Die Aufmerksamkeitsfalle - Matthias Zehnder - E-Book

Die Aufmerksamkeitsfalle E-Book

Matthias Zehnder

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Beschreibung

- Wir konsumieren immer mehr Medieninhalte – und fühlen uns gleichzeitig immer schlechter informiert. - Manche von uns erachten die klassischen Medien als ‹Lügenpresse› – und glauben gleichzeitig teilweise abstrusen Seiten im Internet. - Wir leben im Medienzeitalter – und doch haben immer mehr Medienanbieter wirtschaftliche Probleme. Mit dem Medienangebot verhält es sich wie mit dem Essen: Noch nie hatte der Mensch eine derart vielfältige Palette an hochwertigen Lebensmitteln zur Auswahl – gleichzeitig waren noch nie so viele Menschen in den Industrieländern übergewichtig oder litten an Stoffwechselerkrankungen. Auch in der Medienwelt standen uns noch nie so viele Angebote und Informationen zur Verfügung – gleichzeitig ist die Rede davon, dass wir im postfaktischen Zeitalter leben, in dem die Fakten durch Emotionen ersetzt worden sind. Damit sie die Aufmerksamkeit der Konsumenten erlangen, greifen die Medienanbieter zu immer drastischeren Mitteln. Mit fatalen Folgen. Das Buch zeigt, wie Aufmerksamkeit funktioniert, welche Strategien die Medien anwenden, um die Aufmerksamkeit der Nutzer zu erlangen, und welche dramatischen Konsequenzen das für die Inhalte hat: Im medialen Schlaraffenland droht Überfütterung bei gleichzeitiger Mangelernährung. Aber es gibt Auswege.

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MATTHIAS ZEHNDER

DIE AUFMERKSAMKEITSFALLE

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2017 Zytglogge Verlag AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Thomas Gierl

Coverfoto: © Ifeelstock | dreamstime.com

Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel

ISBN 978-3-7296-0951-8

eISBN (ePUB) 978-3-7296-2146-6

eISBN (mobi) 978-3-7296-2147-3

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

www.zytglogge.ch

Matthias Zehnder

DIE AUFMERKSAMKEITS­FALLE

Wie die Medien zu Populismus führen

Inhalt

Die Aufmerksamkeitsfalle

Wie es dazu kam: Das Schlaraffenlandproblem

Weimar, 1715

Der mediale Supermarkt und seine Folgen

Zahlen zum Medienkonsum

Zeitungsmodelle

Die Sache mit der Aufmerksamkeit

Was ist Aufmerksamkeit?

Die Tricks der Medien

Boulevardmedien machen Stimmung

Viel Aufmerksamkeit für ‹Fake News›

Einschub: Die Sache mit der Filterblase

James Bond und die Desensibilisierung

Einschub: James Bond und die Probleme im Biologieunterricht

Paris, 1671

Vom Pixelhaufen zum lebenden Toten

Einschub: Erlebnisqualität versus Bildqualität

Push-Meldungen

Das Hirtenjungen-Phänomen

Die Briefträger-Verzerrung

Boulevardmedien und Boulevardpolitik

Warum in der Aufmerksamkeitsfalle der Populismus lauert

Die Aufmerksamkeitsfalle im Überblick

Auswege aus der Aufmerksamkeitsfalle

Bibliographie

Über das Buch

Über den Autor

Die Aufmerksamkeitsfalle

Am 9. November 2016 stand die Welt kopf: Obwohl noch am Vortag alle Umfragen der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton einen klaren Sieg bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen vorausgesagt hatten, gewann der Republikaner Donald Trump die Wahlen. Zwar stimmten weniger Menschen für den republikanischen Milliardär als für die demokratische Senatorin, aber Trump konnte mehr Elektorenstimmen auf sich vereinen. Beobachter auf der ganzen Welt fragten sich: Wie ist das möglich? Wie kommt es, dass ein politischer Nobody, dessen ganzer Wahlkampf aus Lügen, Hass und Pöbeleien bestanden hatte, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde? Die allermeisten Medien hatten dringend von einer Wahl des Polit-Neulings abgeraten. Selbst die Boulevardzeitung ‹USA Today› hatte sich zu einer Wahlempfehlung durchgerungen – gegen Donald Trump. Die Analyse zeigt indes: Am Großerfolg von Donald Trump sind ganz zuvorderst die Medien selber schuld. Und zwar konkret die Journalisten.

