Unterm Lagerfeuer - Nickolas Butler - E-Book

Unterm Lagerfeuer E-Book

Nickolas Butler

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Beschreibung

Nickolas Butler erzählt in seinen Geschichten von einer Welt, die rauh, kalt und gefährlich ist, aber auch ein Sehnsuchtsort der großen Liebe und Freundschaften. Im Heartland der USA gibt es nicht viele Menschen, aber die haben es in sich. Sie bringen ihre Kettensäge zur Party mit und stellen ihre Liebe beim Tauchgang unter einer meterdicken Eisdecke auf die Probe. Eine demente Polizistin in Rente lässt illegale Hundekämpfe auffliegen und aus einem Ölmagnaten und seinem Entführer, der ihn aus Rache zwingt Rohöl zu trinken, werden vielleicht doch noch Freunde.

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Seitenzahl: 361

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NICKOLASBUTLER

UNTERMLAGERFEUER

Stories

Aus dem Amerikanischenvon Dorothee Merkel

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

»The Chainsaw-Soiree« im Verlag

Thomas Dunne Books / St. Martin’s Press, New York

© 2014 by Nickolas Butler

Für die deutsche Ausgabe

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Redaktion: Ulf Müller, Köln

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture / Etsa

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98015-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10756-2

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Für Regina und Henry

und meine Eltern,

Ray und Better Butler

INHALT

Die Kettensägen-Soiree

Regenwasser

Sven & Lily

Morcheln

Reste

Unterm Lagerfeuer

Rohes Öl

Im Westen

Eisenbahnfreaks sind langsam

Äpfel

DIE KETTENSÄGEN-SOIREE

Sie hatten in einer verlassenen alten Kirche der Pfingstgemeinde Unterschlupf gefunden, hoch oben über einem Fluss auf den Felsenklippen. Sobald heftiger Regen über die Kirche hereinbrach, hallte es in ihrem Innern laut von den Wassertropfen wider, die durch das undichte Dach in die aufgestellten Metalleimer fielen. Und war der Boden unter den hölzernen Dielen erst einmal getrocknet, rasselten unzählige Klapperschlangen ihre Maracas in die Hitze hinaus und erst nachts trat Stille ein. Manchmal besuchte ich sie im Frühling, wenn die Klapperschlangen träge und sonnenhungrig wurden. Dann umstellten wir die Kirche, bewaffnet mit Macheten und Harken, und färbten das gelbe Gras rot. Es war ein herrlicher Ort.

Die Kirche war verfallen, aber ihr Garten erstreckte sich in jede Himmelsrichtung über unzählige Hektar. Umherziehende Hippies und Leute, die per Anhalter unterwegs waren, kannten Bear und Luna und das alte Gotteshaus mit den Löchern im Dach. Sie kamen und schlugen dort ihre Zelte auf und erledigten irgendwelche anfallenden Arbeiten, und im Gegenzug bekamen sie Gesellschaft und kostenlose Verpflegung. Aber ich kannte Bear noch von der Highschool. Damals waren wir immer mit denselben Mädchen zusammen gewesen.

Jedes Jahr zur Wintersonnenwende veranstalteten sie eine Art Fest. Sie nannten es Kettensägen-Soiree, denn jeder brachte eine Kettensäge mit, durch deren Einsatz genug Feuerholz zusammenkam, um die zugige Kirche während des gesamten Winters zu heizen. Am Tag einer solchen Party gingen wir frühmorgens mit einer Flasche Whiskey oder Brandy ausgerüstet in den Wald und zersägten das abgestorbene Holz, das wir dort auf dem Boden fanden, und auch die »Witwenmacher« – tote Äste, die noch an den Bäumen hingen und jederzeit herabfallen konnten. Wir benutzten Schlitten, um das Holz zurück zur Kirche zu bringen. Um das Gotteshaus herum gab es verschiedene Arbeitsstationen: Manche spalteten das Holz zu Scheiten, andere trugen die Scheite ein paar Schritte weiter, um sie dort anzuhäufen, und wieder andere schichteten sie zu dichtgefügten, säuberlichen Stapeln zusammen. Am Tag der Wintersonnenwende schien es immer, als sei die Sonne viel zu schwer, um sich noch über den Horizont zu erheben. Doch während der wenigen hellen Stunden arbeiteten wir hart und unter den zahlreichen Kleidungsschichten, die wir trugen, brach uns der Schweiß aus. Überall war das Geräusch der Kettensägen zu hören. Und später, am Abend, wurde dann ein Spanferkel über dem Feuer geröstet und ein Fass Bier aufgemacht und es gab ein Lagerfeuer und immer spielte jemand Gitarre oder Mundharmonika und irgendeine spindeldürre Frau sang den Sternen etwas vor, mit durchdringender, trauriger Stimme.

Die letzte Kettensägen-Soiree, auf der ich war, ist schon Jahre her, noch bevor Shelly und ich geheiratet haben und bevor Samuel geboren wurde. Damals war ich mit einer Krankenschwester namens Nancy zusammen. Sie arbeitete in der Geburtshilfeabteilung der Klinik, hatte kräftige blonde Haare, die sie immer zu einem Zopf geflochten trug, und roch nach Babypuder und Seife. Ich glaube, ich war in sie verliebt. Ich genoss es immer, sie abends nach ihrer Arbeit auszufragen, und sie erzählte mir dann von den Babys, die an diesem Tag geboren worden waren. Die Zwillinge und Drillinge, die seltenen Zwitter, die Totgeburten, die Schönen und die schon Verkrüppelten. Sie rauchte selbstgedrehte Zigaretten und ich habe sie noch genau vor Augen, wie sie nur mit einem T-Shirt bekleidet an meinem Küchentisch saß, mit nackten, muskulösen Beinen, auf dem Stuhl zu einem Schneidersitz verschränkt. Ihre Finger drehten Dutzende von Zigaretten und manchmal auch Joints. Morgens, bevor sie zur Arbeit ging, waren ihre Haare noch offen und schienen das Sonnenlicht in sich zu speichern wie Glasfaserkabel.

Damals fuhr ich einen Pick-up-Truck, einen alten Toyota mit rostiger Ladefläche. Während meiner Highschoolzeit hatte ich das Auto aufgebockt und die Stoßstangen durch dicke schwarze Rohre ersetzt. An jenem Morgen brachen wir noch vor Sonnenaufgang zur Kirche auf, Nancy und ich, mit einer Thermoskanne Kaffee und meiner alten Husqvarna-Kettensäge auf der Ladefläche. Unterwegs rauchten wir eine Zigarette nach der anderen. Durch die einen Spaltbreit geöffneten Fenster drang die Kälte ein, während uns gleichzeitig die heiße Luft der Heizung entgegenwehte.

