Unter weitem Sternenhimmel: Drei Romane in einem eBook - Linda Cuir - E-Book
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Unter weitem Sternenhimmel: Drei Romane in einem eBook E-Book

Linda Cuir

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Beschreibung

Vor ihr endlose Weiten, am Horizont nur das Leuchten der Sehnsucht: Drei träumerische Romane in einem Band – »Unter weitem Sternenhimmel« jetzt als eBook bei dotbooks. Drei Länder, drei Jahrhunderte und drei starke Frauen, die niemals aufgeben, für ihr Glück zu kämpfen! Ceylon, 1960: Mit ihrem unbändigen Willen verzaubert die junge Teepflückerin Anjali den Engländer Tom. Er nimmt sie mit auf eine Reise um die Welt – aber Neid und Missgunst werfen bald einen Schatten auf ihr Glück … Schon immer hat das alte Thailand die Historikerin Lena fasziniert. Doch als ihr ein antikes Manuskript in die Hände fällt, fühlt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und einer Frau, die im 17. Jahrhundert am thailändischen Königshof lebte … Begeistert nimmt die Tierärztin Anna das Angebot einer Afrikareise an: auf zu neuen Abenteuern! Wenn da nur nicht der charmante Sohn ihrer Arbeitgeberin, der Gräfin von Lichtenfels wäre, zu dem Anna sich mehr und mehr hingezogen fühlt – denn ihre Liebe darf nicht sein … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Sammelband »Unter weitem Sternenhimmel« mit den Bestsellern »Der Himmel über Ceylon« von Linda Cuir, »Das Geheimnis des Schmetterlings« von Constanze Wilken und »Jenseits der Grillenbäume« von Virginia Canetta. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1287

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Über dieses Buch:

Ceylon, 1960: Mit ihrem unbändigen Willen verzaubert die junge Teepflückerin Anjali den Engländer Tom. Er nimmt sie mit auf eine Reise um die Welt – aber Neid und Missgunst werfen bald einen Schatten auf ihr Glück … Schon immer hat das alte Thailand die Historikerin Lena fasziniert. Doch als ihr ein antikes Manuskript in die Hände fällt, fühlt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und einer Frau, die im 17. Jahrhundert am thailändischen Königshof lebte … Begeistert nimmt die Tierärztin Anna das Angebot einer Afrikareise an: auf zu neuen Abenteuern! Wenn da nur nicht der charmante Sohn ihrer Arbeitgeberin, der Gräfin von Lichtenfels wäre, zu dem Anna sich mehr und mehr hingezogen fühlt – denn ihre Liebe darf nicht sein …

Eine Übersicht über die Autoren finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Sammelband-Originalausgabe April 2020

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München. Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/Ekateryna Zubal, Khomenko Maryna, Voldomyr Goinyk, chitsanupong pkadeekui, VICUSCHKA, suns07butterfly & Subbortina Anna

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-063-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Unter weitem Sternenhimmel

Drei Romane in einem eBook

dotbooks.

Linda CuirDer Himmel über Ceylon

Ceylon, 1960: Der jungen Teepflückerin Anjali ist ein hartes, entbehrungsreiches Leben vorherbestimmt. Doch sie will sich nicht in ihr Schicksal fügen und kämpft mutig gegen Ausbeutung und Unrecht an. Mit ihrem unbändigen Willen und ihrer exotischen Schönheit verzaubert sie den Engländer Tom: Er besorgt ihr eine Anstellung im Haus seiner adligen Eltern – und öffnet ihr damit die Tür in eine ganz neue Welt! Entschlossen ergreift Anjali diese Chance: Sie reist bis nach Paris und London, um ihren Traum von einer besseren Zukunft zu verwirklichen. Dennoch kann sie Ceylon nie vergessen, das Land, in dem sie ihr Herz verlor …

Für Bernd

»Wenn dir kalt ist, wird Tee dich wärmen,

wenn du erhitzt bist, wird er dich abkühlen,

wenn du bedrückt bist, wird er dich aufheitern,

wenn du erregt bist, wird er dich beruhigen.«

William Gladstone (1809–1889),

englischer Pazifist und Politiker

Prolog

Kandy, 1971

Nichts war mehr wie vor einer Woche. Der Brief, die überhastete Abreise aus London und die Angst vor diesem Tag zerrten an ihren Nerven. Fragen über Fragen tauchten auf, und sie schaffte es nicht, die kreisenden Monster zu verscheuchen.

Anjali sprang aus dem Bett, griff nach ihrem seidenen Morgenmantel und lief im Wohnraum der Hotelsuite auf und ab. Dabei zählte sie jeden Schritt und blickte immer wieder auf ihre Armbanduhr, aber die Zeit an diesem Morgen schien stillzustehen. Noch herrschte Ruhe in dem dreistöckigen Hotel. Sie hörte nur das gleichmäßige Rotieren des Deckenventilators, der die stickige Luft durchschnitt.

Was war mit ihr geschehen, wo war ihre Selbstsicherheit geblieben?

Anjali zog das vorher versiegelte Couvert aus weißem Büttenpapier, das ihr Sir Geoffrey bei ihrer Ankunft in Colombo vor zwei Tagen übergeben hatte, aus der Handtasche, die auf dem Couchtisch stand. Splitter des zerbrochenen Siegels fielen zu Boden. Als wöge er ebenso viel wie die Last, die sein Inhalt mit sich führte, hielt sie den Briefbogen mit beiden Händen. Den Inhalt kannte sie längst auswendig, und doch las sie die mit blauer Tinte eng aneinandergereihten Worte wieder und wieder, bis sie das Gefühl hatte, mächtige Wellen schlügen über ihr zusammen und zögen sie in die Tiefe. Sie legte den Brief auf den Schreibtisch und öffnete die Vorhänge. In diesem Augenblick tauchte die Sonne hinter den Bergkuppen auf, Nebelfetzen stiegen aus den Büschen und Bäumen auf. Die Feuchtigkeit der Nacht lag noch schwer auf den Blättern und tropfte glasperlenartig zur Erde. Anjali drückte die Stirn an die Fensterscheibe und schloss die Augen. Ihr Herz raste. An diesem Tag würde sie endlich ihr Versprechen einlösen können, ein Versprechen, das sie den Göttern vor über elf Jahren in dem Tempel von Nuwara Eliya gegeben hatte. Sie atmete tief durch und ging hinüber in den Vorraum.

Dort lag ihr Krokodillederkoffer noch unausgeräumt auf dem Traggestell. Am Vorabend waren sie so spät hier oben in Kandy eingetroffen, dass sie weder der Hausdame noch ihrem Butler das Auspacken zumuten wollte. Anjali suchte den ausgeblichenen, ehemals blauen Sari heraus. Aus der Reisetasche fischte sie die alten Gummilatschen – oder was von ihnen übrig geblieben war. Anjali huschte ins Badezimmer und richtete ihre Cremedosen und Parfümflaschen auf der Marmorplatte aus, als seien es Soldaten an der Front, bevor sie in die Dusche stieg. Minutenlang ließ sie Wasser über ihren schlanken Körper laufen. Langsam beruhigte sich ihr Pulsschlag.

Sorgfältig bürstete sie ihre Augenbrauen und langen Wimpern, putzte sich die Zähne und cremte die schmalen Lippen ein. Auf Make-up und Schmuck verzichtete sie. Das schwarze Haar fasste sie mit einer schlichten Hornspange zusammen und legte den Sari an.

Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild und verließ die Suite.

Anjali betrat den Frühstücksraum. Den Zimmerschlüssel trug sie sichtbar in der Hand. Die neben dem Empfangspult wartenden Angestellten musterten sie. Selbst die wenigen Gäste in dem Raum verstummten und blickten erstaunt. Der Oberkellner in weißer Livree und mit pomadigem Haar kam ihr entgegen. Sein Gruß bestand aus einer wortlosen förmlichen Verbeugung. Sie wünschte ihm lächelnd einen »Guten Morgen«. Er begleitete sie zu einem Fenstertisch und legte ihr die Frühstückskarte vor.

In der Nähe hörte sie die Ober neugierig tuscheln. Anjali konnte sich denken, dass sie noch nie eine in solch schäbige Lumpen gekleidete Frau mit einer derartig selbstbewussten Ausstrahlung getroffen hatten.

»Tee mit Zitrone, bitte«, bestellte Anjali bei dem Kellner.

Er brachte eine kleine Silberkanne, schaute Anjali bewundernd an und stellte dabei die Kanne zu heftig auf den Tisch. Tee schwappte auf das Tischtuch. Zitronenscheiben hatte er vergessen oder absichtlich weggelassen. Stattdessen stellte er wortlos ein Kännchen Milch dazu, als wollte er damit andeuten, wie Tee nach englischer Art getrunken wurde.

Anjali goss den duftenden Tee in die Tasse, kleine, sich zu einem Kreis zusammenschließende Bläschen bildeten sich an der Oberfläche. Einen »Kuss der Götter« hatte ihre Mutter es genannt. Gedankenversunken blickte Anjali in die Teetasse und betrachtete das zarte Gebilde. Sie mochte es nicht zerstören.