In Werbedollars hatte Hillary Clinton ihren Kontrahenten deutlich übertrumpft: Von den 342 Millionen Dollar, die im amerikanischen Fernsehen für Wahlwerbung ausgegeben wurden, stammten drei Viertel aus dem Clinton-Lager und warben für Hillary – oder gegen Trump. Donald Trump selbst warb nur gerade für 44 Millionen Dollar im Fernsehen – das entspricht gerade mal einem Anteil von 13 Prozent der TV-Werbeausgaben.

Wie konnte es sein, dass bei diesem riesigen Unterschied der Werbebudgets am Schluss dennoch Trump und nicht Clinton ins Weiße Haus einzog? Der Grund ist der redaktionelle Teil der Medien: Die Journalisten hatten viel häufiger über Trump berichtet als über Clinton. Schon während des Vorwahlkampfs, als die beiden Parteien ihre Kandidaten kürten, brachte es Donald Trump im Fernsehen auf mehr Sendezeit als alle 16 anderen republikanischen Kandidaten zusammengenommen! Im eigentlichen Wahlkampf ging es genauso weiter: Trump beherrschte die Schlagzeilen.

Im März 2016 berichtete die ‹New York Times›, Trump habe bereits Berichterstattung im (hypothetischen) Wert von zwei Milliarden Dollar verbucht. Damals stand das entsprechende Konto von Hillary Clinton bei 746 Millionen Dollar. Allein im Februar 2016 belief sich die redaktionelle Präsenz von Trump auf einen rechnerischen Gegenwert von 400 Millionen Dollar. Also haben nicht die Werber Donald Trump zum Weißen Haus verholfen, sondern die Journalisten.

Allen voran die großen TV-Netzwerke ABC, CBS und NBC. Laut einer Studie von ‹Tyndall Reports› lag Donald Trump 2015 auf Platz zwei (!) der 20 Themen, über die im Fernsehen am meisten berichtet wurde – mehr als über Trump berichteten die Fernsehnetzwerke nur über das Winterwetter. 327 Minuten lang hatten sich die drei größten Fernsehnetzwerke der Kandidatur des Milliardärs gewidmet. Die Kampagne von Hillary Clinton kam in derselben Zeit nur gerade auf 121 Minuten – wenig mehr als ein Drittel der Sendezeit, die Donald Trump verbuchen konnte.

‹Earned Media› nennen die Amerikaner diese redaktionelle Präsenz – übersetzt also etwa: verdiente Medialeistung. ‹Verdient› hat sich Trump diese Leistung vor allem mit zwei Methoden: durch rüpelhafte Twitter-Meldungen über sein Twitter-Konto ‹@realDonaldTrump› und durch rüpelhafte Aussagen bei Ansprachen. Beides, Twitter-Meldungen und Ansprachen, war von den klassischen Medien jeweils sofort ausgeschlachtet worden. Trump war sich dessen bewusst. Er wusste genau, was er tat. Angesprochen auf seine tiefen Werbeausgaben sagte er in einer Talkshow, solange die Journalisten so häufig über ihn berichteten, müsse er nicht mehr werben.

Die Intensität der Berichterstattung ist auch deshalb bemerkenswert, weil Donald Trump die Medien an seinen Veranstaltungen ständig beleidigte und beschimpfte. Die Journalisten wurden in den Hallen hinter Gitter gesperrt, sie wurden angepöbelt und bei ihrer Arbeit behindert. Statt den Rüpel totzuschweigen, berichteten die gescholtenen Medien noch häufiger über ihn.

Warum ist das so? Warum konnte Trump in den Medien dermaßen durchmarschieren? Wie konnten Journalisten, die doch der rationalen Aufklärung verpflichtet sein sollten, zum Steigbügelhalter für einen Mann werden, der notorisch Fakten leugnet und von Wissenschaft und Journalismus nichts hält? Einen Mann, dessen Aussagen laut der amerikanischen Polit-Plattform ‹Politifact› zu 70 Prozent absoluter Blödsinn, komplett falsch oder mehrheitlich falsch sind.