Oft blies sie mir einen, wenn ich am Steuer saß. Ihr blonder Kopf wippte in meinem Schoß auf und ab, während ich versuchte, die Augen offen und das Auto zwischen den gelben Straßenmarkierungen zu halten. Ich erinnere mich noch genau an jenen Morgen, daran, wie ihr Kuss danach schmeckte und wie die Sonne über den Hügeln und den Talfurchen aufging. Nancy mochte Sex. Während ich mit ihr zusammen war, geschah es oft genug, dass wir unsere Liebe ganz offen zur Schau stellten, auch wenn ich nie wirklich mit ihr mithalten konnte und wusste, dass uns das irgendwann einmal auseinanderbringen würde. Wir hatten Sex im Lastenaufzug des Krankenhauses und auf dem Hubschrauberlandeplatz oben auf dem Gebäude und einmal auch im Leichenschauhaus im Keller. Aber dort hatten wir vorzeitig abbrechen müssen, weil ich mir einbildete, inmitten all dieser leblosen Stille ein Geräusch gehört zu haben.

Sie hatte sich auf der Sitzbank des Pick-ups wieder aufgesetzt und den Deckel von der Thermoskanne geschraubt. Der heiße Dampf beschlug das Beifahrerfenster.

»Und, wie ist Luna denn so?«, fragte sie.

Das war nicht immer ihr Name gewesen. Und ich hatte Nancy auch nicht erzählt, dass sie und ich einmal ein Liebespaar gewesen waren, früher, als sie noch Shelly hieß, und dass Bear sie mir weggenommen hatte, auch wenn ich wusste, dass man das eigentlich so nicht sagen konnte. Dass Leute nicht einfach so aus einer Liebesbeziehung entführt werden. Und ich wusste auch, dass Luna mich damals, als ich mit ihr zusammen war und sie noch Shelly hieß, nicht stürmisch, nicht wild genug fand und dass wir ohnehin nicht für immer zusammengeblieben wären. Ich beschloss, Nancy die Wahrheit zu sagen.

»Luna und ich waren mal zusammen«, sagte ich und starrte geradeaus auf die unter uns verschwindende Straße. »In der Highschool. Wir waren zwei Jahre lang ein Paar. Damals hieß sie noch Shelly. Sie und Bear hatten irgend so ’ne Umbenennungszeremonie oder so was.« Ich schwieg einen Moment. »Unsere Geschichte damals, das war nur Kinderkram.«

»Und wann hattest du vor, mir das zu erzählen?«, fragte Nancy und verschränkte die Arme.

»Ich hab’s dir doch gerade erzählt«, antwortete ich.

»Warum habt ihr euch getrennt?«, fragte sie mit scharfer Stimme.

»Sie hat was mit Bear angefangen«, sagte ich ausdruckslos. »Ich hab sie zusammen erwischt.«

Daraufhin schwieg sie eine Weile und schlürfte ihren Kaffee. Nancy hatte wunderschöne Finger – ich wurde es nie müde, ihre Hand zu halten oder zuzuschauen, wie sie eine Tasse oder ein Weinglas zwischen ihren Fingern hielt. Ihre perfekten Nägel, ihre langen, kräftigen Finger. »Menschen können echt grausam zueinander sein«, sagte sie schließlich. Und dann lehnte sie sich auf der Sitzbank an mich, legte ihren Kopf auf meine Schulter und reichte mir den Kaffeebecher. Wir waren noch weit von der Kirche entfernt und es fühlte sich gut an, so zu fahren, ihr Körper eng an meinen gepresst, während die Landschaft an uns vorüberflog: die Falken auf den Telefonmasten, die zugefrorenen, unter ihren Eismänteln unsichtbar dahinströmenden Flüsse, die Pferde, die düster und feierlich auf ihren Weiden standen.

Nach der Highschool sah ich Bear nur noch selten. Nur bei diesen Kettensägenpartys und manchmal auch im Frühling, wenn der Saft in die Ahornbäume stieg und er jemanden brauchte, der ihm dabei half, ihn zu goldenem Sirup einzukochen. Wir kamen besser miteinander klar, wenn es irgendeine Arbeit zu erledigen gab oder wenn wir danach ein Bier miteinander tranken oder uns einen Joint teilten. Dann konnten wir über das sprechen, womit wir gerade beschäftigt waren, und mussten nicht von alten Zeiten reden. Ich interessierte mich nicht mehr für die Vergangenheit oder glaubte das zumindest. Trotzdem war er immer noch irgendwie Teil meines Lebens, genau wie Luna. Es ist oft gar nicht so leicht, der Schwerkraft unserer Kindheit zu entkommen.

Die Kirche war groß und weiß und wirkte dort oben auf dem Steilhang wie ein unmöglicher Außenposten Gottes. Auf dem Hof vor der Kirche rannten Hunde umher. Sie fingen an zu bellen, als wir uns dem Gebäude näherten. In der Luft lag der Geruch von Holzrauch, und ich weiß noch, wie Nancy die Beifahrertür zuschlug und dann ihre Augen schloss und mit fröhlicher Stimme sagte: »Ich bin jetzt schon ganz glücklich hier. Ich mag diesen Ort.« Wir hielten uns an den Händen und gingen auf das Kirchenportal zu. Genau in diesem Augenblick öffnete Bear die großen Flügeltüren und stand mit einem Mal vor uns. Sein Bart war lang und schwarz, seine Augen glitzerten blau und seine Wangen hatten vom vielen Arbeiten im Freien Farbe bekommen. Ich spürte, wie Nancy meine Hand nicht mehr ganz so fest drückte wie vorher.

Ich stellte Bear und Nancy einander vor und wir gingen in die Kirche, in der es wärmer war, als ich es von irgendeiner früheren Gelegenheit in Erinnerung hatte. Es roch nach Kaffee und Schweiß und Hunden und Holzrauch und Tabak. Luna stand an der Spüle und ich konnte ihre Hände sehen, mit denen sie ein paar Rüben wusch, und sie sahen älter aus als ihr Gesicht und die Fingernägel waren ganz kurz und brüchig. Sie hob den Kopf und begrüßte uns und schließlich kam sie auch zu uns herüber und umarmte uns vorsichtig und erst als sie wieder zurück zur Spüle ging, konnte ich an der Art, wie sie lief, erkennen, dass sie schwanger war.

