Unter Olmen - Carsten Wunn - E-Book

Unter Olmen E-Book

Carsten Wunn

0,0
9,95 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Ubooks
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Eigentlich hat Kater Sammy, seines Zeichens gescheiterter Kratzbaumtechnik-Student, den Grottenolm Horst zum Mittagsmahl auserkoren. Doch es kommt anders. Das Schicksal macht sie zu Freunden. Als Horst und seine sauerländische Schwanzlurch-Population von einer Puffotter bedroht werden, machen sich die beiden auf den Weg nach Slowenien, um Hilfe zu holen. Eine Pedestrian Road Story der außergewöhnlichen Art nimmt ihren Lauf … Carsten Wunns Roman erzählt die unfassbare Geschichte von Katz und Olm, herrlich witzig, herrlich ehrlich und herrlich herrlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 376

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage November 2020Titelbild: Sanja Prautzschwww.illusanja.com@sanja_illustration

©opyright by Carsten Wunn & UbooksSatz: Nicole LakaLektorat: Diana Glöckner

eISBN: 978-3-944154-17-6

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck odereine andere Verwertung ist nur mit schriftlicherGenehmigung des Verlags gestattet.

U-line UG (haftungsbeschränkt)Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.ubooks.de

Für

meinen Freund Jürgen Overhage, der sich diese Widmung so sehr gewünscht hat, obwohl ich alles dafür geben würde, ihm dieses Buch einfach nur in die Hand drücken zu können

meiner guten Freundin Ellen Hahn, die meine Fähigkeit als Erste entdeckt und zielsicher weiterentwickelt hat

meinen Vater Karlheinz Wunn

Dank

Ganz herzlichen Dank für Beratung, Feedback und Motivation an:

Oliver Uschmann, auch als Mentor, aber nicht nur

Nuri Ortak

Hendrik Heisterberg

und

last, but not ansatzweise least:

Manuela Boll

Weiterhin lieben Dank an Jürgen Schenk. Wer sonst chauffiert einen einfach so mal eben durchs komplette Sauerland?

Ebenfalls vielen Dank an Walburga Feistl, Marion Leppink und diverse inspirierende Pelztiere und Dr. Alexander Werries, für gelebte Wertschätzung

Verzeichnis der handelnden Personen

Sammy Kater Pelztier aus Hannover, Kratzbaumtechniker

Maxi Kater, sein WG-Mitbewohner

Brögelmann Biber, ebenfalls WG-Mitbewohner

Horst von der Atta-Höhle Grottenolm, Sammys Begleiter auf gemeinsamer Mission

Apanachi von Attendorn Lurchin, pflegt Sammy

Karies Koslowski Grottenolm, Priester der nihilistischen Religionsgemeinschaft

Etzel Koslowski Grottenolm, sein Bruder

Ernst von Aioli Grottenolm, Oberster Höhlenwart der Atta-Höhle

Thiago Tranfunzler Grottenolm, Bewohner der Atta-Höhle

Edewecht Echsenkopf Grottenolm, sein Kumpel

Sergio Rübenacker Grottenolm im Kindesalter

Rüdiger Rübenacker Grottenolm, Sergios Vater

Renate Rübenacker Grottenolmin, Sergios Mutter

Burkhard Brastig Grottenolm, Bewohner der Atta-Höhle Flavio Fiesemöppka Schlange, Winkeladvokat, engster Vertrauter der Puffotter Penny

Ansgar Ratte, Fiesemöppkas Assistent und Pennys Tier fürs Grobe

Faruk al Fischmann Wiesel, Geschäftsmännchen und Retter in allen Lebenslagen

Penny Puffotter und größenwahnsinniges Untier

Pepe Kater, Gefangener auf Pennys Farm

Lola Constrictor Federboa, ebenfalls Gefangene auf Pennys Farm

Helma Hitzschlag Häsin, Regisseurin bei den Alternativ-faunistischen Karl-May-Festspielen

Slobodan Grottenolm, Schauspieler

Reinfried Rapünzchen Iltis, Fähr- und Geschäftsmännchen

Hannelörchen Erdferkel, Mautstation-Betreiberin

Hans-Peter Tier Erdferkel- und Tyrannosaurus-Rex-artiger ­Abstammung, Fährmann

Sphinx Wächterin über die kompletten unterirdischen südhessischen Handkäsnotvorräte

Ulf Wanderdüne

Polly Politely musizierendes Kängurukind, Australien

Lutz Latschenkiefer Quastenflosser sauerländischer Abstammung im ­australischen Outback

Goldi Hamster im Außendienst

Piwi Boll Katze, Kellnerin in der Hundertwasserhöhle

Gerri Boll Universalgenie und Piwis Ehemann

Violine Wischmopp Lurchin, Studentin der Krötenkunde in Wien

Fiesbert Flockenwickler Mäuserich und Gefangener der Postojna-Olme

Slobodan, der Fünfzehnhundertachtunddreißig­kommafünfte Grottenolm und Quartalshöhlenkönig derer in ­Postojna

Moniquedesiree Klosterkemper (bürgerlich: Monika Dorothea Klosterfraumelissengeistkemper-Khizaneischwili) Katze und Sammys große Liebe

Zvonko Wolf

Miodrag Osterhazic Grottenolm, Postbote

Ranunkel Grottenolmin, Horsts Verlobte

Marianne Ziege und Mutter der noch ungeborenen Nachkommen von Reinfried Rapünzchen

Nihil Grottenolm, Gottheit mit Gruppenteleportationsfähigkeiten

Eberhard Grottenolm, Halbgott und Assistent Nihils

Ein Koala, ein Frosch, weitere Katzen, Schlangen, Olme und andere

Tiere der weltweiten Fauna.

Prolog

Wenn das Pelztier zwölfmal bimmelt

Ding-Dong.

Es klingelte.

Das war eine Überraschung. Seit dem Auszug meiner Partnerin Inkompetentia Becker vor knapp drei Jahren hatte ich keinen Besuch mehr bekommen. Ein Paket oder eine Pizza standen auch nicht in Erwartung. Hermes und der Pizza-­Palast waren derzeit meine üblichen sozialen Kontakte. Heute aber hatte ich es mir nach dem Mittagsmahl bei Peters Pommes-Paradies vor dem Fernseher bequem gemacht. Eine Dokumentation über marodierende Flamingo-­Populationen in der Mark Brandenburg fesselte meine Aufmerksamkeit.

Ding-Dong. Ding-Dong. Ding-Dong.

Da war aber jemand ungeduldig.

Ich stellte mein Rotweinglas zur Seite und schlurfte absichtlich gemessenen Schrittes zur Tür.

Ding-Dong.

Ich öffnete und schaute zu dem Störenfried hinunter. Ein Pelztier, wahrscheinlich katzenartiger Abstammung. Grau getigert, weiße Pfoten. Mein Hirnkasten arbeitete auf Hochtouren. Für den Erstkontakt war Sturmklingeln eher keine gute Lösung. Die schwarze Schirmmütze mit dem Logo von Hannover 96 auf dem Kopf meines Besuchers stimmte mich jedoch wieder milder, war ich doch selbst Fan der «Roten» aus meiner ursprünglichen Heimatstadt. Dennoch gingen mir zwei Wörter durch den Kopf: «Vorsicht» und «Falle!». Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Es hat schon seinen Grund, wieso ich nur dem Götterboten und dem Italiener vertraue.

