiner Nationalität.

Es gibt viele Leute, mit denen ich fast alles teile, die mir und meinen Werten nahestehen. Aber ihre Pässe haben andere Farben. Sie sind grün, blau, dunkelrot, violett, schwarz.

Wenn ich an der Grenze zu Deutschland stehe und einen Fuss über die Grenze setze, passiert gar nichts.

Den eigenen Platz zu finden ist ein wandelnder Prozess. Eine nie abgeschlossene Suche. Alles, auch Menschen, ist in stän­diger Bewegung. Stillstand ist das Ende. Also positionieren wir uns ständig neu. Verändern uns. Formen unsere Meinung, diskutieren, revidieren. Suchen uns Leute, die uns nahe sind, uns verstehen. Die uns zuhören, ohne sich zu langweilen.

Das sind individuelle Bedürfnisse, die doch jede*r hat. Jede Person braucht andere um sich herum. Wir alle brauchen ein soziales Umfeld. Für unsere psychische Gesundheit. Das ist ein Grundbedürfnis wie Nahrung und Licht. Wir können ohne soziales Gefüge nicht überleben.