Bear lächelte mich an und sagte: »Im fünften Monat! Ist das zu fassen? Ich werde Vater!« Er klopfte mir auf die Schulter und ich schüttelte seine Hand und dann sagte er: »Wie wär’s? Wir könnten doch direkt darauf anstoßen, oder? Dann ist uns gleich wärmer, wenn wir mit der Sägerei anfangen.«

»Das klingt gut, Mann«, sagte ich. »Gratuliere. Nancy arbeitet in der Geburtsabteilung der Klinik, falls ihr da hingehen wollt, wenn’s so weit ist.«

»Wow«, sagte Bear. »Das ist bestimmt eine ganz wunderbare Arbeit.« Er hatte eine Art, die Menschen ganz nah an sich zu ziehen, ihnen das Gefühl zu geben, sie seien wichtig und bedeutend, und er war ein guter Zuhörer. Ich konnte sehen, wie der Blick, mit dem ihn Nancy ansah, viel weicher wurde. Sie liebte es, über Babys zu sprechen.

»Das ist die beste Arbeit auf der ganzen Welt«, sagte sie mit Nachdruck und Wärme in der Stimme. »Es macht mich echt glücklich. An manchen Tagen darf ich mich gleich zehn- oder zwölfmal wie eine Mutter fühlen. Gestern haben wir vier Babys auf die Welt gebracht. Zwei Zwillingspaare.«

Luna kam von der Spüle wieder zu uns herüber, während sie ihre Hände an einem alten, verschlissenen Handtuch abtrocknete. »Ich will das Baby hier bekommen«, sagte sie und schlang einen Arm um Bears Taille. »Ich hasse Krankenhäuser. Ich habe alle Menschen, die mir jemals was bedeutet haben, im Krankenhaus verloren.« Bear legte einen Arm um ihre Schultern, zog sie eng an sich heran und starrte auf die Bodendielen.

Nancy sagte: »Das ist echt mutig. Es gibt viel zu viele Frauen, die Angst vor der Geburt haben. Aber wir sind ja schließlich dafür gemacht.« Sie ging zu Luna hinüber und legte sanft die Hände auf ihren Bauch. Luna schob Nancys Hände nach oben, bis fast an ihren Brustkorb.

»Spürst du das?«, fragte sie.

»Kleine Füßchen«, sagte Nancy und strahlte.

Luna sagte: »Komm mit, ich würde gern mit dir über meine Vorbereitungen sprechen.« Die beiden Frauen gingen in den Teil der Kirche, wo die Küche war, und ich konnte sehen, wie Luna Tee in zwei Tassen goss.

»Und, was ist jetzt mit dem Drink?«, fragte ich.

»Kommt sofort«, sagte Bear und goss einen Fingerbreit Whiskey in zwei Saftgläser. Wir stießen an und tranken die Gläser in einem Zug aus.

»Auf die Arbeit!«, sagte er laut.

»Aufs Vaterwerden!«, sagte ich ebenso laut.

Wir gingen hinaus in die Kälte, wo in diesem Augenblick drei alte Pick-up-Trucks von der Landstraße abbogen und in Richtung Kirche fuhren.

Bear und ich arbeiteten immer zusammen im Zweierteam, jedes Jahr. Wir wechselten uns mit der Kettensäge ab, bündelten abgebrochene Äste mit Kabeln oder Ketten, zerlegten bei unserem Gang durch den Wald umgestürzte Bäume und schichteten sie zu Pyramiden auf. Andere Teams schafften das Holz dann zur Kirche, wo wieder andere mit dem Holzhacken beschäftigt waren. Es war ein guter Tag, um draußen im Wald zu sein. Die Sonne schien klar und kräftig und es war ziemlich warm für die Jahreszeit. Wir hatten hart und schweigend gearbeitet, bis Bear schließlich seine Stirn abwischte und sich schwer auf den breiten, uralten Baumstumpf einer längst vergangenen Eiche fallen ließ.

»Ich wollte eigentlich gar nicht Vater werden«, sagte er. »Und um ehrlich zu sein, habe ich eine Höllenangst.«

Ich schaltete die Kettensäge aus und einen Moment lang waren wir von ihrem blauen Rauch umhüllt, den Nachhall ihres Getöses noch im Ohr. Ich setzte mich neben ihn und es gab da etwas in mir, das voller Genugtuung vor sich hinzusummen schien, denn Bears Leben hatte in allen Dingen immer nur ihm selbst gehört, ohne dass er auch nur eine Sekunde von irgendjemandem Trost oder Zuspruch gebraucht hätte. Er führte sein Leben mit bezaubernder, müheloser Leichtigkeit und gehörte zu den Menschen, die einen staunend zurücklassen und über die man verwundert und neidisch den Kopf schüttelt. Er war die Art Mann, der jede Frau abschleppen konnte, die er wollte, egal auf welche Party er ging. Der sich an ein Klavier setzen und dann so wunderschön spielen konnte, dass die Zuhörer vor lauter Begeisterung still vor sich hin weinten. Ich war einmal Zeuge gewesen, wie er einen Baseball über hundertzwanzig Meter weit schlug – der Trainer hatte sogar das Training abgebrochen, damit das Team nachmessen konnte, wie unglaublich weit sein Schlag gewesen war. Wir schritten alle die Entfernung ab, bis noch hinter die Abgrenzung des Outfields hinaus, während sich in unseren Köpfen die Zahlen bis ins Unfassbare addierten. Später hörte er dann mit dem Baseballspielen auf. Er behauptete, es würde ihn langweilen.

»Das geht doch bestimmt jedem so«, sagte ich mit hilfloser Einfalt.

»Ich will es nicht«, sagte er. »Ganz und gar nicht. Sie legt meine Hände auf ihren Bauch und ich kann fühlen, wie es sich bewegt, und es jagt mir einfach nur Angst ein. Als wäre da was, das es auf mich abgesehen hat.«

Ich schwieg.

»Sie hat gesagt, dass das jetzt einfach dran war. Dass ich sie nicht ordentlich geheiratet habe. Dass sie ihr eigenes Leben opfern musste, um so zu leben, wie wir leben, und dass sie das Baby verdient hat und ich ihr das schuldig bin. Sie hat sogar gedroht, mich zu verlassen«, sagte er. »Sie versucht immer wieder, mich davon zu überzeugen, dass ich es ganz toll finden werde, aber ich weiß genau, dass es eben nicht so sein wird, weil ich es überhaupt nicht will. Kannst du nicht mal mit ihr reden?«

Ich sah ihn an. »Was soll ich ihr denn sagen?«, fragte ich.