Der Grund ist die Art und Weise, wie Medien heute funktionieren. Früher, bevor es Internet und Kabelfernsehen gab, hatten die Menschen nur sehr wenig Auswahl, welche Zeitung sie lesen oder welchen Fernsehsender sie sehen wollten. Die Tageszeitung, das war halt die Zeitung, die man jeden Morgen las. In einer großen Stadt standen maximal eine Handvoll Titel zur Auswahl. In der Schweiz konnte man einen einzigen Deutschschweizer Fernsehsender empfangen, und auch das erst ab 18 Uhr. Tagsüber gab es nur das Testbild zu sehen – wenn überhaupt. In Deutschland waren es zwei Sender, und auch die begannen erst am frühen Abend mit der Ausstrahlung eines Programms.

Das Publikum konsumierte, was ihm angeboten wurde. Es war wie in einer Herberge mit Vollpension. Egal, was der Wirt dir vorsetzt, du isst, was auf den Tisch kommt – und sei das Fleisch noch so verkocht.

Dann kamen Internet und Glasfaser, Kabel- und Satellitenfernsehen. Heute ist das Medienangebot gigantisch. Das Wohnzimmer der Menschen hat sich in einen riesigen Mediensupermarkt verwandelt. Es gibt keinen übellaunigen Wirt mehr, der einem einen Teller vor die Brust knallt. Man muss nicht mehr essen, was einem vorgesetzt wird. Jetzt ist der Medienkunde König in einem Medienschlaraffenland. Er kann sich querbeet bedienen und die Zutaten dabei beliebig mischen. Niemand schaut einen schief an, kein Mensch fragt danach.

Und das Beste daran: Der Mediensupermarkt verlangt einmal ‹Eintritt› in Form von Internet- oder Kabelnetzgebühren, danach ist alles, was man konsumiert, gratis. Nur die ‹gesunden› Dinge, die ‹Schwarzbrote› der Information, die ‹Vollwertgerichte› des Wissensnetzes, die kosten zusätzlich. Davon abgesehen heißt es: zugreifen. Probleme bereitet allenfalls die riesige Auswahl.

Für die Anbieter bedeutet die große Auswahl vor allem große Konkurrenz. Sie kämpfen deshalb mit harten Bandagen um die Kunden und das Wertvollste, was diese Kunden ihnen zu bieten haben: ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit.

Im Informationszeitalter ist die Aufmerksamkeit der Konsumenten zum Schlüsselgut geworden. Medienanbieter müssen sich diese Aufmerksamkeit um jeden Preis erkämpfen. Wie geht das? Wie holt ein Medium unsere Aufmerksamkeit? Das wichtigste Mittel heißt: auffallen! Wie fällt man auf? Durch Kontraste. Auf einer schwarzen Fläche wird ein weißer Fleck unsere Aufmerksamkeit bekommen. In einer stillen Kirche das Kinderlachen. An einer Pornomesse die Nonne. Kurz: das Außergewöhnliche, das, was aus der Reihe tanzt.

Dieses Außergewöhnliche ist nicht unbedingt das Relevante. Der Busenblitzer an der Preisverleihung, siamesische Meerschweinchenzwillinge im Zoo, ein Schulbub im Dorf, der seiner Lehrerin die Hand nicht geben will – das alles ist viel weniger relevant als die Klimaerwärmung. Dennoch werden die meisten Medienkonsumenten sich zuerst diesen Meldungen zuwenden. Sie fallen auf und holen sich deshalb unsere Aufmerksamkeit.

Donald Trump war im amerikanischen Wahlkampf mit seiner Monstrosität, mit seinen Tabuverletzungen, seinen hässlichen Ausfällen gegen Frauen, Latinos oder Veteranen immer wieder drastisch aufgefallen. Und wurde dafür mit Aufmerksamkeit belohnt. Er hatte Aufmerksamkeit im Höchstmaß bekommen. Die Medien hatten seine vulgären Sprüche mit bigottem Erschaudern gesendet und gedruckt – und sich an den Klicks und Quoten erfreut, die Trumps Tiraden zuverlässig brachten.

