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Magersucht - ein oft verschwiegenes Thema. Doch Vivi ist selbst betroffen und wagt in diesem Buch mit ihrer ganz eigenen Geschichte den Weg an die Öffentlichkeit. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sondern schreibt genau so, wie sie es empfunden hat, mit all dem Mobbing in der Schule und sogar der Familie. Sie berichtet über ihre Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Lügen, aber auch über Erfolge und Rückschläge, die ihre Krankheit begleiten. Vivi nimmt Sie mit durch ihre eigene Hölle und präsentiert Ihnen schonungslos ihre Feindin, die Magersucht und vor allem auch die Qualen, die nötig waren, damit sie überlebt. Ein Tatsachenbericht, der emotionaler kaum sein könnte ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autorin: Vivienne Oroszi Covermotive: privat Covergestaltung: Michael Frädrich © Edition Paashaas Verlag, Hattingen www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-945725-99-3
Anmerkung des Verlags:
Es handelt sich um einen autobiografischen Bericht. Der Wechsel der einzelnen Zeiten ist nicht immer klar bestimmbar. Vieles aus der Vergangenheit reicht bis ins Jetzt hinein. Zeitsprünge im Text sind demnach unvermeidbar. Korrekturen hätten die Gefühlslage der Autorin textlich verändert, was wir absolut vermeiden wollten. Daher haben wir lediglich an einigen Stellen mit Formatierung gearbeitet, um Ihnen die Wechsel zu erleichtern.
Seien Sie also spontan und lassen Sie sich bitte auf die Sichtweise der Autorin ein – denn sie war dabei, sie hat das so erlebt und gelebt …
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Until it hurts Mein Feind, die Magersucht
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ich schreibe dieses Buch für alle, die Mut finden wollen. Wir Menschen neigen dazu, uns zu verstecken, wenn uns andere fragen, wie es uns geht. Doch wenn wir von unseren Problemen erzählen, meckern wir nicht, sondern vertrauen jemand anderem.
VERTRAUEN war auch mein Weg durch Heilung.
Doch diesen Weg einzuschlagen brauchte MUT.
Ich widme dieses Buch hauptsächlich meiner Familie und ganz besonders meiner Mutter. Sie steht zu mir, egal was war und ist.
„Ja, das ist meine Tochter!“
Sie hat mich nie versteckt, sie war stolz auf mich.
Danke, Mama.
Deine Tochter, Vivi.
Bewege dich nicht
Es stecken tausend Messer in deiner Hülle.
Gehorchen ist Pflicht
Gestraft und verletzt durch deine Fülle.
Nun in völliger Stille
Geschieht dein eigener Wille
Du bist heimlich dein eigenes Leid
Offene Wunden wegen jeder Kleinigkeit.
Vergangenheit, ich brauche dich nicht mehr!
Und löse mich dennoch nicht von dir.
Hör auf, mir wehzutun. Du brauchst mich,
es gibt doch noch ein wir!
Langsam wird es kalt und du gibst auf.
Lässt der Zeit und dem Blut freien Lauf.
Ich hätte nie gedacht, dass es soweit kommt. Ich dachte, es ist schlimm genug, schlimmer wird es nicht mehr. Wieso sollte es auch? Habe ich jemals irgendwem wehgetan? Nein. Ich bin ein fürsorglicher und vorsichtiger Mensch. Ich kenne meine Grenzen. Doch diese Grenze war mir bisher unbekannt.
Liebe deinen Körper und liebe dich
Dein Körper schenkt dir vieles und freut sich
Wenn du ihn ehrst und ganz stark liebst
Wenn du ihm Schutz vor Gefahr und Wärme gibst
Er schenkt dir Gefühle wie das Lachen
Mit Ihm kannst du erleben und Dinge machen
Er schenkt dir die Welt samt hören und schmecken
Er lässt dich die Welt auf deine Art entdecken
Dein Körper lässt dich nie im Stich
Ja, er liebt und ehrt dich!
Oft saß ich in der Schule in der Biologiestunde. Ich dachte, ich hab alles Mögliche gelernt, wozu ein Körper fähig ist. Ich wollte es nie am eigenen Leib erfahren. Ich wusste, ich sollte nicht zu tief tauchen, nicht von gefährlichen Klippen springen oder zu lange in der Sonne liegen. Doch dass es auch eine Art Selbstzerstörung gibt, war mir bislang nicht klar.