»Ach, vergiss es«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Scheiße, du hast recht. Ich hab keine Ahnung.«

Wir blieben eine Weile so sitzen, bis die Kälte in unsere nassgeschwitzte Kleidung drang, und dann standen wir auf und gingen langsam wieder an die Arbeit, diesmal mit wesentlich weniger Elan. Die Sonne war ein silbernes Glänzen und über unseren Köpfen rauschte eine Krähe durch die kalte Luft, mit Flügeln wie aus Papier. Hier und dort konnte ich im Wald die anderen Teams sehen, wie sie paarweise arbeiteten, mit surrenden Kettensägen, während das gelbe Sägemehl in den Schnee spritzte und die Luft aus den Eingeweiden der gefällten Bäume wich.

»Ich hab noch nie in der Falle gesessen, hab mich noch nie von irgendwas einengen lassen«, sagte Bear. »Von nichts und niemandem. Letztens, nachts, da hat sie neben mir im Bett gelegen und ich konnte spüren, wie mir das Kind in den Rücken trat. Kannst du dir das vorstellen?«

»Du wirst ein toller Vater sein«, log ich. Er schaute zu mir hoch, blinzelte in das vom Schnee reflektierte Licht und sagte: »Ich hab da ’ne Überraschung für dich.« Er lief tiefer in den Wald hinein und ich folgte ihm, wie ich das immer getan hatte. Die Kettensäge wog schwer in meiner Hand. Ich sah ihm zu, wie er sich so flink bewegte, als wäre er selbst ein Tier des Waldes. Wir gingen an Kletteneichen und Ahornbäumen und Espen vorbei, an Zedern und Weißkiefern bis an den Steilhang, wo die Welt ins Leere stürzte und sich tief unter uns das blaue Band eines Flusses schlängelte, dessen Namen ich nicht kannte.

Der Baum war ein Koloss, eine gigantische Pyramidenpappel. Seine Wurzeln schienen den Felsen vor dem Einsturz zu bewahren, so als streckte er seine unterirdischen Finger aus, um mit ihnen die Felsblöcke wie lauter Murmeln zu umklammern. Bear schickte sich an, auf den Baum zu klettern, nachdem er die Kettensäge unten auf den gelben Fels gelegt hatte. Ich krallte die Finger in die knorrige Rinde und begann, mich ebenfalls nach oben zu arbeiten, kletterte mit ihm um die Wette, während sich jeder seinen eigenen Weg um den Baum suchte, unterschiedlichen Verästelungen in die Höhe folgte, bis ganz nach oben, wo ein paar tote Blätter hingen, als hätte dort jemand seine etwas seltsame Wäsche aufgehängt. Wir lachten und keuchten laut, während wir kletterten. Die grellweiße Welt unter uns entfaltete sich bis ins Unendliche. Meine Lungen fühlten sich kalt und riesig an.

Von seinem Platz im Wipfel, auf dem er hockte wie ein Huhn auf der Stange, sagte Bear zu mir: »Nancy ist sehr schön.« Aber er sah mich nicht an, sondern starrte auf den Fluss in der Tiefe.

Du hast doch schon alles, dachte ich und nickte. »Es wird schon alles in Ordnung kommen«, sagte ich zu ihm. Unsere Bemerkungen waren wie Flugzeuge, die in großer Höhe aneinander vorbeiflogen, meilenweit voneinander entfernt.

»Ich glaube, ich bin einfach nicht dafür gemacht, mit nur einer Person zusammen zu sein«, sagte er, und die Traurigkeit in seiner Stimme klang irgendwie spöttisch.

»Liebst du sie denn nicht?«, fragte ich. Ich hatte sie vor vielen Jahren geliebt. Liebe war das Gefühl, das mir immer schon am leichtesten gefallen war.

»Ja«, sagte er langsam. Und dann: »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich bin nicht dazu in der Lage, jemanden zu teilen. Ich will den ganzen Menschen für mich allein.«

Die Sonne stieg bereits vom Himmel und der Wind in dem Baumwipfel ließ uns frösteln. Ich wartete, bis Bear hinunterkletterte, und dann tat ich es ihm nach. Der Abstieg war entsetzlich. Ich klammerte mich verzweifelt an die Pyramidenpappel und konnte den Weg nicht mehr erkennen, den ich beim Heraufsteigen genommen hatte. Ich sah, wie Bear den Boden erreichte, die Kettensäge aufhob und einfach davonging.

»Bear!«, brüllte ich.

Er drehte sich zu mir um. »Nun mach schon, dass du runterkommst! Ich brauch dringend ein Bier!«

Mein Gesicht glühte, vielleicht hatte ich mir ja trotz der Kälte einen Sonnenbrand geholt. »Ich kann nicht!«, stammelte ich.

Er setzte die Kettensäge wieder ab, kam zurück zum Baum und sagte: »Setz deinen linken Fuß in den kleinen Hohlraum da.«

»Ich schaff’s nicht, Ben«, sagte ich und benutzte den Namen, den er schon seit Langem aufgegeben hatte.

»Verdammt noch mal, Mann«, sagte er. »Ich kann doch da jetzt nicht hochkommen und dich runterziehen! Ich muss zurück und Luna mit dem Essen helfen. Du wirst es schon irgendwie schaffen.« Er hob die Kettensäge wieder auf und verschwand im Wald, ließ mich dort in der Höhe zurück, gegen das Schwanken des Baumes gepresst, der in dem immer kräftiger werdenden, vom Flussbett heraufwirbelnden Wind vor sich hin tanzte. Die Sonne kauerte über dem westlichen Horizont und die Rinde des Baumes verlor nach und nach ihre Wärme. Ich war zehn Meter über dem Erdboden.

Kurz bevor es vollends dunkel wurde, in den allerletzten Ausläufern der Dämmerung, hastete ich den Baum hinunter, rutschte zwischen den Ästen hindurch, voller Angst, dass auch noch das letzte bisschen Licht verschwand und ich dann über dem Felsabgrund gestrandet wäre. Während ich wütend, mit vom Klettern zerschnittenem Gesicht und zerschundenen Händen, durch den Wald stapfte, konnte ich hören, wie die Kettensägenparty an Fahrt aufnahm. Meine eigene Säge wog seltsam leicht in meinen Händen, während ich dem Licht des Lagerfeuers und dem weithin schallenden Gelächter entgegenging.

