Unter Verrückten sagt man du - Lea De Gregorio - E-Book

Unter Verrückten sagt man du E-Book

Lea De Gregorio

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Beschreibung

»Dieses klare und schöne Buch zeigt: Ohne das Verrücktsein wäre unsere Welt ein schlechterer Ort.« Julia von Heinz

An einer Umbruchstelle im Leben wird Lea De Gregorio verrückt. Zu viele Gedanken drehen frei in ihrem Kopf, zu viele Fragen rasen ihr durchs Herz, der Schlaf bleibt aus. Und es folgt, was hierzulande nun mal vorgesehen ist: die Behandlung in der Psychiatrie. Doch geht der Heilung die Entmündigung voraus. Hier bestimmen, entscheiden, sprechen andere für sie. Muss sie sich dieser althergebrachten Ordnung tatsächlich fügen, damit alles besser wird? Oder sie erst recht in Frage stellen? Eine Suche nach grundlegenden Antworten beginnt, sie führt sie an tabuisierte Orte der Geschichte, in unsere Sprache, die Philosophie und schließlich in den Kampf. Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit.

Lea De Gregorio entlarvt die tradierten Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen, Handeln. Unter Verrückten sagt man du leistet dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. In einer Sprache, die so klar und so klug und so zärtlich ist, dass sie den Blick auf unser Zusammenleben substanziell zu verändern vermag.

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Cover

Titel

Lea De Gregorio

Unter Verrückten sagt man du

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5430.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

eISBN 978-3-518-77905-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Charlie und für Dorothea Buck

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Es ist Zeit. Warum ich dieses Buch schreibe

1 Mein Großvater, der

Verrückte

im Dorf. Wie wir im Alltag über Wahnsinn sprechen

Genetische Voraussagen

Psychisch kranke Einzeltäter

(Non)konformität

Mitleid

2 Die Manie als Party? Von institutioneller Diskriminierung und der Deutungshoheit über Erfahrungen

Schleier des Nichtwissens

Psychiatrie und Macht

Ein Haufen Freaks

Psychoedukation

Die Diskriminierung der Professionellen

3 Goffman, Fledermäuse und Adorno. Was mir die Universität über

Verrückte

verriet

Hexen

Wahnsinn und Magie

Sichtweisen

Religiosität und die Grenzen des Verstandes

Kunsterleben

Alleingelassen

Wahnsinn und Alltag

Neurobiologie und Rätsel

4 Dublin und der Sinn des Lebens. Über Kategorien und epistemische Gewalt

Die großen Fragen fühlen

Lithium oder: Wer bin ich?

Identität

Der Zauber der Kategorien

Die Vernunft sei männlich

Beschädigte Identität

5 Hadamar. Von der Vergangenheit, die niemand entschädigen will

Der Mensch als Objekt

Tiergartenstraße 4

Land der Täter

Zwangssterilisationen und Entartete Kunst

Unterdrückte Gefühle

6 Wieder in der Psychiatrie. Über die Schwierigkeit des historischen Vergleichs

Nochmal

verrückt

Ängste

Eine

verrückte

Mission

Hilfe

Denken macht frei

Kategorisierungen und Vergleiche

Ballastexistenzen

Weihnachten

7 Zusammenfinden. Gruppenidentität und Normalität während der Reha

Normalitäten und Scham

Verstrickungen

Positiver Biologismus

Expert:innen

Verletzlichkeit

Communities

Kontinuitäten

8 Mehr Allies!. Warum Menschenrechtler:innen unsere Verbündeten sein müssen

Chemie

Alltag und Totalität

Menschenwürde

Andere Wege

Ein manisch-schöner Brief

Widerstände

9 Achtgeben. Ein Platz in der Welt

Gesundungen

Kontrolle

Zusammenwirken

Bevormundet

Sorgen und Schreiben

Dank und Schluss

Anmerkungen

Es ist Zeit. Warum ich dieses Buch schreibe

1. Mein Großvater, der

Verrückte

im Dorf

2. Die Manie als Party?

3. Goffman, Fledermäuse und Adorno

4. Dublin und der Sinn des Lebens

5. Hadamar

6. Wieder in der Psychiatrie

7. Zusammenfinden

8. Mehr Allies!

9. Achtgeben

Informationen zum Buch

Was unser Geist1 der Wirrnis abgewinnt, kommt irgendwann Lebendigem zugute; wenn es auch manchmal nur Gedanken sind, sie lösen sich in jenem großen Blute, das weiterrinnt …

Und ists Gefühl: wer weiß, wie weit es reicht und was es in dem reinen Raum ergiebt, in dem ein kleines Mehr von schwer und leicht Welten bewegt und einen Stern verschiebt.

Rainer Maria Rilke

Es ist Zeit

Warum ich dieses Buch schreibe

Es heißt, diejenigen, die das Wort haben, sind die Mächtigen und manchmal ist Schreiben ein Kampf, ein innerer. Und wenn geschrieben ist, ist das vielleicht erst der Anfang eines Kampfes. Dies ist auch die Geschichte einer Selbstermächtigung.

~

Es war Winter und ich befand mich auf einer psychiatrischen Akutstation mitten in Berlin mit einer Tür, die verschlossen war. Draußen war es kalt und wir froren, ich musste unser Zimmer immer wieder lüften, weil meine Zimmergenossin sich nicht waschen wollte. Sie hatte schon schrecklich gestunken, als sie angekommen war. Aber das war es nicht, was mich dort wütend machte. Es schien mir, als ob man uns Patient:innen in der Klinik verwalten wolle, und mir kam dieser Ort paternalistisch vor.

Die besagte Tür, die wir nicht eigenständig öffnen konnten, lag am Ende eines langen Flurs, von dem weitere Türen zu vielen Zimmern abgingen, in denen wir schlafen sollten und die morgens ein Pfleger öffnete, um uns zu wecken. Die Station durften wir nicht verlassen, ohne uns vorher abzumelden und darum zu bitten, dass man uns die Tür am Ende des langen Flures aufmacht. Manche der Patient:innen durften, wenn sie Bescheid sagten, gehen, wann sie wollten. Andere nur für eine Stunde oder etwas länger, wieder andere für eine bestimmte Zeit gar nicht mehr. Ich glaube, mich hatte ein Pfleger von einer Notaufnahme aus, die ich mit einem Familienmitglied zusammen aufgesucht hatte, dorthin gebracht.

Wer über die Notaufnahme gekommen war, saß beim Warten erstmal unter allen möglichen Kranken, Menschen mit Knochenbrüchen und anderen Beschwerden. Es gab in dem Warteraum Automaten mit Cola, Schokolade und irgendwelchen Riegeln und man bekam ein Band mit einem Strichcode darauf am Handgelenk befestigt.

Als ich drankam, wurde ich mit einem Gerät verbunden, anschließend hielt ein Mann im weißen Kittel Zettel mit verschiedenen Werten in der Hand. Ich nahm an, dass es bei den Werten um meine Seele und mein Herz ging. Später machte er weitere Tests, ich sollte mir Begriffe merken: Apfel, Wolke, Wasserglas, und ich fragte mich, was diese Dinge mit mir und meinem Leben zu tun haben sollten.

Ich hatte nächtelang wachgelegen und gar nicht geschlafen, weil ich so viel nachdenken musste. Ich war überarbeitet und in dem ganzen Jahr zuvor war viel passiert, mein Kopf quoll über vor Lebensfragen. Alles um mich herum, die Gegenstände und die Menschen, die mir begegneten, erinnerten mich plötzlich daran. Alles war getränkt in Gefühlen und ich verstand die Welt um mich herum nicht mehr, alles war anders als sonst. Man könnte sagen, ich steckte tief in einer Lebenskrise, ich hatte Angst und ich hoffte, dass der Mann im Kittel mir weiterhelfen konnte.