»Guten Morgen, Memsahib«, hörte Anjali eine Stimme wie aus weiter Ferne und sah hoch. Bob, ihr englischer Butler, stand, wie immer perfekt in dunklem Anzug gekleidet, neben dem Tisch. Über dem Arm trug er ihren Mantel. Er blickte seine Chefin befremdlich an, ließ seinen Blick über ihre ungewohnte Kleidungswahl huschen, wagte aber nicht zu fragen. »Bitte, wir sollten aufbrechen, der Wagen steht bereit.«

Anjali brauchte einige Sekunden, bevor sie in die Wirklichkeit zurückfand. Der Tee war inzwischen kalt, der »Kuss der Götter« verschwunden. »Bob, ich brauche heute keinen Mantel.«

Sein ungläubiges Gesicht amüsierte sie. »Memsahib, wissen Sie nicht, wie kühl es in den Bergen sein kann?«

»Selbstverständlich. Ich wurde dort oben geboren und spürte Tag für Tag Hunger und Kälte. Doch die Götter haben mich für ein anderes Leben auserwählt. Und nenne mich nicht Memsahib, sondern Madame wie in England.«

»Ich werde Sie Memsahib nennen, das passt besser zu Ihnen. Natürlich nur, wenn Sie erlauben«, fügte er rasch hinzu, verbeugte sich knapp und strich dabei verlegen über den Mantel.

Anjali sah ihn an und nickte. »Bob, richten Sie dem Chauffeur bitte aus: Bevor wir zur Plantage fahren, möchte ich zum Tempel von Nuwara Eliya. Ich will den Göttern danken und sie gütig stimmen.«

Bob stellte sich hinter ihren Stuhl, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie suchte mit den Füßen nach den Gummitretern, die sie unter dem Tisch ausgezogen hatte – auch nach all den Jahren konnte sie Schuhe noch immer nicht leiden –, schlüpfte hinein, stand auf und schritt in ihrem schäbigen Sari zum Ausgang. Der Türsteher öffnete ihr höflich die Tür, so wie er es bei allen Gästen tat. Die Goldknöpfe seiner Uniform glänzten in der Morgensonne. Anjali dankte ihm, und Bob drückte ihm einen Rupienschein in die Hand. Die Kühle der Nacht war feuchter Wärme gewichen. Anjali blieb stehen, atmete tief ein und beobachtete die weißen Wolkengebilde, die sich langsam über den blauen Himmel schoben. Wieder einmal bemerkte sie, wie sehr sie die Schwüle, das Singen der Vögel und dieses helle Licht in England vermisste. Einige lärmende Touristen drängten neben ihr durch die Tür und eilten zu einem bei laufendem Motor wartenden Bus.

»Wie kann sich die Frau so ein teures Hotel leisten?«, fragte eine dickliche Engländerin und zeigte mit der Hand in Anjalis Richtung.

»Sicherlich hat sie einen spendablen Liebhaber. Sieht ja umwerfend aus«, antwortete ein Rothaariger und kicherte.

»Bis vor kurzem hätte man eine derart ärmlich gekleidete Person in diesem Hotel nicht angetroffen«, sagte eine andere Frau.

Den folgenden abfälligen Bemerkungen hörte Anjali nicht mehr zu. Sie kannte Bob lange genug und spürte seinen aufsteigenden Ärger. Er wollte etwas auf die Ungehörigkeiten seiner Landsleute erwidern, aber sie legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Bitte, Bob, ich wünsche keinen Wortwechsel.«

»Was bilden die sich ein?«, zischte Bob und blickte sich suchend nach dem Fahrer um. Der lag dösend etwas entfernt im Schatten eines gigantischen Frangipani, dessen Blütenduft schwer in der Luft hing.

»Hari!«

Bobs Rufen schreckte ihn auf. Der schmächtige Mann stürzte herbei, verbeugte sich ungeschickt und öffnete Anjali die hintere Wagentür. »Bitte, Memsahib, entschuldigen Sie, aber ich habe Sie zwischen den anderen Gästen nicht gesehen.«

Seine Worte nahm sie kaum zur Kenntnis. Sie ärgerte sich noch immer über die bornierten Engländer und sank in den Sitz des Autos. Sie fühlte sich mut- und kraftlos. Diesen Zustand kannte sie nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Waren es die gehässigen Bemerkungen gewesen, die sie so getroffen hatten? Sie fand keine Erklärung für die Stimmungsschwankungen und begann, an dem geplanten Vorhaben zu zweifeln. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, der Puls raste. Sie spürte wildes Klopfen an den Schläfen. War es Angst vor dem Wiedersehen mit den Teepflückerinnen ihres ehemaligen Zuhauses? Oder der Gedanke an die Mutter, die diesen Tag nicht mehr erleben durfte? Übelkeit stieg in ihr hoch.

»Hari, halt an!« Anjali wartete nicht, bis ihr der Fahrer die Tür öffnete. Sie drängte hinaus, sobald das Auto zum Stehen kam, und ließ sich auf eine Bank fallen. Sie wollte nur einige Minuten hier sitzen und über den ruhig vor ihr liegenden See blicken, in dessen Wasser sich die weißen Fassaden des Zahntempels spiegelten. Das goldene Dach des Haupttempels glühte im Sonnenlicht. Hier wollte sie bleiben – die Stille spüren. Sie schaute hinüber auf die umliegenden hohen Berge mit dem verschiedenen Grün der unzähligen Teesträucher. Drei junge Mönche in leuchtend orangefarbenen Gewändern schritten schweigend an ihr vorüber.

Interessiert sah sie ihnen hinterher. Weshalb hatten die Männer mit den kahlgeschorenen Köpfen die Armut, diese Besitzlosigkeit freiwillig gewählt? Gerne würde Anjali sie fragen, aber sie unterdrückte den Wunsch. Sie wollte nicht stören. Die Mönche wirkten so in sich gekehrt, so friedlich.

»Memsahib, es ist höchste Zeit, wir können in den Bergen nicht so schnell fahren«, rief Bob.

»Ja!« Anjali holte tief Luft, es gab kein Zurück. Sein Rufen hatte den Zauber der Stille zerstört. Sie stand auf, blickte ein letztes Mal über den See und auf die sich entfernenden Mönche. Langsam überquerte sie die Straße, stieg in den Rolls-Royce und lehnte sich zurück in das bequeme Polster. Ihr Begleiter schwieg. Anjali schloss die Augen. Das leise Surren des Motors tat ihr gut.

Teil IEine bessere Welt

Kapitel 1

McGlover-Plantage, nahe Nuwara Eliya, 1960

Weit unten im Tal, im Schatten der mit Teesträuchern bewachsenen Hügel und Berge, standen die Verschläge der Teepflückerinnen. Einige der Hütten bestanden aus Lehm, andere aus zusammengetragenen Brettern und Blechteilen, und nur wenige der armseligen Behausungen besaßen eine Öffnung, durch die Tageslicht einfallen konnte. Poinsettia und weitere mächtige Grünpflanzen verdeckten den zwischen den Hütten umherliegenden Unrat, und milchig weiße Wasseradern durchzogen die dunkle Erde.

An diesem Tag trommelte Regen auf das geflickte Wellblechdach, und der Wind pfiff um die Behausung. Mächtige Blätter strichen über die Außenwände, als wollten sie die rauen Stellen glätten. Kleine Rinnsale drückten sich durch Ritzen in das Innere der Hütte. Anjali fror und knetete mit den Händen ihre Arme und Beine, rollte sich wie ein Embryo zusammen und rückte näher an ihre Mutter, denn die Feuchtigkeit der Erde durchdrang inzwischen die Kokosmatte, auf der sie sich zusammendrängten. Auch der als Decke dienende Jutesack konnte beide nicht ausreichend schützen – weder vor der Kälte noch vor der Feuchtigkeit –, deshalb zog Anjali Teile eines Kartons, die an der Wand lehnten, über ihre Körper.

Sita, Anjalis Mutter, bemerkte nichts von ihrer Unruhe. Sie lag bewegungslos auf der Matte, atmete tief und gleichmäßig, völlig erschöpft vom tagtäglichen Tragen der schweren Kiepe und dem unendlichen Klettern über Berge und Hügel.

Viele Stunden überlegte Anjali in der Dunkelheit, wie sie der Mutter erklären sollte, dass sie am kommenden Tag – ihrem 16. Geburtstag – nicht mit hinauf zum Pflücken gehen würde. Sie legte sich Ausreden zurecht, verwarf sie wieder und suchte nach neuen Formulierungen, aber etwas wirklich Glaubwürdiges fiel ihr nicht ein. Endlich entschied sie, Sita die Wahrheit zu sagen. Nichts konnte sie von ihrem Vorhaben abbringen. Seit Tagen spürte sie eine unerklärliche innere Unruhe und deutete es als Zeichen der Götter, weshalb sie beschlossen hatte, den Tempel von Nuwara Eliya zu besuchen. Wie besessen war sie von dem Gedanken, etwas an ihrem trostlosen Leben zu ändern, obwohl sie wusste, dass ihre Jati, ihre Geburtsgruppe, eine Veränderung im Diesseits nicht vorsah.

Vorboten des Morgens fielen durch die Ritzen der ungenügend schließenden Bretter, die als Tür dienten. Noch immer regnete es in Strömen, als es Zeit war, aufzustehen. Die Mutter erwachte und wickelte sich ihren Sari um den bibbernden Körper. Schuhe besaßen sie beide nicht. Während sie ihre morgendlichen Portionen Reis aßen, wagte Anjali sich leise vor: »Mutter, ich geh heute nicht pflücken.«

»Bist du verrückt? Wenn dich die Vorarbeiter erwischen, verprügeln sie dich! Vielleicht jagen sie dich auch von der Plantage. Schlimmeres will ich mir lieber nicht vorstellen.«

»Ist mir egal«, sagte Anjali trotzig. »Ich will zum Tempel nach Nuwara Eliya und die Götter um ein anderes Leben bitten.«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Anjali, das ist doch viel zu weit.«

»Egal«, entfuhr es Anjali. »Ich will hier nicht vermodern und ein Balg von einem schmierigen Aufseher angedreht kriegen.«

Die Mutter schaute sie ungläubig an und lächelte gequält.