Sie vertrieben sich die Zeit damit, das Benzin direkt aus ihren Mündern ins Feuer zu blasen. Die Flammen dröhnten hinauf in die weiche, noch unberührte Nacht und die Funken zerstoben im schwarzblauen Abend. Ein bärtiger Mann sägte irgendeine Melodie auf seiner Geige und die Musik klang wie ein urzeitliches fleischliches Ritual. Im Schatten der Dunkelheit konnte ich noch die Grube sehen, wo man das Spanferkel geröstet hatte. Seine Überreste waren nur noch ein chaotischer Wust aus bloßgelegtem Fleisch, an dem die Leute mit ihren Fingern herumzupften, die Gesichter von Arbeit und Hunger verschmiert. Ich ging zu dem Bierfass, das schwergewichtig wie ein dickbauchiger Mann in einer Schneewehe stand, und trank direkt aus dem Zapfhahn, so lange, bis mir auch eine andere Hitze als nur die der Wut in den Kopf stieg. Ich konnte Nancy nirgends entdecken und hätte diese Kettensägenparty am liebsten sofort verlassen, aber mein Pick-up war von anderen Fahrzeugen zugeparkt und außerdem konnte ich nicht ohne sie fahren. Ich machte mich daran, die schemenhaften Gesichter der Party abzusuchen. In der Luft lag der Geruch von Marihuana und ich sah zwei Frauen, die sich in den Schnee gelegt hatten und mit ausgestreckten Armen und Beinen Engel formten.

Es war Luna, die mich schließlich fand, während ich durch den Wald irrte. Ich hatte gerade ein Liebespaar gestört, das sich in der Nacht erging: Die Frau hatte sich über einen Stapel Feuerholz gebeugt und ihr Liebhaber drang von hinten in sie ein. Ihre Hintern leuchteten in der Dunkelheit. Ich war ganz leise zu ihnen gestoßen und verstand zuerst gar nicht, was da vor sich ging, und dann hatte ich Angst, es könnte Nancy sein, so dass ich schließlich auf sie zurannte und der Mann sich umdrehte und sagte: »Willst du auch mal?«, während er seinen Schwanz in der Hand hielt wie einen Werkzeugknochen.

Ich hatte mich abgewandt und war betrunken immer weiter von den Lichtern weggewandert, Nancys Namen vor mich hin murmelnd, als Luna mich mit einer Hand an der Schulter packte. In der anderen Hand hielt sie eine hin- und herschwingende Laterne, deren zittriges goldenes Licht über den Waldboden huschte.

»Noah!«, rief sie. »Noah!«

Ich fiel in den Schnee und blieb dort einfach sitzen, sah zu ihr hoch, zu dieser Frau, die ich schon gekannt hatte, als wir beide noch zwei linkische Teenager waren, Kinder, die auf der Matratze herumknutschten, die ich auf die Ladefläche meines Pick-ups gelegt hatte, während die Lichter des Autokinos die Sommernacht erhellten. Ich erinnere mich noch, wie ich damals immer Glühwürmchen in ihren roten Haaren fand und wie blass ihre weiße Haut war. »Shelly«, sagte ich. »Shelly, ich glaub, ich bin betrunken.«

Sie kniete sich in den Schnee und berührte mein Gesicht mit ihren behandschuhten Händen.

»Du siehst ja schrecklich aus«, sagte sie und lachte leise, während sie mit den Fingern mein Kinn hob. Ihre Augen waren nass.

»Ich freue mich so für dich«, sagte ich. »Du wirst eine wunderbare Mutter sein.« Diesmal log ich nicht, und die Vorstellung, wie sie ihr Baby im Arm hielt, brachte mich beinahe zum Weinen vor lauter Glück und Sehnsucht und dann weinte ich tatsächlich und die Tränen fühlten sich heiß an und brannten in dem Wundschorf, der sich eben erst auf meinen Wangen und meiner Nase gebildet hatte.

Ich wollte unbedingt Vater werden, seit ich Nancy kennengelernt hatte. Das war an dem Abend von Thanksgiving gewesen, als ich mit meiner Mutter ins Krankenhaus gefahren war. Sie hatte sich beim Zerlegen des Truthahns in die Hand geschnitten, und ich erinnere mich noch, wie sie an der Spüle stand, das Wasser über ihre blutenden Finger laufen ließ und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. »Das kommt schon von allein in Ordnung«, sagte sie zu mir und bedeckte die Wunde schnell mit einem Handtuch, und ich sagte: »Auf keinen Fall, Mama«, und dann fuhren wir in die Notaufnahme, wo wir zehn Minuten im Wartezimmer saßen und dabei im Fernsehen den Höhepunkten der morgendlichen Thanksgiving-Parade in irgendeiner weit entfernten Stadt zusahen. Schließlich nahmen sie meine Mutter in die Notaufnahme mit und ich blieb sitzen und blätterte in irgendwelchen alten Zeitschriften. Dann stand ich auf, ging ziellos durch das Krankenhaus und geriet in die Geburtsstation und das Zimmer mit den Neugeborenen, wo Babys aufgereiht in kleinen, durchsichtigen Kästen lagen, keine Krippen oder Kinderbetten, sondern Kästen, und all die winzigen Leiber waren fest eingewickelt und trugen blaue oder rosa Mützen auf ihren Köpfchen. Manche schliefen und manche weinten. Nancy ging von einem Kind zum anderen, hob sie hoch und zog sie an sich. Während sie sie im Arm hielt, wiegte sie sich hin und her, als würde sie tanzen, und ihre Lippen waren ganz nah an ihren kleinen Köpfen. Ich beobachtete sie vollkommen gebannt, bis meine Mutter mit verbundenem Finger wieder neben mir stand. Sie drückte sich liebevoll an mich und es war mir nicht peinlich. Nancy hatte uns gar nicht bemerkt.

»Du warst ein so wunderschönes Baby«, sagte meine Mutter. »Wir haben dich schon geliebt, bevor du überhaupt auf der Welt warst.«

Ich sagte nichts, schaute nur weiter auf Nancy, und mein Körper fühlte sich plötzlich ganz locker und entspannt an. Aus allen Richtungen umgaben uns die Geräusche des Krankenhauses, hüllte uns das kühle und abgedunkelte Gebäude ein. Und dort vor mir stand diese schöne Frau, die sich hin und her wiegte, hinter der riesigen Glasscheibe, die uns von all den winzigen Gesichtern trennte. Mich erfasste plötzlich eine glückliche Schlaftrunkenheit.

»Du bekommst auch noch deine Chance«, sagte meine Mutter.

Aber schon damals, noch bevor ich deswegen zu irgendeinem Arzt gegangen war, hatte ich das Gefühl, dass ich niemals ein Kind zeugen würde. Dass in mir etwas kaputt gegangen war. Es gab Momente in meinem Leben, die ich als Erklärung für dieses Gefühl hätte anführen können – die geschliffene Spitze eines Schlittschuhs, den bestollten Fuß eines auf dem Footballfeld davoneilenden Verteidigers, Augenblicke, in denen meine Physis an gewissen Stellen Verletzungen erlitten hatte. Aber je mehr ich mich danach sehnte, Vater zu werden, desto mehr wurde mir klar, dass ein Kind, das ich womöglich großziehen würde, niemals meiner eigenen genetischen Linie entstammen würde. Ich würde ein Stellvertreter sein. Und mit der Zeit, bevor ich auf jene letzte Kettensägenparty ging, hatte ich mich mit diesem mir innewohnenden Mangel abgefunden und angefangen, darauf zu warten, dass irgendwelche Waisen in mein Leben treten würden, wie golden leuchtende Gesandte.

