Unternehmensnachfolge: Die Kunst des Loslassens - Nils Koerber - E-Book

Unternehmensnachfolge: Die Kunst des Loslassens E-Book

Nils Koerber

0,0

Beschreibung

Mehr als eine halbe Million Familienunternehmen müssen in den kommenden Jahren eine Nachfolgelösung finden und aktiv angehen. Doch eine Unternehmensnachfolge ist etwas Hochemotionales, denn Familienunternehmer haben zu ihrem »Baby«, ihrer Firma, eine ganz besondere Beziehung: Das Unternehmersein hat eine Identität und ein wärmendes Feuer geschaffen, egal, ob es von Erfolgen oder auch von Misserfolgen gekrönt war. Wer sein Unternehmen an einen Nachfolger übergibt, sei es innerfamiliär oder durch einen Firmenverkauf, wagt den mutigen Schritt ins Dunkel. Doch ein neuer Funke, der entfacht werden will, wartet schon auf ihn! Davon ist der frühere Familienunternehmer und jetzige Nachfolgespezialist Nils Koerber überzeugt, denn er hat dies alles selbst erlebt. Mit seinem Leitfaden und konkreten Beispielen und Ideen macht er Mut zum Loslassen – der Schlüssel für eine erfolgreiche Unternehmensnachfolge.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 332

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nils Koerber

Unternehmensnachfolge:Die Kunst des Loslassens

Mit 29 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: wavebreakmedia/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99966-1

Inhalt

Geleitwort

Eine Art von Vorwort

1Wertschätzung des Firmenfeuers

Kreise der Kollision

Inhalt und Sinn

Rechtfertigungshaltung? Seien Sie mutig

Feuer und Asche – Werte weitergeben

Die gesellschaftliche Bedeutung unseres Tuns

2Klonschaf Dolly

Mich gibt es nur einmal

Was braucht die Firma in der Zukunft?

3Fülle der Lösungen

Prüfung der Übergabefähigkeit

Der Weg ist vorgezeichnet. Wirklich?

Der Plan

4Neues Feuer entfachen

Wie es nicht geht – die drei Klassiker

Wie es geht – praktische Ideen

Vom Loslassen zum Loslaufen

Was passiert, wenn nix passiert

5Eine Einladung (… zur Entscheidung)

Rückblick und Fazit

Ausblick und Aufbruch

Ran an die Arbeit!

Anmerkungen

Geleitwort

»Wann übergibt er mir jetzt endgültig das Zepter? Wann bin ich endlich die Chefin, die Alleinverantwortliche und Ansprechpartnerin für die Mitarbeiter? Wir hatten doch vereinbart, dass er sich mit spätestens 72 Jahren aus dem Operativen zurückzieht und die Geschäftsführung niederlegt. Ich verstehe ihn nicht. Er ist jetzt 75 Jahre und kommt jeden Tag in den Betrieb, macht seine Rundgänge, macht Termine mit den Mitarbeitern, nimmt an allen Meetings teil. Nicht, dass das schon genug wäre. Er macht auch manchmal einfach meine Entscheidungen rückgängig, ohne es mit mir abzusprechen, entlässt neue Mitarbeiter wieder oder erhöht Gehälter entgegen meinen Vereinbarungen. Ich frage mich, ob er es mir am Ende nicht zutraut, den Betrieb allein zu führen?« Diese oder ähnliche zweifelnde Fragen höre ich oft von Nachfolgern. Sie fühlen sich manchmal sogar gezwungen, die Gretchenfrage zu stellen: Du oder ich?

Es scheint, als wäre dies bei den meisten Übergaben fast schon systemimmanent. Meine langjährige Beratungstätigkeit für Familien unternehmen und meine eigene Geschichte in fünfter Generation einer Unternehmerfamilie zeigen mir, wie schwierig es für die Übergeber ist, nicht mehr im operativen Geschäft des Familienunternehmens tätig zu sein und es in die Hände der nächsten Generation zu geben. Auch in unserer Unternehmerfamilie gab es Sollbruchstellen für die Familie und das Unternehmen aufgrund der Übergabe. Mein Großvater war ein großartiger Unternehmer und eine charismatische Persönlichkeit. Er konnte gut zuhören und erfolgreiche Unternehmensgeschichte schreiben. Was er allerdings nicht so wirklich gut konnte, war, sein Lebenswerk, sein Ein und Alles, loszulassen und es in die Hände der nächsten Generation zu geben. Er wollte sich auch im hohen Alter noch partout nicht aus dem Operativen zurückziehen und ist jeden Tag in die Firma gekommen. Das von der nächsten Generation als mangelndes Vertrauen in die eigene Führungskompetenz interpretierte Verhalten führte zu großen Konflikten sowohl in Bezug auf die Unternehmensführung, die Mitarbeiter als auch innerhalb der Familie. Die Statistik zeigt, dass 70 Prozent der Übergaben von der ersten zur zweiten Generation scheitern und in der dritten Generation nur 10 Prozent erfolgreich sind.

Es scheint der Schlüssel für eine erfolgreiche Übergabe zu sein, wie hoch die Bereitschaft des Übergebenden ist, sein Lebenswerk an die Nachfolgerin, den Nachfolger abzugeben, wie gut sich der Übergebende von seinem Lebenswerk emanzipieren und trennen kann. Die Bindung an das Familienunternehmen, die Ängste vor dem Verlust des Ansehens in der Gesellschaft und der Familie, des Sinns in ihrem Leben und eventuell sogar Existenzängste sind oft die Ursachen für den Übergebenden, nicht loslassen zu können. Deshalb ist bei den Gründen für eine gescheiterte Übergabe des Familienunternehmens, laut einer Studie der deutschen Unternehmerbörse, über 80 Prozent das Nicht-Loslassen des Seniors.

Hinter die Kulissen geschaut, bedeutet die Übergabe für den Übergebenden, dass er in seiner persönlichen Entwicklung an einem Punkt ist, sich mit der Angst vor Leere und Machtverlust und dem Schmerz des Abschieds auseinanderzusetzen. Deshalb braucht es auf der persönlichen Ebene die klare Entscheidung dafür, wirklich bereit zu sein, loslassen zu wollen. Um die Entscheidung eindeutig treffen zu können, benötigt es meistens eine Phase der Selbstreflexion und Klärung. Bin ich bereit, mit mir ins »Gewissensgericht« zu gehen, um die individuellen Ängste, die die Übergabe gefährden, zu bearbeiten und zu überwinden?