Seit Anjali denken konnte, hatten nur ihre Mutter und sie in der Hütte gelebt. Als sie älter geworden war, hatte sie nach ihrem Vater gefragt. Ein bitterer Zug hatte sich um Sitas Mund gebildet. Sie hatte geschwiegen. Eines Tages hatte Anjali aus der Nachbarhütte die groben Befehle eines Aufsehers und die darauf folgenden Schreie eines Mädchens gehört. Danach wollte sie den Namen ihres Vaters nicht mehr wissen.

»Ich sage, du bist krank.«

»Und wenn mich einer sieht?«

»Dann bin ich auch dran!« Die Mutter band sich ihre Kiepe um die Stirn, griff nach dem Stock, der sie vor Schlangen schützen sollte, die zwischen den Teebüschen lauerten, und verließ ohne ein weiteres Wort die Hütte.

Anjali wischte Reisreste aus dem Blechnapf. Die Opfergabe legte sie auf einem Blatt auf den Altar, der seit unzähligen Jahren an einer geschützten Stelle vor der Hütte stand. Dann pflückte sie einige Blüten von den Zistrosen und schmückte den kleinen Altar in der Ecke ihrer Hütte.

Aus der Ferne konnte sie die leiser werdenden Gesänge der Teepflückerinnen hören, die durch die grünen Büsche die Hänge hinaufzogen. Als die Teepflückerinnen und Aufseher außer Hörweite waren, rannte Anjali den schmalen Sandweg hinauf, bis sie die Straße erreichte, die Colombo mit Nuwara Eliya verband. Sie lief am Rand der geteerten Straße, Autos fuhren durch die riesigen Pfützen, die sich in dem löchrigen Asphalt gebildet hatten. Die steilen Hänge der Teeplantagen reichten bis an den Straßenrand und verhinderten ein Ausweichen, so dass Anjali nach mehreren Stunden Fußmarsch ihr Ziel völlig durchnässt erreichte. Sie war müde, hungrig und durstig, aber die Sicht auf die Tempelanlage von Nuwara Eliya überraschte sie derartig, dass sie all ihre Mühen vergaß. So gewaltig und schön bunt hatte sie sich die Gebäude nicht vorgestellt. Überall an den Fassaden hingen oder standen Gottesfiguren in unfassbarer Größe, und jede dieser Figuren war durch eine andere Farbe geschmückt. Sie verzierten Vorsprünge und kleine Dächer. Selbst die runden Kuppeln waren mit rosa, hellblauen, grünen oder goldenen Ornamenten, Steintieren und Götterstatuen verschönert. Über dem Eingang saß Ganesha, der elefantenköpfige beleibte Gott. Ihre Mutter hatte Anjali oft von den Göttern erzählt, wenn sie vor dem Schlafengehen eine Weile neben der Hütte unter den Bäumen gesessen hatten. Ganesha schenkte Weisheit und war Beseitiger von Hindernissen, Gott des Anfangs und auch des Erfolgs. Anjali ließ ihren Blick nicht von ihm. Ob er sie wohl bemerkte? Der feiste Ganesha liebte Süßes, erinnerte sie sich an Sitas Worte, aber sie besaß nichts – Rupien, um etwas zu kaufen, schon gar nicht.

Anjali schaute lange zu der Statue hoch, bevor sie eine zierliche, sorgfältig gekleidete ältere Europäerin bemerkte, die wenige Meter von ihr entfernt stand. Das Gesicht der Frau wurde teilweise durch einen breitkrempigen Strohhut verdeckt, trotzdem entging Anjali nicht, dass die Frau sie aufmerksam betrachtete. Unerwartet öffnete die alte Dame die Handtasche, kramte darin herum, kam näher und streckte ihr wortlos eine Handvoll Bonbons entgegen.

Anjali zauderte. Gerne hätte sie das seltene Geschenk selbst gelutscht, dann besann sie sich und legte die Süßigkeiten zu den anderen Opfergaben. Wie sollte Ganesha ihr helfen, wenn sie nicht einmal bereit war, ihm dieses kleine Opfer darzubringen?

Gerade wollte Anjali den Tempel durch das Tor betreten, da wurde sie von einem Aufseher aufgehalten. »Bleib stehen! Du weißt genau, dass eine Dalit den Tempel nicht betreten darf!«

Mit dem Handrücken fegte er ihre Opfergaben vom Steintisch. Anjali bückte sich rasch nach den umherfliegenden Bonbons, aber zwei Tempelbesucher waren schneller. Der eine trat ihr auf die Hand, so dass sie nicht mehr danach greifen konnte.

Woher wusste der Aufseher, dass sie eine Dalit, eine Unberührbare, war? Vermutlich hatten sie die vom Pflücken verfärbten Hände und der ärmliche Sari verraten. Den Tempel besuchen, den Boden mit Schuhen betreten und mit Menschen höherer Kasten zusammen aus einem Brunnen trinken – all das waren nur einige der Dinge, die ihr als Dalit verboten waren. Sie ging traurig ein Stück zurück, setzte sich auf den Boden und blickte zu Ganesha hoch. Nicht einmal für ein Räucherstäbchen besaß sie Geld. Wie sollte sie ohne Opfergaben die Götter gütig stimmen und sie bitten, ihr Schicksal zu ändern?

Der grauhaarige Aufseher in seinem schmuddeligen Dhoti, dem langen, an der Hüfte geknoteten und um die Beine geschlungenen Tuch, kam näher und sah sie böse an. Anjali stand rasch auf, ging noch weiter zurück und schaute hinauf zu den Göttern. »Warum lasst ihr das zu?«, fragte sie. »Ich bitte doch nur um ein anderes Leben!«

In Gedanken hörte sie die Mutter: »Anjali, wie dumm bist du eigentlich? Dein Leben wird sich nie ändern, du kennst deine Jati.«

Tränen kullerten ihr über die Wangen. Mit dem Handrücken wischte sie sie fort. Es war ihr völlig egal, welches Leben die Götter ihr bescherten. Sie wollte nur weg aus dem elenden Dasein auf der Plantage.

Unerwartet brachen die dicken, grauen Regenwolken auseinander, und die Sonnenstrahlen ließen die Farben des Tempels noch kräftiger leuchten.

Sie sah zur Seite. Neben dem Tempeleingang stand zwischen Einheimischen ein junger Mann, dessen Haarfarbe dem Fruchtfleisch der Papaya glich und dessen Haaransatz seitlich der Stirn trotz seiner Jugend bereits zurückwich. Seine buschigen Augenbrauen sahen aus wie getrocknetes Gras. Seine ebenmäßige Nase war leicht gerötet, und Anjali hatte das Gefühl, als beobachtete auch er sie. Verschämt sah sie weg. Doch die Neugier siegte. Sie blickte wieder zu ihm. Der schlanke Mann lächelte. Anjali war verwirrt. Weshalb lächelte er? Nie lächelte sie jemand an. Wegen ihrer für eine Hochlandtamilin ungewöhnlich hellen Haut und der grünen Augen und auch wegen ihrer Größe wurde sie auf der Plantage als »Fluch der Götter« verspottet und von fast allen gemieden.

Der europäisch aussehende Mann musterte sie von Kopf bis Fuß. Er gefiel ihr, er überragte genau wie sie die Einheimischen um mehr als eine Haupteslänge. Er zögerte, doch dann kam er auf sie zu. Im Näherkommen konnte sie seine Augen erkennen. Sie waren tiefblau wie der Himmel an einem wolkenlosen Tag. Eine derartige Augenfarbe hatte Anjali noch nie gesehen. Sie spürte ein angenehmes Gefühl in der Bauchgegend.

»Kann ich dir helfen?«

Anjali schüttelte den Kopf.

»Du weinst doch nicht grundlos und hast nach den Göttern gerufen, ja, fast geschrien«, sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme. »Ich habe dich beobachtet. Ein derart außergewöhnliches Mädchen mit flaschengrünen Augen fällt mir auf.« Er grinste erneut.

Er spricht Tamil, erkannte Anjali überrascht. Eigenartig für einen Europäer.

War ihre Verzweiflung derart aufgefallen? Verlegen wandte sie ihren Blick ab, der dabei auf die ältere Dame fiel, die ihr zuvor die Bonbons gegeben hatte und die noch immer an derselben Stelle stand und sie nicht aus den Augen ließ. Durch den Zwischenfall mit dem Aufseher und der Begegnung mit dem schlanken Mann hatte sie die Frau völlig vergessen.

»Ich wollte in den Tempel gehen, aber der Aufseher hat es verboten.«

»Aus welchem Grund? Komm, setz dich dort drüben hin und erzähl mir alles.« Er zeigte auf mehrere Steinbänke, die unter schattenspendenden Gummibäumen standen.

