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Mit der Kölner »Nacht, die alles veränderte« ist einiges in Bewegung geraten. Vielleicht sind Bewegungen auch nur sichtbarer geworden. Feministische Anliegen finden zwar verstärkt Gehör, doch dies ist eng verwoben mit neuen Rassismen und der Kulturalisierung sozialer Ungleichheiten. Eine der hier auffälligsten Paradoxien ist die Mobilisierung von Gender, Sexualität und einer Vorstellung von Frauenemanzipation durch nationalistische und fremdenfeindliche Parteien sowie durch konservative Regierungen zur Rechtfertigung rassistischer bzw. islamfeindlicher Ausgrenzungspolitiken.
Wollen wir dagegen verstehen, wie unsere gesamte Lebensweise in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst ist und wie diese feinen Unterschiede Handeln, Einstellungen und Gefühle aller bestimmen, dann gilt es, Sexismus, Rassismus und Heteronormativität nicht als voneinander unabhängige soziale Teilungsverhältnisse zu untersuchen. Die Analyse komplexer Wirklichkeiten erfordert ein Nachdenken, das die wechselseitige Bedingtheit verschiedener Differenzen in den Blick nimmt.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2017
SABINE HARK & PAULA-IRENE VILLA
Unterscheiden und herrschen
Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
© 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Mascha Jacobs, Berlin Korrektorat: Marit Eileen Winter, Erfurt Print-ISBN 978-3-8376-3653-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-3653-6
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Inhalt
Geleitworte
VorwortUnterscheiden und herrschenEin Essay
Kapitel 1Diese ganze verrottete GegenwartPlädoyer für die Freundschaft zur Welt
Sehen, was vor uns ist | Ereignis »Köln« | Ambivalente Verflechtungen: Rassismus, Sexismus, Feminismus | Ein »Ding von Belang« | Differenzen befragen | Positionierung, Verantwortung und die Freundschaft zur Welt | Im Zweifel für den Zweifel | Moralische Sozialwissenschaft | Dominanzkultur | Keine Blaupausen
Kapitel 2Die »Nacht, die alles verändert«Unterscheiden und herrschen
Die »Wahrheit zumuten« | Der Ton der Veranderung | Manichäische Konstruktionen | Regierung der Differenz | Das ambivalente Comeback von Sexismus | Eine neue Familienaufstellung | Eine feministische Nation? | Sexualpolitik als Apparat rassistischer Wahrheitsproduktion | Imperiales Gefühlsreservoir | Wider die »Versämtlichung« | Moralischer Knotenpunkt »Köln« | Wie wir tun
Kapitel 3Im Namen der Freiheit. Zieh Dich aus!Veranderung als Körperpolitik
Sich ein Bild machen | Bilder kritisieren | Cover Girls: »Schwarzer Mann betatscht weiße Frau« | Dämonisierungsnarrative und hegemoniale Doppel-Deutungen | Evidenz und Kritik | Der Körper der Anderen: Mehr Sexualität denn Mensch | Body Politics um das Kopftuch | Körper – Kulturalisierung | Am Strand: Die Nacktheit der Frau als Maßstab der Freiheit | Phallische Frauen und ambivalentes Empowerment | Kritische Reflexivität im Bilde
Kapitel 4Sind Alice Schwarzer und Birgit Kelle sich einig?Feminismus im Strudel von Kulturessentialismus und Rassismus
Toxischer Feminismus | Politics of Location | Eine »Art Terrorismus« | Islamophobe Paranoia | Femonationalismus | »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«: Allianzen im Geiste | Feminismus entgiften | Von Frauenrechten schweigen? | Feminismus neu be_denken | Raus aus den Startblöcken
Kapitel 5Outsiders Within?Differenzen im Dialog
Sagbarkeiten befragen | Über Differenzen sprechen | Wie über sexuelle Gewalt sprechen? | Transnationale sexualpolitische Dynamiken | Outsider Within? | Wen hören?
Epilogdifferences inside me lie down togetherIn Differenz denken
Anmerkungen
Literatur
Geleitworte
This work is a timely and thoughtful effort to take stock of a new constellation of power that brings feminist analysis together with anti racist politics and the critique of nationalism. In the wake of the notorious New Year’s Eve in Cologne 2015 (»Kölner Silvesternacht«), feminist theorists have been confronted with the ways in which feminism was quickly appropriated in the service of racism, at which point it was no longer possible to advance a feminist critique of sexual violence without a critique of xenophobia. This text takes up the theoretical and political challenge of that evening in Cologne, but also shows how »Köln« stands for a constellation of power that demands new forms of critical vigilance and ethical engagement. Although the admirable and urgent task of this volume is to demonstrate how to think and judge in the midst of forms of violence both overt and covert, it also opens the path toward building a society in which the open engagement with difference is the hope for the future. Against those who would pit a feminism for white women against migrant communities and a multi-racial feminism, this brave and brilliant work of critical feminism refuses to be divided from its allies, conquered by those who would appropriate and defame feminism itself. This work is not only a model for socially engaged critique for our times, but thought set into action, mobilizing for the future of difference.
Judith Butler
Ein hochaktueller und überfälliger Text zur rechten Zeit. Er wendet sich gegen jede totalisierende Rhetorik und jeden Differenz-Fundamentalismus, der ein »Wir« – der Westen – und ein »Sie« – der nicht-westliche Rest – neu konstruiert und stabilisiert. Die Autorinnen argumentieren mit sorgfältigen und insistierenden Übungen im kritischen Denken gegen einen eindimensionalen Geschlechter-Universalismus, der die Welt durch eine herrschaftsblinde Brille sieht und Unterschiede zu gegebenen Wesensmerkmalen ontologisiert. Sie fordern auf zu Neuorientierungen feministischer Theorie und Praxis, indem sie die Geschlechterfrage in einen umfassenden Kontext politischen Denkens stellen und versuchen, simplifizierende Entweder-Oder-Diskurse mit ihren gewaltträchtigen Abstraktionen und hegemonialen Vorannahmen zu entgiften. Dieser Essay schafft notwendige Klärungen, ohne einfache Auflösungen zu bieten, ohne Kontroversen zu scheuen und ohne in besserwisserische Gesten zu verfallen. Und er führt die heute wieder auftauchende Meinung ad absurdum, Feminismus müsse nicht studiert werden.