Anstatt meine Gedanken und die Hintergründe der Krisen zu besprechen, ging es jedoch vor allem darum, genetische Dispositionen für Manien bzw. Psychosen abzufragen, Angehörige über frühere Krisen zu befragen, körperliche Ursachen zu suchen, Symptome aufzuschreiben, die auf bestimmte Krankheitsbilder hinweisen sollten, und zu verdrängen, insbesondere mit Medikamenten, die wir regelmäßig in dem Pfleger:innenzimmer nehmen sollten, später auch mit verschiedenen in einem Wochenplan aufgelisteten Therapien.

Wer so wütend wurde, dass er oder sie ausrastete – meine Zimmernachbarin etwa, die einmal ein Puzzle und Plastiktassen durch den Gemeinschaftsraum geworfen hatte –, wurde zwischenzeitlich isoliert, also in einem separaten Zimmer an ein Bett gebunden. Ich sah, wie Pfleger:innen sie unter Gewalt dorthin brachten, und betrachtete anschließend ihr leeres Bett. Sie tat mir leid, ich hatte das Gefühl, dass sie völlig verzweifelt war.

»Und ich bin Jesus«, sagte ein Arzt genervt zu einer anderen Patientin ungefähr in meinem Alter, Mitte zwanzig oder vielleicht etwas älter, die das Gespräch mit ihm suchte, bevor er die Tür zu seinem Büro mit einem Ruck zuzog. Sie hatte scheinbar nicht mehr gewusst, wer sie selbst und die anderen waren. Ich erinnere mich, wie die Frau einige von uns ansah und berührte, als ob sie uns für Heilige hielt. Und ich erinnere mich an den arroganten und überforderten Blick des Arztes, der ihr mit seiner Aussage offensichtlich nicht weitergeholfen, sie eher noch mehr verwirrt hatte.

Im Raucherraum bequasselten wir Verrückten die großen Fragen unter uns. »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« Ich glaube, dass es in vielen schweren psychischen Krisen implizit oder explizit um diese vier berühmten Fragen von Immanuel Kant geht, die man, wenn man sie sich während der Verrückung nicht auf dieselbe rationale Weise stellt wie sonst, am ganzen Körper erlebt.

In einer Depression erlebt man die Antwort »ich weiß nicht« oder »nichts« auf eine oder mehrere dieser Fragen häufig, indem man müde, lustlos und antriebslos wird, man vielleicht gar nicht mehr aufstehen kann oder vielleicht sogar nicht weiter leben möchte.

Wenn das Gefühl, eine oder mehrere der Fragen beantworten zu können, jedoch auf einmal so viel innerliche Kraft aktiviert, dass der Kopf vor lauter Ideen brummt, man viel glücklicher ist als an anderen Tagen und voller Begeisterung über all die Einfälle, wenn man so schnell und viel redet, dass niemand mehr etwas versteht, erlebt man vielleicht gerade eine Manie.

Wenn der Gedanke »ich will die Antworten finden« einen dabei so sehr beherrscht, dass man nicht mehr nur argumentativ nach ihnen sucht, sondern das Gefühl hat, sie symbolisch in den Dingen, in einem Menschen, einem Baum oder etwas anderem zu finden, erlebt man vielleicht eine schwere Manie oder Psychose. Vielleicht hören dann manche, wie viele Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, innere Stimmen oder Halluzinationen. Vielleicht kommt man von den möglichen symbolischen Antworten nicht mehr los und es erscheint einem so, als würde man verfolgt oder überwacht werden, vielleicht machen einem die Fragen oder die Tatsache, die Fragen doch nicht beantworten zu können, große Angst.

Aber es ging im Raucherraum natürlich auch um ganz pragmatische Dinge, etwa um die Frage, wie man an eine neue Schachtel Zigaretten gelangen könnte. Oder aber darum, auf vernünftige oder verrückte Weise die Gegebenheiten auf der Station zu verstehen, beispielsweise abschließend zu klären, ob uns im Raucherraum wohl jemand abhören konnte. Es gibt tatsächlich Psychiatrien, in denen einzelne Zimmer mit einer Kamera überwacht werden.

»Sie wollen uns Disziplin beibringen, das ist es, was sie wollen«, erklärte mir eine ältere Frau, die sagte, dass sie Historikerin sei, als ich einmal mit ratlosem Blick auf dem Gang der Station stand. Später las ich den Satz in meinem Notizbuch. Ich nehme an, dass sie vor allem das Einhalten der Ausgangszeiten und der Tagesstruktur, die Teilnahme an dem Klinik-Programm und den verhaltenstherapeutischen Sitzungen meinte. Letztlich stand hinter alledem der Gedanke, eine Struktur beizubehalten, die einem Alltag gleicht. Wenn Pfleger:innen dieser Patientin etwas vorschrieben oder ihr nicht erlaubten, etwas zu tun, was sie wollte, berief sich die ältere Frau immer wieder auf ihren Doktortitel, als hätte er für sie als Patientin auf der Station eine Relevanz.

Das ist neben all dem Negativen, dem Schmerz und der Unterdrückung, die man auf solch einer Akutstation erleben kann, das Charmante an diesen Orten: dass dort in ihren Krisen alle Menschen zusammenkommen, egal ob Malermeister, Arbeitslose oder Intellektueller, egal ob Psychotikerin, Schwerdepressiver oder Drogenabhängige, egal ob Jüdin, Christ oder Muslim. Man kann dort so vieles über die menschliche Existenz erfahren, auf solch schonungslose und unmittelbare Weise wie sonst vielleicht nirgendwo. Ich habe die Gespräche im Raucherraum der Station später manchmal vermisst.

Im Erdgeschoss des Klinikgebäudes gab es einen weiteren langen, hellen Gang mit einer Ausstellung, die sich mit der Geschichte der Klinik und der Medizin in der Vergangenheit befasste, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch des Kolonialismus. Schön, dass sie sich mit ihrer Historie befassen, dachte ich. Zu der Klinik von heute passte jedoch auch, dass scheinbar niemand darüber nachgedacht hatte, was die Ausstellung mit den Gefühlen der Patient:innen machen kann, die notgedrungen daran vorbeigehen müssen, um sich nach dem »Ausgang« wieder auf die Station zu begeben. Bei mir jedenfalls verstärkte die Ausstellung mein Unbehagen und meine Ängste.

In einer der Vitrinen stand eine kleine Skulptur der Bildhauerin Dorothea Buck. Sie heißt »Mutter und Kind«. Dahinter hing ein Bildschirm, der einen Film über ihr Leben zeigte. Während des Nationalsozialismus haben Ärzt:innen Dorothea Buck wegen ihrer Diagnose Schizophrenie zwangssterilisiert. Ich habe die lebensfrohe, lebenskluge alte Frau einmal als Journalistin für die taz1 getroffen. Nicht lange vor meinem Klinikaufenthalt hatte ich gelesen, dass sie gestorben war. Sie war die letzte bekannte Überlebende der NS-Psychiatrie und eine namhafte Psychiatriekritikerin, für ihr Engagement ist sie mehrfach ausgezeichnet worden.

»Die sprachen ja gar nicht mit uns, diese merkwürdigen Psychiater«, hatte sie während unseres Gesprächs über die Psychiatrie im Nationalsozialismus gesagt. Als ich einmal durch die Ausstellung lief, fragte ich mich, was aus der damaligen Zeit in den Psychiatrien von heute übrig ist.