Anjali schüttelte den Kopf. »Ich darf mich da nicht hinsetzen, der Aufseher jagt mich weg.«

»Du darfst, dafür werde ich sorgen.«

Er ließ sie auf der Bank zurück und ging zu einem Fahrradverkäufer, der Kekse, Getränke, Früchte, Süßigkeiten und Räucherstäbchen anbot. Die Flaschen wurden in einer mit Eisstücken ausgelegten Holzkiste gekühlt. Die übrigen Waren lagen auf zerknittertem Zeitungspapier direkt vor seinem Fahrrad auf dem Sandboden ausgebreitet. Viele der Tempelbesucher kauften bei ihm Opfergaben oder Erfrischungen. Der macht sicherlich gute Geschäfte, dachte Anjali.

Der Blonde kam zurück. In der einen Hand trug er eine Kokosnuss, die der schmächtige Verkäufer durch einen Machetenhieb geköpft hatte, in der anderen eine geriffelte Flasche mit rotem Verschluss. Unter seinem Arm klemmte eine Rolle. Die Flasche mit der roten Aufschrift gefiel ihr.

»Bitte halt mal.« Er gab Anjali die Kokosnuss, zog einen Metallöffner aus der Tasche seines Jacketts und entfernte damit den knallroten gezackten Deckel der Flasche, der weit davonflog. Zischend spritzte eine braune Flüssigkeit Anjali ins Gesicht und auf den Hals und dem Mann auf sein Hemd und seine beige Leinenhose. Schnell zog er ein Taschentuch hervor und säuberte Anjali damit. Er wischte auch über Stellen, an denen sie nicht bekleckert war. Sie hielt still, seine Fürsorge gefiel ihr.

»Fertig«, sagte er, rieb die Flasche trocken und gab sie ihr. Er zog an einem roten Faden, der die Papierhülle der Rolle öffnete. Heraus fiel eine Art rundes Gebäck. Anjali wollte es aufheben, aber der Mann hielt sie an der Schulter zurück.

»Hier, nimm noch einen Keks – nimm die ganze Rolle!«

Doch als er sich umschaute, bückte sie sich rasch und steckte sich den heruntergefallenen Keks in den Mund.

»Ach, Entschuldigung, ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt. Ich heiße Thomas Van der Meer, aber alle nennen mich Tom. Darf ich erfahren, wie du heißt? Und warum du geweint hast?«

»Mein Name ist Anjali.«

»Ah, mehr möchtest du nicht erzählen?«

Sie tat unwissend und zuckte mit den Schultern.

»Komm, sag, weshalb darfst du nicht in den Tempel?« Er wedelte mit einer Hand, als wollte er ihr die Worte so aus dem Mund entlocken.

»Ich bin Teepflückerin, dahinten auf einer Plantage.« Anjali zeigte mit der Hand in eine unbestimmte Richtung. »Und ich will die Götter um ein anderes Leben bitten. Von dem Dasein auf der Plantage haben Sie als Tourist bestimmt keine Ahnung.«

Das war pampig. Betreten schaute sie hinüber zu der Stelle, an der die grauhaarige Dame gestanden hatte. Sie war verschwunden. Weshalb hatte die Frau sie beobachtet und ihr, einer Unberührbaren, Opfergaben geschenkt? Fühlte sich die Frau durch die Berührung nicht beschmutzt?

Erst nachdem Anjali sämtliche Kekse gegessen und die Flasche ausgetrunken hatte, vergaß sie die Fremde und spürte, wie hungrig und durstig sie war. Gerne hätte sie mehr von den süßen runden Dingern gegessen und von der seltsam schmeckenden Flüssigkeit getrunken, aber sie bat nicht darum.

Tom trank schlückchenweise die Kokosmilch und stellte die Nuss dann neben Anjali auf die Bank. Sofort stürzte ein Affe vom Baum, grapschte danach und sprang zurück auf den Ast direkt über ihnen.

Anjali dachte sehnsüchtig an die Kokosnussschale, deren Fruchtfleisch sie gerne gegessen hätte.

»Du glaubst, ich bin Tourist?«, fragte Tom.

Anjali nickte.

»Falsch! Ich bin Burgher. Vaters Familie lebt seit Urzeiten auf Ceylon. Meine Vorfahren waren Niederländer, aber mein Ururgroßvater hat eine Singhalesin geheiratet. Deshalb kenne ich das Leben der Dalit.«

Anjali sah auf ihre Hände hinab.

»Aber deinem Aussehen nach bist du keine Hochlandtamilin – und überhaupt ist das Kastenwesen offiziell längst abgeschafft.«

Anjali schaute ihn entgeistert an. Was wusste der feine Herr schon? »Ich würde mir gerne die Götterfiguren näher ansehen. Ich kann meine Bitte auch hier draußen an sie richten. Allein dafür bin ich so weit gelaufen.«

Tom griff nach ihrem Arm, und zusammen gingen sie dicht an den Tempel heran. Dort betrachtete Anjali aufmerksam jede einzelne Götterfigur, dann legte sie die Hände in Schulterhöhe zusammen, senkte den Kopf und betete still. Sie trug den Göttern ihre Bitte vor und versprach, diese Güte niemals zu vergessen, sondern, wenn möglich, eines Tages zurückzuzahlen. Gerne wäre sie länger dort geblieben, um die Götter noch genauer anzuschauen, aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie die zornigen Blicke der Aufseher, auch wenn sich keiner traute, zu ihnen herüberzukommen, um dem weißen Herrn Vorschriften zu machen.

»Stell dir vor, ich bin heute auch das erste Mal hier, obwohl ich häufiger in Nuwara Eliya bin. Ich wollte mir die Tempelanlage schon lange ansehen, aber es kam immer etwas dazwischen, wenn ich in den Ferien hier in den Bergen war. Meine Mutter und ich verbringen im Augenblick einige Tage in unserem Landhaus.« Tom deutete mit der Hand in die Ferne. »Wir sind gerade aus England zurückgekehrt, aber in Colombo ist es für die Lady im Augenblick einfach zu schwül.«

War das Ironie in seiner Stimme? Anjali war erstaunt über seine wortreiche Erklärung, schließlich war sie ihm völlig fremd und hatte nicht danach gefragt.

Es war spät geworden, die letzten Sonnenstrahlen fielen über die Bergkuppen. Sie sollte zurück. »Sir, ich muss gehen, der Weg zur Plantage ist weit.« Sie drehte sich um. Er wird mich sicherlich nicht begleiten, dachte sie betrübt.

»Warte!«

Anjali blieb erwartungsvoll wenige Meter von ihm entfernt stehen. Tom zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach: »Ich habe gehört, dass wir in unserem Haus in Colombo eine Küchenhilfe benötigen. Ich werde mit meiner Mutter sprechen. Vielleicht ergibt sich eine Chance für dich. Kann ich dich morgen wiedersehen? Wieder hier, am Tempel?«

»Wenn es geht, komme ich«, sagte sie zaghaft, legte die Hände vor der Brust zusammen, verbeugte sich und rannte los. Er rief ihr etwas hinterher, aber sie verstand es nicht mehr.

Oje, ich habe mich nicht einmal bedankt! Anjali schämte sich. Doch Minuten später war es ihr egal, denn sie war überzeugt, dem Mann nie wieder zu begegnen. Er würde bestimmt nicht kommen. Trotzdem grübelte sie während des Rückwegs darüber nach, weshalb er einer fremden Plantagenarbeiterin Hilfe angeboten hatte und wie sie es schaffen könnte, noch einmal von der Plantage abzuhauen. Der Blonde gefiel ihr. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihm durch ihre Plantage ging und Tom dabei ihre Hand hielt. In dem Traum lebten sie beide in einem so prächtigen Haus wie denen, die sie auf dem Weg zum Tempel gesehen hatte.

Bei völliger Dunkelheit kehrte Anjali in die Behausung zurück. Freudig wollte sie der Mutter von den Erlebnissen berichten, aber die nahm keinerlei Notiz von ihr. Sita saß auf dem Boden neben der Feuerstelle, den Napf mit gekochtem Reis vor sich, aber nichts davon war angerührt. Das Feuer brannte noch, und Anjali sah, wie sich das flackernde Licht in den Tränen der Mutter brach.

»Warum weinst du?«

Anjali bekam keine Antwort.

Die Mutter erhob sich schwerfällig, griff einige Reiskörner und brachte sie als Opfergabe vor die Hütte. Anschließend legte sie sich ohne ein Wort zum Schlafen auf die Kokosmatte in die Ecke.

»Hast du Angst gehabt, mir sei etwas passiert?«

Die Mutter reagierte nicht. Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass eine Dalit spurlos verschwindet, dachte Anjali.

Während der Nacht schlief Anjali kaum. Und obwohl sie bis tief in die Nacht überlegte, wusste sie beim Aufwachen immer noch nicht, wie sie Sita sagen sollte, dass sie an diesem Tag wieder nicht zur Arbeit gehen wollte. Sie brauchten doch jede einzelne Rupie.

Lange vor der Morgendämmerung stand sie auf, nahm den Rest einer Papaya und schlich sich davon. Nur die Hunde draußen bellten wütend. Ihr Herz raste, aber niemand hielt sie auf.

Anjali nahm den gleichen Weg wie am Tag zuvor. Während der ersten Kilometer, die sie zurücklegte, war es noch dunkel. Es fuhren kaum Autos auf der Straße, so dass sie nicht oft stehen bleiben musste, um ihnen Platz zu machen. Meist waren nur Einheimische auf knatternden Mopeds oder unbeleuchteten Fahrrädern unterwegs, die zur Arbeit nach Nuwara Eliya fuhren.