Dazu benötigt es zum einen die Bereitschaft, Verantwortung abzugeben, das heißt, man konfrontiert sich mit sehr existenziellen Themen, wie Macht und Kontrolle abzugeben und damit der Endlichkeit des eigenen Lebens ins Auge sehen zu müssen. Wichtig ist zu prüfen, was man braucht, um die Bereitschaft für diesen Schritt zu entwickeln. Zum Beispiel das Bild für ein erfülltes und erfüllendes Leben in der Phase nach der Übergabe.

Zum anderen ist notwendig, für sich zu klären, ob man den Mut hat, diesen Schritt in eine ungewisse Zukunft zu gehen, sich auf eine vollkommen neue Situation einzulassen, die anders ist als das unternehmerische Risiko. Die Frage ist: Bin ich flexibel und kann mich auf etwas Neues einstellen? Bin ich in der Lage, eine neue Lebensperspektive einzunehmen? Habe ich den Mut, in eine neue Lebenssituation einzutauchen, in dem man auf sich und seine sozialen Kontakte gestellt ist, die man eventuell während der Zeit der operativen Aufgaben nicht so stark gelebt hat?

Der Vollständigkeit wegen möchte ich an der Stelle ergänzen, dass die Übergabe ein Prozess von mindestens zwei Beteiligten ist. Loslassen gelingt besser, wenn die Übernehmende sich ihrer Sache ebenso sicher ist, sie die Entscheidung bewusst für sich getroffen hat, bereit zu sein, die Verantwortung für den Betrieb zu übernehmen, und sich den Aufgaben zu stellen.

Für jeden Menschen ist es schwierig, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich auch unangenehme Fragen stellen zu müssen. Dies ist aber wichtig. Denn um richtig sagen zu können, wo ich hinwill, muss ich erst wissen, wo ich stehe. Und im Fall des Familienunternehmers sind Fragestellungen nicht nur auf die eigene Person bezogen, sondern auch auf das Unternehmen und die Familie. Diesen Statusbericht zu erstellen und die Zukunftsvorstellung festzulegen, unter Einbeziehung der zu erwartenden Herausforderungen, sollte frühzeitig erfolgen, damit Sie gut loslassen können und der Generationswechsel gelingt. Das Erlernen der Kunst des Loslassens ermöglicht Ihnen für Ihr Unternehmen, Ihre Familie, Ihren Nachfolger/Ihre Nachfolgerin und schlussendlich für Sie selbst, das Beste für die Zukunft herauszuholen und für alle Sicherheit zu schaffen.

Ich würde gern damit schließen und alle ermutigen, sich auf die Weisheit vom Dalai Lama einzulassen: »Bewerte deine Erfolge daran, was du bereit bist loszulassen.«

Beatrice Rodenstock

Geschäftsführende Gesellschafterin

Rodenstock – Gesellschaft für Familienunternehmen mbH

Eine Art von Vorwort

Loslassen öffnet Horizonte, das ist die Kernthese dieses Buches, die ich Ihnen hier anhand meiner Unternehmergeschichte nahebringen möchte. Außerdem schauen wir uns den aktuellen Nachfolgemarkt an sowie eine interessante Studie aus Helsinki.

Ich war neun Jahre alt, als ich merkte, dass bei uns zuhause etwas auffallend anders läuft. Während bei meinen Kumpels am Nachmittag Vater und manchmal auch Mutter von der Arbeit nachhause kamen, kam bei uns die Arbeit mit Vater und Mutter nachhause.

An dieser Stelle ein Wort in Sachen Genderkorrektheit. Ich war sieben Jahre alt, also schrieben wir das Jahr 1973. Der Gesetzgeber regelte im BGB: »Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.« Der Ehemann musste noch unterschreiben, dass seine Frau arbeiten darf, das änderte sich erst 1977. (Anders übrigens in der DDR, dort verlangte das Familiengesetz ab 1966, dass die Ehepartner ihre Verbindung so gestalten, »daß die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann«.) War es bei meinen Kumpels also eher wahrscheinlich, dass die Mutter zuhause blieb und »den Haushalt in eigener Verantwortung« führte, war unsere Mutter gleichwertig in der unternehmerischen Verantwortung. Ich habe früh gelernt, Frauen in Führungspositionen als selbstverständlich zu sehen. Deswegen verstehe ich gut, dass eine echte Gleichberechtigung der Geschlechter (keine Gleichmacherei) nicht auf dem Papier aufhören darf. Wenn »man« immer nur das generische Maskulinum als den Normalfall setzt, dann sieht und begreift unser Gehirn dies auch als Normalfall. Daher ist es sinnvoll, alle Leser*innen und Autor*innen für eine geschlechtergerechte Sprache zu sensibilisieren. Trotzdem habe ich mich in diesem Buch im Sinne der Lesbarkeit dagegen entschieden, zumal das Gros der Übergeber in Familienunternehmen männlich ist. Das Gros der Nachfolger übrigens leider auch immer noch. Wobei sich die Zahlen langsam und glücklicherweise ändern und ich jeden Leser ermutigen möchte, eine weibliche Nachfolge in Betracht zu ziehen. Ich bin nicht überzeugt davon, dass die Zukunft weiblich ist, wie Margarete Mitscherlich 1987 schrieb. Ich bin überzeugt davon, dass die Zukunft auch weiblich ist. Den Herausforderungen der schnellen, komplexen, globalen und volatilen Wirtschaft können wir am besten vereint entgegentreten, Kompetenzen bündeln und nicht gegeneinander aufwiegen.

Die Arbeit unserer Eltern, also unser Einrichtungshaus, blieb eigentlich nie vor der Tür, nicht am Feierabend, nicht am Wochenende, im Urlaub schon gar nicht. Die Firma war ein Familienmitglied, saß beim Frühstück und beim Abendessen mit am Tisch, machte sich auf dem Sofa breit, wenn wir »Derrick« guckten, und griff beherzt in die Chipstüte.

Wer, wie meine beiden Geschwister und ich, in eine Unternehmerfamilie hineingeboren wird, lernt früh, mit dem Familienmitglied Firma vertraut zu sein. Die Firma gehörte genauso selbstverständlich zu meinem kindlichen Umfeld wie der Nachbar, der sich immer über unsere lauten Spiele beschwerte, oder die Kindergärtnerin, in die ich heimlich verknallt war. Ich denke, Sie werden mir zustimmen: Wirklich trennen lassen sich die verflochtenen Bestandteile des Wortes »Familienunternehmen« nicht – es gibt nur beide oder keines.