Ich erinnerte mich daran, wie ich einer Patientin auf der Station erzählt hatte, dass ich Journalistin bin bzw. gerade eine werde, damals befand ich mich in der Ausbildung. Und ich erinnerte mich daran, dass ich mich, ohne dass sie mir etwas vorgeworfen hatte, zu rechtfertigen begann. Als hätte sie gefragt, warum ich mich nicht mit eigenen Erfahrungen outen und über die Unterdrückung und Diskriminierung, die ich als Verrückte in der Psychiatrie und in der Gesellschaft erlebe, schreiben, diese Menschenrechtsverletzungen als Journalistin nicht stärker zum Thema machen würde. Es ist ja so, dass auf den Erfahrungen, die man in der Psychiatrie macht, ein Tabu lastet, das ganze Welten verschluckt, und wir lernen, sie zu verdrängen. Vielleicht hilft uns das im Alltag sogar. Gleichzeitig bin ich der Überzeugung, dass es auch jenem Tabu geschuldet ist, dass sich an diesen Orten, den psychiatrischen Akutstationen, und auch an dem gesellschaftlichen Umgang mit Menschen in Krisen insgesamt, nur sehr langsam etwas ändert.

Dieses Dilemma wurde auf der Station Teil meiner psychischen Krise, die ich damals, sechs Jahre nach meiner ersten Krise, noch einmal erlebt habe. Ja, ich bin fast dankbar dafür, weil ich mich anschließend mit so vielem befasst habe, was ich lange Zeit verdrängt und vergessen hatte, und mir das dabei half, dass es mir seitdem viel besser geht und ich mich wieder integer fühle. Darunter fallen neben therapeutischen Angeboten auch die Auseinandersetzung mit der Kritik an dem psychiatrischen System, die Beschäftigung mit Feminismus und das Erkennen von struktureller Diskriminierung in unserer Gesellschaft.

Obwohl ich mich in meiner Arbeit als Journalistin, insbesondere während meiner Zeit bei Amnesty International, immer wieder mit Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung auseinandergesetzt habe, beschäftigte ich mich wenig mit der Unterdrückung, die mich selbst betrifft. Und damit, dass ein Psychiatrieaufenthalt während der Zeit des Nationalsozialismus mich vielleicht das Leben gekostet hätte bzw., wenn dem nicht so gewesen wäre, vor dem Hintergrund der »Rassenhygiene«, meine Fortpflanzungsfähigkeit. Und doch sind mir immer wieder Parallelen zu anderen Diskriminierungsformen aufgefallen. Damit will ich mich nun näher befassen. Ich frage mich: Inwiefern sind wir Verrückten in unserer Gesellschaft bis heute eine unterdrückte Minderheit? Und welche Rolle spielt dabei die Psychiatrie?

Um diese Fragen geht es in diesem Buch.

Ich bin keine Ärztin oder Psychologin, sondern studierte Philosophin, Kultur- und Religionswissenschaftlerin bzw. Ethnologin und Journalistin. Ich habe Fächer studiert, in denen man bestehende Kategorien heute eher aufbricht, sich ethischen Fragen stellt, die gesellschaftliche Wirklichkeit als gemacht versteht, nicht quantitativ forscht. In denen man das Bewusstsein für ein Rätsel und das Leib-Seele-Problem für ungeklärt halten kann, auch wenn sich viele Philosoph:innen dem Materialismus und damit der Biologie verschreiben. Ich finde es hilfreich, mich immer wieder auf Ärztinnen und Psychologen zu beziehen, dennoch will ich den Umgang mit Verrückten und die Unterdrückung, die sie erleben, aus einer philosophischen, gesellschaftskritischen und menschenrechtlichen Perspektive betrachten, Verbindungen zu anderen Diskriminierungsformen und historische Kontinuitäten aufzeigen.

Mir geht es darum, das Thema Psychiatrie vom Rand in die gesellschaftliche Mitte zu holen und »psychische Störungen« bzw. »auffälliges Verhalten« nicht als Abnormalität zu bewerten, sondern – ähnlich wie es auch der Begriff der Neurodiversität2 ausdrückt, den vor allem viele Menschen mit ADHS und Autismus heute zunehmend als Selbstbezeichnung verwenden – wertfrei als anders als der quantitativ überwiegende Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.

Ich widme mich dem Thema Psychiatrie als Betroffene, auch wenn ich das Wort »Betroffene« gar nicht so gerne mag. Wenn ich von Menschen spreche, die in ihrem Leben irgendwann einmal in der Psychiatrie waren, weil sie Manie- bzw. Psychose-Erfahrungen gemacht haben, werde ich stattdessen meistens von Verrückten sprechen. Im Folgenden werde ich nicht nur Begegnungen schildern, die ich als Journalistin gemacht habe, sondern zur Veranschaulichung auch immer wieder Beispiele aus meiner Biografie heranziehen.

Ich beschäftige mich mit dem Thema Psychiatriekritik ebenso, weil ich Feministin bin und denke, dass ein Unbehagen Ausgangspunkt sein kann für gesellschaftliche Veränderung und Gefühle eine Ursache haben, vielleicht auch eine revolutionäre Kraft. Mich macht die mediale Berichterstattung über das Thema als Journalistin wütend und ich will mich als Betroffene wehren, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich wehren muss. Ja, ich schreibe dieses Buch auch, weil der Schmerz und die Wut über das, was ich erlebt habe, nun schon sehr lange in mir arbeiten und ich eine innere Pflicht verspüre, das zu tun. Und wenn ich daran denke, angesichts des Tabus, das auf dem Thema lastet, doch lieber nicht darüber zu schreiben, bekomme ich schlichtweg ein schlechtes Gewissen.

Es macht mich wütend, wie in der Öffentlichkeit über »uns« gesprochen wird und dass das Thema Psychiatrie, abseits der Thematisierung von Personalmangel und der fehlenden Gelder, in Medien meist völlig unkritisch behandelt wird. Es schockiert mich, dass immer noch meistens diejenigen als Expert:innen für unsere Erfahrungen gesehen werden, die diese Erfahrungen selbst gar nicht gemacht haben, nämlich Ärztinnen und Therapeuten. Und dass diese Betroffenen dann auch noch häufig dazu raten, sich mit eigenen Erfahrungen nicht in der Öffentlichkeit zu outen und sich besser anderen Themen zuzuwenden. Ich wundere mich darüber, dass viele Feminist:innen, Menschenrechtsorganisationen und Akteure im Kontext der Erinnerungskultur das Thema Psychiatrie, wenn überhaupt, lediglich randständig behandeln.

Ich bin der Überzeugung, dass sich auch die Gefühle und Gedanken, die als krank gewertet werden, nicht einfach aus dem Nichts einschleichen, als seien sie verursacht durch ein zufälliges neurobiologisches Phänomen, sondern immer mit Ereignissen, einer Einstellung, einem Bedürfnis, einem Missstand, kurzum: einer Bedeutung zusammenhängen, auch wenn diese sich vielleicht nicht immer gleich erschließt.

Die Philosophin Martha Nussbaum schreibt, »daß das beste philosophische Verständnis3 der Gefühle diese nicht als rohe irrationale Kräfte begreift, sondern als intelligente und differenzierende Persönlichkeitselemente, die eng mit Wahrnehmung und Urteilsvermögen zusammenhängen«. Warum sollte das nicht auch in schweren psychischen Krisen noch in irgendeiner Form zutreffen?