In der rechten Pfote hielt das Tier eine Dose mit der Aufschrift «Deutsche Pelztiermission», in der linken ein Heft, das mir bekannt vorkam. Die Szenerie war nicht neu. Man darf sogar von einem Déjà-vu sprechen. Für einen Moment wurde ein Stück Vergangenheit vor meinem inneren Auge lebendig. Dann riss mich die erstaunlich tiefe, leicht knarzende Stimme des Winzlings aus den Gedanken.

«Bin ich hier richtig bei Carsten Wunn?»

«Blöde Frage!»

Ich zeigte auf das Klingelschild neben der Tür. Das Tier wirkte durch meine harsche Reaktion nicht sonderlich beeindruckt.

«Ich heiße Sammy», sagte es. Oder besser gesagt «er», wirkte mein Besucher doch keinesfalls, als würde sein Name von Samantha abgeleitet.

«Soso», antwortete ich, «und du sammelst also für die Deutsche Pelztiermission?»

Der Kater schaute verlegen zur Seite: «Ist eher eine Art Requisit, um deine Erinnerung aufzufrischen.»

Ich taxierte ihn genauer. Sammy war kleinwüchsig wie alle Katzen, doch er wirkte stämmig und durchtrainiert. Eine Spur zu definiert für einen Angehörigen seiner Art. Bestimmt wusste er, wie ein Fitnessstudio von innen aussah. Ich schaute an meinem Körper hinunter und blieb am Bauch hängen.

«Kniesel schickt mich», sagte er. «Viele Grüße aus der Messe- und Expo-Stadt!»

Ich war also auf der richtigen Spur gewesen.

Meine ehemalige Katze Kniesel lebte tatsächlich wieder in Hannover! Das war nicht selbstverständlich. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, fuhr sie gerade in den Himmel auf.

«Wie geht es ihr?», fragte ich.

«Gut.» Sammy sprang unruhig von einer Hinterpfote auf die andere. «Ähm. Hast du vielleicht ein Katzenklo? Ich bin schon sehr lange unterwegs.»

«Nein, nur ein Wasserklosett. Bitte hinsetzen und nachspülen!»

Ich trat zur Seite, sodass er vorbeischlüpfen konnte, und zeigte ihm den Weg.

Nachdem der Kater sein Geschäft erledigt hatte, bat ich ihn ins Wohnzimmer. Ohne zu zögern sprang er auf mein rotes Plüschsofa. Meine gute Erziehung zwang mich, die Wasserspur, die er hinter sich herzog, zu ignorieren.

Was sollte ich von diesem achtlosen Benehmen halten? Bei allem Ärger hatte ihn immerhin meine ehemalige Katze und Mitbewohnerin geschickt. Was hatte ich mit Kniesel vor Jahren nicht alles auf die Beine gestellt! Das ganze Land hatten wir bereist, einen fernen, nur von Paderborner Religionspädagogen besiedelten Planeten besucht und sogar das Ungeheuer von Heidelberg zur Strecke gebracht. Doch was wollte dieser Sammy von mir? Ein reiner Höflichkeitsbesuch konnte es nicht sein. Wir kannten uns nicht. Und lediglich Grüße von Kniesel ausrichten zu wollen klang doch stark nach einem Vorwand.

Sammy richtete den Oberkörper auf. In seinem Gesicht erschien ein merkwürdig süffisantes Lächeln.

«Du kannst gut schreiben», sagte er und warf mit lässiger Pfotenbewegung aus dem Gelenk heraus eine Mappe auf den Wohnzimmertisch. «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts.» Meine Diplomarbeit. «Klasse», sagte er, «ich habe jedes Wort verschlungen.» Ich beugte mich vor und nahm das akademische Papier in die Hand. Still betrachtete ich es, wie einen Boten aus tiefster Vergangenheit.

«Soll ich dir zurückbringen. Kniesel hat vergessen, sie dir wiederzugeben.»

War er wirklich nur hier, um mir meine Diplomarbeit zurückzugeben, von der sich noch locker tausend andere Exemplare auf dem Dachboden stapelten? Spätestens jetzt begann er, mir auf die Nerven zu gehen. Die Flamingo-Dokumentation im Fernsehen war längst beendet. Statt eleganten Federviehs saßen nun ein paar grauweiße Elefanten in Anzügen an einem halbrunden Diskussionstisch und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Sehr häufig fielen die Begriffe «Fortschritt», «Investitionen» und «Wachstum».

«Ist das alles?», fragte ich.

«Nein», antwortete der Kater. «Ich möchte, dass du meine Geschichte aufschreibst – so wie du damals «Kniesel und ich» aufgeschrieben hast. Sie bekommt heute noch Fanpost. Und natürlich Drohbriefe von Leuten, die in dem Buch nicht so gut weggekommen sind. Jean-Jacques, der Hase, zum Beispiel. Aber das sei der Preis für ihre Prominenz, sagt sie.»

Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Ich verspürte den zarten Sog der Neugierde. Von «Kniesel und ich» lagert kein einziges Exemplar auf dem Dachboden. Anders als meine «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts» war das kleine, schwarze Büchlein ein Bestseller.

«Und was für eine Geschichte soll ich aufschreiben?»

«Ein Abenteuer, das ich mit den Olmen aus der Atta-Höhle erlebt habe. Du erinnerst dich an Horst?»

Ich horchte auf. Horst! Ihn hatte ich immer gemocht. Allerdings schuldete er mir noch elf Euro fünfundneunzig von einem Kirmesbesuch, bei dem er unbedingt drei zuckergussbeschriftete Lebkuchen erwerben musste. Für jede Freundin einen. Zwölf Euro hatte mich der Spaß gekostet, und gerade einmal fünf Cent hatte er mir nach langem Drängen und unter Protest zurückgegeben.

Ich bin nie kleinlich gewesen, aber mein Gedächtnis ist intakt. Bis heute. Vielleicht gab es wenigstens die Möglichkeit, über Sammy mein Geld wiederzubekommen.

«Hat Horst einen Job?»

«Klar.» Sammy nickte. «Jedenfalls behauptet er das.»

Das Pelztier knetete ungeduldig seine Vorderpfoten.

«Und? Schreibst du die Geschichte? Die wahre Geschichte des Grottenolms Horst? Es soll zu deinem Schaden nicht sein.»

Er stoppte die Pfotenkneterei für einen Moment.

«Wer weiß», säuselte er, «vielleicht wird es ein neuer Kniesel?»

Ich rieb meinen Bart. Es klang verlockend. Auf den Pizzen, die der Bote mir brachte, waren Lachs und echte Garnelen schon länger gestrichen. Von einem einzigen Roman kann auch der sparsamste Mann kein ganzes Leben zehren.

«Vielleicht erzählst du erst mal in groben Zügen, worum es geht.»

Mein Gegenüber ließ sich nicht lange bitten.

«Letzten Samstag habe ich Horst im Sexy Exxy getroffen, einer uralten Grottenolm-Kneipe in der Kluterthöhle in Ennepetal. Aus alter Verbundenheit gehe ich manchmal noch dorthin. Den einen oder anderen aus der Schwanzlurch-Szene kenne ich von früher. Horst hatte ich dort aber bisher noch nie gesehen. Zum Glück! Was für eine fürchterliche Begegnung! Früher war Horst eine Seele von Tier. Aber jetzt? Völlig abgehoben! Er wurde von zwei ständig kichernden Olmschnepfen begleitet. Eine im rechten, eine im linken Arm. Vor sich einen Caipirinha, Sonnenbrille auf dem Kopf. Nachts! Bei Regen! Er schmiss eine Lokalrunde nach der anderen und erzählte, er sei jetzt in der Lügendetektorbranche tätig. Als Tester. Er behauptet, in puncto Lügen könne ihm keiner was vormachen.»