Atemlos und viel zu früh erreichte Anjali die Umgebung der Tempelanlage. Weshalb war sie dermaßen schnell gelaufen? Der Fremde wollte sie erst treffen, wenn die Sonne am höchsten stand. Allein durfte sie unmöglich noch einmal direkt zum Tempel gehen, deshalb legte sie sich in der Nähe ins hohe Gras. Glücklicherweise war der Himmel wolkenlos und die Luft bereits angenehm warm. Insekten umschwirrten sie, Bienen summten und setzten sich auf die Blüten der Wiesenblumen, die zwischen dem noch feuchten Gras herrlich duftend hervorlugten. Anjali schloss die Augen. Plötzlich überfielen sie Zweifel. Was wollte der Mann von ihr? Konnte sie ihm überhaupt vertrauen? Anjali bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Vielleicht hatte er ihr nur etwas vorgegaukelt und beabsichtigte, sie an eine andere Plantage zu verkaufen? Ihr Herz begann zu rasen. Um sich abzulenken, griff sie nach einer Blume und riss die feinen Blütenblätter einzeln ab.

Erst nachdem die Sonne fast den Zenit erreichte, stand sie auf, zupfte zaghaft Gras- und Blütenreste von ihrem Sari und schlich in die Nähe des Tempelvorplatzes. Dabei überfiel sie erneut das beklemmende Gefühl, und sie hoffte fast, dass der Herr nicht erscheinen würde. In ihren Gedanken tauchte Sita auf, vermutlich wütend oder in Sorge, dass sie ohne ein Wort verschwunden war. Womöglich glaubte sie, die Tochter käme nicht zurück. Anjali verstand sich selbst nicht mehr. Gerade wollte sie umkehren, da stand Tom vor ihr.

»Guten Tag, Anjali.« Er streckte ihr seine Hand entgegen – ihr, einer Dalit. Sie übersah die Geste, legte die Hände zusammen und begrüßte ihn ehrfürchtig. Immer noch wurde sie von Ängsten geplagt. Sie musste einen entsetzten Gesichtsausdruck gemacht haben, denn er beeilte sich zu sagen: »Ich habe mit meiner Mutter gesprochen. Sie wird dich probehalber in unserem Haus in Colombo beschäftigen. Du sollst die Köchin unterstützen.«

»Ich, eine Unberührbare … als Küchenhilfe? Sir, weshalb helfen Sie mir?«, wagte sie zu fragen.

»Weil du mir gefällst! Reicht das?« Tom lachte und zeigte dabei seine ebenmäßigen Zähne. »Und weil ich mich seit meiner Schulzeit mit Menschenrechten beschäftige und gerade das Jurastudium in England beendet habe.«

Jurastudium, was war das? Der Mann wurde ihr immer unheimlicher. Aber er fuhr bereits fort: »In unserem Haus sind Christen, Buddhisten und Hindus beschäftigt. Ich gebe zu, eine Teepflückerin hatten wir allerdings noch nie in der Küche«, fügte er lachend hinzu. »Dort arbeiten normalerweise Engländerinnen. Aber ich habe Mutter von dir erzählt und sie gebeten, dir zu helfen.«

Vor Schreck setzte sich Anjali hin. Im Kopf drehte sich alles.

»Auf welcher Plantage arbeitest du?«

Sie sagte es ihm.

»Ich weiß, wo das ist. Meine Mutter bleibt noch hier in unserem Haus, aber ich werde dich übermorgen an der Straße oberhalb der Plantage abholen und nach Colombo bringen. Hast du eine Uhr?«

Anjali schaute ihn ungläubig an. »Eine Uhr? Nein. Teepflückerinnen brauchen keine Uhr.«

»Kurz nach Sonnenaufgang werde ich dort sein«, sagte Tom.

»Ich bin bestimmt pünktlich.«

Tom nickte und streckte ihr erneut seine Hand entgegen. Als sie zögerte, tätschelte er etwas unbeholfen ihre Schulter. Bei der Berührung versteifte sich ihr Körper. »Bis dann, Anjali.«

Tom ging, und sie rannte, so schnell sie konnte, die Strecke nach Hause zurück. Jetzt würde sie viel Geld verdienen und Sita noch mehr unterstützen können. Vielleicht könnte Tom ihrer Mutter eines Tages ebenfalls eine Stellung beschaffen!

Anjali erreichte atemlos die Hütte. Aufgeregt wollte sie ihrer Mutter die Neuigkeit erzählen, aber Sita freute sich überhaupt nicht, denn wie vorauszusehen war, hatte es auf der Plantage fürchterlichen Ärger gegeben, da Anjali seit zwei Tagen nicht zur Arbeit erschienen war. Die Vorarbeiter hatten Sita die Hälfte der Tageslöhne abgezogen.

»Wie stellst du dir das vor?«, schrie Sita.

Anjali fuchtelte mit den Händen, um sie zu beruhigen, denn es brauchten nicht alle Nachbarn ihren seltenen Streit mitzubekommen.

Aber die Mutter ließ sich auch durch die guten Neuigkeiten nicht beruhigen und schrie noch lauter: »Glaubst du wirklich, die nehmen eine Dalit in ihre Küche? Wie blöd bist du eigentlich?«

Sita war so aufgebracht, dass sie aus dem Verschlag und hinauf in die Berge rannte. Erst als der Mond lange hinter den hohen Bergrücken verschwunden war, kehrte sie zurück.

Den von Anjali zubereiteten Reis rührten beide nicht an. Eine Winzigkeit davon brachte Anjali als Opfergabe nach draußen.

Sita setzte sich mit verschränkten Beinen neben Anjali auf den Boden, nahm deren Hand, strich sanft darüber und sagte kaum hörbar: »Geh, Kind, vielleicht gibt es dort draußen ja eine bessere Welt für dich.«

Die Feuerstelle glühte noch. Beide blieben lange davor sitzen, blickten hinein und schwiegen. Erst sehr viel später legten sie sich nieder, und Anjali erzählte ihrer Mutter leise von dem ersten Zusammentreffen mit dem Europäer, bis sie merkte, dass Sita bereits eingeschlafen war.

Am Tag des Abschieds lag die Dunkelheit noch zäh über dem Hochland, und lange bevor die Sirene, die als Weckruf diente, ertönte, erhoben sich beide Frauen von ihrer selbstgeflochtenen Matte, auf der sie, wie immer eng aneinandergeschmiegt, geschlafen hatten. Schweigend setzten sie sich mit verschränkten Beinen in Richtung Osten auf den kalten Boden. Dabei hielten sie die Oberkörper aufrecht. Zuerst legten sie die Hände vor der Brust zusammen, senkten die Köpfe, so dass die Fingerspitzen die Nasenwurzel berührten, und begannen zu meditieren. Anschließend tranken beide einen Schluck Wasser aus ihrem Napf, und Anjali sprach ausnahmsweise das Morgengebet.

Schwerfällig stand Sita auf, ihr Körper war noch steif von der nächtlichen Kälte. An der Feuerstelle schichtete sie dünne Äste auf und entzündete das Feuer. Um die Götter gütig zu stimmen, warf sie einige der kostbaren Reiskörner in die züngelnden Flammen und stellte den verbeulten Blechnapf darauf. Wie jeden Morgen kochte Sita eine Handvoll Reis, obwohl beide an diesem ereignisreichen Tag nicht hungrig waren. Währenddessen goss Anjali aus dem Kanister frisches Wasser in einen Topf und stellte auch diesen auf das Feuer, das die ärmliche Behausung nur langsam erwärmte.

Sita besaß noch ein Räucherstäbchen, das sie seit Längerem für einen besonderen Tag aufbewahrt hatte. Das Teewasser kochte. Anjali warf ein Häufchen getrockneter Teeblätter hinein. Das feine Aroma durchzog den engen Raum. Neben ihrer Schlafstelle stand ein winziges Körbchen, das sie am Vortag zur Vorbereitung des Abschieds aus jungen biegsamen Trieben eines Teestrauches geflochten hatte. Sie hob es vorsichtig hoch und legte eine spärliche Menge Fruchtfleisch einer Papaya und etwas von dem gekochten Reis hinein. Diese Opfergabe stellte sie für die Götter vor die Hütte auf den winzigen Altar. An dem nur noch schwach brennenden Feuer entzündete die Mutter das Räucherstäbchen und steckte es in einen Riss im Lehmboden der Behausung. Beide setzten sich. Sie schauten auf das glimmende Stäbchen und verbeugten sich vor der Gottesfigur Shiva. Die kleine Silberstatue war ihr ganzer Stolz und Besitz, auch wenn Sita nicht wusste, woher die Figur stammte. Ihre Mutter war gestorben, als Sita noch ein kleines Kind war, und deren Erinnerung an sie war inzwischen verblasst, so dass Anjali nicht viel von ihr wusste. Sita hatte Anjali einmal erzählt, dass ihre Mutter ihr kurz vor dem Tod noch etwas hatte erklären wollen, aber dass ihre letzten Worte wie ein Hauch des Windes über die Teebüsche davongetragen worden waren. Anders als Sita hatten diese letzten unausgesprochenen Worte Anjali nie ganz losgelassen.

Sita sprach einen heiligen Text. Während sie Lesen und Schreiben nie gelernt hatte, kannte sie sämtliche Gebete auswendig.