Ich habe erlebt, dass Medikamente auf Dauer betäuben und etwas von der eigenen Individualität verschlucken können, vielleicht auch etwas von dem, was man Persönlichkeit oder Charakter nennt. Dass sie einen still und depressiv machen können – trotzdem oft zuverlässig helfen, Gefühle zu verdrängen, Schlaf zu finden und für viele Menschen sehr wichtig sind, um ein Leben zu führen, wie es die Mehrheit der Gesellschaft tut. Zwar blieben die Lebensfragen, die mich in die Krise gebracht hatten, nach meinem Aufenthalt ungeklärt, aber er half mir, sie zu verdrängen und sehr schnell wieder meinem Alltag nachzugehen. Ich habe während der letzten zwölf Jahre, in denen mich dieses Thema mal mehr, mal weniger beschäftigt, auch sehr empathische, selbstkritische Psychologinnen und Ärzte getroffen, denen ich dankbar bin. Aber da gibt es eben auch die strukturelle Unterdrückung, die ich in dem psychiatrischen System immer wieder spürte, überall.

Diejenigen, die als irrational gelten, werden in unserer Gesellschaft ja prinzipiell gerne bevormundet, ausgegrenzt oder beherrscht, egal ob es um Sexismus geht, um Ableismus oder Rassismus. In der Psychiatrie ist diese Beherrschung sehr unmittelbar zu spüren. Dort vermengen sich verschiedene Diskriminierungsformen, unterteilen sich Machthierarchien in »gesund« und »krank«, in Patient, Ärzte, Angehörige und Pflegerin.

Ärzte und Therapeutinnen haben gelernt, uns Verrückte anhand von Symptomen, die sie während einer oder mehrerer unserer Krisen wahrgenommen haben, in Kategorien einzuordnen, die uns einerseits helfen, Phänomene zu verstehen, uns aber ebenso einengen können. Die über unsere soziale Identität bestimmen und uns in einer Gruppe zusammenfassen. Die uns verallgemeinern und die erklären sollen, was normal und was falsch ist – und vielleicht auch, wie unser Leben weitergeht.

Gleichzeitig werden in unserer Gesellschaft derzeit so viele identitätspolitische Forderungen zu unterschiedlichen Themen laut und es gibt diverse emanzipatorische Stimmen, die mich darin bestärkt haben, selbst laut zu werden und mich gegen Verallgemeinerungen, die auf vermeintlichen biologischen Tatsachen beruhen, gegen Diskriminierung und Abwertungen zu wehren.

Trotz der Diskriminierung, die ich erlebt habe, habe ich auch viel Verständnis entgegengebracht bekommen, wenn ich mich mit meinen Erfahrungen geoutet habe. Deswegen bin ich hoffnungsvoll.

Wir leben in postnationalsozialistischen und postkolonialen Zeiten, in denen reaktionäre Kräfte an Gehör gewinnen. Zugleich sind es aber auch Zeiten, in denen Unterdrückungen historisch aufgearbeitet und den Spuren, die sie hinterlassen haben, nachgegangen wird. Zeiten, in denen biologistische Deutungen von Verhalten und Gefühlen, die sich etwa in Geschlechterrollen und Rassismen ausdrücken, einerseits in erschreckendem Ausmaß wieder an Popularität gewinnen, andererseits aber auch entschieden bekämpft werden. In diesem Spannungsfeld sollte auch eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Umgang von Verrückten ihren Platz finden – insbesondere in einer Gesellschaft, die ihre Erinnerungskultur für vorbildlich erachtet und sich Vielfalt auf die Fahne schreibt.

Ich schildere meine Erfahrungen aus der Sicht einer weißen Frau, gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass damit Leerstellen in meiner Wahrnehmung einhergehen. Ich weiß, dass ich als junge, weiße Frau anders gesehen werde als etwa ein muslimisch gelesener, älterer Mann mit arabischen Vorfahren und sich bei der gesellschaftlichen Sicht auf Verrückte jeweils verschiedene Vorurteile und Ängste überlappen. Ich will mich dem Thema ebenso aus einer intersektionalen Perspektive widmen. Gleichzeitig sind wir Verrückten insgesamt sowieso so verschieden, wie Menschen verschieden sind, auch darauf gehe ich immer wieder ein.

Mit dem Thema Psychiatrie sollten sich im Übrigen alle Menschen auseinandersetzen, nicht nur diejenigen, die psychiatrische Gewalt und Diskriminierung erlebt haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Psychiatrie ein Themenfeld ist, dem sich die gesamte Gesellschaft widmen sollte. Eine solche Auseinandersetzung erachte ich als eine Voraussetzung für eine menschliche und gerechte Gesellschaft. Und schließlich kann jede und jeder irgendwann einmal im Leben auf ihre oder seine Weise in eine schwere psychische Krise geraten, egal ob er oder sie zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft oder zum sogenannten gesellschaftlichen Rand gehört. Es weiß schließlich niemand, was er oder sie noch erlebt.

Vor allem aber ist dieses Buch in Gedenken an all diejenigen Menschen heute und gestern geschrieben, die die Unterdrückung, die sie als Verrückte erlitten haben, nicht überlebt haben. Ich schreibe dieses Buch, weil es Zeit ist, etwas an dem Umgang mit Menschen in Krisen zu ändern oder: es Zeit werden muss.

1

Mein Großvater, der Verrückte im Dorf

Wie wir im Alltag über Wahnsinn sprechen

Sprache legt uns fest, sie fängt uns auf oder lässt uns fallen wie ein Netz mit Maschen, die für manche enger und für manche gröber sind. Sie spinnt ihr Netz durch Vergleiche, Verbindungen, Metaphern und bringt darin zusammen, was sich ähnelt, aber auch, was sich völlig fernliegt.

~

Ärzt:innen gehen davon aus, dass Gene zu einem großen Teil schuld seien an den Verrückungen, darum werde ich ganz von vorne beginnen und einen großen Schritt zurückgehen, weg aus Berlin, weit hinter meinen ersten verrückten Zustand. Ich werde von einem Verrückten in meiner eigenen Familie erzählen, oder sagen wir von einem Verrückten, bei dem ich davon ausgehe, dass er ein Verrückter war. Ich werde über Hessen und das Dorf schreiben, in dem ich aufgewachsen bin und wo das Thema diskriminierungssensible Sprache, um die es in diesem Kapitel noch gehen wird, und auch andere Prozesse, die mit Antidiskriminierung und Vergangenheitsbewältigung zusammenhängen, vielleicht länger brauchen als in den Städten.

Erst vor kurzem hörte ich dort noch, wie eine Frau, ohne Irritationen hervorzurufen, sagte, dass sie »bis zur Vergasung« dies und jenes gemacht habe, um zu beschreiben, dass sie sich bei etwas sehr angestrengt hatte. In meiner Kindheit in den 1990er Jahren habe ich dort gelernt, dass man zu einer bestimmten Sorte Feuerwerkskörper »Juddeferz« sage. Vielleicht aber ist die Annahme, dass Menschen auf dem Land rückständiger seien als im Urbanen, auch ein Vorurteil, vielleicht zeigen sich dort die Überreste der NS-Zeit einfach anders. Und zwar bis heute. In der Stadt Hanau, die auch in Hessen liegt, haben sie sich 2020 nicht bloß in Worten, sondern in einem rassistischen Anschlag eines Rechtsextremen ausgedrückt, der neun Menschen sowie seine Mutter ermordet hat. Und auch die NSU-Morde wurden in deutschen Großstädten verübt, zwei davon ebenfalls mit Bezug zu Hessen. Aber das gehört zu einem zwar in Teilen verwandten, aber anderen Thema. Die Tatsache, dass die Gene mit verantwortlich seien an »psychischen Störungen« jedenfalls, bringt mich immer wieder zu der Auseinandersetzung mit meinem Großvater, dem Verrückten im Dorf.