Ich stützte mein Kinn auf die rechte Faust. Fürchterlich! Das klang so gar nicht nach dem Horst, den ich kannte. Auch der Name der Location klang etwas halbseiden.

«Wie kommt das? Ich habe Horst immer als freundliches, durch und durch sympathisches Tier erlebt. Er hat Kniesel und mich aus unserer Depression geholt, damals in Heidelberg …»

«Ich weiß. Und er wird mir auch immer sympathisch bleiben, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Aber seitdem ist viel passiert. Horst ist berühmt geworden, zumindest in Olm-Kreisen. Das kann einem zu Kopf steigen. Mit dieser Lebensgeschichte …»

«Was ist denn passiert? Woher kennt ihr euch überhaupt?»

«Weißt du wirklich nichts davon? Wo Horst herkommt? Seine wahre Identität? Hast du niemals etwas von der Grottenolm’schen Eierklappe in der Atta-Höhle gehört?»

Er schaute mir fest in die Augen. Seine Stimme sank erneut um zwei Oktaven.

«Vergiss alles, was du über Horst zu wissen glaubst! Ich kenne sein Geheimnis. Die wahre Geschichte des Grottenolms!»

Jetzt hatte er mich.

«Erzähl!»

Schon nach wenigen Sätzen zog mich Sammys Geschichte dermaßen in ihren Bann, dass ich die Zeit vergaß. Es war längst dunkel geworden, als wir uns verabschiedeten, nicht ohne vorher Adressen und Telefonnummern ausgetauscht zu haben. Trotz gewisser Zweifel an der Gewissenhaftigkeit seiner Ausführungen war ich sicher, mit Sammys Geschichte auf eine Goldader gestoßen zu sein. Der Lachs und die Garnelen würden auf die Pizza zurückkehren. Ich sah sogar schon das Verlagsessen vor mir, rund um die Buchmesse in Frankfurt. Ein golden erleuchtetes Restaurant mit Rundbögen und riesigen Dekorationsflaschen. Kaminfeuer, Dunkelbier und Rotwein, Lektorinnen und Kollegen. Der Kater und ich verabredeten eine enge Zusammenarbeit, die wir kurz darauf schriftlich fixierten.

Unsere Treffen waren lang. Tage. Nächte. Viele Pizzen. Unzählige Dosen Thunfisch in Gelee. Oft genug hatte ich Grund, den Wahrheitsgehalt der Ausführungen Sammys anzuzweifeln. Die meisten ließen sich ausräumen. Einige sind auch nach jahrelanger, knallharter Recherche bestehen geblieben und haben damit zur Verzögerung des Erscheinungstermins beigetragen. Danken muss ich Sammy für seinen genauen Blick darauf, wie ich als Autor seine Berichte dramaturgisch inszeniert habe. Oft hatte er Sie, die Zielgruppe, genauer im Blick als ich. Im Verlaufe des Buches gewinnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen Eindruck von unseren hitzigen Debatten. Als Pause und Erholung ziehen wir die Kamera alle paar Kapitel aus dem Geschehen und schalten ins «Making-of». Gerne können Sie diese Passagen auslassen, wenn Sie von der Geschichte selber so fasziniert sind, wie ich es war, als ich Sammys Erzählung lauschte. Allerdings gewinnen Sie dann nicht den Einblick ins aktuelle Verlagswesen und die harten Anforderungen, die sich einem Geschichtenerzähler heute stellen. Vor allem wenn er sein Honorar mit einem sportlichen Kater teilt, der viel Appetit und höchste Ansprüche an sein Futter hat.

Sammys Wunsch, ihn selbst mit Rücksicht auf seine Freunde und Anverwandten anonym zu behandeln, bin ich selbstverständlich nachgekommen. Er wird deshalb durchgehend lediglich als Sammy Kater bezeichnet. Warum diese Anonymität für alle anderen Protagonisten nicht gelten soll, ist mir zwar schleierhaft, aber im Grunde egal. Die Hoffnung, Pelztiere irgendwann erschöpfend verstehen zu können, habe ich schon lange aufgegeben.

Carsten Wunn, im Januar 2020

1

Aufbruch ins Westfälische

Als Sammy Kater seinen Geburtsschrei tat, lag die erste Lebenskrise bereits hinter ihm. Der Überlieferung nach hatten seine Eltern mit dem Thema «Niederkunft der Mutter» nach sieben Neugeborenen aufgrund eines der Hektik geschuldeten Rechenfehlers bereits abgeschlossen, als der Vater bei einem routinemäßigen Blick auf den Bauchraum seiner Gattin ein weiteres, vorsichtig aus dem Leib der Mutter lugendes Köpfchen entdeckte. Die Begeisterung soll sich in Grenzen gehalten haben, doch man tat, was getan werden musste, und Sammy erblickte endgültig das Licht der Welt, wenn auch noch halb blind, wie es nun mal das Schicksal von neugeborenen Katzenbabys ist.

In puncto Wertschätzung setzte sich sein Leben genauso fort, wie es begonnen hatte. Lange nachdem seine Geschwister so beliebte Vornamen wie Annabelle, Fredegar oder Godewind bekommen hatten, war er auch in dieser Hinsicht als Letzter an der Reihe. Da seine Eltern ihr Pulver nach sieben Kindern verschossen hatten und in dieser Frage immer stärker zur kompletten Lustlosigkeit tendierten, wählten sie eine besonders gleichgültige Methode, um die Namensgebung ihrer Kinder abzuschließen. Die Mutter schaute eines Morgens in die zufällig aufgeschlagene Zeitung, schloss die Augen, ließ die rechte Pfote kreisen, senkte sie im Blindflug auf das Papier und landete auf dem Werbeslogan einer Wäscherei, die mit dem Spruch «Sammy schäumt den Kragen auf» warb. Eine Anekdote, die auf Familienfeiern immer wieder unter herzhaftem Gelächter der Anwesenden erzählt wurde und nicht im Entferntesten dazu angetan war, Sammy seinen Namen und seinen Stand in der Familie angenehmer zu gestalten.

Auch in der Pelztiergrundschule litt der kleine Sammy darunter, dass sich die Entstehungsgeschichte seines Namens aufgrund der offensiven Informationspolitik seines Bruders Fredegar sofort nach der Einschulung verbreitet hatte. Ganz anders erging es seinen Geschwistern. Sie hoben sich kraft ihrer Namen geradezu majestätisch von der Masse ab. Sammy dagegen wurde durch die unselige Geschichte von Anfang an zum ungewollten Außenseiter, obwohl der Name selbst durchaus gebräuchlich war. Das Schlimme war seine lieblose Entstehung, die sich fatal auf sein Selbstbewusstsein auswirkte.

Abgesehen von einer ausgeprägten, von Sammy selbst geteilten Hannover-96-Affinität seines Vaters waren seine Eltern eher konservative Tiere, die großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legten. Beide arbeiteten in Festanstellung als Hauskatzen der Tierärztlichen Hochschule in der Leinestadt. Auf deren Gelände wuchsen ihre Kinder zwanglos unter Akademikern auf. Ohne Probleme durchliefen alle die Grundschule und besuchten anschließend die nahegelegene Pelztieroberschule am Braunschweiger Platz.