Einen Tag später ging ich zurück ins Krankenhaus und machte Nancy ausfindig. Ich hielt einen Strauß Blumen in der Hand und ihre Kolleginnen wurden ganz rot und applaudierten dann leise mit tanzenden Augen. Ich hatte mir eben erst die Haare schneiden lassen und mich extra für diesen Anlass neu eingekleidet. Nancy hielt gerade ein Baby im Arm. Ein frischgeborenes Mädchen namens Daphne.

Shelly holte tief Atem und sagte: »Ich will von hier weg. Nimmst du mich mit?«

»Warum?«, fragte ich.

Sie wischte mit ihren Fingern die Nässe aus meinem Gesicht.

»Lass uns gehen«, sagte sie und zog mich hoch.

»Ich muss Nancy holen«, beharrte ich.

»Mach das nicht«, sagte Shelly. »Geh sie nicht suchen.«

»Aber ich muss doch«, sagte ich traurig. »Sie ist mit mir gekommen. Ich liebe Nancy.«

Das Lagerfeuer war außer Kontrolle geraten und wir umrundeten die Party am äußersten Rand. Ein Mann jonglierte gerade mit drei Kettensägen. Alle drei Geräte waren eingeschaltet und knatterten vor sich hin und immer wenn eine der Sägen in seine Hände fiel, drehte er den kleinen Motor auf, so dass sich die Sägezähne unablässig im Kreis drehten und im rußdurchtränkten Licht funkelten. Der Geiger stand schwitzend am Feuer. Er hatte sein Hemd ausgezogen und der Bogen, mit dem er seine wilde Musik in die Nacht hinausschickte, tanzte über die frostkalten Saiten. Als wir an der Grube vorüberliefen, war von dem Spanferkel nichts mehr übrig außer dem Antlitz einer verzerrten Kreatur und vier Klauen.

Im Innern der Kirche wiegten sich die Kerzen auf den Fensterbänken und auf dem Boden lagen zahlreiche Körper. Ein Mann ging zwischen den Leibern hin und her und verteilte Portionen von LSD. Die Bittsteller auf der Erde streckten ihre Zungen aus, als wären sie im Begriff, die Oblate des heiligen Abendmahls zu empfangen. Sie hörten ein altes Vinyl-Album auf einem noch älteren, mit einer Handkurbel betriebenen Plattenspieler und dort in der Dunkelheit stand ein anderer Mann und hielt das uralte Gerät in Gang.

Ich fand die beiden auf dem Dachboden. Nancy saß im Bett, auf seinem Gesicht, und sein Bart wogte über ihr Gesäß und ihre Beine, und das war das letzte Mal, dass ich sie sah, wie sie die Hände in ihren Haaren vergraben hatte und sich den Kopf hielt und wie seine Finger in ihrem Mund steckten und ihre Brüste schwer und wunderschön im Innern der Kirche prangten, während das Licht des Lagerfeuers durch die hohen Fenster und das bunte Glas torkelte und das Gebäude zu einer grauenerregenden Halluzination werden ließ, die ich nie vergessen werde.

Shelly stand draußen vor der Kirche und hielt eine Reisetasche in der Hand.

»Ich könnte diesen Schuppen hier niederbrennen«, sagte sie.

»Lass uns gehen«, sagte ich, nahm ihre Tasche und schmiss sie auf die Ladefläche meines Pick-ups.

»Aber du bist zugeparkt«, sagte Shelly.

»Warte an der Straße«, sagte ich.

Sie ging hinaus in die Dunkelheit und ich kletterte in den Wagen und ließ den Motor an. Dann schaltete ich den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die großen schwarzen Rohre am Heck des Fahrzeugs donnerten in das Auto hinter mir und schoben es in das nächste Fahrzeug hinein. Man konnte das Geräusch von zerbrechendem Metall und Glas hören. Ich schaltete den Vorwärtsgang ein, wuchtete das Fahrzeug nach vorn und schob den vor mir stehenden Wagen an die drei Meter vor mir her in Richtung Lagerfeuer, wo die Musik plötzlich verstummt war und alle drei fliegenden Kettensägen in den Schnee fielen. Dann legte ich wieder den Rückwärtsgang ein und demolierte noch ein weiteres Auto, bevor ich auf die Straße hinausfuhr. Shelly stieg vorsichtig ein, wobei sie sich den Bauch hielt. Und so verließen wir die verfallene Kirche und all diese verbeulten Autos und das Lagerfeuer und das Spanferkel und die heimlichen, neugebildeten Liebespaare.

Ich zog Samuel mit Liebe und Hingabe auf. Und auch wenn er zu einem Jungen wurde, der in unendlich vieler Hinsicht seinem Vater ähnelte, als wir beide Kinder waren, fand ich doch manchmal in seinen tiefblauen Augen und dunklen Haaren Trost. Wenn Samuel und ich fischen gingen oder auf der Suche nach Morcheln oder essbaren Farntrieben durch den Wald stapften, dann kam es mir manchmal, wenn ich zu ihm hinüberschaute, so vor, als wäre ich auf einer Zeitreise, zurück in der Vergangenheit, in einer Zeit, als Bear und ich die engsten Freunde waren und zusammen die Welt erforschten.

Einmal fuhren wir während der Wintersonnenwende zu der Kirche. Shelly hatte gesagt: »Ich möchte es mir noch mal ansehen, noch ein einziges Mal.« Also kletterten wir drei in den Pick-up und fuhren los, nach Südwesten in Richtung des großen Flusses. Aber dort gab es keine Soiree mehr. Keine Kettensägenkakophonie erklang in den umliegenden Wäldern und als wir an der Kirche ankamen, sah sie verlassen aus und über beide Eingangstüren war ein großes Brett genagelt. Die weiße Farbe des Kirchturms und der Kapelle war schon fast überall abgeblättert und ein paar der Fensterscheiben waren zerbrochen oder von spinnwebenartigen Rissen durchzogen.

»Ich frage mich, wo sie wohl gerade sind«, sagte ich.

»Wer?«, fragte Samuel.

»Zwei alte Freunde«, sagte Shelly, aber in ihrer Stimme schwang keinerlei Wärme mit.

»Deine Mama hat hier früher mal gewohnt«, sagte ich.

Samuel drehte schnell den Kopf und starrte Shelly an. »Da drin?«, fragte er.