Das hessische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und in dem mein Großvater fast sein ganzes Leben verbracht hat, ist bis heute ein bäuerlich geprägtes, auch wenn dort kaum noch aktive Bauernhöfe stehen. Es ist ein schönes Dorf mit Fachwerkhäusern, die etwas Romantisches haben. Man könnte sagen, es ist pittoresk. In dem Dorf leben etwa 2 ‌500 Einwohner:innen, außerdem gibt es Storchennester und eine schnuckelige kleine Kirche. Ich mag den Blick über die Felder. Da ist ein Feld mit einem einzigen Nussbaum in der Mitte. Ich liebe diesen Baum, es ist mein Lieblingsbaum. Als Kind mochte ich so gern den kleinen Bach, der an unserem Garten verläuft. Ich soll auch etwas Schönes über das Dorf schreiben, sagt meine Mutter, darum schreibe ich das, und es ist dort wirklich ganz schön.

Wenn meine Mutter hört, dass ich über meinen Großvater als den »Verrückten im Dorf« schreibe, beschwert sie sich. Sie sagt, das würde zwar stimmen, aber ich könne das so eigentlich nicht sagen, weil es nicht alles sei, weil es nicht sicher ist, schließlich habe mein Großvater keine Diagnose gehabt, und weil es nicht das sei, was meinen Opa charakterisiert. Dass es nicht sicher ist, dass er verrückt war, sei doch gerade der springende Punkt, sage ich, und wegen der Gene sei es für das Buch doch wichtig, das zu schreiben. Nein, sagt sie: Die Verrückungen, von denen man nicht mal wisse, ob es welche waren, und auch der Suff, all das sei eine Nebensache gewesen.

Mein Großvater, erzählt meine Mutter dann nicht ohne Stolz, war in seiner Kindheit einer der wenigen im Dorf, die auf ein Gymnasium gingen. Er lief dazu mit einer Ledertasche in der Hand zum Zug und fuhr in die nächstgrößere Stadt. Denn in dem Dorf und in den Nachbardörfern und kleinen Städten rundherum gab es kein Gymnasium. Später hat er in Kassel Kunst studiert und Soziologie im Nebenfach, manchmal ist er nach Frankfurt gefahren und hat sich in den 1950er Jahren Vorlesungen von Theodor W. Adorno angehört, der 1949 aus dem Exil in den USA nach Deutschland zurückgekehrt war. Ende der 50er haben Studierende aller möglichen Fächer in Frankfurt den Vorlesungssaal gestürmt, um sich Adornos berühmte Vorlesungen anzuhören – über die negative Dialektik und seine Kritik an der »verwalteten Welt«, der spätkapitalistischen, neofaschistischen. Frankfurt war neben West-Berlin das intellektuelle Zentrum in der Bundesrepublik – vor allem wegen der dort gelehrten Kritischen Theorie. Es war eine Zeit, in der das Erbe des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft ansonsten lieber verdrängt wurde. Auch die Morde an Menschen mit den Diagnosen »Schizophrenie« oder »manisch-depressivem Irrsein« (heute »bipolare Störung«) und die Zwangssterilisationen arbeitete damals noch kaum jemand auf.

Im Dorf jedenfalls, sagt meine Mutter, sei mein Großvater wegen seiner Bildung bewundert worden. Er hat als Lehrer gearbeitet, als Oberstudienrat. Und er sei »seiner Zeit voraus« gewesen, weil er schon Hippie gewesen sei, bevor es Hippies gab, sagt sie. Mein Großvater hat tolle Kunst gemacht, von der leider nie irgendwer etwas mitbekam, er lebte sehr zurückgezogen. Aber eines seiner Bilder hängt bei mir an der Wand, seit ich von zuhause ausgezogen bin, in jeder Wohnung, die ich seither bewohnt habe. Ich bin bis heute fasziniert von ihm. Auch wenn mir anderes, wovon meine Mutter mir erzählt hat, Angst macht.

Ich denke, dass ich ihm tatsächlich in gewisser Weise nachgeeifert bzw. etwas mit ihm gemeinsam habe – in dem Dorf würde man dazu vielleicht auch sagen, das sei »vererbt«: Wahrscheinlich bin ich auch seinetwegen nach dem Abitur nach Indien gereist, um dort sogenannte Entwicklungszusammenarbeit zu leisten, denn er ist dort selbst oft gewesen. Und meine Studienfachwahl hatte vielleicht ebenso etwas mit ihm zu tun. Mein Großvater, der starb, als ich dreizehn war, interessierte sich als Einziger aus meiner Familie ähnlich stark wie ich für Geisteswissenschaften, nicht nur für Soziologie und Philosophie, sondern auch für Ethnologie.

Genetische Voraussagen

Egal ob Interessen, Charaktereigenschaften oder eben auch die Disposition für das, was man psychische Krankheit nennt: Wir fragen uns im Alltag immer wieder, was davon in den Genen liegt, diesem scheinbar übermächtigen Gewirr an Strängen, die unser Leben prägen und bestimmen sollen. Manche glauben etwas weniger, manche etwas mehr.

Noch heute gehen »Professionelle«1 davon aus, dass die »Veranlagung« zu einer sogenannten bipolaren Störung oder Schizophrenie vererbbar sei, es aber auf äußere Faktoren ankomme, ob sie sich »manifestiert«. Wissenschaftler:innen vermuten, dass Bipolarität und Schizophrenie auf gemeinsamen »Risikogenen«2 liegen. Man spricht nicht mehr von »Erbkrankheiten«, sondern davon, dass sie unter bestimmten Umwelteinflüssen entstehen können. Auch wenn bis heute noch nicht geklärt ist, wie sich diese »Störung« genau vererbt, ist die Vorstellung der Vererbung »psychischer Störungen« fest in unserem Alltagsverständnis verankert, findet sie sich als Hypothese auf diversen Internetseiten von »Professionellen« und spielt auch in klinischen Aufnahmegesprächen eine zentrale Rolle. Manche »Professionelle« äußern sich dazu differenzierter bis skeptisch. Der Neurowissenschaftler Felix Hasler schreibt: »Es gibt nicht das Gen3 und auch nicht das Zusammenspiel einiger weniger Gene, die mit einer Schizophrenie-Erkrankung in Verbindung zu bringen sind. […] Was man hingegen findet, ist eine Vielzahl von schwachen, aber statistisch signifikanten korrelativen Zusammenhängen zwischen häufig auftretenden Genvariationen, die auch bei ganz anderen Merkmalen (ob gesund oder pathologisch) vorkommen.«

Es wäre bei all den Dingen, von denen wir meinen, dass sie vielleicht vererbbar sind, allerdings abwegig, wenn wir die Vererbung nicht auch als mögliche Ursache für Verrückungen in Betracht ziehen würden – gerade auch vor dem Hintergrund der postnationalsozialistischen Tradition. Wissenschaftler:innen im Nationalsozialismus waren etwa auch der Überzeugung, dass »asoziale Charaktereigenschaften« vererbbar seien, und ließen wohnungslose Menschen, denen sie diese Eigenschaften zuschrieben, daher zwangssterilisieren.

Und es gibt tatsächlich viele Familien, in denen mehrere Menschen Manien oder Psychosen erleben, die Wissenschaft spricht heute4 darum von »familiären Häufungen«, diverse aktuelle Forschungsergebnisse5, etwa Studien, die mit Zwillingen durchgeführt wurden, belegen sie.

Auch wenn viele Ärzt:innen ihre Patientinnen in ihrem Kinderwunsch sehr unterstützen, frage ich mich, inwiefern extrem wertende Begriffe wie »Risikogene«, wie sie heute in der Forschung verwendet werden, noch zu Diskriminierung beitragen. Schließlich überlegt man sich zweimal, ob man ein »Risiko« eingeht.