Ob es nun an seinem Namen und der daraus entstandenen Rebellion gegen das Elternhaus lag oder daran, dass er der Jüngste war: Sammy begann zu schwächeln. Anstatt fleißig fürs Leben zu lernen, lümmelte er lieber den ganzen Tag auf seinem geliebten Kratzbaum herum, zog mit den Kumpels um die Häuser oder schaute Spiele von Hannover 96 im Stadion an. Für Pelztiere war es nicht schwer, sich unerkannt durch die Zäune zu zwängen und aus sicherer Entfernung dem Spektakel beizuwohnen.

«Sammy», sagte ihm sein Klassenlehrer mehr als einmal, «du bist begabt. Ich bin sicher, dass du den Abschluss irgendwie schaffst. Aber wenn du nicht bald zu lernen beginnst, wirst du in Hagen-Haspe studieren müssen – für mehr reichen deine Noten dann nicht! Kann das wirklich dein Anspruch sein?»

Hagen-Haspe!

In Pelztierkreisen das reinste Schreckgespenst.

Zu den renommierten und erstrebenswerten Studienorten zählten eher Städte wie Bückeburg, Peine oder Haltern am See. Wer ganz großes Glück hatte, landete auf den Eliteuniversitäten in Zella-Mehlis oder Müden an der Örtze. Absolventen dieser Häuser hatten ihre berufliche Zukunft gesichert. Doch davon war Sammy weit entfernt. Man drohte ihm mit Hagen-Haspe! Dabei strebte er durchaus eine akademische Laufbahn an, denn neben Fußball und Feiern hatte es ihm das Gebiet der Kratzbaumtechnik angetan. Wenn es ein Lebewesen auf dieser Erde gab, das sich mit Kratzbäumen auskannte, dann Sammy. Sein kleines Zimmer im Bereich des elterlichen Wohntraktes auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule zierten keine Poster von Popstars, sondern Bilder von besonders originell konstruierten Kratzbäumen aus aller Welt. Schon früh begann er, selbst eigene Kratzbäume zu konzipieren und zu bauen, wobei er äußerst geschickte Pfoten bewies und in diesem Bereich als förderungswürdiges Talent auffiel. Aber wollte er sich in dieser Disziplin verwirklichen, musste er studieren. Daran führte kein Weg vorbei. Das hätte ihm Motivation genug sein können, was aber nicht ansatzweise der Fall war.

«Wusstest du, dass sämtliche Dozenten in Haspe einmal dorthin strafversetzt worden sind?», fragte ihn seine weitaus erfolgreichere und um ihren Bruder sehr besorgte Schwester Annabelle eines Tages. «Die Studenten sind alle auf Krawall gebürstet, dauernd gibt es Streit und Schlägereien auf dem Campus. Und die FH Hagen-Haspe ist sogar für Nagetiere geöffnet! Stell dir das mal vor: ein Hörsaal voller Biber, Hamster und – wenn es ganz dumm läuft – Stachelschweinen und Bisamratten! Alle tragen rote Pullover mit blauen Cordhosen als Einheitskleidung, und die Schule ist super-autoritär geführt. Mit Strafexerzieren bei Fehlverhalten. Noch nie hat ein Absolvent der FH in Hagen-Haspe anschließend einen vernünftigen Job bekommen. Sammy, wach auf! Ich weiß das aus sicherer Quelle! Willst du wirklich einmal dort landen?»

«Warum nicht?», hatte Sammy damals mehr im Trotz geantwortet, «ich mag Nagetiere. Ich kenne einige, und die sind alle ganz in Ordnung. Das sind alles nur Gerüchte. Fake News. Wieso gibt es diese Fachhochschule überhaupt, wenn dort sowieso alle unbegabt, begriffsstutzig, undiszipliniert und faul sind? Könnten solche Aussagen nicht eher mit Neid oder Konkurrenzdenken zu tun haben? Die Personalquote im Verhältnis zu den Studierenden ist jedenfalls unschlagbar.»

Annabelle sah ihren Bruder in einer Mischung aus Entsetzen und Besorgnis an. Wie eine grüne Ortsvorsitzende, deren Neffe das Klima leugnet.

Sammy fuhr fort: «Ich glaube euch kein Wort. Ein Rauhaardackel aus der Nachbarschaft hat dort studiert. Er sagt, das wären reine Gerüchte, die Haspe unmöglich machen sollen, weil sie neue, speziesübergreifende Wege gehen. Weg von der artenspezifischen Hochschule. Er sagt, dass unter wirklich innovativen Tieren gerade der Studiengang Kratzbaumtechnik als Vorreiter neuer Lehrmethoden gilt. Auch wegen des hohen Praxisanteils. Der Rektor, Professor Doktor Doktor Doktor Dankwart Dösig …», an dieser Stelle sprach Sammy betont langsam und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, «gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Ich will auf vernünftigem Niveau Kratzbaumtechnik studieren. Da gehe ich gerne nach Hagen-Haspe! Ich bin ein Praktiker. Elite ist etwas für Leute wie dich!»

Nach diesem Gespräch wandte sich Annabelle ab und beschloss, diesem störrischen Bruder ihre Besorgnis nicht mehr mitzuteilen.

Auf Dauer kam es, wie es kommen musste: Sammy gelang im zweiten Anlauf die Pelztiermatura, doch mit einem Notenschnitt von drei Komma fünfundsiebzig hatte er alles andere als freie Wahl, was den Studienort betraf.

Wochenlang hagelte es eine Absage nach der anderen, bis er eines Tages einen Brief mit dem Absender «Südwestfälische Fachhochschule für Pelz-und Nagetiere Hagen-Haspe» aus dem pfotenbesitzerfreundlich konzipierten Briefkasten des elterlichen Haushaltes fischte. Ungeduldig riss er den Umschlag auf.

«Sehr geehrter Herr Kater, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihre Bewerbung auf einen Studienplatz für das Fach Kratzbaumtechnik zum folgenden Wintersemester positiv beschieden haben.»

Unterschrieben hatte ein Herr Prof. Dr. Archäopteryx Sausmikat, Dekan des zuständigen Fachbereichs Ingenieurwissenschaften und Kratzbaumwesen. Dem Brief lag die Kontaktadresse des Studentenwohnheims bei.

Im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern war Sammy begeistert. Postwendend brachte er das Antwortschreiben auf den Weg und nahm Kontakt auf, um sich für ein Zimmer zu bewerben.

Wenige Wochen später brach Sammy seine Zelte in Hannover ab und stieg mit gemischten Gefühlen und einem riesigen Rucksack in den Pelztierexpresszug gen Westen. Während seine Eltern erwartungsgemäß zu Hause blieben, aber die beiden weiterhin in Hannover ansässigen Geschwister vom Bahnsteig aus winkten, setzte sich die Bahn in Bewegung, und die Gedanken des Katers schweiften in Richtung seiner zukünftigen Heimat. Er hatte so viel über Hagen-Haspe gehört, und so wenig davon war positiv gewesen! Sicher hatte er das Haus gegenüber Annabelle verteidigt, aber tief in seinem Inneren fürchtete er, dass sich die Gerüchte bewahrheiten würden.

Am Tag zuvor hatte Sammy mit einigen Freunden Abschied gefeiert. So gab er schon kurz hinter Minden seiner Müdigkeit nach und nickte langsam ein. Immer wieder wachte er im Halbschlaf auf und bekam mit, wie sich der Zug langsam füllte. Nach knapp zweieinhalb Stunden hörte er zum wiederholten Male die sympathische Stimme der Schaffnerin aus dem Lautsprecher. Diesmal verkündete sie das Ziel. «Nächste Haltestelle: Hagen Pelztierbahnhof. Sie erreichen alle vorgesehenen Anschlüsse planmäßig. Mehr oder weniger. Im Großen und Ganzen sieht es nicht schlecht aus. Je nachdem, um welchen Anschluss es halt geht.»