Wir kennen dieses Phänomen auch in Europa. In der Schweiz hat SVP-Politiker Christoph Blocher mit ähnlichen Mitteln jahrelang die Medien dominiert. Heute reiten Roger Köppel, ‹Weltwoche›-Chefredaktor und SVP-Nationalrat, und teilweise auch Markus Somm, Chefredaktor und Verleger der ‹Basler Zeitung›, auf dieser Erfolgswelle. Was sie sagen, regt auf – das Resultat sind Klicks und Quoten. Auf ähnliche Art und Weise haben Ukip-Chef Nigel Farage und Boris Johnson in Großbritannien im Abstimmungskampf um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union Schlagzeilen gemacht – und das Brexit-Votum gewonnen. Nigel Farage avancierte sogar zum Berater von Donald Trump in den USA.

Auch in Deutschland profitiert die Rechtspartei Alternative für Deutschland (AfD) vom Aufregungsbonus: Im Jahr 2016 diskutierten Politiker auf deutschen Fernsehsendern über 40 Mal Themen rund um die AfD und die deutsche Flüchtlingsfrage. Ganz zu schweigen von den vielen Nachrichten, welche die Aufregung über die Rechtspolitiker generierte. Die ‹FAZ› publizierte Ende 2016 ein Strategiepapier der AfD, das genau dieses Vorgehen zum Wahlkampfprinzip machen wollte: Laut ‹FAZ› will die AfD im Bundestagswahlkampf mit «Provokationen und Tabubrüchen» auf sich aufmerksam machen. Die scheinbar spontanen Ausbrüche von Parteimitgliedern auf Twitter und Facebook, die von Medien gerne empört aufgenommen werden, entpuppen sich als Kalkül: Mit «sorgfältig geplanten Provokationen» wolle die Partei andere Politiker zu nervösen und unfairen Reaktionen verleiten, schrieb die ‹FAZ›. Je mehr die AfD von ihnen stigmatisiert werde, «desto positiver ist das für das Profil der Partei». Aufregung als Strategie.

Ähnlich sieht es in Frankreich rund um Marine Le Pen oder in Italien um Beppe Grillo aus. Beide beherrschen das Provozieren meisterhaft – und wissen ganz genau, wie weit sie dabei gehen dürfen. Antisemitismus zum Beispiel geht nicht. Deshalb hat Marine Le Pen ihren Vater der Partei verwiesen. Anti-Flüchtlings-Rhetorik dagegen ist erfolgreich. Kurz: Auch in Europa ist der große Erfolg populistischer Politiker das Resultat einer auf Aufmerksamkeit reduzierten Publizistik.

Natürlich ist das selten Absicht. Journalisten können denn auch meistens erklären, warum Christoph Blocher und Roger Köppel, Frauke Petry und Marine Le Pen so häufig in den Medien sind. Sie seien als Anführer ihrer Parteien wichtig und als Anti-Mainstream-Figuren relevant. Die Wahrheit ist viel simpler: Blocher, Le Pen und Petry garantieren Quote. Der Erfolg solcher Reizfiguren in der Medienwelt ist deshalb systemimmanent.

Wenn eine Story viele Klicks erhält, wird sie höher gehängt auf der Website und sie wird weiterverfolgt. Themen, denen man ihr Klick-Potenzial ansieht, werden von Anfang an auf mehrere Folgen hin produziert. Das ist das uralte Boulevard-Rezept. So kommt es zur ‹Handschlag›-Serie, zur ‹Burka›-Serie – oder zur Dauerpräsenz von Trump, Blocher, Petry und Co.