»Bist du dir sicher, dass du Kinder willst, wenn du denkst, dass das vererbbar ist?«, fragte mich kürzlich ein Freund. Es war nicht das erste Mal, dass ich so eine Unterhaltung führte. Ich fragte mich, ob Menschen, die mir diese Frage stellen, davon ausgehen, dass mein Leben nicht lebenswert sei. Auch wenn ich in meinem Leben Krisen erlebt habe, würde ich mich heute doch wieder für einen sehr lebensfrohen Menschen halten. Und aufgrund der Häufigkeit, mit der heute Menschen eine psychiatrische Diagnose bekommen, finde ich diese Frage absurd. Auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) heißt es: »Bundesweit erfüllt6 mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung.«

Jede:r müsste also eigentlich Betroffene mit irgendeiner »Störung« in der eigenen Familie haben. Allerdings soll die Wahrscheinlichkeit, eine Manie oder eine Psychose zu erleben, insgesamt geringer sein als beispielsweise die Wahrscheinlichkeit für eine Depression (jeder fünfte). Drei von hundert Menschen7 sollen von einer »bipolaren Störung« betroffen sein, ungefähr ein Prozent aller Menschen8 von Schizophrenie.

Ich habe bei ärztlichen Gesprächen, in denen es um die Vererbung ging, jedenfalls immer gesagt, dass ich vermute, dass mein Großvater bipolar war bzw. Psychosen erlebt hat, obwohl er keine Diagnose hatte. Ich komme darauf, weil mein Großvater sich manchmal sehr merkwürdig verhalten hat. Nicht normal. Und noch viel merkwürdiger, als ich selbst mich verhalten habe, als ich verrückt gewesen bin. Die Idee von der Vererbung verunsicherte mich lange. Obwohl ich mich in meinen eigenen verrückten Zuständen völlig anders verhalten habe, fragte ich mich wegen der Vererbungstheorie immer wieder: Was von seinem seltsamen Verhalten habe ich geerbt?

Er hat nie jemandem physische Gewalt angetan, aber mein Großvater hat sich manchmal sehr bedrohlich verhalten. Irgendwoher muss ich es doch haben, und wenn ich also eine Verrückte bin, muss mein Großvater doch erst recht ein Verrückter gewesen sein, dachte ich, verängstigt und verwirrt über dieses Verhalten. Ich erinnere mich, wie ich einen Freund darum verunsichert fragte, ob ich ihm, als er mich in der Psychiatrie besuchte, irgendwie bedrohlich vorkam, und er lachte und das entschieden verneint hat.

Bedrohlich und sonderbar verhalten habe sich mein Großvater immer nur dann, wenn er betrunken war, sagt meine Mutter, das habe mit bipolar überhaupt nichts zu tun. Auch ein Therapeut vermutete später, dass mein Großvater überhaupt nie manisch oder psychotisch gewesen sei, vielmehr sei er in seiner Trunkenheit einfach in einer Art Delirium gewesen. Und selbst wenn er mit seiner Einschätzung falschliegt und mein Großvater doch verrückt war, hänge dieses Verhalten sicherlich mit seiner Trunkenheit, nicht jedoch unbedingt mit irgendeiner Diagnose zusammen.

»Menschen mit psychischen Erkrankungen9 sind nicht generell gefährlicher als psychisch gesunde Menschen«, heißt es an anderer Stelle auf der Website der DGPPN. Jedoch könne es bei einzelnen Diagnosen – insbesondere im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch – vermehrt zu aggressivem Verhalten und zu Straftaten kommen. Während viele Menschen – auch aufgrund der Medienberichterstattung – davon ausgehen, dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen insgesamt gewaltbereiter sind als andere, ist das faktisch falsch.

Wolfgang Böker und Heinz Häfner forschten 1973 zu den »Gewalttaten Geistesgestörter10«, eine Forschung, die im Zusammenhang mit der sogenannten Psychiatriereform stattfand. Die Reform sollte in den 1970er Jahren dazu führen, Menschen in Krisen nicht mehr für lange Zeit in Großkrankenhäusern am Stadtrand zu verwahren, sondern stattdessen eine sogenannte gemeindenahe Versorgung herzustellen – eine Reform, die bis heute11 als noch nicht abgeschlossen gilt und von manchen gleichzeitig als umstritten angesehen wird. Die beiden fanden heraus, dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen ebenso häufig bzw. selten eine Gewalttat verüben wie die Allgemeinbevölkerung. Bei Menschen, die Psychosen erleben, haben sie eine leicht erhöhte Gewaltbereitschaft festgestellt. Der Anteil derer, die Gewalt ausüben, stehe aber immer noch »in keiner Relation12 zu Personen mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch«, schreibt der Arzt Asmus Finzen. Er verweist hier außerdem auf Menschen mit »antisozialen Persönlichkeitsstörungen«13 – die von »psychischen Krankheiten« unterschieden werden. Und folgert daraus, dass Gewalt unter »psychisch Kranken« nicht häufiger auftritt als in anderen sozialen Gruppen, als Beispiel nennt er auch »Männer im dritten Lebensjahrzehnt14«.

Studien belegen indes15, dass das Risiko für Betroffene signifikant erhöht ist, selbst Opfer von Gewalt zu werden.

Doch wir Menschen neigen dazu, zu verallgemeinern. Wenn in den Medien bei einem Attentäter der Migrationshintergrund genannt wird und dieser mit einem muslimischen Land in Verbindung steht, ist die Folge eine Zunahme von Rassismus. Und wenn in den Medien ein Vorfall benannt wird, bei dem ein Mensch in einer Psychose Gewalt anwendet, steigert das die Vorurteile gegenüber Menschen, die in ihrem Leben schon mal eine Psychose erlebt haben, selbst wenn die Statistik dagegenspricht, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Das ist nicht nur eine Angst, die sich in der Betroffenen-Community nach solchen Vorfällen ausbreitet, dazu gibt es auch Studien. Matthias Angermeyer und Kollegen führten vor und nach dem Messer-Angriff auf Oskar Lafontaine, der von einer Frau in einer paranoiden Psychose im April 1995 verübt wurde, eine Repräsentativbefragung durch und beobachteten einen Einstellungswandel16 gegenüber Betroffenen in der Gesellschaft. »Bei bis zu einem Viertel17 der Befragten nahmen Misstrauen und Ablehnung erheblich zu«, schreibt Finzen über die Ergebnisse der Studie. Solche Verallgemeinerungen können auch politische Konsequenzen haben. Als ein Mann mit Depressionen 2015 vorsätzlich den Flugzeugabsturz einer deutschen Linienmaschine herbeiführte, dachte der damalige bayerische Innenminister Joachim Herrmann darüber nach, als Folge dessen in bestimmten Beschäftigungsfeldern (Bus- oder Taxigewerbe) ein Berufsverbot für Menschen18 mit Depressionen zu verhängen. Der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach19 unterstützte Herrmann damals.

Asmus Finzen schreibt, dass nicht nur Medien verantwortlich seien für das falsche Bild des gefährlichen Verrückten, sondern auch die Psychiatrien. Letztere hätten ebenso dazu beigetragen, das Bild »vom unberechenbaren und gefährlichen Kranken« zu zeichnen. »Immerhin hat es die Psychiatrie20 über Jahrhunderte als angemessen und sinnvoll angesehen, Menschen mit psychischen Krankheiten hinter hohen Mauern in geschlossenen Anstalten zu ›behandeln‹.«

Für die Betroffenen-Community ist die Mediendarstellung von den gewalttätigen Verrückten fatal. Immer wieder, wenn von einem »verrückten« Gewalttäter die Rede ist, zucken viele Verrückte zusammen und fürchten, dass Vorurteile nun weiter zunehmen werden.