Christina Thürmer-Rohr
VorwortUnterscheiden und herrschenEin Essay
Wenn die Zeit stillsteht, kann Wahrheit verkündet werden.
Joan Wallach Scott1
Die Kölner Silvesternacht 2015 steht in der Öffentlichkeit für sich. »Köln« ist zur Signatur geworden. Ein Ereignis, von dem alle zu wissen meinen, was dort passiert ist. Wer auf »Köln« zu sprechen kommt, ruft ein mutmaßlich präzises, klar umrissenes Geschehen auf: massive sexualisierte Belästigung von Frauen in der Öffentlichkeit einer deutschen Großstadt. Ausgeübt von nicht-deutschen Männern, von Migranten oder Ausländern. Manche würden sagen: von »Nafris«, eine interne Bezeichnung der Polizei in Nordrhein-Westfalen für »Nordafrikanische Intensivtäter«, verwendet vor allem im internen polizeilichen Funkverkehr.2
Zugleich ist »Köln« aber auch der Name eines notorisch unklaren Ereignisses, eine durch Zeit und Raum zirkulierende Chiffre, die eine Vielzahl von Bedeutungsspuren umfasst und beständig Bedeutungsresonanzen erzeugt. Eine Chiffre, in der die konkreten Geschehnisse mit der Rede über diese Ereignisse zu einem Diskurs, einem aus sprachlichen und nicht-sprachlichen Elementen bestehenden, »differentiellen System von Positionen« verschmelzen, um eine Formulierung von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zu verwenden.3Letztlich ist ungewiss, was in dieser Nacht genau geschah. Umso mehr eignet sich »Köln« als Projektionsfläche, wie die Redakteur*innen des Zeit-Magazins feststellten, die im Juni 2016 genau dieser Frage nachgingen: »Was geschah wirklich?«4
Die Chiffre »Köln« ist also leer und aufgeladen zugleich und eignet sich deshalb gerade als ordnende Kraft, die in der Lage ist, Diskurse auch rückwirkend zu verändern.5Jetzt konnte das notwendige Ende einer – angeblich völlig naiven und verfehlten – »Willkommenskultur« gefordert werden. Habe sich doch mit »Köln« gezeigt, dass diejenigen, die wir willkommen hießen, ›unsere‹ Werte nicht achten wollen oder können. Werte, die die Gleichstellung von Frauen und Männern betreffen. In jedem Fall habe »Köln« deutlich gemacht, dass die allzu freizügige Toleranz gegenüber Männern aus dem arabischen Kulturkreis – was und wo auch immer das sein mag – irgendwie ›unseren‹ liberalen, egalitären, westlichen Konsens gefährde. Und irgendwie auch ›unsere‹ Frauen.
»Köln« steht also auch für die Behauptung, dass bestimmte Migranten nicht integrierbar sind, sich nicht integrieren wollen und dass es ›irgendwie‹ doch fundamental unüberwindliche Differenzen zwischen Kulturen gibt. »Köln« scheint zudem die Notwendigkeit flächendeckender Videoüberwachung zu belegen. Auch das Erstarken populistischer Parteien und die Erosion der Zivilgesellschaft wird »Köln« zu Last gelegt. Und schließlich bewirkt »Köln«, dass feministische Anliegen seitdem verstärkt Gehör finden. Allerdings ist diese Aufmerksamkeit eng mit neuen Rassismen und der Kulturalisierung sozialer Ungleichheiten verwoben.
Paradox genug also: Die Mobilisierung von Feminismus und Frauenrechten wird durch nationalistische beziehungsweise nativistische, bisweilen fremdenfeindliche und völkische Parteien und Programmatiken, aber auch von konservativen und rechtspopulistischen Regierungen wie in Ungarn, Dänemark oder Polen zur Rechtfertigung islamfeindlicher oder xenophober Ausgrenzungspolitiken benutzt. Kurzum: »Köln« steht für die ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. »Köln« steht damit auch für die Notwendigkeit, sich mit diesen Begriffen, den ihnen anhaftenden Differenzen und Verflechtungen kritisch, auch selbstkritisch auseinander zu setzen.
Über diese Verflechtungen, besonders über jene ›irgendwie‹ fundamental unüberwindlichen Differenzen denken wir in diesem Buch nach. Wie sind die Behauptungen von Unvereinbarkeiten – zum Beispiel muslimisch und geschlechtergerecht, feministisch und migrantisch, deutsch und sexistisch – zustande gekommen? Welche Rolle nimmt »Köln« hier ein? Was wird entlang dieser Chiffre verhandelt, vielfach implizit und stillschweigend, bisweilen aber auch explizit und lautstark? Und wie konnte »Köln« zu einem »Stepppunkt« werden, einempoint de capiton, den Lacan als den Punkt beschreibt, an dem die beständige Verweisung von Bedeutungen gestoppt wird? Denn genau das ist »Köln«: Ein privilegierter, bedeutungsfixierender Signifikant in einem xenophoben Sicherheits-Diskurs. Ein Punkt, auf den sich angeblich alle irgendwie einigen können, wo ansonsten Unklarheit und Diskussion herrscht.