Sammy reckte und streckte seinen immer noch müden Körper, griff sich den Rucksack und ging in Richtung Tür, die kurz darauf von einem adipösen, in der Reihe vor ihm postierten schwarzen Kater geöffnet wurde. Kaum ausgestiegen, befand er sich auf dem Bahnsteig inmitten einer Lichtung.

«Wissen Sie, wie ich von hier aus zum Campus der Fachhochschule für Pelz- und Nagetiere komme?», fragte er den Artgenossen.

«Nein, aber ich helfe dir suchen.»

Nachdem sie gemeinsam dreiundzwanzig weitere Katzen sowie einen sich zufällig in der Nähe befindlichen Pudel-Labrador-Mischling erfolglos befragt hatten, trafen sie auf eine ältere Katzendame, die Rat wusste.

«Hinter dem Vorderausgang ist eine Bushaltestelle. Sie fährt genau zu Ihrem Ziel. Endstation Hasper Wald / Campus.»

Die Haltestelle trug ihren Namen nicht grundlos. Dichter Wald umgab Sammy, als er seine Pfoten auf den belaubten Pfad setzte. Dämmerig grün und golden schimmernd lagen bemooste Stämme zu Füßen selbstbewusst gen Himmel gereckter Fichten. Zwischen riesigen Farnen und urigen Wurzeln standen niedrige, pelztiergerechte Häuser. Er folgte dem Schild, auf dem «Hauptgebäude» stand, und, dort angekommen, dem Wegweiser zur Wohnheimverwaltung. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, wollte er nur noch eines: sein neues Zuhause sehen! Sein erstes eigenes Reich! Von der netten Katzendame im Wohnheimbüro wusste Sammy, dass er noch zwei Mitbewohner haben würde. Aufgeregt machte er sich auf den Weg.

Sein neues Heim lag unweit des Hochschulgeländes. Nach wenigen hundert Metern stand er vor dem Eingang der zugewiesenen Wohnung und klingelte höflicherweise, obwohl er in Besitz eines Schlüssels war.

Ein kleiner Kater öffnete.

Unglaublich! Der sah ja genauso aus wie er selbst! Sein neuer Mitbewohner hatte ein grau getigertes Fell, auffällig wache Augen und verfügte im Gegensatz zum kompakt gewordenen Sammy über eine bemerkenswert drahtige Figur.

Der Kater streckte ihm die Pfote entgegen. Sammy ergriff sie sofort.

«Ich bin Maxi.» Der Kleine lächelte freundlich. «Und du bist bestimmt der Neue. Komm rein! Möchtest du etwas trinken?»

Sammy nickte. Sein zukünftiger Mitbewohner stellte einen Napf mit Wasser vor ihn auf den Boden. Das dunkelblaue Schälchen aus Keramik war mit «Faunistisches Studentenwerk Haspe» beschriftet. Auch das an der Wand gestapelte Geschirr stammte von dort.

«Ist billiger», sagte Maxi, tauchte seine Schnauze in den Napf und nahm geräuschvoll einen Schluck. «Außerdem war es schon in der Wohnung, als ich letztes Jahr hier eingezogen bin. Ich hole an der FH nur Klostreu!»

Sammy sah sich um. Hinter der Küche im Eingangsbereich erblickte er drei Türen. Sein Zimmer war das rechte, das konnte er an der Zimmernummer erkennen.

«In welchem wohnst du? Und wo ist der andere Mitbewohner?»

«Ich wohne links. Das Zimmer in der Mitte ist wohl noch frei.»

Sammy schaute den kleinen Kater an.

«Studierst du auch Kratzbaumtechnik?»

«Nein, ich arbeite als Kratzbaumtester. Kein leichter Job! Wir haben fünf Schichten. Kann schon mal sein, dass ich tagsüber schlafen muss oder so.»

«Kein Problem. Tagsüber bin ich sowieso meistens unterwegs. Aber warum wohnst du auf dem Campus, wenn du gar kein Student bist?»

«Die haben eine Quote für Tiere aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Vorher war ich eine Zeit lang im Tierheim.»

Was für ein nettes Tier. Und was für eine Hochschule, die ihn mit offenen Armen aufgenommen hatte. Sammy sah sich bestätigt – alles Fake News! Bei näherer Betrachtung löste sich der schlechte Ruf von Hagen-Haspe in Luft auf.

Maxi griff in eine Schublade und zog eine gelbe Tüte heraus. «Käseknusper? Außen kross, innen cremig?»

Sammy sah auf seinen Bauch hinab: «Zu aufgeregt zum Essen.»

Maxi öffnete die Tüte, schnippte sich zwei Leckerli ins Mäulchen, warf die Tüte in die Schublade zurück und sagte: «Na komm, ich zeig dir den Campus.»

Der kleine Kater entpuppte sich schnell als geborener Fremdenführer. Sogar die typische Sprache hatte er drauf. «Rechter Pfote sehen wir den majestätischen Mensabereich, während auf der anderen Seite die Nagetierfakultät ihren Sitz hat.»

Nach einiger Zeit blieb er vor einem umzäunten Gelände stehen.

«Jetzt betreten wir die weniger schöne Gegend des Campus. Die Schattenseite unserer Hochschule: den Stachelschweindistrikt!»

Sammy rümpfte die Nase. Es roch etwas streng. Maxi sagte: «Genau das ist unser Problem! Ärger unter Studenten ist hin und wieder ganz normal, vor allem auf engem Raum, aber Stachelschweine haben Drüsen, die bei Stress eine unschön riechende Flüssigkeit ausstoßen. Gefährlich ist es nicht, aber oft herrscht dicke Luft.»

So sehr es auch müffeln mochte – wenn das schon die dunkelste Seite des Campus darstellte, waren sicherlich keine Dozenten hierher strafversetzt worden und die Katzen, Stachelschweine und Nagetiere mussten nicht zum Strafexerzieren antreten. Ganz offensichtlich handelte es sich um böse Gerüchte, und mit Fragen danach konnte er sich nur blamieren. Die Südwestfälische Fachhochschule in Hagen-Haspe gefiel ihm immer besser. Vom langen Rundgang rechtschaffen erschöpft, holte Sammy sich ein paar Käseknusper aus der Küchenschublade und warf sich krümelnd in seinen neuen Korb.

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Die beiden Kater freundeten sich mehr und mehr miteinander an. Der Kratzbaumstudent und der Kratzbaumtester. Es gab Tage, da kam Maxi völlig entspannt von der Arbeit – die sogenannten Testschichttage, an denen er lediglich in den Kuhlen der Kratzbäume testschlafen musste. Wenn er nach einer solchen Schicht konzentrierten Ganztagsschlafs in der WG erschien, unterhielten sich die beiden oft noch stundenlang oder unternahmen Ausflüge in die Umgebung. An den «Belastungstagen» hingegen ging Maxi schnurgerade in sein Zimmer, fiel in den Katzenkorb und schlief ein. Acht Stunden lang hatte er zuvor die fertiggestellten Produkte des Unternehmens maximal strapazieren müssen. Kratzen, Fetzen, Reißen, Trampeln – an sinnvolle Gespräche war danach nicht mehr zu denken. Dies ließ Sammy umso mehr Zeit, seine frisch entdeckte Motivation in Lerneinheiten umzusetzen. Das erste Mal im Leben lernte er mit Vergnügen und Akribie. Seine ausgefahrene Kralle flog über die Zeilen der Lehrbücher, während er vor lauter Konzentration tieftonig schnurrte. Die Zukunft war golden und die WG bestens eingespielt, bis Sammy eines Tages ein Geräusch an der Eingangstür hörte.