Anschließend griffen beide Frauen schweigend mit der rechten Hand in den auf dem Boden stehenden Reistopf, formten den Reis mit den Fingerspitzen kugelförmig zusammen und schoben ihn in den Mund. Dazu tranken sie den heißen Tee und teilten die Reste der Papaya des Vortages. Für dieses letzte gemeinsame Frühstück nahmen sie sich viel Zeit, denn sie wollten den Augenblick des Abschieds hinauszögern.

Draußen begannen die Vögel mit dem Morgenkonzert, zuerst zaghaft, dann wurde das Gezwitscher der verschiedenen Vogelarten immer lauter.

»Es ist Zeit. Du musst gehen«, sagte die Mutter leise.

»Ja.« Mehr brachte Anjali nicht heraus, Tränen erstickten ihre Stimme. Schnell wandte sie sich ab und legte die wenigen Dinge, die sie besaß, in eine alte verknitterte Papiertüte, die sie am Wiegeplatz gefunden hatte.

Sita zog etwas aus einem Spalt an der Wand und steckte es verschämt dazu. Anjali hatte nicht erkennen können, was es war.

Durch das herunterbrennende Feuer entstand eine schemenhafte Beleuchtung in dem Raum, und Sitas schmales Gesicht erschien Anjali an diesem Morgen noch schmaler als sonst. Sie sah, wie ihre Mutter die fein geschwungenen Lippen zu einem Strich zusammenpresste, und bemerkte erste graue Fäden in dem dunklen Haar, obwohl Sita erst Mitte 30 war. Die dunklen Augen glänzten, als Sita versuchte, Tränen zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Sie begann, heftig zu weinen. Anjalis Blick folgte den Tränen, die wie kleine Bäche über die etwas dunklere Haut der eingefallenen Wangen liefen und vom Kinn auf den ausgewaschenen, ehemals grünen Sari tropften. Jetzt war es auch mit ihrer Fassung vorbei. Auch sie begann zu weinen, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, tapfer zu sein. Sie ging doch in eine vermeintlich bessere Welt. Anjalis Nase lief, sie wischte die Nässe mit dem Daumenballen ab. Schnell nahm sie die Mutter ein letztes Mal in die Arme, sie war viel größer als die zierliche Frau, und strich ihr liebevoll über den knochigen Rücken. Die legte den Kopf an die Schulter der Tochter, und Anjali fühlte die Nässe der Tränen und das Beben des ausgemergelten Körpers. Abrupt ließ sie Sita los, drehte sich um und ging.

Die Mutter blieb traurig zurück.

Anjali lief, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf, aber sie war spät dran: Kamal, der bucklige Aufseher, stand schon da und rauchte. Er gehörte zu den besonders bösartigen Männern. Seine verkrüppelte Gestalt hatte ihn wohl im Laufe des Lebens dazu werden lassen.

»Anjali, wo rennst du hin?«

»Das geht dich einen Dreck an!«

»Bleib sofort stehen!«, schrie er wütend. Sein Gesicht verfärbte sich rot, und die Adern an der Stirn traten deutlich hervor.

Sie rannte weiter, aber er war fixer und hielt sie fest. Schnell biss sie ihm in den rechten Unterarm. Fluchend ließ er los.

»Hure, wenn du jetzt abhaust, komm nie zurück! Ich bring dich um!«, schrie er ihr nach.

Anjali hastete weiter.

Völlig erschöpft erreichte sie die geteerte Straße. Einzelne graue Wolken der Nacht hingen noch tief über der Straße. Es war kühl. Tom stand an einen luxuriösen blauen Wagen gelehnt und trug gegen die morgendliche Kühle einen Pullover. Er blickte gerade auf die Uhr, als Anjali sich ihm keuchend näherte. Die Geste ließ erkennen, dass er dies an diesem Morgen bereits oft getan hatte. Aus der Ferne war immer noch Kamals Gezeter zu hören.

»Wo bleibst du denn?«, fragte Tom.

Sie war so außer Atem, dass sie ihm nur zuwinken konnte.

Tom öffnete die Autotür, Anjali zögerte. Ihre Gedanken waren noch auf der Plantage. Kamal hatte sie erwischt, und jetzt würde ihre Mutter alles ausbaden müssen. Wahrscheinlich würden die Aufseher wieder über sie herfallen und stundenlang am Wiegeplatz warten lassen, bis alle Kiepen der anderen Pflückerinnen gewogen waren. Wie würde ihre Mutter sich jetzt vor den Männern schützen? Bisher hatte ihre Mutter sie, den »Fluch der Götter«, den Männern entgegengestellt, wenn diese in die Hütte eindrangen. Den Fluch der Götter wollte keiner auf sich ziehen, und so waren sie jedes Mal abgehauen.

»Komm, steig schon ein.«

Toms ungeduldiger Ton irritierte Anjali. Schnell stieg sie ein und setzte sich auf den Vordersitz. Sie war vorher nie in einem Auto oder Autobus gefahren. Ihr Herz schlug schneller, ihre Handflächen wurden feucht. Tom setzte sich hinter das Lenkrad, schaute sie lächelnd an und nickte sanft mit dem Kopf. »Ich bin sicher, die Fahrt wird dir gefallen«, sagte er aufmunternd und startete den Motor. Ein gleichmäßiges Tackern war zu hören, der Wagen begann zu rollen. Anjali zitterte am ganzen Körper, rutschte auf die vorderste Kante des Sitzes und klammerte sich am inneren Türgriff fest. Tom legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm, und sie hoffte, er würde die Hand dort lassen, aber er nahm sie zurück und umgriff wieder das Lenkrad. Kurve für Kurve fuhren sie die Straße hinunter. Langsam bekam Anjali Freude an der Fahrt. Es gefiel ihr, wie schnell die wenigen Fußgänger, die Büsche und die Bäume an ihnen vorbeizogen. Sie schloss die Augen und träumte davon, mit dem Herrn weit wegzufahren. Gerne hätte sie ihn gefragt, weshalb er sie persönlich nach Colombo brachte, aber es ziemte sich nicht, einen Sir anzusprechen. Außerdem war er schweigsam und schien konzentriert. Es reichte doch, dass er seine Mutter gebeten hatte, ihr eine Arbeitsstelle zu geben. Anjali dachte an die kommende Begegnung, und ihr Herz schlug erneut schneller. Hatte er ihnen die Wahrheit über ihre Herkunft gesagt? Sie nahm allen Mut zusammen und fragte: »Sir, bitte entschuldigen Sie, aber wie muss ich die Herrschaften ansprechen?«

Tom lachte. »Sei freundlich und höflich, ganz natürlich.« Als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck sah, hob er die Schultern. »Meine Mutter sprichst du mit ›Lady‹ und meinen Vater mit ›Sir‹ an, aber der ist sowieso wenig zu Hause. Der lebt …« Tom beendete diesen Satz nicht und sagte stattdessen: »Und die Köchin heißt Mary. Ich mag sie gerne. Früher als Kind habe ich oft in der Küche gesessen oder ihr beim Kuchenbacken geholfen, soweit man es helfen nennen kann.« Tom lachte. »Ich habe vielmehr mit dem Teig rumgeschmiert, und häufig haben wir dabei englische Kinderlieder gesungen.«

»Was ist Kuchenbacken?«

»Das wirst du bald erleben.« Tom nieste mehrfach hintereinander. »Entschuldigung.«

Anjali war darüber erstaunt, lehnte sich bequem im Sitz zurück und betrachtete schweigend das vorüberziehende unterschiedliche Grün der kilometerweiten Teepflanzen.

Sie kamen dem Flachland näher. Die Teebüsche verschwanden. Sie fuhren an nassen braunen Flächen vorbei. Gleich neben der Straße sah sie einen dünnen Mann mit einem übergroßen Strohhut auf dem Kopf. Um seine Lenden war ein Tuch geschlungen, und er folgte gebückt einem Gegenstand, den der Wasserbüffel durch die schlammige Erde zog. Sie schaute fragend zu Tom, der ihren Blick bemerkte.

»Das sind Reisfelder. Schau, der Mann drückt mit ganzer Kraft den Holzpflug hinunter.« Die nasse Erde spritzte an den nackten Beinen des Mannes hoch. »Auf diese Weise wird zuerst der Boden umgepflügt, zwei Wochen bewässert und dann erneut gepflügt. Und dort drüben ist noch ein See.« Tom zeigte mit der Hand in die Ferne. »Vielleicht pflügt er das Feld schon zum zweiten Mal. Das kann ich nicht erkennen.«

Tom putzte sich mit dem Taschentuch lautstark die Nase. Sie erschrak, denn es hörte sich an wie das Trompeten der Elefanten. Tom steckte das Tuch wieder in die Hosentasche und sprach weiter: »Wahrscheinlich hat er in seinem Haus schon für ein paar Tage einen Sack Reis ins Wasser gestellt, danach werden die aufgeplatzten Körner mit den Austrieben auf den vorbereiteten Boden geworfen. Für etwa sechs Wochen bleiben sie im Boden, aber so genau weiß ich es nicht. Es gibt nämlich mehrere Methoden.«

»Und dann können wir den Reis essen?«

»Nein, so schnell geht es nicht.« Er wies mit seinem Zeigefinger nach rechts. »Schau, siehst du dort drüben die Frauen in blauen Kleidern, die mit ihren Beinen bis zu den Knien im Wasser stehen? Sie halten die zarten Setzlinge in der Hand, die aus Körnern gesprossen sind, und stecken sie in den Schlamm. Dort wachsen sie in ungefähr drei Monaten heran.«

Das Auto schlingerte etwas. Anjali krallte sich erneut an dem Türgriff fest.