Anlass, genauer über diese Fragen nachzudenken, war unsere Wahrnehmung, dass »Köln« auch für einen Fundamentalisierungsschub in der öffentlichen Rede steht. Wir wollten begreifen, was es damit auf sich hat, und ob diese Wahrnehmung überhaupt zutreffend ist.Uns einen Reim auf die Dinge machen.Denn auch für uns sind implizite Selbstverständlichkeiten entlang des Ereignisses »Köln« problematisch, also problematisierbar geworden. Dieses Essay nimmt dies als Herausforderung und Chance wahr. Soziologisch informiert und intersektional orientiert wollen wir zur (feministischen) Aufklärung der Gegenwart in Zeiten zunehmender Diskursvernebelung beitragen und gegen die Verengung von Debattenräumen anschreiben. Wir hoffen, damit zur Wiederbelebung einer Debattenkultur beizutragen, die diesen Namen verdient.
Ziel ist es, zu den angesprochenen Wahrnehmungen und den daraus resultierenden Frageneine Haltung zu gewinnen.Wir fragen nicht nach der objektiven Wahrheit der Kölner Nacht. Unser Text ist weder eine journalistische Recherche noch eine wissenschaftliche Studie. Er ist vielmehr ein explizites Nachdenken darüber, wofür »Köln« im politischen Raum der Bundesrepublik Deutschland steht. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit und im Bewusstsein um Lücken.
Eine solche Lücke ist, dass auch in unserem Buch jene nicht zu Wort kommen, die in dieser Silvesternacht sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Dies ist wesentlich dem geschuldet, dass wir uns vor allem mit der öffentlichen Rede über »Köln« auseinandersetzen und danach fragen, welche Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge sich in dieser Rede abzeichnen. Die Erfahrungen der Frauen waren hier einmal mehr nicht von Belang. Das entspricht durchaus dem generellen gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt – und dies ist eine kaum zu unterschätzende Tatsache.
Wie die Stimmen derer, die sexuellen Missbrauch, die häusliche, öffentliche oder in Kriegen eingesetzte sexuelle Gewalt überlebt haben, hörbar gemacht werden können, ist eine enorm bedeutsame Frage. Auch wenn wir dieser Frage hier nicht explizit nachgehen, so möchten wir unseren Text dennoch als einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den Bedingungen dieser Hörbarkeit verstanden wissen. Wir sind überzeugt davon, dass diese Stimmen mehr Aufmerksamkeit, mehr Nachdenken, mehr Zuwendung verdienen. Mehr als der thematische Zuschnitt dieses Essays erlaubt, der einer anderen Frage – der gewaltvollen, fundamentalisierenden Logik der Versämtlichung, der Logik von ›unterscheiden und herrschen‹ – gewidmet ist.
Mit Fundamentalisierung meinen wir zunächst ganz allgemein Redeweisen der autoritären Stillstellung, der Bedeutungsschließung und Pauschalisierung. Redeweisen also, die sich sowohl gegen Vieldeutigkeiten wie gegen ihre eigene Reflexion zu immunisieren versuchen. Die, bildlich gesprochen und noch einmal Lacans Begrifflichkeit aufgreifend, ein vielschichtiges Gewebe durch ›Stepppunkte‹ fixieren. Im Zusammenhang mit »Köln« war und ist dies wesentlich dort der Fall, wo vermeintliche Eigentlichkeiten oder Essenzen von Menschen und Gruppen (wenigstens implizit)a priorigesetzt werden. Kausale Kurzschlüsse dafür genutzt werden, von diesem wie auch immer gearteten So-Sein auf das spezifische Handeln eines konkreten Menschen zu schließen. Oder wo eine unveränderliche kulturelle Identität und deren intrinsisch gegebene Verbindung mit bestimmten Werten behauptet wird – beispielsweise die Behauptung, Aufklärung, Freiheit, Demokratie, Gleichheit seien ausschließlich westliche Werte und der Islam beziehungsweise die arabische Welt sei umgekehrt unfähig, sich aus der eigenen Unmündigkeit zu befreien.
Diese für fundamentalisierende Praxen charakteristische Essentialisierung wird verstärkt, wenn diese in einem Modus der Differenzkonstruktion realisiert wird. Das heißt, wenn der Rahmen der Unterscheidungen beispielsweise auf ihr/wir, fremd/eigen oder schwarz/weiß eingeschränkt wird und so die Thematisierung eines Sachverhalts mit der Dethematisierung der Komplexität einhergeht, die diesem Sachverhalt eigen ist – oder zumindest eigen sein könnte.
Augenfällig ist im Zusammenhang mit solcherart manichäischen Differenzkonstruktionen besonders ein Effekt: die Verschärfung von polarisierenden Zuschreibungen und »Vereigenschaftlichungen« (Axeli Knapp). Wo im Zusammenhang mit »Köln« über Sexualität, Freiheit, Migration/Flucht, Geschlecht, Politik, Kultur berichtet oder gesprochen wurde, geschah dies jedenfalls häufig mit den Mitteln der »Versämtlichung« (Hedwig Dohm): Es ging um ›die‹ Flüchtlinge, ›die‹ Frauen, ›die‹ arabischen Männer, ›unsere‹ Kultur – um nur wenige Beispiele zu nennen.
Die Nutzung solcher Begriffe verstellt die Sicht auf Binnendifferenzen. Unsichtbar werden intersektionale, das heißt in sich komplexe Verhältnisse, Existenzweisen und Erfahrungen, die zwar nicht immer einfach auf den Begriff zu bringen sind, doch empirisch den Normalfall bilden. Zudem machen versämtlichende, essentialisierende Differenz-Begriffe die dynamischen Prozesse der Differenzierungunsichtbar. Differenz-Begriffe funktionieren empirisch über die Behauptung einer Sache, die sich von einer anderen unterscheidet – nicht über die Darstellung ihres Werdens oder ihrer Gewordenheit. Es macht also einen Unterschied, je nach Kontext ums Ganze, ob von »Geschlecht« oder von »Vergeschlechtlichung« die Rede ist, ob von »Kultur« oder von Prozessen der »Kulturalisierung« gesprochen wird.