Er öffnete schnell, um den potenziellen Eindringling zu überraschen und blickte frontal in ein unruhig flackerndes Augenpaar. Vor ihm stand ein derangiert wirkender Biber. Auf seinem schwarzen T-Shirt prangte in großen roten Lettern der Schriftzug «Brögelmania». Das semi-aquatische Säugetier hatte sich – einen Schlüssel in der rechten Pfote – am Schloss zu schaffen gemacht. Noch während Sammy überlegte, was das zu bedeuten habe, erhielt er die Antwort.

«Gott zum Gruße! Ich bin der Brögelmann.»

Der Biber hob die linke Pfote mit einer fahrigen Bewegung zu einer ungelenken Art des Winkens oder der Begrüßung. «Euer neuer Mitbewohner.»

Der Nager stellte seinen Oberkörper auf, hob den Kopf und erwiderte erst jetzt Sammys Blick: «Wenn du willst, kannst du mich Brögi nennen.»

2

Der Quotenbiber

«Komm rein!»

Sammy machte eine einladende Pfotenbewegung, der Biber namens Brögi trat ein. Sie nahmen an dem Holztisch in der Küche Platz. Sammy öffnete die Schublade: «Käseknusper?»

Brögi verzog die Nase. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Seine Klauen waren ständig in Bewegung. «Habt ihr Pappelzweige da? Oder wenigstens irgendwelche Kräuter?»

«Kräuter vielleicht!»

Sammy sprang auf und öffnete ein paar Schranktüren. Als er sich wieder umdrehte, hatte Brögi bereits ein großes Loch in den Küchentisch genagt. Innerlich schlug Sammy die Pfoten über dem Kopf zusammen. Äußerlich traute er sich nicht, etwas zu sagen. Es lag halt in Brögis Natur, und auch als Kratzbaumtechniker hatte er im Nebenfach Tierethik gelernt, dass man sich nicht über die Biologie einer anderen Spezies aufregen durfte.

Brögi hörte auf zu nagen und sah Sammy schuldbewusst an: «Entschuldige, ich war gerade etwas in Gedanken. Der Weg hierher war ganz schön anstrengend!»

Irgendetwas stimmte mit dem Biber nicht. Und es hatte nichts mit dem beschwerlichen Weg zu tun. Sammy beschloss, die Situation weiter zu beobachten und das Heft in der Hand zu behalten.

«Woher kommst du?»

«Sauerland», nuschelte sein Gegenüber.

«Und was studierst du?»

«Ich gehe dem ältesten Gewerbe der Welt nach: dem Dammbau.»

Er kicherte hysterisch. «Das studiere ich auf Magister.»

Geistesabwesend nahm der Biber ein großes, vom Tischbein stammendes Stück Holz zwischen die Zähne, während Sammy Mühe hatte, den Tisch vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

«Dammbau ist mein Steckenpferd. Wenn ich irgendetwas kann, dann das! Ich bin nicht so von der schnellen, sondern eher von der nagenden und grabenden Truppe.»

Brögi kicherte erneut. Sekunden später sprang er wie von der Tarantel gestochen auf, da sich in der Haustür erneut ein Schlüssel bewegte.

«Da kommt mein, äh, unser Mitbewohner», sagte Sammy.

Maxi schlurfte erschöpft hinein und warf den Schlüsselbund neben den Haken, sodass er laut klirrend auf den Boden fiel. «Was bin ich im Eimer! Das war schon kein Belastungstag mehr – das war Kratzbaumkrieg! Oh, wir haben Besuch?»

«Darf ich vorstellen, unser neuer Mitbewohner Brögelmann.»

«Brögi!», korrigierte der Biber.

«Er frisst unseren Tisch», sagte Maxi.

Brögi senkte den Blick und legte die Krallen aneinander. Dann blickte er wieder auf: «Welches ist mein Zimmer?»

Sachlich bleiben, dachte sich Sammy. Sachlich bleiben und die Ruhe bewahren.

Maxi zeigte geradeaus durch den Flur: «Das in der Mitte. Mit dem großen Q neben der Tür.»

«Was bedeutet das?»

«Quotenbiber. Wir wussten das erst auch nicht genau. Dann haben wir uns beim Studentenwerk informiert. Du bist hier im Pelztierbereich, doch damit sich nicht alle Tierarten grüppchenweise absondern, wird in jede Pelztier-WG ein Nager einquartiert. So mischen sich die Tierarten und lernen sich besser kennen. Die nennen das Inversion. Nein, warte, Inklusion. Na ja, was die sich da oben eben ausdenken, während wir Arbeiter uns am schlechten Sisal die Krallen ruinieren.» Sammy war der raue Ton von Maxi etwas unangenehm. Als Student gewann er langsam einen anderen Blick auf die Dinge und hätte nicht so abfällig über die wohlmeinende Schulleitung gesprochen. Beim Essen in der Mensa las er mittlerweile sogar die Zeitung, die der «marxistische Bund der Europäisch Kurzhaar / Felidae Internationale (EKHFI)» zweimal die Woche auslegte.

Brögelmann schaute beide Kater mit großen Augen an.

«Ach, ihr seid gar keine Biber! Ich habe mich schon gewundert, warum ihr so komisch ausseht. Und wieso ihr Käseknusper esst statt dieser schmackhaften Möbel.»

Er schüttelte den Kopf. Sammy und Maxi schauten sich vielsagend an, dann verschwand der Nager, geistesabwesend am Stuhlbein kauend, in seinem neuen Zimmer.

Gegen drei Uhr nachts wurde Sammy von lauter Musik geweckt. Sehr lauter Musik. Von einem Augenblick auf den anderen stand er senkrecht in seinem Korb. Seine Körperhaare sträubten sich. Das Gelärme kam aus dem Nebenzimmer. Dem Zimmer Q für Quotenbiber. «Du hast den Schwanzlurch gefressen, mein Brögelmann», schallte es aus den Boxen, mit voll aufgedrehten Bässen. «Hast du nicht geseh’n, wie dünn der wahahahahr?»

Jetzt sang eine noch lautere Stimme mit, die konsequenterweise immer knapp neben dem eigentlich zu treffenden Ton lag.

«Du hast den Schwanzlurch gefressen, so dann und wann / Boah, schmeckte der beschissen, aber eigentlich war das klar!»

Um Bastets, der Katzengöttin, willen! Maxi hatte solch ein Verhalten nie an den Tag gelegt. Außerdem hörte er andere Musik. Nicht so ein grobschlächtiges Geholze. Sammy rollte sich aus dem Korb. Erschrocken zog er seine Hinterpfote zurück. Igitt! Der Boden war ja klatschnass! Sammy schaute genauer hin und schlug sich mit der flachen Pfote vor die Stirn. Der Boden war nicht nur nass, er stand komplett unter Wasser! Unter der Zimmertür hindurch flossen in kürzester Zeit riesige Mengen davon in sein Zimmer. Es hatte sich sogar schon eine Strömung gebildet. Mit Strudeln! Sammy hatte keine Wahl. Er musste seinen Korb verlassen. Als seine Pfoten den Boden erreicht hatten, schrie er auf. Kälter konnte ein Untergrund nicht sein. Jedenfalls in ungefrorenem Zustand. Auf Krallenspitzen hüpfte er zur Tür. Dort wurde er bereits von Maxi empfangen. Nur mit seinem weißen Morgenmantel bekleidet, watete der kleine Kater in Richtung Lärmquelle. Aus Brögelmanns Zimmer lief das Wasser in den Flur und weiter. Maxi klopfte.