Das Problem ist, dass sich darüber wenige empören, weil viele Verrückte aufgrund des Tabus, das auf unseren Erfahrungen lastet, leise sind, weil wir zu wenig Allies haben und keine wirkliche Lobby. Vielleicht haben wir auch gerade wegen des Tabus und den vielen Vorurteilen zu wenige Verbündete, ja vielleicht, weil Menschen, die uns gerne helfen würden, Angst haben, selbst als verrückt zu gelten, sobald sie sich auf unsere Seite schlagen.

In Medien wird das stigmatisierende, falsche Bild von den gefährlichen Verrückten dadurch erzeugt, dass Medien vor allem im Zusammenhang mit Gewalttaten21 Diagnosen nennen und über Verrückte berichten. Und wenn ich an meinen Großvater denke, habe scheinbar auch ich dieses Bild übernommen, indem ich es mit einer vermeintlichen »Störung« zusammengebracht habe.

Immer wieder führen Journalist:innen Gewaltdelikte auf psychiatrische Diagnosen zurück. Als im Juni 2022 ein Mann in einem akuten psychotischen Zustand auf dem Berliner Breitscheidplatz in eine Menschenmenge gefahren ist, waren die Schlagzeilen voll mit seiner vermuteten Diagnose. Der Fahrer sei »wahrscheinlich schizophren22« (Zeit Online), es bestehe der »Verdacht auf23 paranoide Schizophrenie« (Tagesspiegel), hieß es.

»In dem Maße gar24, in dem wir nicht wissen, wo der Wahnsinn beginnt, wissen wir mit beinahe unbestreitbarer Gewißheit, was der Wahnsinnige ist«, schrieb der Philosoph Michel Foucault bereits 1961 in seinem berühmten Buch Wahnsinn und Gesellschaft. Und so erzeugten auch die Berichte über die tragische Fahrt auf dem Breitscheidplatz, bei der eine Frau ums Leben kam und mehr als dreißig Menschen verletzt wurden, wieder das Bild des gefährlichen Verrückten. Ich denke, es macht darum Sinn, die Diagnose bei Gewaltdelikten wegzulassen und sich stattdessen auf die verminderte Schuldfähigkeit25 im konkreten Moment der Tat zu konzentrieren.

Wenn Journalist:innen keine Diagnose nennen, schreiben sie häufig, dass die Person in der Vergangenheit irgendwann in ihrem Leben einmal eine psychische Krise hatte, als würde sich dadurch alles erklären – oder als könnten sie dadurch markieren26, dass die Täter:innen »anders« sind. Dieser Prozess der sogenannten »Otherings«27 ist auch dann zu beobachten, wenn Journalist:innen den Migrationshintergrund im Zug von Gewalttaten benennen. Personen, die grausame Taten begehen, müssen anders sein als die »Mehrheitsgesellschaft«, wird so suggeriert. Dabei sind Verrückte nicht gefährlicher als der Rest der Gesellschaft und Gewalttaten werden auch von Menschen verübt, die schon seit Generationen in Deutschland leben. Weder der Migrationshintergrund noch die Tatsache, irgendwann im Leben einmal eine psychische Krise gehabt zu haben, sind hinreichende Erklärungen für eine schreckliche Tat. Dennoch scheinen sie den Wunsch nach einer Erklärung zu befriedigen. Was Verrückte anbelangt, spiegeln und manifestieren sich solche Vorurteile schon im Sprachgebrauch. Und auch das »Othering« ist hier zu erkennen. Wenn jemand über Menschen als »verrückt« oder »irre« spricht, schafft das eine Distanz, sind die anderen die Verrückten, die Irrationalen, die Bösen. Wer andere so nennt, zeichnet von sich selbst das Bild des »Normalen«.

Psychisch kranke Einzeltäter

Ich verwende das Wort Verrückte in diesem Buch als Selbstbezeichnung, für mich als Person, die in ihrem Leben verrückte Zustände erlebt hat, obwohl oder weil es als Fremdbezeichnung ein diskriminierender Begriff ist. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Reclaiming, das Diskriminierungserfahrungen sichtbar machen soll. Von Reclaiming spricht man28 dann, wenn eine marginalisierte Gruppe sich einen diskriminierenden Ausdruck aneignet, um sich damit zu verteidigen: Um die Absurdität des Wortes deutlich zu machen und die Diskriminierung zu kennzeichnen, die Verrückte als Gruppe erleben. Auch die Begriffe »schwul« oder das N-Wort auf Englisch werden wie der Begriff »verrückt« oder im Englischen »Mad«29 als Reclaiming verwendet, ebenso wie das Wort »Krüppel« als Selbstbezeichnung der »Krüppel-Bewegung«. Als Fremdbezeichnung sind diese Begriffe diskriminierend, während sie als Selbstbezeichnung Ausdrücke von Empowerment darstellen.

Ich verwende den Begriff auch, weil einige Betroffene die Bezeichnung »psychisch Kranke« ablehnen, während andere darauf bestehen, sich selbst als »psychisch krank« zu verstehen, um das Leid in ihren Krisen zu betonen und wichtige Hilfsangebote zu bekommen. Dieses Spannungsfeld ist komplex und kompliziert und beide »Parteien« berufen sich darauf, mit der bzw. ohne die Bezeichnung »krank« Diskriminierung vorzubeugen. Und es gibt für beide Seiten gute Argumente.

Einige sprechen als Selbstbezeichnung auch von »Psychiatrie-Erfahrene«. Im Englischen verbreitet ist die Bezeichnung »Psychiatric Survivor«, Psychiatrieüberlebende. Diese Begriffe erlauben es, unabhängig von der Diagnose die geteilte (bei dem englischen Begriff vor allem leidhafte) Psychiatrie-Erfahrung hervorzuheben.

Während der Begriff »Psychiatrieüberlebende« in anderen Ländern weiter verbreitet ist, gilt er in Deutschland bei vielen als umstritten, weil er an die sogenannte »Euthanasie« in der NS-Zeit erinnert und als »zu radikal empfunden30« wird.

Das Wort Verrückte wird von Psychiatrie-Erfahrenen, die Manien oder Psychosen erlebt haben, häufig als Selbstbezeichnung verwendet – gerade dann, wenn sich Betroffene kritisch mit der Psychiatrie auseinandersetzen. Auch einige kritische »Professionelle« verwenden diesen Begriff. Oft wird »ver-rückt« auch mit Bindestrich geschrieben. Das Wort beschreibt damit auch den aktiven Vorgang des Verrückens, wie wenn man ein Objekt verrückt. Es beschreibt somit auch die Verschiebung in der Wahrnehmung der Realität während verrückter Zustände. Und es beschreibt die Tatsache, dass Angehörige Verrückte in diesen Zuständen manchmal kaum wiedererkennen, während manche Betroffene davon berichten, sich selbst dann besonders nah zu sein. Die Philosophin und Ärztin Andrea Moldzio schreibt von einer »›Verrückung‹ des Daseins31«, die sich »hervorragend an der Schizophrenie studieren« lasse, denn diese »Erkrankung« führe »dem Menschen doch seine Vulnerabilität und Zerbrechlichkeit, sein Ringen um Selbst- und Weltfindung sowie die Gefahren des Selbst- und/oder Weltverlustes« vor Augen.