Differenz-Begriffe sind freilich nichtper sefalsch. Zu differenzieren ist weder unsinnig noch an sich gefährlich. Es ist wichtig, dass wir unterscheiden. Tatsächlich operieren wir unaufhörlich mit Differenzen und ohne sie wären Denken wie Handeln schlechterdings unmöglich. Differenzen sind das Produkt sozialer Praxis, als solche strukturbildend für Gesellschaften, und damit wiederum der ermöglichende Rahmen für Praxis. Allerdings gibt es systematisch verschiedene Formen der Differenzbehauptung und unterschiedliche Formen der Differenzierung, die es zu unterscheiden – zu differenzieren – gilt.
Zudem unterscheiden sich Kontexte, in denen Differenzen je spezifisch zum Einsatz kommen und je unterschiedlich wirksam (gemacht) werden. Dieselbe Differenz – etwa zwischen männlich/weiblich, jung/alt, hetero-/homosexuell, von hier/von dort, eigen/fremd – kann je nach Kontext und je nach Deutungs- und Handlungsmacht der an diesen Kontexten beteiligten Personen oder Gruppen, deren Differenz relevant gemacht wird, trivial oder sinnvoll, bloß interessant oder existenziell bedeutsam sein. Je nachdem, in welchem Kontext eine Person etwa als lesbisch oder schwul wahrnehmbar (gemacht) und bezeichnet wird, kann dies eine sinnvolle Information, eine Diskriminierung, ein irrelevantes Detail sein oder gar ein Todesurteil bedeuten.
Relevant für das Verständnis von Wirklichkeit, die auch mittels Differenz-Begriffen konstituiert wird, ist zudem, in welcher Weise Personen und die immer komplexen sozialen Positionen, die diese Personen einnehmen, mit nur einer Differenz verschmolzen werden. Konkret gefragt: Als Verkörperung welcher Differenz werden die unterschiedlichen Personen und Gruppen, von denen im Zusammenhang mit »Köln« die Rede war und ist, sichtbar gemacht? Verstehen wir »Köln« in diesem Kontext mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau als »Knotenpunkt«,6das heißt ein Punkt, der sprachliche und nicht-sprachliche Elemente, Diskurse und Praktiken in einer solchen Weise verknüpft, dass sie uns als Subjekte in je bestimmte und asymmetrisch angeordnete, geschlechtlich und sexuell markierte, rassifizierte soziale Positionen rufen, welche Subjektivierungs(an)gebote hält »Köln« dann bereit? Wer wird rund um »Köln« als wer beziehungsweise als was wahrnehmbar, sicht- und hörbar, wer wird also wie sozial anerkennbar? Und wie organisiert das wiederum gesellschaftliche Solidarbeziehungen? Wem gegenüber werden also welche moralischen Verpflichtungen gestiftet?
Wir verstehen dieses Buch als einen Beitrag zum analytischen Verständnis der Mechanismen und Funktionsweisen von »Dominanzkultur« (Birgit Rommelspacher). Dominanzkultur meint eine gesellschaftliche Formation, die durch ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen strukturiert ist, die in Wechselwirkung zueinander stehen, und die unsere gesamte Lebensweise in Kategorien der Über- und Unterordnung organisiert sowie unser aller Handeln, unsere Einstellungen und Gefühle bestimmt. Nachdrücklich darauf aufmerksam machen möchten wir mit diesem Essay, dass das »kulturelle So-Sein« nicht als homogene und kompakte Eigentlichkeit existiert, etwa als »arabische«, »patriarchale« oder »christliche«, als »westliche«, »deutsche« oder »egalitäre« Kultur. Kultur ist vielmehr der soziale Raum, in dem gesellschaftlich wie individuell Sinn entsteht und zugleich der Modus, in dem Sinn generiert wird. Diese Produktion von Sinn schließt die Verhandlung, die Konflikte, die Auseinandersetzungen um Sinn und Bedeutung ein. Kultur ist der Reim, den sich Menschen auf ihre Welt und damit auch auf sich selbst machen. Kultur ist Kontext. Auch diese Kontexte sind selbst wiederum kulturell produziert. Und diese Kontexte sind notorisch unklar, sie sind unabschließbar. Sie sind nicht still zu stellen, ohne Anfang und Ende, ohne klare Grenzen und ohne Eigentlichkeit.
So trivial diese Skizze zu Kultur anmuten mag, so wichtig ist sie. Kultur ist geradenichtdie Essenz, das Eigentum oder das Wesen einer Region, einer Religion, einer »Rasse« oder eines Geschlechts. Wo das behauptet wird, wo ein Stück unserer Vergangenheit, eine Eigenschaft, eine Essenz oder was auch immer »als unser Eigentum« betrachtet wird, haben wir die Zukunft bereits verspielt, wie die Historikerin Joan W. Scott sagt. Denn jeder Versuch, die solcherart stillgestellte Identität »zu revidieren oder neu zu interpretieren«, kann dann nur als Bedrohung des eigentlichen Seins »eines nationalen oder rassischen oder ethnischen oder geschlechtlichen oder individuellen Selbst« wahrgenommen werden und nicht als Möglichkeit, wie es auch sein könnte, dass es anders sein könnte.7
Auf den einstimmigen Refrain derjenigen fundamentalistischen Strömungen in nationalistischen, ultrareligiösen, rassistischen, rechten wie linken, konservativen wie progressiven ›identitären‹ Kontexten, auf jene, die sich als Opfer von Zensur gerieren, und die von einer angeblich aggressiv forciertenPolitical Correctnessund einer feministischen oder wahlweise von einer phantasierten »Homo-Lobby« ausgehen, auf all jene, die meinen, die Vielgestaltigkeit der Welt mit eindeutigen Unterscheidungen, mit klaren Trennungen zwischen gut und böse, richtig und falsch, schwarz und weiß, männlich und weiblich, hetero und homo bannen zu können, antworten wir mit einer polyphonen Fuge. Oder zumindest mit einem basso continuo der Skepsis gegenüber der Behauptung von Differenz-Eigentlichkeiten.