»Zuletzt werden die Halme mit einem kleinen sichelförmigen Messer geschnitten, getrocknet und anschließend kleine Büschel genommen und ausgeschlagen. Dann haben wir den Reis.«

»Oh, ich habe mir noch nie überlegt, woher der Reis kommt.«

Inzwischen hatten sie den Außenbezirk von Colombo erreicht. Es gab einen Verkehrsstau. Eine bis auf das Skelett abgemagerte Kuh lag mitten auf der Straße, und daraus war ein heilloses Durcheinander entstanden. Wild hupend bahnten sich Mopeds, Autos und Fuhrwerke rücksichtslos ihren Weg. Der ohrenbetäubende Lärm störte das Tier nicht im Geringsten.

»Heute sind wohl alle Fahrer Hindu«, scherzte Tom.

Anjali sah Tom an und bemerkte, dass er schmunzelte. Sie fragte sich, was daran so lustig war, und antwortete: »Ja, die Kuh ist heilig. Mutter hat mir erzählt, sie sei der Sitz der Götter.«

Ein Kleinlaster rammte fast ihren Wagen.

»Verdammt, blöder Trottel, pass doch auf!«, schimpfte Tom.

Anjali erschrak über seine heftige Reaktion. Bisher erschien ihr der Herr so freundlich, ruhig und gebildet. War womöglich sie schuld an diesem Ausbruch und er sich nicht mehr sicher, ob seine Bitte, eine Teepflückerin ins Haus zu holen, sinnvoll gewesen war?

»Sir, haben Sie der Lady gesagt, dass ich eine Dalit ohne jegliche Rechte bin?«

Trotz des Verkehrsgewühls sah Tom erstaunt zu ihr herüber.

»Natürlich. Und in den letzten Jahren hat sich einiges verändert, Anjali, vor allem in der Stadt.«

Seine Worte überzeugten sie nicht. Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Tom bog in eine breite zweispurige Straße ab, deren Mittelstreifen mit prächtigen Oleanderbüschen bepflanzt war und die direkt am Meer entlangführte. Nur eine niedrige Mauer trennte den weißen Sandstrand von der Straße. Das Meer glitzerte in der Mittagssonne. Schaumkronen hüpften auf und ab.

»Oh«, entfuhr es Anjali. Sofort verschloss sie mit übereinandergelegten Händen ihren Mund, als ob sie befürchtete, es könnten weitere Begeisterungsschreie entweichen.

»Gefällt dir das Meer?«

Anjali nickte. »Ich war noch nie am Meer!«

Tom fuhr an den Straßenrand und stoppte das Auto. »Dann komm, steig aus!«

Anjali stieg über die Begrenzungsmauer. Sie spürte den von der Sonne erwärmten Sand unter ihren Fußsohlen, rannte zum Wasser und steckte die Füße hinein. In diesem Augenblick klatschte eine Welle ans Ufer und durchnässte sie vollständig. Anjali schrie entsetzt auf, während Tom sich vor Lachen krümmte. Sie wischte die Nässe mit dem Handrücken aus dem Gesicht.

»Jetzt müssen wir warten, bis dein Sari getrocknet ist«, rief Tom fröhlich und ließ sich in den hellen Sand fallen. »Komm her!« Er schlug mit der Hand direkt neben sich auf den Boden.

Zögerlich setzte sie sich neben ihn. So dicht, dass sich ihre Schenkel leicht berührten. Sie löste das zu einem Knoten am Hinterkopf verschlungene schwarze Haar und ließ es zum Trocknen im Wind flattern.

Tom griff immer wieder in den Sand und ließ ihn durch die Finger seiner geöffneten Hand rinnen. Dabei streifte er jedes Mal Anjalis Unterarm. Die sanfte Berührung gefiel ihr. Ein kribbelndes Gefühl durchrann ihren Körper, und sie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, die Sonne würde lange für das Trocknen des Saris benötigen.

Plötzlich sah Tom auf die Uhr, erhob sich und streckte ihr seine Hand entgegen. Er wollte sie hochziehen, aber Anjali protestierte.

»Sir, ich bin noch ganz nass!«

»Du wirst auch nicht trocken, die Luftfeuchtigkeit ist viel zu hoch«, sagte er und lachte.

Anjalis Augen füllten sich mit Tränen. »Sir, macht es Ihnen Spaß, mich zu verspotten?«

»Nein, Anjali, entschuldige bitte.«

Langsam gingen sie zum Wagen zurück. Anjali schämte sich, in diesem erbärmlichen Zustand bei den neuen Arbeitgebern aufzutauchen. Nicht einmal einen Kamm hatte sie. Die Mutter und sie besaßen nur ein abgebrochenes Stück, und das hatte sie Sita gelassen. Anjali versuchte, die nassen Haare mit den Fingerspitzen zu ordnen, drehte und schlang sie zu einem Knoten zusammen. In der Autoscheibe spiegelte sich ihre Ärmlichkeit.

Tom versuchte, sie mit einem lockeren Spruch aufzuheitern, aber es misslang. Schweigend fuhren sie an einer hohen weißgestrichenen Mauer entlang, über die unzählige Zweige der vielfarbigen Bougainvilleahecken hingen.

Nach kurzer Strecke hielt Tom vor einem mächtigen Holztor. Aus dem Fenster des angrenzenden Häuschens blickte ein junger Mann. Die Wache erkannte das Auto. Sofort trat der Weißlivrierte heraus und verbeugte sich zum Gruß.

Wie von Geisterhand öffneten sich die Torflügel geräuschlos, und Anjali schaute auf unendliche Rasenflächen, die beide Seiten der Auffahrt säumten.

Tom fuhr auf das in der Ferne liegende Gelände zu, bog nach wenigen Metern ab, und kurz darauf erreichten sie ein langgestrecktes Gebäude. Das Haus war umgeben von blühenden Hibiskushecken, und ausladende Magnolienbäume spendeten Schatten. Tom bremste und schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad.

»So, wir sind am Ziel«, sagte er ernst.

Anjali öffnete langsam die Autotür und stieg aus. Verschämt bemerkte sie den nassen Fleck, den sie auf dem Autositz hinterließ.

Als sie aufblickte, blieb ihr Mund offen stehen. Die Schönheit und der Luxus dieses Anwesens verschlugen ihr den Atem. Schade, dass ihre Mutter nicht sehen konnte, wo sie leben durfte. Sollte sie tatsächlich in dem besseren Leben angekommen sein, das Sita sich für sie gewünscht hatte?

Kapitel 2

Colombo

»Oh, ist das ein großes Haus«, sagte Anjali erstaunt.

»Hier wohnen nur die Angestellten, die Familie lebt dort drüben.« Tom zeigte mit der Hand die breite Auffahrt hinauf.

Ein Mann mittleren Alters, ebenfalls in einer weißen Uniform, kam ihnen eilig entgegen und begrüßte Tom ehrfürchtig.

»Tarun, das ist Anjali, sie wird ab morgen in der Küche helfen. Zeig ihr die Unterkunft!«

Anjali war über Toms Befehlston erschrocken. Tarun verbeugte sich leicht vor seinem Herrn. Er erinnerte Anjali an einen der unangenehmen Oberaufseher der Teeplantage. Er hatte stechende schwarze Augen und einen ungewöhnlich schmalen Mund, der wie ein Strich wirkte. Das Haar trug er unter einem Turban verborgen. Sein Gesichtsausdruck wirkte kalt und blasiert. Anjali spürte so etwas wie Verachtung, fast schon Feindschaft, die ihr dieser Mann entgegenbrachte.

»Ich hoffe, du fühlst dich wohl bei uns«, verabschiedete sich Tom knapp bei ihr, drehte sich um und stieg eilig in den Wagen.

Anjali sah ihm nach, aber er blickte nicht mehr zurück.

»Los!« Tarun verstärkte seinen Befehl durch ein Kopfzucken in Richtung Haustür. Anjali schluckte ihr Bedauern über Toms kühlen Abschied herunter und folgte dem Mann ins Haus.

In einem engen abgedunkelten Raum deutete er auf ein Holzgestell, über dem ein engmaschiges Gebilde von der Decke hing. »Da kannst du schlafen, und dort drüben im Wandschrank ist Platz für deinen Kram«, sagte er barsch und betrachtete ihr spärliches Gepäck. Weitere Erklärungen hielt er offenbar für überflüssig.