Schließlich war die Firma auch Gründungsmitglied unserer Familie und schon vor uns Kindern da. Meine Eltern hatten nach dem Krieg das Einrichtungshaus gegründet und sehr erfolgreich geführt. Dann kamen wir drei Kinder: mein Bruder, meine Schwester und ich, der Lütte, wie man bei uns im Norden sagt. Quasi von der Wiege aus wurden wir liebevoll an die Nachfolge herangeführt. Wir haben das, was die Eltern taten, immer sehr positiv wahrgenommen. So wurde nie hinterfragt, zumindest von mir nicht, dass wir Geschwister später auch unseren Part im Familienunternehmen einnehmen werden. Wir stimmten unsere beruflichen Ausbildungen sowohl untereinander als auch mit den Anforderungen der Firma und zuletzt mit unseren Neigungen ab. Handwerklich, künstlerisch und kaufmännisch, von allem etwas – wir waren ja zu dritt.

Dann ging es schneller als erwartet. Zunächst war 1979 mein ältester Bruder gefragt. Diese klassische Thronfolge ist übrigens eine Tradition, die in Studien und Umfragen immer wieder totgeredet wird, obwohl sie im Mittelstand quicklebendig ist. So auch damals bei uns, Familie Koerber: Der Vater kränkelte und der Älteste musste ran, durfte sich ganz klassisch vom Verkäufer in die Geschäftsführung hocharbeiten. Und als er 1988 da »oben« angekommen war, hat er sich desillusioniert und schweren Herzens wieder verabschiedet. Nachdem er mit sämtlichen dringend nötigen Veränderungen – Einführung einer EDV, Marketingideen (»Wir überzeugen mit Qualität, nicht mit Werbung«) oder Vorstellungen für einen neuen Führungsstil – gegen den Holzkopf unseres (geliebten) Vaters rannte, nahm er frustriert ein gutes Angebot aus einer anderen Branche an. Weg war er. Er war enttäuscht, dass unser Vater ihm nicht vertraute. Er wollte es anders machen, natürlich, aber doch immer im Sinne der Familie und der Firma. Unser Vater wiederum war wütend und enttäuscht – warum verlässt ihn sein Sohn in der Stunde der Not?

Ich beendete zu der Zeit mein BWL-Studium in Köln und hatte große Pläne. Ins Ausland wollte ich, schauen, wie Engländer, Franzosen und Araber sich einrichten. Ich wollte Ideen sammeln, um diese später, irgendwann, in den elterlichen Betrieb einzubringen. Eines Abends dann war »Vaddern« am Telefon: »Nils, du musst jetzt den Laden übernehmen, lass uns nicht hängen, deine Schwester will nicht.«

Ich fasse es kurz – nach einer Bedenkzeit habe ich eingewilligt. Rückblickend würde ich sagen, dass mein jugendlich aufgeblähtes Ego den Verstand besiegt hat. Mit 25 schon Geschäftsführer im eigenen Unternehmen? Gestaltungsfreiraum, Einfluss und Verantwortung? Das reizte mich sehr. Meine Bedingung war allerdings, dass mein Vater das Unternehmen sofort verlässt. Das meinte ich aus dem Scheitern meines Bruders klug abgeleitet zu haben. Klug? Wie dumm von mir, wer verzichtet schon freiwillig auf 40 Jahre Erfahrung und Autorität? Nun, ich habe es getan und der Vater ist gegangen, es blieb ihm nichts anderes übrig, er wollte das Unternehmen in der Familie halten, koste es, was es wolle. Ihn hat es viel gekostet, weiß ich im Nachhinein, denn er hatte sich den Abschied natürlich anders vorgestellt. Die Mutter blieb als stille, kreative Autorität im Unternehmen. Alles lief gut, die Firma wuchs über die Jahre beständig. Irgendwann haben auch mein Vater und ich die nach seinem Rausschmiss eingetretene Sprachlosigkeit überwunden und die Verbindung wiedergefunden. Rückblickend weiß ich, dass wir juristisch, steuerlich, wirtschaftlich und emotional jedes Fettnäpfchen mitgenommen haben, das sich uns darbot. Wir sind schlecht beraten worden und haben viel zu wenig miteinander gesprochen. Zumindest nicht über die wichtigen Dinge.

Heute, 55 Jahre alt, kokettiere ich bei meinen Vorträgen manchmal mit 55 Jahren Nachfolgeerfahrung. Die größte Lernkurve entsteht aus eigener Erfahrung und im Nachhinein bin ich dankbar, dass die Dinge liefen, wie sie meistens laufen – anders, als man denkt.

Als ich Ende 30 war, stand ich persönlich und beruflich am Scheide weg. »So geht es nicht weiter, das mache ich nicht den Rest meines Lebens«, der Gedanke kam plötzlich und er ging nicht mehr weg. Es folgte ein harter Schnitt und der Beschluss, die kleine Firmengruppe zu beenden, zu liquidieren, aufzugeben, zu beerdigen. So viele Wörter für eine Tatsache: Ich wollte auf allen Ebenen abschließen und neu anfangen. Irgendwann, nachdem sich der ganze von mir aufgewirbelte Staub verzogen hatte, konnte ich wieder durchatmen. Freier als vorher. Ich hatte losgelassen! Jetzt konnte etwas kommen, das wirklich meins ist. So wurde KERN geboren: ein Beratungsunternehmen für Unternehmensnachfolge, das von Anfang an die emotionalen Aspekte in den Mittelpunkt gestellt hat. Mittlerweile sind wir an über 25 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz präsent.

Warum finden wir bei KERN die »emotionalen Aspekte« so wichtig für alle Arten der Nachfolgeregelung? Weil sie entscheidend sind. Eine Unternehmensnachfolge ist etwas, das die meisten nur einmal im Leben erleben. Zugleich ist es etwas Hochemotionales, weil zwei Liebesbeziehungen aufeinandertreffen: zum einen die familiäre Liebe – sehr komplex, das muss ich niemandem erzählen, wir alle haben eine Familie (auch wenn der Familienbegriff mittlerweile ein ganz anderer ist). Zum anderen die unternehmerische Liebe – noch komplexer, das ist mittlerweile sogar wissenschaftlich bewiesen. Unternehmer haben zu ihrem »Baby« – ihrer Firma – eine ganz besondere Beziehung. Sie lässt sich mit der Liebe von Eltern zu ihrem Kind vergleichen, wie eine Studie der Universität Helsinki1 gezeigt hat: Fotos von der Firma aktivierten in Versuchen per Magnetresonanztomografie dieselben Hirnareale wie Fotos des eigenen Kindes.