Vielstimmigkeit und eine durchgängige Haltung der Skepsis speisen sich nicht zuletzt daraus, dass auch wir Autor*innen unterschiedliche Sichtweisen auf diese Gegenwart haben und diese unterschiedlichen Sehe-Punkte im Text sichtbar bleiben sollten, statt sie im Schreib- und Redigierprozess anzupassen und einzudämmen. Es sind Differenzen, die aus unseren unterschiedlichen Zugehörigkeiten, Affinitäten und Positionierungen, aus unserem unterschiedlichen In-der-Welt-sein resultieren. Sie sind Teil unserer über lange Jahre gereiften fachlich-kollegialen, politischen und persönlichen Freundschaft, deren wichtigstes Elixier das gemeinsame Denken in unterschiedlichen Stimmen ist.
Dem experimentellen Charakter unseres Nachdenkens entspricht am deutlichsten das Essay. Es ist explorativ, tentativ und unvollständig. Ein nachlesbares »Denken ohne Geländer« (Hannah Arendt). Entstanden auf dem Papier, am Bildschirm, im Chat, am Küchentisch; in der konzentrierten Einsamkeit vor dem Computer, im Gespräch miteinander, parallel, simultan. Eine Reflexion, die sich im Dazwischen realisiert: im Raum zwischen uns Autor*innen und im Lichte jener Differenzen, die uns unterscheiden, aber nicht trennen. Ein Ineinanderfließen von Denken, Sprechen, Schreiben. Ein Ausprobieren von Ideen. Welch’ ein Wagnis für die sozialwissenschaftlich disziplinierte Wissenschaftler*in, geschult darin, jede Aussage empirisch abzusichern, argumentativ nach allen Seiten hin zu härten.8Ein Wagnis auch insofern, als wir schreibend kaum Schritt halten konnten mit der Geschwindigkeit der politischen Dynamiken, die die Halbwertzeit von Ereignissen und Debatten beständig nach unten zu drücken scheint.
Zu diesem Versuch, einander wechselseitig nicht zum Schweigen zu bringen und auf Komplexitätsprobleme hinzuweisen, statt der Komplexitätsreduktion – auch jener in kritischer Absicht – das letzte Wort zu überlassen, gehört nicht zuletzt, Differenzen, Unterscheidungen und Kategorien nichtper seals Problemzu begreifen. Im Gegenteil. Gerade weil wir Differenz wertschätzen, gilt es, deren Indienstnahme für die Absicherung von Herrschaft und die differenzielle Verteilung von Prekarität, für die Organisation von Anerkennung und die Regulierung sozial ungleicher Verhältnisse in den Blick zu nehmen.
Wenn wir daher mit diesem Essay einen Beitrag zu der Frage leisten wollen, die einmal mehr im Mittelpunkt der Arbeit moderner Gesellschaften an sich selbst zu stehen scheint, nämlich welche Funktion die herrschaftlich verfasste Produktion und Politik kultureller Differenz bei dieser Arbeit an sich selbst einnimmt, so darf seine Reichweite gleichwohl nicht überschätzt werden. Was dieses Buchnichtvermag, ist eine umfassende Rekonstruktion der inneren Mechanik und Phänomenologie der wechselseitigen Verflechtungen zweier für die Moderne konstitutiven Konfigurationen von Macht – Rassismus und Sexismus – sowie deren ambivalente Verknüpfung mit Feminismus.9
Wozu wir indes beizutragen hoffen, ist, daran zu erinnern, dass Rassismus und Sexismus nicht von den so oder anders bezeichneten Gruppen oder Individuen her gedacht werden können. Weder »Rasse« noch Geschlecht sind Körpern inhärente Eigentlichkeiten, wenngleich sie beide in je spezifischer Weise mit körperlichen Aspekten gekoppelt, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden.10Vielmehr gilt es, Sexismus und Rassismus als höchst agile, in sich heterogene, dynamische und sich beständig verändernde Figurationen zu erkennen,11als dehnbare Repräsentationen und Machtpraktiken, die auf vielfältige und einander durchaus widersprechenden Weisen verknüpft werden können. Die machtgetränkte Produktion von Differenzen und der Blick auf die Verhältnisse, in denen sie relevant gemacht werden, gibt die Denkrichtung vor.
Vor allem aber ist es uns darum zu tun, daran zu erinnern, dass Kulturen »von Menschen geschaffene Strukturen von Autorität und Partizipation sind, wohltätig in bezug auf das, was sie umfassen, einschließen und validieren, weniger wohltätig in bezug auf das, was sie ausschließen und degradieren«, wie Edward Said inKultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Machtschreibt.12Kultur ist kein »Gehäuse der Hörigkeit«,13das uns dazu verdammt, uns herrschaftskonform zu verhalten. Kultur ist auch reflexives, skeptisches und kritisches, ist dissidentes Handeln.
Kurzum: Statt Differenz identitätslogisch zu denken, wollen wirinDifferenz über Differenz nachdenken undzwischenDifferenzen differenzieren. Es wäre in diesem Sinne ein grobes, aber für die gegenwärtige politische Kultur womöglich symptomatisches Missverständnis, wenn die das Buch durchziehende Kritik an fundamentalisierenden Redeweisen so gelesen würde, als wollten wir diese zum Schweigen bringen, gar zensieren. Im Gegenteil. Wirmüssenreden. Auch über unser Reden.