»Du wärst beinahe dort geboren worden«, antwortete sie.

»Gut, dass ich woanders geboren bin«, sagte er und rutschte auf dem Sitz hin und her. »Es sieht aus, als würde es da spuken.«

Dann fuhren wir wieder, weg von der Kirche und weg von dem Ort, an dem all jene Kettensägenpartys stattgefunden hatten. Viele Jahre später erfuhr ich, dass die freiwillige Feuerwehr das Gebäude niedergebrannt hatte, bis nur noch rußgeschwärzte Erde übrig war. Ich war bei einer Hochzeitsfeier einem der Feuerwehrmänner begegnet und er hatte die Kirche bis ins Detail beschrieben und dann zu mir gesagt: »Nachdem wir das Feuer gelegt hatten, brannte es sehr schnell, und dann, das war echt kaum zu glauben, dann kamen unter dem Gebäude Hunderte von Schlangen hervorgekrochen und die halbe Mannschaft ist davongerannt. So was hab ich noch nie erlebt.«

»Früher hatten die immer Partys da, an dieser Kirche«, sagte ich. »Kettensägenpartys. So habe ich meine Frau kennengelernt.«

REGENWASSER

Der alte Mann und sein Enkelsohn saßen in der Hollywoodschaukel auf der Veranda und schauten dem Regen zu. Den Rhythmus ihres Schaukelns bestimmte der alte Mann; die Füße des kleinen Jungen baumelten mit offenen Schnürsenkeln wenige Zentimeter über der absackenden Veranda. In der breiten, nur aus Gras und Lehm bestehenden Auffahrt sammelte sich das Wasser in den Furchen und in der Nähe der Scheune wippten die Hühner mit ihren Köpfen, gurrten laut, staksten umher und zogen die Regenwürmer aus der schwarzen, aufgeweichten Erde. Die Fahne hing traurig und schlaff von der rostigen, schiefen Stange herunter.

»Wo ist meine Mama?«, fragte der Junge. Aber er klang nicht unglücklich. Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und sah den alten Mann an, der einfach nur weiter in die Ferne starrte und langsam mit seinen blassblauen Augen blinzelte. »Opa?«

Der alte Mann zog seinen Enkel näher an sich heran und rieb ihm mit seiner greisen geschwollenen Hand über den flachsblonden Kopf. Sie war zu spät dran, einen ganzen Tag zu spät, und bei keiner der Nummern, die der alte Mann angerufen hatte, meldete sich jemand. Er ging nicht gerade davon aus, dass sie in Gefahr war; sie war einfach nur wild, war es immer schon gewesen. Sie gab den Jungen freitagnachmittags einfach bei ihm ab wie ein Paket. Ließ kein Essen für ihn da und auch kein Spielzeug und manchmal auch keine Kleider zum Wechseln. Was wusste der alte Mann schon, wie man sich um ein Kind kümmerte? Also fuhr er mit dem Jungen freitagabends in die Stadt und sie aßen in einem Restaurant neben der Bahnstrecke zu Abend, schauten den vorbeifahrenden Güterzügen zu und teilten sich einen Eisbecher. Fuhren zur Gemischtwarenhandlung und kauften Spielzeuglaster und -traktoren, Unterhosen für kleine Jungs, Overalls, dicke Socken, T-Shirts und Pullover. Der Junge schlief dann immer auf der Sitzbank des Pick-ups ein, während sie über die holprigen Landstraßen zurück zu der stillgelegten Farm fuhren. Dort parkte der alte Mann den Wagen und blickte den kleinen Jungen eine Weile bewundernd an, bevor er ihn hochhob und ins Haus trug, zu seinem eigenen Bett, wo er ihn hinlegte und ihm das Betttuch und die graue wollene Decke bis über die Schultern zog, ihm die Stirn küsste, seine Kleine-Jungen-Ohren berührte und sich dann hinsetzte, dem Ticken seines Weckers lauschte und darauf wartete, dass der Wagen seiner Tochter über den Kies gefahren kam, bis er schließlich irgendwann in die Küche ging, sich eine Tasse kalten Kaffee eingoss, die Hände rang und sich stumm fragte, was er falsch gemacht, in welcher Hinsicht er sie im Stich gelassen hatte.

»Wart mal ’ne Sekunde«, sagte der alte Mann. »Bleib da sitzen. Ich bin gleich wieder da.«

»Opa«, sagte der Junge zögernd, und der alte Mann erkannte den leisen Anflug von Angst in seiner Stimme. Er fürchtete sich schon bei dem Gedanken, auch nur eine Sekunde allein gelassen zu werden. Der Junge saß da wie ein Häuflein Elend und sah ihn an.

Der alte Mann wies durch die Fliegengittertür ins Innere des Hauses. Er räusperte sich. »Ich muss mal pinkeln.«

Der kleine Junge nickte und fand es anscheinend hinnehmbar, aus diesem Grund verlassen zu werden. Der alte Mann ging ins Haus und bemühte sich dabei, die Tür mit dem Fliegengitter nicht zuknallen zu lassen. Er ging durch das Wohnzimmer mit dem uralten Fernseher und der Standuhr und den Gemälden von Enten und den staubüberzogenen Lockvögeln und ausgestopften Hirschköpfen und den abgewohnten Möbeln. Er ging ins Bad, schloss die Tür, setzte sich auf den kühlen Toilettensitz aus Porzellan und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. Vielleicht, dachte er, vielleicht kommt sie ja gar nicht mehr heim. Sein Urin kam nur sehr stockend. Er stellte sich vor den Spiegel, wusch seine Hände und schaute sich ins Gesicht: sah seine weißen Haare, die geborstenen Äderchen um Nase und Wangenknochen, die lose Haut unterm Kinn, die aussah wie ein Truthahnkropf, den Zweitagebart. Ich muss mich besser um mein Aussehen kümmern, ihm zuliebe, dachte er. Ich muss stark sein. Von der Veranda her konnte er das kleine Stimmchen hören. Opa, Opa, Opa…

In der Küche suchte er sich einen Zinnbecher und trottete dann zurück zu dem Jungen, der auf der Schaukel saß und zu ihm hochlächelte.

»Da«, sagte der alte Mann und gab dem Jungen den Becher.

Der Junge starrte hinein. »Er ist leer.«

»Hast du schon mal Regen getrunken?«

»Nein. Mama lässt mich nicht nach draußen, wenn’s regnet.«

»Nun, ich erlaub’s dir.«

»Ich hab eigentlich gar keinen Durst.«

»Na, dann bring mir halt einen Becher voll.«

Der Junge rutschte von der Schaukel, näherte sich dem Rand der Veranda, wo die Stufen hinunter in das hochgewachsene, von Löwenzahn durchsetzte Gras führten. Er hielt den Becher ins Freie. Der Regen fiel aus der Dachrinne, in großen, langsamen, gemessenen Tropfen. Der alte Mann ging zur Schaukel und sah mit verschränkten Armen zu. Bei der Kindererziehung, daran erinnerte er sich jetzt, ging es eigentlich nur darum, Arbeit zu erfinden, irgendwelche Arbeit, Beschäftigung, Spiele.