Ich finde, dass das Wort noch etwas anderes gut beschreibt – und zwar das gedankliche und tatsächliche Verrücken der Betroffenen an den sogenannten gesellschaftlichen Rand. Während sich das im Zuge der Einführung der Psychiatriereform sozusagen räumlich auflösen sollte, indem Betroffene gemeindenah versorgt wurden, hat sich die Idee, dass Menschen durch psychische Krisen an den »gesellschaftlichen Rand« rücken, gehalten – ich merke das auch bei mir selbst als eine, die immer wieder betont, »normal« zu sein oder Leistungen erbracht zu haben. Ich ertappe mich außerdem manchmal noch selbst dabei, dass ich überrascht bin, wenn ich in Runden von betroffenen Menschen sitze, die angesehenen Berufen nachgehen, obwohl ich längst weiß, dass es unter uns Verrückten selbstverständlich auch praktizierende Richterinnen, Polizisten, Filialleiterinnen, Lehrer, Journalistinnen und Ärzte gibt. Auch in einem aktuellen medizinischen Fachbuch, das ich während meiner Recherche lese, ist die Rede davon, dass Manien zu einem sozialen Abstieg führen32 würden – ohne dies konkret zu spezifizieren. Offen bleibt, was mit sozialem Abstieg gemeint ist, welche Rolle dabei die sogenannte neurobiologische Störung selbst spielt, welche der gesellschaftliche Umgang und fehlende adäquate psychiatrische Versorgung von Betroffenen. Es erweckt den Anschein, als ginge der »soziale Abstieg« als Folge notwendig aus der »Krankheit« selbst hervor.

Das Reclaiming verrückt beschreibt auch einen Paternalismus, und zwar die Tatsache, dass wir Verrückten von anderen gern wie ein Objekt herumgerückt werden. Das Wort Verrückung zeigt auch, dass andere uns gerne in eine Kategorie schieben und verallgemeinernd über uns sprechen und uns, wie im Folgenden noch deutlich werden wird, benennen, uns einordnen und über uns entscheiden.

Im Alltag benutzen wir die Worte »verrückt«, »irre« oder »wahnsinnig« entweder, um ein Extrem auszudrücken, oder gefährliches Verhalten zu beschreiben oder etwas, das wir nicht nachvollziehen können und das wir ablehnen.

»Wie krank« ist während eines Gespräches mit anderen Journalistinnen als Beschreibung für unfaires Verhalten gefallen. »Ich habe mir einfach gedacht, das ist ein ›Verrückter‹ und habe ihn nicht ernst genommen«, sagte die eine, als es um Hasskommentare und Morddrohungen aufgrund einer Berichterstattung ging. »Welche Störung hat der denn?«, fragte eine andere, als sich das Gespräch um diskriminierendes und sexistisches Verhalten von einem Kollegen in einer Redaktion drehte. Es waren Journalistinnen, die sich in ihrer Arbeit engagiert mit Sexismus, Rassismus, Feminismus und anderen brisanten, gesellschaftskritischen Themen unserer Zeit auseinandersetzen, die sprachsensibel sind und für Diversität plädieren und die ich als Menschen und Kolleginnen schätze. Und mir fällt auf, wie wenig Sensibilität für das Thema herrscht, obgleich doch so viele Menschen in unserer Gesellschaft irgendeine Diagnose haben.

Ratlos fragte ich mich, ob sie nicht merken, wie sie mit ihren Aussagen andere Menschen diskreditieren, und zwar diejenigen, die tatsächlich irgendeine psychiatrische Diagnose haben. Ich frage mich, ob ihnen klar ist, was sie eigentlich damit sagen, wenn sie meinen, dass man Verrückte nicht ernst nehmen soll. Ich frage mich, wo es hinführt, menschenfeindliches, sexistisches Verhalten als krank zu bezeichnen, und stelle fest, wie gravierend ihre Äußerungen sind.

Überall wird in unserer gegenwärtigen Gesellschaft Verhalten, das schädlich, unverständlich, gefährlich, verboten, unfair oder schlichtweg falsch ist, im Alltag als »psychisch krank« interpretiert. Menschen, die mit Klimaaktivist:innen sympathisieren, sprechen von »Wahnsinn«, wenn sie das Abbaggern der Braunkohle33 verurteilen. Die Terror-Organisation »Hamas« wird »verrückt« genannt, wenn sie ein brutales Massaker34 an israelischen Zivilist:innen verübt. Und wenn Jugendliche Feuerwerkskörper auf Polizisten35 werfen, werden sie in den Medien als »irre« bezeichnet. Dasselbe gilt übrigens auch für steigende Energiepreise36 aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Und wenn Grünen-Politiker:innen in Bezug auf den Braunkohleabbau im Rheinland ihre Meinung ändern, heißt es auf Plattformen37 wie Twitter bzw. X, sie hätten eine »bipolare Störung« oder seien »schizophren«. Ich brauche meine Timeline nur hoch- und runterzuscrollen oder den Fernseher anzumachen, ständig begegnen mir diese Begriffe in allen möglichen, völlig unpassenden Kontexten. Das Wort »krank« wird als Metapher gebraucht – sozusagen als Kurzform für »psychisch krank«. Asmus Finzen schreibt, die metaphorische Verwendung des Wortes »schizophren« habe »entscheidenden Anteil an der Stigmatisierung, der Beschädigung der Identität38« von Betroffenen.

Dass Menschen im Alltag Fehlverhalten als »krank« bezeichnen und das Wort als Beleidigung benutzen, ist fatal – nicht nur, weil es Menschen, die tatsächlich eine Behinderung oder eine Diagnose haben und/oder sich akut in einer psychischen Krise befinden, diffamiert und diskriminiert, sondern auch, weil es Gesetzesbrüche, Verbrechen, Fehlverhalten und Notstände, Gesinnungswechsel, die eine Auseinandersetzung notwendig machen würden, als neurobiologische Störung vereinfacht, die Verhalten begründen und entschuldigen soll. Überhaupt ist es ja nicht etwa so, dass sich verrückte Zustände oder Behinderungen dadurch auszeichnen, dass die Menschen, die sie erleben, sexistisch, unfair, gefährlich, menschenverachtend und gemein sind oder ihre Meinung ändern, auch wenn all das, wie überall sonst, natürlich auch in Manien und Psychosen vorkommen kann. Es sind jedenfalls keine Diagnosekriterien, so äußern und verhalten sich Menschen auch dann, wenn sie aus klinischer Sicht völlig normal sind. »Jugendliche, die in der U-Bahn39 ohne Anlass Rentner zusammenschlagen, oder Hooligans, die Konzerthallen oder Sportstadien kurz und klein schlagen, sind nicht krank«, schreibt Asmus Finzen. »Sie mögen angetrunken sein. Aber das ist etwas anderes: Nein, sie sind böse40, aber sie sind normal.« Dasselbe gelte für »Generäle, die in Bürgerkriegen ihre Landsleute abschlachten lassen oder in ethnischen Konflikten zu Massenmördern werden«, und auch für »Nazi-Schergen […], die hinter der Front oder in Lagern millionenfach gemordet haben«.

Es ist in unterschiedlicher Hinsicht problematisch, das beschriebene Verhalten fälschlicherweise als »krank« zu bezeichnen. Dennoch kommt es vor, dass sogar Institutionen, die sich mit Erinnerungskultur auseinandersetzen, beispielsweise von einer »wahnhaften NS-Ideologie41« sprechen. Wenn sich Menschen tatsächlich im medizinischen Sinne in einem Wahn befinden, sind sie nur vermindert schuldfähig. Die Bezeichnung »wahnhaft« im Sinne der NS-Ideologie sorgt also nicht zuletzt auch dafür, ihre Anhänger:innen implizit von ihrer Schuld zu befreien. Das Fatale ist doch gerade, dass die Nationalsozialist:innen gewählt und ihre Taten durch ganz normale Menschen verübt wurden, nicht die Täter:innen waren »psychisch krank«, vielmehr fielen ihnen eine große Zahl an Menschen mit psychiatrischen Diagnosen zum Opfer.