DANKE
Ein Buch verdankt seine Existenz nie nur seinen Autor*innen. Das gilt auch für dieses Buch. Die Spuren der Anderen sind – über die Verweise – in den Text eingetragen, ohne dass wir beanspruchen könnten, hier eine vollständige Kartographie des Wissens vorgelegt zu haben, auf das wir uns stützen. Unsere Lektorin Mascha Jacobs hat die Herausforderung angenommen, aus einem Text in zwei Stimmen einen stimmigen Text zu machen, in dem beide Stimmen weiterhin vernehmbar sind. Ina Kerner, Ilona Pache, Jasmin Siri, Imke Schmincke und Michaela Volkmann haben erste Fassungen gelesen und kritisch kommentiert. Für stets kritische und zugleich zugewandte Begleitung sei ihnen gedankt. Sabine Hark dankt Ilona Pache für stetige Ermutigung, unverbrüchliches Vertrauen in die Relevanz unserer Überlegungen und die heitere Gelassenheit im Leben mit einer Autor*in. Paula-Irene Villa dankt Michael Cysouw für Vieles im Allgemeinen, für die liebevolle Ermöglichung von intensiven Schreibphasen im Konkreten. Und schließlich gilt unser Dank Karin Werner und Anke Poppen vom transcript Verlag, die die Idee für dieses Buch an uns herantrugen und ohne die es wohl nicht geschrieben worden wäre.
Kapitel 1Diese ganze verrottete GegenwartPlädoyer für die Freundschaft zur Welt
Ich plädiere für diese ganze verrottete Gegenwart. Sie ist unsere einzige Gelegenheit. Sie ist das Leben, das wir haben. Sie und keine andere birgt den Stoff, um unsere Kräfte zu entwickeln.
Christina Thürmer-Rohr, 1987 1
SEHEN, WAS VOR UNS IST
»Können Sie denn nicht sehen, was vor Ihnen ist?« Diese Frage sei ihm gelegentlich in gereiztem Ton gestellt worden, schreibt der Philosoph Nelson Goodman inWeisen der Welterzeugung. Beantwortet habe er sie stets gleich: »Das kommt darauf an.« So sei etwa die Aussage, »die Erde bewegt sich«, ebenso wahr wie die Aussage, »die Erde steht still«, schließlich seien beide Aussagen abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen.2Redet Goodman hier dem Zeitalter des Postfaktischen, in dem wir nach dem Dafürhalten nicht weniger Kommentator*innen des Zeitgeschehens angekommen sind, und in dem Wahrheit oft genug das zu sein scheint, was die meisten Klicks produziert, das Wort? Im Gegenteil. Was auf den ersten Blick als radikal relativistische Position daherkommt, die den Unterschied zwischen Meinungen und Tatsachen nicht kennen will, ist vielmehr der Versuch, »jene Fundamentalisten zu irritieren, die genau wissen, daß Fakten gefunden und nicht gemacht werden, daß Fakten die eine und einzige reale Welt konstituieren und daß Wissen darin besteht, an die Tatsachen zu glauben«.
Goodmans Überlegungen sind aber vor allem ein Plädoyer dafür, zum einen die Bedingungen zu untersuchen, die die eine oder die andere Aussage ermöglichen, also tatsächlich zunächst einmal zu klären, was genau vor uns ist, und von wo aus etwas über die Welt gesagt wird. Zum zweiten – und dies trotz oder vielleicht gerade wegen der wachsenden Bedeutung des keinesfalls neuen Postfaktischen – lässt sich von Goodman ausgehend darüber nachdenken, was es bedeutet, dass Tatsachen nicht einfach gegeben sind, also nicht außerhalb des Sozialen und von Geschichte existieren. Wir erzeugen Welten, also auch Tatsachen, indem wir »mittels Wörtern, Zahlen, Bildern, Klängen oder irgendwelchen anderen Symbolen in irgendeinem Medium solche Versionen erzeugen«.3Es genügt, »neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ›Dinge‹ zu schaffen,«schreibt schon Friedrich Nietzsche.4
Wenn wir daher argumentieren, dass Welten erzeugt und nicht einfach vorgefunden werden, reden wir freilich ebenso wenig einer absoluten »sozialen Magie des Wortes«, wie sie Pierre Bourdieu und Judith Butler in kritischer Absicht diskutieren,5noch der absoluten Abhängigkeit der Existenz von Dingen oder Tatsachen von Namen und Schätzungen das Wort. Wohl aber gehen wir davon aus, dass dieWahrnehmungder Welt und wie wir sie bezeichnen, wesentlich das prägt, wie sie für uns wirklich ist und was wirwiewahrnehmen. Denn unsere »gesamte institutionelle Wirklichkeit« wird durch »sprachliche Repräsentation geschaffen«, so der Sprachphilosoph John Searle.6
Das heißt zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass Tatsachen und Sprache, Wahrnehmung und Wahrheit, Fakten und Deutung nicht nur miteinander verschränkt, sondern füreinander konstitutiv sind. Dies ist keine triviale Einsicht, sie enthält auch das Wissen um die Komplexität und bisweilen Undurchschaubarkeit dieses Zusammenhangs. Eine Undurchschaubarkeit, die wesentliches Charakteristikumder Moderne ist. Denn in dieser gibt es keine Ordnung mehr, die vorgegeben und allumfassend ist und noch die Betrachter*in einschließt, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels sagt.7Damit ist umschrieben, was mit Kontingenz gemeint ist. Alles ist so oderauch anders möglich, weil es keinen notwendigen Existenzgrund hat. Nicht nur menschliches Handeln, auch der Handlungsraum selbst kann so oder anders sein.Eine Undurchschaubarkeit schließlich, die auch die moderne Wissenschaft als Projekt mit offenem Ausgang kennzeichnet, betrachtet dieseWissen doch als im Prinzip immer vorläufiges Wissen – eine Überzeugung, die die von Robert Merton destillierte Norm des »organisierten Skeptizismus« paradigmatisch zum Ausdruck bringt.8Eine Undurchschaubarkeit, die zudem durch die zunehmend deutlicher wahrnehmbare Unübersichtlichkeit des Sozialen in jüngster Zeit vielleicht sogar noch größer geworden ist.9
EREIGNIS »KÖLN«
Sehen, was vor uns ist, untersuchen, worauf es ankommt, das ist das Anliegen dieses Buches. Anlass sind die Geschehnisse in der Silvesternacht 2015 in Köln. Eine Nacht, die für tektonische Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge steht, die in ihrer Reichweite noch kaum zu überblicken sind. Und deren Vorkommnisse sich in einem weit über die tatsächlichen Vorfälle hinausweisenden, emblematischen Ereignis kristallisiert haben. »Köln« ist der Name dieses Ereignisses.Der Name eines Wirklichkeit gewordenen Ensemble aus ›Wörtern, Zahlen, Bildern, Klängen‹, das wiederum selbst dazu angetan ist, ›auf die Länge hin neue Dinge zu schaffen‹.