«Brögi, bist du wahnsinnig geworden!?»

Sammy hatte seinen Freund und Mitbewohner noch nie so aufgebracht gesehen. Nicht mal, als er neulich die Zeitung der Kurzhaar-Marxisten gelesen hatte, die Sammy neben das Katzenklo gelegt hatte.

«Brögelmann!!!», schrie der kleine Kater und schlug mit geballten Pfoten gegen die Tür. Sie öffnete sich einen Spalt breit, und der Kopf des Quotennagers lugte hervor. Seine Haare standen wild zu Berge. Die Augen leuchteten wirr.

«Was hast du gesagt?»

Maxi riss die Tür auf, stieß den Biber zur Seite, bahnte sich einen Weg durch die steigenden Fluten, rannte zur mittig im Raum stehenden Stereoanlage und schaltete sie schneller aus, als nach normalem Ermessen eigentlich möglich gewesen wäre. Sammy war beeindruckt.

«Bist du verrückt geworden?»

Maxi packte Brögelmann so fest am Kragen, dass sich Sammy genötigt sah, ihn zurückzuhalten. Ihr Streit musste ja nicht gleich in Mord und Totschlag ausarten. Der Angegriffene selbst blieb unnatürlich ruhig.

«Nö», entgegnete er mit tonloser Stimme, «Dammbau am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen! Und zu dem besten Album der Biberpunk-Helden ‹Die langen Zähne› staut es sich eben gut.»

Brögelmanns Augen glänzten ungesund. Überhaupt wirkte das ganze Tier ernsthaft verwirrt. Sammy schaute in Richtung Waschbecken. Der Hahn war bis zum Anschlag aufgedreht. Mit einem beherzten Sprung saß er darin und schloss ihn. Inzwischen standen die drei Tiere knöcheltief im Wasser, während sich in der Mitte des Raumes der Strom staute. Ganz offensichtlich hatte der Biber in ihrer Wohnung einen Damm gebaut.

«Ich arbeite am liebsten mit Musik. Das ist Entspannung pur!»

«Nicht für dein Umfeld!»

Sammy konnte vor Empörung kaum sprechen, während Maxi bereits dazu übergegangen war, mit Handtüchern den Boden der Wohnung trockenzulegen.

«Wo ist eigentlich unser Esstisch?»

Sammy nahm ein Stück Holz aus der Dammkonstruktion und hielt es hoch.

«Okay. Ich ziehe die Frage zurück.»

«Warum machst du das, Brögelmann?»

«Der Dammbau ist die Bestimmung meiner Art und die Königsdisziplin unter den Ingenieurwissenschaften», leierte der Biber tonlos wie ein Politiker herunter. «Wer Dämme baut, baut Leben.»

Sammy fragte kein weiteres Mal nach Brögelmanns Geisteszustand.

Diese Frage beantwortete sich von selbst. Eine andere allerdings beschäftigte ihn. Was für eine Lebensform war dieser Schwanzlurch, den Brögelmann zu seiner Punk-Platte gerade so lautstark besungen hatte? Wie sah das Tier aus? Wo lebte es? Existierte es überhaupt, oder handelte es sich um eine Sagengestalt wie den Yeti? Schwanzlurch … Sammy hatte diesen Namen noch nie gehört, jedenfalls nicht bewusst. Doch er faszinierte ihn auf eine Art und Weise, die sich ihm nicht erschloss. Er traute sich nicht einmal, Maxi danach zu fragen, aus Angst, es handele sich um ein besonders obszönes Tier, dessen Existenz man lieber nicht ansprach. Der Name gab das durchaus her. Er nahm sich vor, die Sache im Auge zu behalten.

Das ganze Theater kam Sammy überhaupt nicht gelegen. Immerhin stand seine Zwischenprüfung an! Noch mitten in der Nacht schnappte er sich seinen Prüfungskratzbaum und brachte ihn in Sicherheit. Nicht auszudenken, wenn er Schaden nähme. Das Teil war nicht nur sein Faustpfand für eine gelungene Prüfung, sondern auch sein ganzer Stolz. Zu viel Mühe hatte ihn die Konstruktion gekostet, zu viel Herzblut steckte in seiner Anfertigung, als dass er auch nur die kleinste Beschädigung hätte hinnehmen können. Nächtelang hatte er Pläne angefertigt, um diese dann in wochenlanger Arbeit in die Realität umzusetzen. Es fehlten nur noch Nuancen, letzte Kleinigkeiten, bis er den optimalen Kratzbaum erschaffen hatte. Er war stolz wie Oskar und brannte darauf, ihn seinen Dozenten – allen voran seinem Mentor Professor Doktor Doktor Doktor Dösig – vorzuführen.

Noch eine unerwartete Flut, noch mehr infernalischer Lärm … das ging einfach nicht!

«Es gibt zurzeit keinen freien bibergerechten Wohnraum», sagte die Dame vom Studentenwerk, als Sammy und Maxi sich heimlich in die Verwaltung schlichen, um ihren Mitbewohner auf legalem Wege ausquartieren zu lassen. «Halten Sie einfach durch. So etwas passiert selten, kommt aber schon mal vor. Vielleicht können Sie mit Ihrem Mitbewohner eine Nage- und Dammbauzone vereinbaren, die er nicht überschreitet.»

Der Vorschlag klang ebenso einleuchtend, wie er unpraktikabel war. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis in Reinkultur. Eine Absprache mit Brögelmann treffen zu wollen, entpuppte sich als genauso sinnlos wie seine nächtlichen Dammbauaktionen. Wenigstens war er multitaskingfähig, auch wenn das nur für die Bereiche Fressen, Nagen und Dämmebauen galt. Wobei der Begriff «Tasking» für derlei Aktivitäten schon sehr weit ausgedehnt werden musste.

Sein Kratzbaumwerkstück holte Sammy in den folgenden Tagen nur noch unter größten Sicherheitsvorkehrungen hervor.

Nach drei weiteren chaotischen Tagen und Nächten beschlossen die beiden Kater, Diskriminierung anderer Spezies hin oder her, dem Biber das verdammte Wasser abzudrehen. Diese Maßnahme verurteilte Brögi dazu, Trockendammbau zu betreiben, was sein Vergnügen sichtlich schmälerte. Wenn er überhaupt noch mit seinen Mitbewohnern sprach, dann handelte es sich ausschließlich um Vorwürfe, sie würden seine Freiheit beschneiden und ihn auf inakzeptable Weise quälen. Die Kater sahen ihre Aktion als reine Notwehrmaßnahme. Wenigstens konnten sie hin und wieder mal ein Auge zumachen, denn Trockendammbau und laute Musik bissen sich nach Brögelmanns Angaben, sodass er gezwungen war, sich in dieser Hinsicht etwas moderater zu präsentieren.