Der Erfolg von Donald Trump in den USA oder von Roger Köppel in der Schweiz ist deshalb erst der Anfang. Der Populismus ist die natürliche Schwester einer Klick-orientierten Medienmechanik. Rüpel-Politiker und Boulevardjournalismus leben in einer natürlichen Symbiose. Solange Journalismus so stark von Aufmerksamkeit lebt, wird das so bleiben. Schon das allein ist Grund genug, in der Schweiz eine gebührenfinanzierte SRG und in Deutschland die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF zu erhalten – und die Ursache dafür, warum Rechtsaußen-Politiker in ihren jeweiligen Ländern heftig gegen einen gebührenfinanzierten, öffentlich-rechtlichen Rundfunk ankämpfen.

Dieses Buch versucht zu erklären, wie es zu dieser zentralen Rolle der Aufmerksamkeit gekommen ist, wie diese Aufmerksamkeit funktioniert – und welche fatalen Folgen eine Publizistik hat, die sich ganz dem Aufmerksamkeitsmarkt verschrieben hat. Folgen, die sowohl für den Einzelnen wie auch für unsere demokratische Gesellschaft dramatische Konsequenzen haben können.

Wie es dazu kam: Das Schlaraffenlandproblem

Die Menschen sind Jäger und Sammler. Eigentlich. Sie sind dafür gebaut, stundenlang durch die Savanne zu wandern und nach Beeren oder Antilopen Ausschau zu halten. Will heißen: Der Mensch ist fähig, sich in karger Landschaft zu ernähren, weil er Futter schon von weitem erspäht und fast alles essen kann. Doch heute ist alles anders. Niemand muss mehr wandern, und schon gar nicht stundenlang. Statt öder Leere in der Savanne erstrecken sich vor den Augen der Menschen prall gefüllte Regale im Supermarkt.

Die Folgen zeigen Waage und Spiegel unerbittlich an. In den USA gilt heute etwa ein Drittel der Bevölkerung als übergewichtig, in der Schweiz ist es je nach Messung ein Fünftel bis ein Viertel. Der Grund: In den Industrieländern essen die meisten Menschen zu viel, zu süß, zu salzig und zu fettig. Schuld sind nicht einmal nur Fastfood-Anbieter mit Hamburgern und Pommes. Schuld ist der ganz normale Wahnsinn im Supermarkt: übersüße Joghurts, fettige Fertigsalatsaucen, kalorienreiche Fruchtdrinks, zu salzige Backwaren. Das Problem dabei: Die Entscheidungsgrundlagen, die dem Menschen in der Steppe zum Überleben verhalfen, sind im Supermarkt kontraproduktiv.

Im Supermarkt sind ganz andere Fähigkeiten gefordert. Statt aus wenig Angebot viel Nahrung zu machen, muss der Mensch aus einem riesigen Angebot wenig auswählen. Dabei lauern viele Fallen. Zum Beispiel die Zuckerfalle. Oder die Fettfalle. Die Menschen müssen lernen, das Kleingedruckte auf Joghurtpackungen zu lesen, den Verführungskünsten der Verpackungsdesigner zu widerstehen und nach einer schnöden Gurke zu greifen, obwohl daneben ein Berg Schokoriegel mit kernigen Nüsschen lockt. Dass das nicht allen gelingt, zeigt ein Blick auf die Körperstatistik in den Industrieländern. Die Menschen leiden an Übergewicht und Diabetes, sie essen zu viel und bewegen sich zu wenig – und es wird eher schlimmer als besser. Das Schlaraffenland hat sich vom vermeintlichen Paradies in eine Kalorienhölle verwandelt.

Auch in einem weiteren Bereich droht ‹Schlaraffia›: in der Welt der Medien und der Informationen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Information so wertvoll wie eine Antilope für einen Jäger in der Steppe – und war auch ähnlich selten wirklich verfügbar. Entsprechend sind die Menschen darauf ausgelegt, aus wenig Information viel Wissen und Meinung zu machen. Heute ist das komplett anders. Wir leben in einem Informationssupermarkt. Das ist, wie wenn man eine Wüstenpflanze in ein Sumpfgebiet verpflanzt: Es kommt nicht gut.