Mit Stuart Hall können wir »Köln« auch verstehen als Element eines »Repräsentationsregimes«, welches »das gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten« umfasst, »durch das ›Differenz‹ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert wird«.10Das heißt alltäglich relevante Differenzen – ethnische und kulturelle Markierungen oder auch die Geschlechterdifferenz – werden in komplexer Weise neu angeordnet und in eine bestimmte, vorläufige Struktur gebracht. Mit Hilfe dieser Struktur ordnen die Menschen die Welt und machen sie für sich sinnvoll und verstehbar. »Köln« ist der Name für eine solche vorläufige Struktur; es emblematisiert die Differenz zwischen uns und denen, zwischen ›dem Westen und dem Rest‹11, in der berühmten Formulierung von Hall.
Repräsentationsregime, wie Hall sie versteht, bilden Differenzen dabei nicht einfach ab. Im Gegenteil. Die zentrale Leistung eines Repräsentationsregimes besteht darin, dass Differenz in einer spezifischen Weise produziert wird und uns nicht zuletzt dadurch regiert, dass uns Differenzen eben so oder so zu sehen gegeben werden. Mit dieser Gestaltung von Sichtbarkeit beschäftigen wir uns in diesem Buch. Das heißt mit Texten und Bildern, in denen »Köln« sichtbar gemacht wurde, in Erscheinung trat. Dafür verstehen wir Texte und Bilder mit Alex Demirović als Aktivität, die »interveniert und eine Konstellation und einen Kontext zu erzeugen sucht«.12
Dass Differenzen mittels Text und Bild sichtbar und damit performativ gemacht werden, ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Denn beide sind »auf grundlegende Weise dialogisch, praktisch, weil ihre Emergenz die Konstellation der Texte, das Verhältnis von Gesagtem und Nichtsagbarem und damit den Kontext selbst verändert«, so Demirović. Bedeutung gewinnen Texte und Bilder deshalb nicht für sich und aus sich heraus, sondern »als diskursive Ereignisse, als spezifische Praktiken in einer Konstellation«. Indem sie »Teil eines Kräftefeldes [sind], zu dessen Konstitution sie selbst beitragen«, reagieren sie »auf ein Problem, auf eine andere Position, nehmen diese auf, wollen diese verschieben, außer Kraft setzen oder verändern«. Letztlich eine Binse, aber wesentlich: Bilder und Texte determinieren nicht die Wahrnehmung oder die Wirklichkeit. Sie konstituieren diese aber wesentlich mit und diese Konstitution ist wiederum abhängig von eigenlogischen Aneignungspraktiken der Menschen in spezifischen Kontexten.
»Köln« ist in diesem Sinne schon jetzt, rund eineinhalb Jahre danach, Teil unserer historischen Objektivität. »Nach Köln« ist wie ein Eintrag in den Kalender, der die Zeit danach – und womöglich auch davor – neu rahmt. Die Fluchtlinien der Debatten über den politischen Umgang mit Migration und Asyl, über Sexualität und Geschlecht, über die strafrechtliche Behandlung von sexualisierter Gewalt, darüber, welche Rechte den Neuankommenden zustehen, über das Verhältnis zwischen uns und den Anderen, über den Verflechtungszusammenhang von Rassismus, Sexismus und Feminismus, von Kultur, »Rasse«, Geschlecht, Religion und Moral, von Einwanderung, Integration und innerer Sicherheit wurden in jener Silvesternacht jedenfalls unwiderruflich verschoben.
Die damit verbundenen komplexen Effekte sind nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die durch »Köln« forcierten Dynamiken von einer Ambivalenz bestimmt sind, die praktisch (aber nicht notwendig) durch fundamentalistische Rhetoriken eingehegt beziehungsweise abgewehrt werden. Diesen Rhetoriken widmen wir uns besonders. Wie wir in den folgenden Kapiteln zu zeigen hoffen, wurde Sexualpolitik hier (einmal mehr) für eine rassistische Wahrheitsproduktion aktiviert13und Feminismus für die Legitimation europäischer Grenzregime vereinnahmt,14wenn etwa die Unverträglichkeit des Islam mit westlichen Werten wie der politischen Gleichheit der Geschlechter oder der Toleranz für LGBTTIQ*-Existenz- und Lebensweisen behauptet wird.