Wie also sollte man eine Nachfolge regeln, ohne diese beiden Lieben zu beachten, die meist eine hochemotionale und damit auch hochexplosive Kombination bilden? Wie sollte man den Übergang meistern, ohne hinterher jahrelang zerbrochenes Porzellan aufkehren zu müssen? Ich jedenfalls bin froh, dass unter den oben geschilderten Umständen unser familiäres Band der Liebe zwar immer wieder arg gespannt war, aber nie gerissen ist. Und ich bin froh, dass es, anders als bei uns damals, heute nicht nur KERN gibt, sondern eine ganze Reihe guter, kompetenter Berater und Institute, die sich damit beschäftigen, Unternehmensnachfolgen zu begleiten und das Porzellan unbeschädigt in der Vitrine zu halten.

Nötig ist diese Nachfolgebegleitung mehr denn je, der Nachfolgemarkt wird immer schwieriger. »Tausende Unternehmer ohne Nachfolger!« titelte die F.A.Z.2 2017 und berief sich auf eine aktuelle Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). So viele Betriebsinhaber wie noch nie mussten die Suche nach einem Nachfolger erfolglos beenden, heißt es. Die Studie des DIHK3 zeigt: Während sich vor zehn Jahren noch fast doppelt so viele Übernahmeinteressierte an die IHK wandten, sind jetzt die Übergeber deutlich in der Mehrzahl, die über die IHK nach einem Nachfolger suchen.

Quelle4: nach DIHK-Nachfolgereport, 2018, S. 7

Den Hauptgrund für diese Änderung sieht der DIHK laut F.A.Z. bei der Alterung der Gesellschaft: »Immer mehr Unternehmer erreichen das Ruhestandsalter. Derweil seien die Jahrgänge der 25- bis 45- Jährigen geschrumpft, aus denen die Leute stammen, die am Aufbau einer selbstständigen Existenz interessiert seien.«

Es gibt aber laut DIHK weitere Gründe, die den Übergang erschweren. So bestätigt die Studie meine Erfahrung und damit die These dieses Buches: Ein gutes Drittel der Altinhaber verhindert den Übergang, weil sie »emotional nicht loslassen« können. 41 Prozent der Seniorunternehmer fordern auch deshalb einen überhöhten Kaufpreis. 42 Prozent kämen zu spät zur Beratung. Auf Seiten der Kaufinteressenten gebe es 40 Prozent mit Finanzierungsproblemen, trotz derzeit günstiger Konditionen. Auch unterschätzen 40 Prozent die Anforderungen an eine Übernahme.

Nackte Zahlen, die verbergen, wie viel Sprengstoff in jedem einzelnen dieser aufgezählten Posten stecken kann, wenn es sich nicht um eine Statistik, sondern um die eigene Nachfolge, um das eigene Unternehmen und vielleicht um die eigenen Kinder dreht.

Das Institut für Mittelstandsforschung Bonn (IfM) nennt noch weitere Gründe, die den Nachfolgemarkt in Deutschland belasten. »Zum einen ist die globale Finanzkrise der Jahre 2008/2009 zu nennen, die zu erheblichen Umsatz- und Gewinneinbrüchen bei einem erheblichen Teil der Unternehmen geführt hat.«5 Das sind Wertverluste, die die Nachfolge erschweren. Zum anderen sei die Zahl der Unternehmen in Deutschland stetig gewachsen – es gibt also immer mehr zu übergeben. Zumal auch nicht jeder Unternehmer wartet, bis er alt und grau ist, um einen Nachfolger zu suchen. In einer immer schnelleren, disruptiven Wirtschaft wird eine Idee zum Start-up und dieses wiederum nach einigen Jahren verkauft. So ist viel mehr Bewegung im Markt, was den Überblick und damit die Nachfolge nicht unbedingt einfacher macht. Anders als beim DIHK zeigen Berichte des IfM Bonn übrigens keine aktuelle Nachfolgelücke und prognostizieren, dass im Zeitraum zwischen 2018 und 2022 rund 150.000 Unternehmen mit etwa 2,4 Millionen Beschäftigten zur Übergabe anstehen, weil ihre Eigentümer aus persönlichen Gründen aus der Geschäftsführung ausscheiden. Die letzte Hochrechnung der KfW geht dagegen von 511.000 Unternehmen aus, die in den Jahren 2018 bis 2022 eine Übergabe planen.6 Die immense Differenz dieser Zahlen entsteht, laut Studie des IfM Bonn, weil die KfW geplante Nachfolgen abfragt, während das IfM Bonn versucht, tatsächliche Übergaben zu ermitteln.

Und irgendwo in diesem Zahlenhaufen versteckt sich etwas ganz Besonderes, ein Juwel: Ihr Unternehmen. Vielleicht verbunden mit 30 Jahren Engagement und Begeisterung, aber auch mit 30 Jahren Unsicherheit, geprägt durch die (Ein-)Sicht, dass Unternehmer sein auch verantwortlich sein bedeutet. Und jetzt sollen Sie das alles abgeben. Aber wer fängt es auf, wenn Sie loslassen? Die Kinder? Die familieninterne Nachfolgelösung war schon bei unserer Familie der Königsweg und ist es heute immer noch. Aber sind die Kinder wirklich geeignet? Die junge Generation ist heute so ganz anders drauf, oder? Unternehmerpersönlichkeiten, wie Sie und ich sie kennen, sollten extrovertiert und offen sein, ihre Meinung durchsetzen können. Wenn daraus »Ecken und Kanten« entstehen und die Verträglichkeit etwas leidet, ist das egal. Schließlich tragen wir ja auch Verantwortung. Die jungen Leute sind viel verträglicher, am Konsens orientiert, passen sich der gegebenen Situation und der Meinung anderer an und sind kooperativ, tolerant und weitaus weniger konfrontativ.7 Können das Unternehmerpersönlichkeiten sein? Auf jeden Fall. In dem Maße, in dem sich die »Jugend von heute« verändert hat, hat sich auch das Unternehmertum gewandelt. Die harte Hand gibt es nicht mehr, Hierarchien bröckeln, Entscheidungen stehen auf einem breiten Fundament, Mitbestimmung boomt. Ein ideales Beschäftigungsfeld für kooperative Menschen! Wenn, und nur wenn, wir es schaffen, deren Lust auf Unternehmertum zu wecken. Wie das gelingen kann? Das werden wir uns in den folgenden Kapiteln genauer anschauen, aber eines habe ich hoffentlich jetzt schon anhand meiner Geschichte vermitteln können: Wenn Sie nicht loslassen, kann niemand übernehmen. Solange Sie festhalten, steht ein Nachfolger mit leeren Händen da. Wenn Sie nicht darauf vertrauen, dass es Ihre Kinder gut machen, auch (oder gerade) weil sie es ganz anders machen, dann wird das familiäre Band der Liebe immer mehr anspannen. Irgendwann reißt es.

Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch eine Lanze brechen für all die Unternehmer, die sich mit dem Loslassen so schwertun. Vielleicht gibt es auch den einen oder anderen Nachfolger, dem dieses Buch in die Hände fällt. Dann wird er durch die Lektüre ein Verständnis dafür entwickeln, wie grausam es ist, das warme, vertraute Umfeld zu verlassen. Es ist egal, ob das unternehmerische Verhalten von Erfolgen oder manchmal auch von Misserfolgen gekrönt war, das Unternehmersein hat eine Identität und ein wärmendes Feuer geschaffen, beides müssen Firmeninhaber jetzt hinter sich lassen. Wer sein Unternehmen an einen Nachfolger übergibt, wagt den mutigen Schritt ins Dunkel. Ich möchte daher besonders die Nachfolger, die dieses Buch lesen, einladen, Ihre(n) Vorgänger zu unterstützen, indem Sie durch Dankbarkeit und Offenheit die unternehmerische Leistung honorieren, gelebte Werte anerkennen und weitertragen.

Und Ihnen, liebe Inhaber, gebe ich noch Folgendes mit auf den Weg: Es ist Ihr Leben, nutzen Sie es. Sie allein können die Nachfolge lösen und damit genau die Werte sichern, die Sie im Laufe eines unternehmerischen Lebens aufgebaut haben. Wenn das Unternehmen bis heute erfolgreich war, was Sie selbst durch Ihr Engagement geschaffen haben, warum sollte es dann Ihr Nachfolger nicht schaffen, eine ebenso glorreiche Zukunft zu gestalten? Ein neues Feuer wartet auf Sie und wir beide werden es mit diesem Buch gemeinsam entfachen.

1

Wertschätzung des Firmenfeuers

Über das Feuer, die Frage nach dem Warum und die Tatsache, dass Sie etwas ganz Besonderes sind

Draußen schüttet es, der Regen schlägt gegen die Fenster. Drinnen sitze ich dann am liebsten mit meiner Familie am Kaminfeuer. Meistens schimmert der Wein rot und satt in den Gläsern, der Geruch von Holz und Harz macht die Luft schwer, es liegt eine Atmosphäre von Ruhe und Gelassenheit auf unseren Gesprächen, wie sie nur die Wärme eines brennenden Kamins schaffen kann.

Das Feuer ist seit Jahrtausenden Sinnbild für einen Ort, an dem man sich in einer sicheren Gemeinschaft versammelt, um Geschichten zu teilen. Wir sitzen im verbindenden Kreis um eine wärmende und nährende Quelle, Heldengeschichten werden erzählt, Richtungen gezeigt, Werte gesetzt. Am Feuer konnte der Jäger mit stolzgeschwellter Brust seine Beute präsentieren und allen anderen klarmachen, wo er sie gefunden hatte: Dort gibt es mehr davon, geht selber hin!

Wo ist Wasser, wo wird es gefährlich, wo lauert der Säbelzahntiger? Nur am Lagerfeuer gab es »latest news«. Die Geschichten der Alten vermittelten den Jungen, worauf es ankam. Die Geschichten der Jungen boten den Alten Gelegenheit zu staunen oder nachsichtig die Köpfe zu schütteln. Schon lange bevor es eine Schrift gab, bevor Gesetze aufgeschrieben wurden oder ein Gesellschaftsvertrag uns Regeln auferlegte, markierte das Feuer den Ort, an dem Geschichten sowohl Information als auch Orientierung boten. Ein Ort, an dem ein Wert vermittelt und eine Gemeinschaft gestärkt wurde. Daran hat sich heute, tausende Jahre später, nichts geändert. Noch immer sitzen wir am Lagerfeuer und fühlen eine besondere, nährende Qualität der Gemeinschaft.

Ich liebe die archaische Vorstellung des Feuers als Sinnbild für Unternehmertum. Das Firmenfeuer ist es, dass Sie als Unternehmer entfacht und weitergetragen haben. Denn auch ein Unternehmen bietet all das, was ein Lagerfeuer bietet: Sicherheit und Schutz, es wärmt durch Gemeinschaft, es nährt durch Verdienst. Allerdings ist es viel zu kurz gesprungen, wenn wir als Unternehmer sagen, dass es auf den Verdienst ankommt, wir hauptsächlich einen monetären Nutzen aus der Unternehmung ziehen oder gezogen haben. Dieser Aspekt ist nur ein Teil des großen Ganzen und nicht einmal der relevanteste. Wir haben viel mehr aus dem Unternehmen gezogen, das Firmenfeuer hat unsere Identität geprägt: All das, was Sie als Person, als Persönlichkeit ausmacht, hat Ihnen das Firmenfeuer beschert – Ihre gesamte Entwicklung in sozialer oder intellektueller Hinsicht, Ihre Identität als Familienunternehmer. Alles, was Sie sagen, was Sie tun, passiert Ihnen, während Sie das Feuer hüten und weiter anfachen.

Den meisten von uns mag es nicht bewusst sein, aber die Firma hat unsere Entwicklung befeuert und dafür gesorgt, dass wir heute sind, was und wer wir sind. Eine Unternehmerpersönlichkeit kann man vielleicht durch bestimmte Aus- und Weiterbildungen stärken, aber vor allem wächst sie mit dem Verhalten, mit dem unternehmerischen Handeln, dem Übernehmen und Übertragen von Verantwortung. Verbunden damit ist auch eine Aufgabenstellung, die Sie als Unternehmer angenommen haben. Als Hüter des Firmenfeuers sind Sie Vorbild und Mentor, gleichermaßen in der Firma wie in der Familie. Sie stiften soziale Bindungen und profitieren zugleich davon, zeigen Integrität und leben ein Miteinander. Ich kenne viele Unternehmer, die sich gerade in Stunden der Not mit ihren Mitarbeitern verbunden fühlen. Sei es eine Krankheit oder ein Todesfall – Unternehmer nehmen Anteil am Leben und Leid ihrer Mitarbeiter. In Familienunternehmen mit beständig loderndem Firmenfeuer geht es fast nie anonym zu, so zumindest habe ich es als Unternehmer immer erlebt und erlebe es auch heute in meinen Beratungen so. Deswegen ist für mich das Feuer das perfekte Symbol für unternehmerisches Handeln: Es symbolisiert gemeinschaftliches Leben, es verbindet, zieht uns eng zusammen, damit wir gemeinsam von seinem Schutz und seiner Wärme profitieren können.