Plötzlich haben wir jederzeit überall Zugriff auf alles: Bücher, Musik, Filme, Bilder, Nachrichten sowieso. Dabei ist das Angebot nicht nur unendlich groß, es ist zum größten Teil auch noch gratis – zumindest die ‹Fett- und Zuckerbomben› kosten nichts. Wer sich sinnvoll ernähren will, muss zahlen. Die Folgen lassen sich an einer Hand ausrechnen: informative Fehlernährung, Mangelbildung durch Überinformation, geistige Adipositas bei gleichzeitiger Unterernährung des Verstandes. Es ist das mediale Schlaraffenlandproblem. Und ähnlich wie bei der Ernährung sind für das geistige Überleben ganz neue Fähigkeiten und Fertigkeiten gefordert. Es kommt nicht mehr darauf an, etwas beschaffen zu können und es zu besitzen, es kommt darauf an, das Richtige auszuwählen und sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Das Schlaraffenlandproblem fordert die Menschen ganz neu heraus, und nicht nur jene, die konsumieren, sondern auch die, die Inhalte schaffen. Sie drohen, wie die tausendste Joghurtsorte im Supermarktregal, zur beliebigen Variante des Überflusses zu verkommen. So wie es für das körperliche Überleben entscheidend ist, in der Fülle des Angebots die richtigen Nahrungsmittel in der richtigen Dosis auszuwählen, ist es für das geistige Überleben wichtig, die richtigen Informationen auszulesen.

Weimar, 1715

Blenden wir einmal etwas zurück. Sagen wir: etwa dreihundert Jahre, in eine deutsche Kleinstadt. Zum Beispiel nach Weimar im Jahr 1715. Die Stadt hat zu diesem Zeitpunkt etwa 5000 Einwohner. Die lautesten Geräusche in Weimar sind das Läuten der Kirchenglocken, das Donnern beschlagener Kutschenräder auf Pflastersteinen und das Hämmern des Schmieds. Zwischen diesen lauten Geräuschen sind Rufe zu hören von Händlern, von Fuhrknechten, die ihre Pferde antreiben, von Kindern beim Spielen. Hie und da bellt ein Hund, Hühner gackern, ein Hahn kräht. Und zwischen den Geräuschen dehnt sich immer wieder Stille aus. Man hört den Wind in die Schindeldächer fahren, es knarzt eine Tür, Schritte knirschen auf Kies. Dazwischen: nichts. Und schon gar keine Musik.

Stellen wir uns nun einen jungen Mann vor, der 1715 in Weimar lebt. Der junge Mann hört nur Musik, wenn er sie selber macht. Und dazu hat er keine Zeit. Vielleicht summt mal eine Magd ein Liedchen, vielleicht ist ein Stadtpfeifer zu hören, wie er vom Turm zur Mittagszeit bläst. Davon abgesehen hört der junge Mann nur Geräusche, keine Musik. Nachts ohnehin nicht: Da rascheln ein paar Ratten im Stroh, sonst ist es still.

Am Sonntag geht unser junger Mann in die Kirche, reißt sich beim Eintreten die Kappe vom Kopf und setzt sich in eine harte Holzbank. Rund um ihn herum nimmt die Gemeinde Platz. Die Türe schließt sich mit einem dumpfen Knall. Ein paar Sekunden ist es still, dann hört der junge Mann den Organisten die Orgel schlagen. Es ist Johann Sebastian Bach, eben dreißig Jahre alt geworden, und er spielt eine Toccata von eigener Hand. Brausend füllen die Orgelklänge die kleine Kirche und die Ohren des jungen Mannes. Bach war der vielleicht beste Organist seiner Zeit und verstand es wie kein Zweiter, eine Orgel zum Klingen zu bringen. Seine Toccaten haben heute noch Kraft. Auf einen jungen Mann im Jahr 1715, der die ganze Woche über keinen Ton Musik und auch sonst nicht viel gehört hat, müssen Bachs Orgelstücke im wahrsten Sinn umwerfend gewirkt haben. Bach wird vom Kirchenvorstand denn auch gerügt, weil er so «aufwühlend präludieret». Johann Sebastian Bach an einem Sonntag in der Kirche Orgel spielen zu hören, muss ein extrem starkes Erlebnis gewesen sein. Ein Erlebnis, das Spuren hinterließ. Der junge Mann dürfte sich noch lange an die Bach-Toccata erinnert haben.