Sammy tüftelte in jeder freien Minute an der Optimierung seines Prüfungsstücks. Schon jetzt, in der Zwischenprüfung, wollte er ein Zeichen setzen, den Kratzbaum der Zukunft zu präsentieren. Mit etwas Hightech, aber nicht zu viel. Mit mutiger Ästhetik, aber ausreichend Komfort. Ein Kratzbaum für die anspruchsvolle Katze und den anspruchsvollen Kater von morgen. Elegant, funktional, unaufdringlich. Vor seinem geistigen Auge sah er die glänzenden Augen von Herrn Professor Doktor Doktor Doktor Dösig und seinen Beisitzern. «Sie haben etwas für die Ewigkeit geschaffen, Herr Kater!», sagte der Gelehrte in Sammys Fantasie. Der Kater brannte auf seinen Einsatz.

Und dann war der Tag der Tage gekommen.

Sammy sprang aus dem Bett. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Auf den Krallenspitzen hüpfte er zur Tür, öffnete sie und horchte in Richtung Nebenzimmer. Lautes Schnarchen. Er atmete auf. Von dieser Seite drohte heute kein Ungemach. Auf dem Flur begegnete er Maxi, der gerade von der Nachtschicht kam.

«Viel Glück!», flüsterte der kleine Kater, «ich drücke dir beide Pfoten!»

«Danke!»

Sammy lächelte. Das würde sein Tag werden. Das sagte ihm sein Bauchgefühl. Seine Familie würde beeindruckt sein und Annabelle widerlegt. Nach dem gemeinsamen Frühstück ging Maxi ins Körbchen. Sammy öffnete die Abstellkammer. Vorsichtig holte er seinen Kratzbaum hervor und nahm ihn in beide Pfoten. Wie ein rohes Ei trug er ihn die Treppe hinunter und mehrere hundert Meter über den Campus. Stolz registrierte er die bewundernden Blicke der ihn passierenden Mitstudenten. Pünktlich zum Prüfungstermin erreichte er sein Ziel.

«Sie können gleich hereinkommen.»

Die nette Katzendame aus dem Sekretariat winkte ihn freundlich durch. Vielleicht hätte sie ja Lust, sich einmal von ihm auf eine Portion Thunfisch mit extra Joghurtsauce einladen zu lassen? Maxi hatte ihm erst kürzlich ein Pelztierrestaurant gezeigt, das für seine riesige Auswahl an Thunfisch, Scholle und Lachs bekannt war. Oder bevorzugte sie Leberwursthäppchen? Sammy verspürte große Lust, sie hier und jetzt zu fragen, doch er widerstand dem Impuls. Nach der Prüfung. Auf jeden Fall nach der Prüfung. Dann würde ihm keine Katzendame mehr widerstehen können!

Gemessenen Schrittes betrat er den Raum und grüßte Professor Dösig sowie die anderen Dozenten.

«Na, Herr Kater. Dann wollen wir uns ihr Arbeitsstück einmal genauer anschauen!»

Der Professor wirkte aufgeräumt und bester Dinge. Das konnte nun wirklich nicht mehr schiefgehen. Schon gar nicht bei der Vorbereitung. Dösig hob den Baum in die Höhe.

«Alle Achtung! Mit integrierter Kuhlenhydraulik und zeitlich verstellbarer Weckfunktion.»

Der Dozent schnalzte mit der Zunge.

«Wie ich sehe, sind sogar die allgemein üblichen Fresszeiten eingestellt! Sehr vorausschauend. Sie haben einen Blick für das Detail, Herr Kater. Daran erkennt man einen guten Ingenieur! Ihr Kratzbaum erinnert mich an Wischnewski. Schon rein vom Design her. Und das, ohne seine Alltagstauglichkeit auch nur ansatzweise einzuschränken. Plus zusätzlicher Wellnessfunktionen! Genau solche Leute wie Sie brauchen wir! Alle Achtung!»

Sammy holte tief Luft und bemühte sich gleichzeitig, nicht vor Stolz zu platzen. Wischnewski. Ein größeres Lob konnte man von Dösig kaum bekommen. Der Wischnewski-Prototyp von 2008 galt, populär ausgedrückt, als der Mercedes unter den Kratzbäumen. Das Maß aller Dinge. Der Professor selbst verehrte Wischnewski und war persönlich mit ihm bekannt. Es war ein offenes Geheimnis im Fachbereich, dass sie in regem Austausch miteinander standen. Gut möglich also, dass der Meister selbst auf diesem Wege von seiner Leistung erfahren würde.

Sammy sah sich bereits mit Dösig und Wischnewski speisen, die Katzendame aus dem Sekretariat im Arm, sanften Jazz im Hintergrund. Er würde sich ein eigenes Haus bauen können, höher im Wald, ohne Biber, vielleicht mit Maxi. So träumte er, als Professor Dösig das Werkstück eine Spur fester als ursprünglich geplant auf den Boden zurückstellte und ein lautes Knacken ertönte. Unter dem stillen Entsetzen aller Anwesenden brach der Kratzbaum zusammen! Er spaltete sich genau in der Mitte.

«Oh nein!!!»

Sammy schlug seine Pfoten vor das Gesicht.

Der Professor beugte sich zu den Trümmern und schob seine Brille auf die bepelzte Stirn: «Kennen Sie jemanden, der gern nagt? Ich sehe eindeutige Bissspuren an der Bruchstelle.»

Wie in Trance hörte der Kater die Stimme des Dozenten. Sammy sprang auf. «Das darf doch nicht wahr sein! Nein, nein, nein!»

Er drehte sich um, rannte zur Tür und verließ den Raum, die Prüfungskommission verdutzt zurücklassend.

Völlig außer sich rannte er über den Campus zum Wohnheim, verschaffte sich Einlass in die WG, erblickte den Übeltäter, griff ihn fest am Oberkörper ins Fell und hob das viel größere und nicht wenig überraschte Tier in die Höhe.

«Warum machst das? Wieso zerstörst du meinen Kratzbaum? Und mein Leben???»

Er schluchzte.

Der Biber behielt auch in der Luft schwebend die Contenance. Zumindest schien er nicht zu erkennen, was er falsch gemacht haben sollte. Statt sich zu entschuldigen, erhob er die Stimme und sang, wie es auch nach tierischem Ermessen kaum dissonanter hätte klingen können.

«Nagen ist unser Leben,

denn König Nagen regiert die Welt.

Wir nagen und geben alles,

bis dann ein Baum nach dem anderen fällt.»

Dem Kater fehlten die Worte. Da machte der sich auch noch über sein Unglück lustig! Dieser verdammte Zyniker! Leider hatte der Biber sein musikalisches Repertoire noch nicht ausgeschöpft.

«Klingelingeling, Klingelingeling,

hier kommt der Brögelmann.

Klingelingeling, Klingelingeling,

ich nag die Möbel an.

Klingelingeling, Klingelingeling,

bald kommt dein Kratzbaum dran.»

«Er war schon dran, du Mistkerl!»

Sammy kochte vor Wut. Er schüttelte den Biber ein letztes Mal, warf ihn mit Wucht gegen die Wand, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

«Wer nicht hüpft, der ist ein Kater», waren die letzten Worte, die an sein Ohr drangen.

Weg hier! Nur noch weg!

Weg, weg, weg!

Sammy rannte vom Unigelände und weiter durch den Wald.

Die Tränen rannen ihm in für Katzen völlig unüblicher Weise über das Gesicht. Ziellos stolperte er durch das Gehölz. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Nicht, wo er sich befand. Nicht, wo er hinlief. Nach Stunden des Umherirrens hielt der Kater erschöpft an und horchte. Motorengeräusche. Licht. Was mochte hier sein? Und wo war er eigentlich?

3

Jagdinstinkt