Seltener als Autofahrer, die E10 tanken

Sie haben mit Ihrem Unternehmen über Jahrzehnte so ein Feuer am Brennen gehalten, an dem nicht nur Sie sich genährt haben, sondern auch Ihre Familie, Ihre Mitarbeiter und deren Familien. Diese Leistung und diesen gesellschaftlichen Wert gilt es zu sehen und zu honorieren. Denn mit dieser Lebensleistung gehören Sie zu einer privilegierten Minderheit, sind ein besonderer Leistungsträger. Sie haben etwas auf sich genommen, was nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der beruflich Tätigen schafft. Zumindest bei uns Deutschen, wo die Risikofreude noch nie besonders ausgeprägt war. Die weitaus meisten Menschen arbeiten hierzulande als abhängig Beschäftigte. Gemäß BMAS (siehe Abbildung) waren im Jahr 2016 gerade einmal zehn Prozent der Erwerbstätigen selbstständig. Damit können Sie sich einreihen in die Autofahrer mit Seltenheitsgrad, die an der Tankstelle tatsächlich den Rüssel mit dem E10-Biosprit8 nutzen: sehr seltene Art, extrem gefährdet. Noch trüber wird das Bild des Unternehmertums in Deutschland, wenn man von den Selbstständigen die Solopreneure, also die Selbstständigen ohne Mitarbeiter, abzieht. Dann sind es noch etwas über vier Prozent in Deutschland, die unternehmerische Verantwortung für andere übernehmen und tragen.

Im globalen Vergleich hinken wir weit hinterher – Deutschland ist nicht gerade bekannt als das Land, in dem Menschen leichten Herzens und frohen Mutes ein Unternehmen gründen oder übernehmen. Ist es eine historische oder gesellschaftliche Prägung, Bürokratie oder ein bisschen von beidem? Während die USA als das Eldorado der Selfmade-Unternehmer gelten, sind wir hier vorsichtig – oder feige?

Umso mehr gilt es, Ihren Mut zu würdigen. Sie haben Verantwortung übernommen und etwas geschafft, das nur wenige im Leben erreichen. Ihre Leidenschaft, Ihre Motivation und vielleicht sogar eine bestimmte Mission haben Sie langfristig motiviert, all das zu lernen und weiterzugeben, was für die Umsetzung des unternehmerischen Handelns (und damit für den Umsatz) wesentlich ist.

Quelle9: nach Forschungsbericht BMAS, 2018, Maier und Ivanov, S. 14

Der goldene Kreis – frag nach dem Warum

Bevor (und damit) wir verstehen, warum wir loslassen sollen, schauen wir uns doch einmal an, warum wir festhalten. Und was.

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party. Man steht so rum, das Glas in der Hand und unterhält sich. Sie schauen sich die Gäste an, lernen jemanden kennen und es folgt im Gespräch irgendwann die obligatorische Frage: »Und, was machst du so?« Und dann erzählen Sie – von Ihrem Unternehmen, von den Produkten, vielleicht ein bisschen von der Historie und von den aktuellen Herausforderungen. Was man halt so erzählt, wenn man auf Interesse stößt und interessant sein möchte. Und dann stellt Ihr Gegenüber plötzlich eine seltsame Frage: »Und warum? Warum tust du das?« Ich glaube nicht, dass viele Partygäste hier spontan eine Antwort abrufbar haben. Ja, warum eigentlich …? Hätten Sie eine? Spannend, oder?

Wir wissen, was wir tun, und wir wissen zumeist auch, wie wir es tun. Wir kennen unsere Ausbildung, unsere Laufbahn, wir können (vielleicht) von unseren Fähigkeiten erzählen, aber: Warum tun wir das, warum sind wir Unternehmer? Und auf das Unternehmen bezogen: Warum produziert und leistet es genau das, was es leistet? Warum kommen die Mitarbeiter jeden Tag dorthin, warum leisten sie, was sie leisten? Sollte die Frage nach dem »Warum« nicht eigentlich ganz oben stehen, statt nur Teil eines Partygesprächs zu sein? Sie ist es, die über Motivation und Innovation entscheidet – darüber, ob Sie jeden Tag freudig beginnen oder sich zur Arbeit schleppen. Darü ber, ob Kunden nur etwas kaufen, weil es oben im Regal liegt und billig ist, oder ob sie einen Wert kaufen – ein »Darum«.

»Menschen kaufen nicht, was man macht, sie kaufen, warum man etwas macht.« Das ist eine der Thesen, die Simon Sinek10 in seinem Buch »Start with Why« (Deutsch: »Frag immer erst: warum«) vertritt. Der US-amerikanische Journalist, Autor und Redner beginnt das Buch mit der Geschichte über den ersten Motorflug. Warum waren es die Gebrüder Wright mit ihrer Fahrradwerkstatt, die den ersten erfolgreichen Flug absolvieren konnten? Warum nicht Samuel P. Langley, obwohl er die besseren Forscher und Ingenieure hatte, mehr Budget und Material? Warum ist Apple Jahr für Jahr so viel innovativer als andere IT-Unternehmen? Sie alle haben doch Zugriff auf die gleichen Informationen und Ressourcen? Warum war es gerade Martin Luther King, der zum Vorreiter der Bürgerrechtsbewegung in den USA wurde? Es gab Millionen andere, die wegen ihrer Hautfarbe ebenso diskriminiert wurden. Sinek sagt, dass diese Persönlichkeiten und Unternehmen eines gemeinsam haben: Sie ticken anders als der Rest der Welt. Ihr Denken und Handeln startet mit einem starken Warum, nicht mit dem Wie oder dem Was.

Um diese andere Denkweise zu erklären, hat Sinek den »golden circle«, den goldenen Kreis, entwickelt. In ihm sind das Warum, das Wie und das Was in konzentrischen Kreisen angeordnet. Er erläutert, dass die meisten Menschen oder Unternehmen vom äußeren Kreis – dem Was – zum inneren Kreis – dem Warum – kommunizieren. Innovative, motivierende und damit erfolgreiche Unternehmen oder Unternehmer machen es anders: Ihr Ausgangspunkt aller Überlegungen ist das Warum. Das Warum ist der Kern des Unternehmertums – ganz nah an unserer Persönlichkeit. Hier wird entschieden, ob wir etwas als wertvoll erachten oder nicht, ob wir einen Sinn sehen. Das Warum beeinflusst unsere Gefühle: unsere Motivation, unsere Kaufentscheidungen oder unsere Vision. Das Warum ist die Kreisebene des menschlichen Verhaltens, der Überzeugungen.