Danach blieb sie allein und dachte über Toms Verhalten nach. Sie verstand ihn nicht. Einmal war er freundlich, dann unnahbar. Wahrscheinlich benahmen sich feine Leute so. Anjali öffnete die Papiertüte, nahm ihr zerfleddertes Kinderbuch, das sie als kleines Mädchen von einer Touristin geschenkt bekommen und aus dem sie ein wenig lesen gelernt hatte, ihre Zahnbürste und den Rest eines Seifenstückes heraus und legte alles in ein Schrankfach. Sie sah nochmals in die leer geglaubte Tüte und entdeckte eine Fotografie, die sie nie zuvor gesehen hatte. Das war es also, was ihre Mutter morgens beim Abschied dort hineingesteckt hatte. Der gezackte Rand war an einigen Stellen abgerissen. Sie nahm das Bild und drückte es mit beiden Händen an die Brust. Welche Bedeutung wird es für Sita gehabt haben, und weshalb hatte sie es ihr mitgegeben? Als Erinnerung an ihr Zuhause? Anjali setzte sich auf das Holzgestell, auf dem ein gefüllter Jutesack, ein weißes Tuch und ein dickeres graues Stoffstück lagen. Letzteres war weich und warm. Plötzlich fühlte sie sich einsam und sehnte sich nach der ärmlichen Behausung auf der Plantage zurück. Ein Bett mit Decke hatte Sita bestimmt noch nie gesehen. Anjalis Augen füllten sich mit Tränen. Als Ablenkung betrachtete sie eingehend die Fotografie. Sie war leicht vergilbt, aber Anjali konnte darauf einen Europäer in weißem Anzug mit Hut erkennen. Der Mann hatte seinen Arm um die Schultern der kleinen schwarzhaarigen Frau gelegt. Sie sah jung aus und trug einen kostbar wirkenden Sari. Ihre Haut war dunkler als seine. Sie schien glücklich zu sein, ihr Lächeln ließ weiße Zähne erkennen.

Anjali hörte sich nähernde Schritte und schob die Fotografie schnell unter die Decke. Ohne anzuklopfen, betrat ein Mädchen ihres Alters den Raum.

»Ich bin Uma, Sir Tom schickt dir diese beiden Saris.« Sie warf Anjali die Stoffbahnen auf den Schoß.

»Danke. Ich heiße Anjali«, erwiderte sie. »Ich werde in der Küche mithelfen, und was machst du hier?«

»Ich bin Stubenmädchen.« Abrupt drehte Uma sich um und verließ den Raum.

Irritiert über das Verhalten des Mädchens, strich Anjali über den grünen Stoff und zeichnete mit dem Zeigefinger die Linien der eingewobenen goldbraunen Ornamente nach. Der andere Sari war blutrot. Auch über diesen Stoff strich sie vorsichtig, um die Schönheit nicht zu zerstören. So etwas Prächtiges hatte sie noch nirgends gesehen. Wem die Saris wohl gehört hatten? Der Lady oder einer Freundin Toms? Sie faltete die rote Stoffbahn sorgfältig zusammen und legte sie zu ihren Habseligkeiten in den Wandschrank. Sie nahm den anderen Sari, ging hinaus auf den Flur und suchte nach dem Waschraum, den Tarun ihr erklärt, aber nicht gezeigt hatte. Sie irrte zwei dunkle Gänge entlang, bis sie endlich den richtigen Raum gefunden hatte. Ihr noch feuchtes Stoffstück tauschte sie gegen den neuen grünen Sari. Stolz verließ sie in dem schönen Kleidungsstück den Waschraum und traf auf die Bediensteten, die gerade schwatzend und lachend in die Unterkunft zurückkehrten.

Draußen war es bereits dämmerig geworden. Keiner der eintreffenden jungen Frauen oder Männer erwiderte Anjalis Gruß. Sie begutachteten die Neue, kicherten und rannten davon. Anjali ging zurück in ihr Zimmer. Aus den angrenzenden Räumen hörte sie Stimmen und fröhliches Lachen. Sie setzte sich auf den Boden, sprach das Abendgebet und dankte den Göttern für alles Neue. Später blickte sie durch das geschlossene Fenster hinaus in die Dunkelheit und suchte nach den Sternen, aber sie sah lediglich das sich im Glas spiegelnde gedämpfte Licht des Raumes.

In dieser Nacht schlief sie unruhig. In ihren Träumen sah sie die Mutter, die barfuß in dem neuen roten Sari über weite Rasenflächen lief und ihr zulächelte. Während der wachen Momente dachte sie an Tom, an seine zarten Berührungen und den kühlen Abschied.

Am nächsten Morgen stand Anjali früh auf, draußen war es noch finster, und im Haus waren noch keine Geräusche zu hören. Sie sprach das Morgengebet und schlich hinüber in den Baderaum. Dort entdeckte sie einen sternförmigen weißen Griff an der Wand und spielte daran herum. Wassermassen ergossen sich über ihren Körper. Zuerst erschrak sie, aber dann blieb sie lange regungslos stehen.

Ihre Zahnbürste besaß nur noch wenige Borsten. Ausgiebig reinigte sie sich die Zähne und nahm sich einen Kamm, der neben dem Fenster lag. An der rauen Wand versuchte Anjali, die grüne Verfärbung der Hände und Nägel zu entfernen. Erfolglos. Sie band den grünen Sari um, schaute in den Spiegel und betrachtete ihre gleichmäßigen Zähne. Dabei hörte sie die anderen auf dem Flur, aber keiner betrat das Bad, bevor sie es verlassen hatte. Anschließend stürmten die Frauen gemeinsam an ihr vorbei ins Bad. Niemand nahm Notiz von ihr oder sprach sie an.

Als es dämmerte, folgte sie den Bediensteten in einigem Abstand, als diese zusammen die Unterkunft verließen. Sie liefen quer über die sorgsam gepflegten Grünflächen. Die Feuchtigkeit der Nacht lag noch auf den Grashalmen, und die Füße hinterließen sichtbare Spuren im Tau. Anjali war erstaunt über die Vielfalt der Blumen und das Zwitschern und Singen der verschiedenen Vogelarten, die aus den riesigen Gummibäumen heraus den neuen Morgen begrüßten. In der Ferne tauchte ein langgestrecktes Gebäude auf. Das Vordach wurde von hohen Säulen getragen. Neben der dunklen doppelflügligen Holztür standen einladende Sessel und Sofas aus Korbgeflecht und Kübel mit rotblühendem Hibiskus. Zahlreiche Orchideenbäume säumten den Weg, hinüber zu dem mit einem Pagodendach geschützten Sitzplatz. Ein Holzsteg führte über einen künstlich angelegten Teich. Hier trennten sich die Wege der Angestellten. Eine kleinere Gruppe ging weiter zum Herrenhaus, der Rest verschwand in Richtung der Garagen, des Gartenhauses oder der Pferdeställe.

Tarun drehte sich nur kurz zu ihr um. »Du kommst mit mir!«

Es ging seitlich am prächtigen Haus vorbei hinüber zu dem durch einen Säulengang damit verbundenen Anbau. Anjalis Herz schlug so schnell wie das eines gefangenen Vogels. Die Rasenflächen erstreckten sich bis an den Rand des feinen Sandstrands, aus dem meterhohe Palmen wuchsen, die sich sanft in der Meeresbrise wiegten. Sie hörte das Rascheln der Palmenwedel. In dem Augenblick breitete die Sonne ihren goldenen Teppich aus. Anjali blieb stehen und schaute bewundernd dem morgendlichen Schauspiel zu. So schön hatte sie den beginnenden Tag bisher nie erlebt.

Tarun drehte sich zu ihr um und zeterte: »Gibt’s da, wo du herkommst, keine Sonne?«

Anjali folgte ihm eilig durch die geöffnete Tür. Ein angenehmer Geruch kam ihr entgegen, sie atmete tief ein und sog das unbekannte Aroma auf.

»Guten Morgen, ich bin Mary. Sir Tom hat dich gestern bereits angekündigt, und ich hoffe, wir werden uns gut verstehen«, begrüßte sie die dicke Köchin mit warmer Stimme. Den größten Teil ihrer grauen Haare trug sie unter einer weißen Haube verborgen, und nur über der Stirn schauten einige zu kleinen Röllchen zusammengesteckte Haarsträhnen hervor.

»Guten Morgen, ich bin Anjali«, erwiderte sie, fügte die Hände zusammen und senkte höflich den Kopf. Bei diesem unbekannten Duft, der die Küche durchzog, spürte sie, wie hungrig sie war, denn seit dem spärlichen Frühstück des Vortages hatte sie nichts mehr gegessen.

»Komm, setz dich hierher«, sagte die rundliche Frau und zeigte auf einen Hocker, der an dem blankgescheuerten übergroßen Holztisch stand, und stellte eine Platte hin, auf der ein rundes braunes Stück lag. Die Platte sah weiß aus, genau wie der Wasserhahn im Badehaus. Das Material war zart, fast durchsichtig. Daneben platzierte die Köchin ein Gefäß und goss aus der hohen Kanne eine angenehm riechende braune Flüssigkeit hinein.

»In der Tasse – sie ist aus Porzellan, also pass auf! – ist Kaffee, und das Ding auf dem Teller ist ein Muffin. Hier trinken alle Tee, aber ich brauche morgens eine Tasse Kaffee, und Reis zum Frühstück mag ich auch nicht«, erklärte ihr die ältere Frau und schüttelte den Kopf. Dabei verzog sie die Mundwinkel Richtung Kinn. Das Doppelkinn wackelte. »Aber falls du lieber Reis wie die anderen möchtest, sag es.«

Anjali schüttelte den Kopf und biss hastig in die braune Masse. Das weiche Teil schmeckte süß wie eine Frucht. Zwischen den Lippen fühlte sich die Porzellantasse zart an und hatte nicht den unangenehmen Geschmack des Blechnapfes. Sie trank einen weiteren Schluck – ja, Kaffee schmeckte ihr.

Auf einer Anrichte sah Anjali eine größere Platte mit Muffins, und die Köchin war gerade dabei, ein zweites Blech aus dem übergroßen Ofen zu ziehen. Gerne hätte Anjali noch mehr gegessen, sie war noch hungrig. Aber sie sagte nichts. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass die Strahlen durch die Fenster in die Küche fielen.