Dass Feminismus oder die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten gegen das Fremde, das Andere, den Islam, jedenfalls gegen das, was angeblich nicht Westen ist, in Stellung gebracht wird, ist ebensowenig neu, wie nicht immer wieder als Ressentiment mobilisierbar. Der plakativ-populistische Satz des deutschen Innenministers, Thomas de Maiziere, »Wir sind nicht Burka«, ist nur eins von vielen Beispielen.15Doch »Köln« schien vielen der definitive, unerbittliche Beweis für Samuel Huntingtons ansonsten weitgehend widerlegte Diagnose, dass der Ursprung aller Konflikte im 21. Jahrhundert letztlich in der Kultur liege.16Ein harmonisches Zusammenleben mit Eingewanderten – insbesondere mit Muslimen – aus dem globalen Süden, so heißt es seit »Köln« jedenfalls mehr denn je, werde sowohl in Europa wie in den USA durch sogenannte »kulturelle Unterschiede« gefährdet.
AMBIVALENTE VERFLECHTUNGEN: RASSISMUS, SEXISMUS, FEMINISMUS
Dieses Buch ist der Versuch, zu diesen Verwicklungen und Verwerfungen, zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwarteine Haltung zu gewinnen. Wir verstehen es als Übung in kritischemDenken, in der wir feministische Theorie mit sozialwissenschaftlichem Wissen, den postkolonialen Analysen, denQueerundCritical Race Studiessowie der Migrations-, Rassismus- und Grenzregimeforschung zusammenbringen. Sie alle verstehen sich als Teil jener »›kritischen‹ Tradition im Westen«, die sich mit den Voraussetzungen des »Wahr-Sprechens« beschäftigt, wie Foucault bekanntlich inDiskurs und Wahrheitargumentiert.17
Ihr gemeinsamer paradigmatischer Ausgangspunkt ist die Marxsche Einsicht, dass Kritik immerimmanenteKritik ist, sie also selbst Teil dessen ist, was sie kritisiert, folglich auch das eigene Denken zum Gegenstand der Kritik werden muss. In Gayatri Chakravorty Spivaks Worten: »This impossible ›no‹ to a structure which one critiques, yet inhabits intimately, is the deconstructive philosophical position.«18Hier ist es insbesondere das heterogene Diskursfeld feministischen Denkens, das sich wie kaum ein anderes Theorieprojekt den aus dieser Position der Immanenz resultierenden Aporien gestellt hat, namentlich der Herausforderung, dass das eigene Wissen Teil hat an der Produktion der Unterscheidung nach Geschlecht – eine Unterscheidung, die es eigentlich hinterfragen will.
Feministische Theorie hat deshalb »die Kritik jedes Diskurses, der sich mit dem Geschlecht befasst, einschließlich derjenigen, die als feministisch produziert oder angeboten werden«,19stets als einen lebenswichtigen Teil des Feminismus begriffen. Sie hat daher nicht nur die »Frage der Frau im allgemeinen«20zurückgewiesen und gefragt, wer durch welchen Gebrauch von »Frau« repräsentiert wird, sondern den Modus der Herstellung und des Unterscheidens selbst zum Gegenstand gemacht. Die Geschichte des Feminismus ist dafür reich an Beispielen. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, 1851 anlässlich einer Versammlung US-amerikanischer weißer, bürgerlicher Frauen, die für das Frauenwahlrecht kämpften, trat die schwarze Abolitionistin und befreite Sklavin Sojourner Truth mit der Frage an die Versammlung heran, ob sie nicht als Frau qualifiziere. »Ain’t I a woman?«, fragte sie die Versammlung weißerFrauenrechtlerinnen.21Truth setzte ihre Existenz und ihre Erfahrungen – ausgepeitscht worden zu sein, so schwer gearbeitet und so viel gegessen zu haben wie ein Mann, niemals bürgerlich-paternalistische Galanterie erlebt zu haben – gegen die impliziten Annahmen der Weiblichkeit der weißen Mehrheit. Seitdem ist die Frage »Ain’t I a woman?« eine wirkmächtige Chiffre für die Infragestellung rassisierter, ethnisierter oder heterosexualisierter Unterstellungen von Geschlechtlichkeit beziehungsweise Weiblichkeit.22
Auch die Frage nach den »Artikulationsbedingungen der einen Kategorie für die jeweils andere« hat feministische Theorie immer wieder gestellt. Beispielsweise danach gefragt, wie »Rasse in der Modalität von Sexualität« und »das soziale Geschlecht in der Modalität von Rasse gelebt« wird, in der Formulierung von Judith Butler.23Oder wie »koloniale und neokoloniale Nationalstaaten das Geschlechterverhältnis in der Festigung von Staatsmacht« wiederholen und wo und wie »›Homosexualität‹ zugleich die den Kolonisierten unterstellte Sexualität und das aufkommende Zeichen für westlichen Imperialismus« ist.
Im Ergebnis stellt feministisches Denken sich als von Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten, von Diskontinuitäten und Divergenzen bestimmtes Projekt dar, als Resultat von Kämpfen und Auseinandersetzungen um Bedeutungen. Ein produktives Feld verschiedener konzeptioneller Denkbewegungen, das sich nicht nur aus einer Reihe von kritischen Analysen gegenüber geschlechtlich organisierten sozialen Ungleichheiten und Ausschlüssen sowie dominanten Diskursen und Repräsentationen entwickelte, sondern auch und vor allem in beständiger selbstkritischer Reflexion des eigenen Standorts und Wissens entstanden ist.
Die mit dieser kritischen Selbstreflexivität einhergehende Haltung eines methodologischen Zweifels gilt auch für jene Traditionen der Soziologie und für die Sozialtheorien, auf die wir uns beziehen. In allen im weitesten Sinne an Marx anschließenden kritischen Traditionen, aber auch in der Systemtheorie, in (sozial-)konstruktivistischen Ansätzen, in der Akteur-Netzwerk-Theorie, in denScience and Technology Studies, der Kultursoziologie und den