All das wird nur am Rande beeinflusst von rationalen Überlegungen, die wir entsprechend im äußeren Kreis finden: die »hard facts«, das Produkt, die Zahlen, die Daten. Oder Ausbildung, Karriere, Kompetenzen. Diese Ebene ist mit der Ratio des Menschen verbunden. In der Mitte des Kreises liegt das Wie: Es beschreibt die Art und Weise, wie wir etwas tun, wie wir führen, produzieren und verkaufen, wie wir unsere Leistung erbringen.

Simon Sinek führt aus, dass durch die Motivation aus dem inne ren Kreis Inspiration entsteht. Inspirierte Unternehmen zeigen offensiv, woran sie glauben und warum sie tun, was sie tun. Sie realisieren einen inneren Zweck, haben klare Werte und geben ihrem unternehmerischen Wirken einen expliziten Sinn. Das ist es, was sie motiviert, tagtäglich Großartiges zu leisten. Durch diese Schaffenskraft mit Herz und Seele werden die Gefühle der Menschen angesprochen – die der Mitarbeiter, die der Kunden. Während herkömmliche Unternehmen großartige Produkte produzieren können, mit perfektem Styling und coolen Gadgets, verkaufen die anderen ein Lebensgefühl. Durch das Warum entsteht der Sinn des Handelns, daraus ergeben sich das Was und das Wie. Damit beeinflusst die Definition des Warums übrigens auch maßgeblich die Rekrutierung neuer Mitarbeiter. Intrinsisch – also durch einen Sinn – motivierte Mitarbeiter sind in den heutigen komplexen Zeiten besonders wichtig. Durch ihr eigenverantwortliches Handeln helfen sie Organisationen dabei, mit komplexen Problemen umzugehen.

Quelle11: nach »The golden circle«-Buch von Simon Sinek

Ein Warum ist nicht nur erforderlich, um dem Unternehmen einen Sinn zu geben. Jeder Unternehmer benötigt es, um sich selbst und andere zu inspirieren. In einem TEDx-Vortrag sagt Sinek (sinngemäß): Martin Luther King hielt die »Ich habe einen Traum«-Rede, nicht die »Ich habe einen Plan«-Rede. Sonst hätten ihm wahrscheinlich nicht 250.000 Menschen zugehört. Wir folgen inspirierenden Persönlichkeiten wie Martin Luther King nicht, weil wir müssen, sondern, weil wir wollen. Wir kaufen inspirierende Produkte nicht, weil sie griffbereit auf Augenhöhe liegen oder nur einen Klick vom Warenkorb entfernt sind. Für solche Produkte klappern wir sogar ganz analog die Läden ab. Das Warum, der Sinn, macht den Unterschied.

Endlich Wochenende

Starte mit dem Know-why, das Know-how kommt von allein. Mit diesem Satz konfrontiere ich neue Mitarbeiter und Partner, die bei der Unternehmensgruppe KERN einsteigen möchten. Mir ist es extrem wichtig, dass jeder von ihnen mir ein Warum nennen kann. Warum wollen sie Unternehmensnachfolgen begleiten?

Trotzdem ist mir natürlich klar, dass es den Menschen mehrheitlich sehr schwerfällt, ein Warum in ihrem Leben zu definieren. Noch schwerer ist es, wenn sie schon in beruflichen Situationen oder in einem festen Lebensplan etabliert sind. Die meisten von uns wissen und hinterfragen gar nicht, warum sie etwas machen, freuen sich nur auf »endlich Wochenende«. Ich finde das schade, denn diese »sinnlos« vertane Zeit verbraucht viel unserer kostbaren Energie, unserer Lebenszeit. Wenn wir Woche für Woche nur tun, was wir tun müssen, und nie nach dem Warum fragen, dann ist es doch ein bisschen so, als würden wir gar nicht richtig leben? Wir leben für das Wochenende, für das Morgen – für den Ruhestand? Aber was dann? Was machen wir, wenn uns der Rahmen des »Ich bin Unternehmer« plötzlich fehlt? Haben wir im Ruhestand plötzlich einen Sinn, dem wir folgen können, oder wird uns der Wunsch nach Flucht – nach »endlich Wochenende« – auch hier verfolgen? Nur ist das Wochenende plötzlich kein Ziel mehr, da jeder Tag ein freier Tag ist.

Ein Warum zu definieren, muss vielleicht gar kein großes Ding sein. Manchmal reicht es schon zu sagen: »Ich mach das, weil es für meine Familie wichtig ist.« Auch ein kleines Warum bietet einen Halt, eine Orientierung, einen Sinn. Viel wichtiger, als den »Knallersinn« zu finden, ist es, sich überhaupt mit der Frage zu beschäftigen – sowohl für das Selbstverständnis als Unternehmer und Mensch als auch (und gerade) für das Unternehmen und den Prozess der Nachfolge.

Ich bin, also mache ich

Zugegeben, es ist eher selten, dass die Frage nach dem Warum auf einer Party gestellt wird. Deswegen hatte ich Sie weiter oben gebeten, nicht so schnell abzuwinken, als es um den Wert dessen ging, was Sie geschaffen haben und immer noch schaffen. Und deswegen greife ich die Frage nach dem Warum hier auf, denn es ist die wesentliche Frage, wenn wir uns mit dem Loslassen beschäftigen wollen. Wenn Sie das Warum in Ihrem Leben und Wirken nicht geklärt haben, dann wird auch das Warum der Nachfolge schwierig werden. Ihr Selbstverständnis als Unternehmer wird auch den Prozess des Loslassens bestimmen und deswegen werden wir jetzt beginnen, das ans Tageslicht zu holen, was Sie und Ihre Familie all die Jahrzehnte vielleicht nur unbewusst geleistet haben. Wir schauen uns im weiteren Verlauf dieses Kapitels genau an, welchen Einfluss Sinn und Werte auf das Handeln und damit auch auf das Loslassen haben. Wir finden ein Warum, denn sonst können die tollsten Was und Wie im Nachfolgeprozess angeführt und entwickelt werden, sie werden aber alle nicht funktionieren.

Ach, das war mir nie so wichtig

Finden Sie es nicht interessant, dass den meisten Unternehmern ihre unternehmerischen Tugenden und Qualitäten gar nicht bewusst sind? Wir erbringen tagtäglich Höchstleistungen, gehören zu einer absoluten Minderheit von circa vier Prozent der Erwerbstätigen, die es geschafft haben, ein Unternehmen so aufzustellen, dass es ihnen, ihrer Familie und ihren Mitarbeitern ein nährendes und wärmendes Feuer bietet.