»Nein, geh ruhig da raus«, sagte er. »Geh raus in den Regen. Bring mir was ganz Frisches. Nicht dieses Zeugs, das vom Dach heruntertropft. Geh schon. Es ist ganz egal, wenn du nass wirst.«

Der Junge trat hinaus in den Regen. Die Tropfen ließen die blaue Baumwolle seines Hemdes fast schwarz werden und strichen ihm das Haar glatt nach hinten. Er lachte. »Es ist ganz warm.«

Der alte Mann lächelte hinter vorgehaltener Hand. »Na los. Hol mir den frischen Regen.«

Der Junge entfernte sich weiter von der Veranda. Im Himmel über ihm hing eine dichtgedrängte Schar grauer, tiefsitzender Wolken. Er hielt den Becher erst mit weit ausgestrecktem Arm von sich und hob ihn dann über den Kopf.

»Wie schmeckt Regen denn?«, rief der Junge.

»Wie Wolken. Hauptsächlich wie Wolken, glaube ich.«

Der Junge nahm den Becher wieder herunter und warf einen Blick hinein. »Ist das genug?«

»Ja, bring ihn nur her. Wenn du’s nicht trinken willst, ich tu’s bestimmt.«

Der Junge kletterte die Stufen zur Veranda wieder hoch und passte dabei sorgfältig auf, dass er nichts verschüttete. Er reichte den Becher seinem Großvater, krabbelte flink in die Schaukel, setzte sich, verschränkte die Hände im Schoß und sah den alten Mann an.

Der alte Mann hielt den Becher eine ganze Weile in den Händen und schaute auf das Wasser, das sich darin gesammelt hatte. Dann dachte er: Ich weiß nicht, ob ich jemals schon probiert habe, wie Regen schmeckt. Er versuchte sich an irgendeinen Sommernachmittag zu erinnern oder einen Frühlingsabend, an dem er vielleicht draußen auf einem Spaziergang mit seiner Frau gewesen war, in der Stadt oder auf dem Traktor oder sogar damals in Kriegszeiten, als er irgendwann einmal womöglich seinen Mund geöffnet hatte, um einen Regentropfen zu erhaschen, als vielleicht seine junge Zunge aus seinem Mund gehuscht war, um über die vom Regen genässten Lippen zu lecken. Aber er erinnerte sich an nichts dergleichen.

»Opa?«

»Nimm du den ersten Schluck. Du hast es ja schließlich gesammelt, dann solltest du’s auch trinken.«

»Ehrlich?«

»Klar. Es gehört dir.«

Der Junge setzte den Becher an die Lippen und nahm einen kleinen geräuschvollen Schluck. Der alte Mann sah ihm zu.

»Und?«

»Ich glaube, es schmeckt ganz gut. Willst du mal probieren, Opa?«

»Klar, das würd ich gern. Gib das Ding mal her.«

Dann saßen sie eine Weile so da, während der alte Mann die Schaukel hin- und herschwingen ließ, indem er mit der rechten Hand in eine der Ketten griff, mit denen die Schaukel an der Verandadecke befestigt war. Die Luft roch nach Ozon und der Regen prasselte nun sehr viel stärker und heftiger herunter. Der Boden erzitterte, als in weiter Ferne ein Blitz einschlug, und dann erklang das tiefe, kehlige Geräusch des Donners. Der Junge rutschte ein wenig näher an seinen Großvater heran, so dass sie nun, so dicht es eben ging, beieinandersaßen. Der alte Mann hatte seine Hand in den Haaren des Jungen vergraben. Ihre Haut sog die Feuchtigkeit auf und die Luft war derart mit Elektrizität geladen, dass die Haare auf ihren Armen zu Berge standen, wie bei zwei verängstigten Katzen.

Der alte Mann setzte den Becher an die Lippen und trank. Ein Blitz durchzuckte den Himmel, ein blaues und hitziges weißes Leuchten, wenig mehr als einen Kilometer entfernt, und das Geräusch, das ihnen entgegenschlug, ließ sie zusammenfahren. Die Luft zischte. Der alte Mann fragte sich, was seine Tochter wohl gerade tat. Fuhr sie ihnen entgegen, während die Scheibenwischer ihres Wagens hektisch das Wasser in Richtung der gelbleuchtenden Mittellinie katapultierten? Oder lag sie irgendwo mit halbgeschlossenen Augen in glückseliger Besinnungslosigkeit, einen Gürtel um den bleichen mageren Arm geschnürt, schräg vom Stuhl gesunken oder auch unmittelbar auf dem schmutzigen Boden? Oder war sie irgendwo mit zwei Fremden in einem Motelzimmer, trank ihr Lieblingsgetränk Southern Comfort aus durchsichtigen Plastikbechern, während die anderen, mit ihren Kreditkarten auf dem Nachttisch klappernd, ein paar dünne weiße Linien zogen? Oder wieder woanders: im Straßengraben, auf dem Rücksitz einer Limousine, in einem Greyhound-Bus, in einem Krankenhaus – wo war sie, wo, wo?

Er trank den Rest des Regenwassers und begann, mit immer wilderem Schwung zu schaukeln. Er umarmte das Kind heftig und spürte, wie seine Lippen den Kopf des Jungen küssten.

»Komm«, sagte er, »lass uns reingehen. Wir stecken dich in die Badewanne und schmeißen deine Kleider in den Trockner.«

»Opa«, sagte der Junge. »Hast du die Wolken geschmeckt?«

Der alte Mann schaute zur überschwemmten Auffahrt hinüber und hielt den Becher in seinen Händen. Ein so winziger Becher.

»Opa?«

»Na, komm schon«, sagte der alte Mann. »Lass dich nicht zweimal bitten.«

Im Innern des Hauses ließ der alte Mann ein Bad ein. Der Dampf wärmte das weißgekachelte Badezimmer auf. Der kleine Junge blieb hinter ihm stehen, zog seine Kleider aus, stellte sich dann auf die Zehenspitzen und pinkelte in die Toilette. Als der alte Mann sich aufrichtete und seine rotangelaufene Hand aus dem heißen Badewasser zog, stand sein Enkel bleich und splitternackt da und lächelte. Der alte Mann reichte ihm ein Stück Seife.