Wir sollten diese Leistung viel stärker in unser Bewusstsein überführen, damit das unbewusste »Wurschteln« zu einem bewussten Schaffen wird. Ich lade Sie (und alle Familienmitglieder und vielleicht auch Mitarbeiter) hiermit zur Reflexion ein: Werden Sie sich klar darüber, was Sie da tun. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es sehr erleichternd ist, sich Klarheit zu verschaffen, sich sozusagen geografisch zu verorten. Wenn ich meine Koordinaten kenne, dann weiß ich, wo ich bin, und es wird klarer, wo ich hinlaufen könnte. Die Optionen kommen dabei aus dem diffusen Nebel ins Licht der Straßenlaterne. In welche Richtung weisen meine Koordinaten? Was macht mich jetzt gerade aus – als Mensch, als Unternehmer? Und in welche Richtung kann und soll es von hier aus gehen?

Wenn Sie für sich Ihren Standort bestimmt haben und dann die jüngere Generation übernimmt (oder auch jemand von außen kommt), dann haben Sie mit diesen Koordinaten ein wertvolles Funda ment geschaffen! Sie als Übergeber können mithilfe der Standortbestimmung dem Übernehmer das bestehende System klarmachen. Sie können es gemeinsam hinterfragen: Bleiben das unsere Koordinaten, können wir uns darauf verlassen? Gibt es neue Ko ordinaten, an denen wir unseren Weg ausrichten können oder müssen?

Und Sie können sicher sein, dass es neue Koordinaten geben wird. Schlagworte wie Digitalisierung oder Disruption geistern durch die Medien. Auch wenn wir als Unternehmer sehr gut wissen, dass die heutige Zeitung morgen nur noch für den Fisch reicht, sollten wir diese Themen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Unsere Wirtschaft wird sich weiter verändern, und schneller, als sie das bisher getan hat. Der Handlungs- und Entscheidungsrahmen für Unternehmen wird immer globaler und komplexer. Alles ist mit allem verbunden. Wohin die Reise geht, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nur ahnen, nicht wissen. Was wir wissen: Technologie wird eine wichtige Rolle spielen, denn alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert werden. Technische Neuerungen könnten schon morgen dafür sorgen, dass Ihre Produkte, Ihre Dienstleistungen, so wie sie jetzt sind, nicht mehr gebraucht werden. Das bedeutet Disruption. Und in diesem schnellen, beweglichen, unsicheren und komplexen Umfeld sind die Unternehmen glasklar im Vorteil, die ihre Koordinaten kennen. Denn durch eine klare Standortbestimmung wird es möglich zu erkennen, wohin die Reise geht.

Ein Versicherungsmakler kann resignieren, weil Algorithmen und Portale seine Dienstleistung übernehmen. Er kann sein Unternehmen an den Nagel hängen und angeln gehen. Oder er macht eine Standortbestimmung, fragt sich, was er da genau tut und warum trotz der Portale immer noch Menschen zu ihm kommen. Er erarbeitet sich seine Koordinaten und wird feststellen: Die Menschen kommen nicht zu mir, weil sie schnell und günstig irgendeine Versicherung haben wollen. Sie wollen das, was sie im Internet nicht bekommen: eine fundierte Beratung sowie die Sicherheit, im Schadensfall schnell und unbürokratisch durch ein bekanntes Gesicht Hilfe zu erhalten. Sie wollen keine 15 Wahloptionen, sondern einen authentischen Menschen, der einen Rat gibt, auf den man vertrauen kann. Wenn der Makler dann feststellt, dass er das alles nicht bieten kann, kann er ja trotzdem noch angeln gehen. Petri Heil! Was ich mit diesem Beispiel zeigen will: Mit den richtigen Koordinaten hat jeder Unternehmer die Möglichkeit, sich durch Sinn und Werte eine breite Handlungsbasis zu schaffen, von der aus er und jeder seiner Mitarbeiter verstehen kann, was der Zweck des Unternehmens ist.

Das allererste Mal

»Ich soll also meine Koordinaten bestimmen, hat der Koerber gesagt. Der hat leicht reden!« Warum fällt eine Stärken-Schwächen-Analyse womöglich Ihnen als Unternehmern schwerer? Ich habe eine Vermutung: Anders als die übrigen 90 Prozent der Erwerbstätigen hatten Sie es noch nie nötig, sich und anderen Ihre Stärken bewusst zu machen. Sie haben nie ein Bewerbungsgespräch aus Bewerbersicht führen müssen, nie ein Stärken-Schwächen-Profil ausarbeiten müssen, nie einem Personaler die dämliche Frage »Was würden Sie als Ihre größte Schwäche bezeichnen?« beantworten müssen. Sie waren einfach immer Sie selbst, ohne sich erklären zu müssen – eine Unternehmerpersönlichkeit. Das ist so selbstverständlich, dass Sie nie darü ber nachgedacht haben.

Aber warum gerade Sie? Wie sind Sie dahin gekommen, wo Sie jetzt sind? Warum sind genau Sie einer von den 4,4 Prozent, die unternehmerische Verantwortung erfolgreich übernommen haben? Ist es Ihre »Unternehmerpersönlichkeit«? Und was ist das eigentlich ganz genau: eine Unternehmerpersönlichkeit?

Gibt es eine bestimmte Persönlichkeit, mit der man oder frau als Unternehmer erfolgreich sein kann? Und wenn ja, wie sähe die wohl aus? Verschiedene Studien scheinen darauf hinzuweisen, dass bei erfolgreichen Unternehmern einige Persönlichkeitsmerkmale besonders stark ausgeprägt sind: Durchhaltevermögen, Flexibilität, Risikobereitschaft, Eigenmotivation, soziale Kompetenz und Leidenschaft, heißt es dort, seien Merkmale erfolgreicher Unternehmer. Ich halte diese Vorstellung einer »Unternehmerpersönlichkeit« für überholt und glaube, wir sollten damit aufräumen. Für mich ähnelt diese Vorstellung der ewig unbeantworteten Frage nach Henne versus Ei: Hatte ich schon eine hohe soziale Kompetenz, bevor ich Unternehmer wurde, oder habe ich sie mir angeeignet, weil ich Unternehmer bin?

Wir haben gesehen, dass das Firmenfeuer Werte prägt. Genauso prägt es Persönlichkeiten, so zumindest sehe ich es. Sie sind