Heute weiß ich, wie gefährlich es sein kann, nicht auf seinen Körper zu hören. Seine Signale sind deutlich, doch in so einer schnellen und perfektionistischen Welt überhören wir seine Rufe nach seinen Bedürfnissen.
Wie jeder Teenager in meinem Alter weiß ich, dass ich eine Mischung aus Mama und Papa bin. Übliches Gerede: „Mama, wo komme ich her?“
„Schatz, Mama und Papa hatten sich ganz stark lieb und haben sich ganz fest ein Kind gewünscht und ein paar Monate später kam auch schon der Storch und brachte dich. Das war der schönste Tag für uns.“
Doch was ist, wenn sich dein Kopf dagegen weigert ein Teil deiner Eltern zu sein? Eine Mischung aus beiden? Nein, das will dein Kopf nicht wahrhaben. Dein Körper dankt dir, dass du ihn am Leben teilhaben lässt und schenkt dir alles, was er zu geben hat. Doch dein Kopf will einfach nicht mehr. Er schaut an dem Körper hinunter und denkt sich, er sei hässlich, nicht von dieser Welt. Er ist krank und eine Schande für alle Mitmenschen. Eine Belastung.
Doch fangen wir mal von vorne an, zurück zu meiner Grundschulzeit:
Ich war oft auf Reisen. Mal hier, mal dort. Mit neun Jahren glaubte ich, die ganze Welt gesehen zu haben. Ich liebte das Reisen. Koffer packen und los geht’s! Keiner kam mit außer meine Schwester, mein Vater und ich. Ach ja, und mein Teddy von Mama, nicht zu vergessen. Mama blieb lieber daheim. Sie mochte den Reisestress für ein paar Tage Urlaub nicht. Sie machte zuhause lieber alles im Haushalt. Und als wir zurückkamen, erwartete uns frisch Gekochtes, gebügelte Kleidung und ein frisch bezogenes Bett. Niemand aus meiner Klasse war so viel unterwegs wie ich. Sie machten mich oft nieder, ich sei nicht mehr als ein verwöhntes Kind. Zudem wurde ich nur mit meinem Vater verglichen. Er hatte eine Praxis in unserem Dorf, kurz gesagt, er war sein eigener Chef. Ich war daher auf der Schule nur das „Zahnarztkind“ und wurde fast nie mit meinem Namen angesprochen. Die Grundschule war zusammengelegt mit der Hauptschule des Ortes. Wir hatten eine Pausenhalle für dreizehn Klassen. Die Größeren prügelten sich oft oder schütteten die Getränke über die Jüngeren. Sie waren gemein, laut und respektlos. Klar, ich hätte zu meinem Vater gehen können und ihm diverse Beschimpfungen erzählen können, was ich jeden Tag aufs Neue zu hören bekomme. Aber diese Kinder wussten, trotz meiner Statur und Figur war ich einfach nur feige. Ich wollte nichts außer meiner Ruhe und etwas Frieden. Wieso mussten sie auch auf mir rumhacken? Ich hatte ihnen nie etwas getan. Eigentlich wusste ich nicht einmal, wer ich war. Für meine Mutter der größte Schatz auf Erden, zusammen mit meiner Schwester. Und für den Rest der Welt das dicke, hässliche Zahnarztkind. Doch in diesen Tagen, an denen wir wegfuhren, wusste ich, niemand den ich von daheim kannte, würde mich hier sehen oder fertigmachen. Ich war sicher. Dachte ich.
Wir fuhren, als ich in der vierten Klasse war, öfter fort als jemals zuvor. An jedem Feiertag, an jedem Wochenende und in den Ferien sowieso. Ich hatte kaum Zeit, Freundschaften mit Nachbarn oder Schulkollegen zu knüpfen.
Mama hatte mich oft darauf angesprochen, ob es nicht zu viel für mich sei. Doch ich schwieg.
Wenn ich Mama erzählt hätte, ich wäre gerne mal ein Wochenende zuhause, wäre sie sofort zu Papa gerannt, hätte es ihm erzählt und er wäre beleidigt gewesen. Wirklich, es ist mein Ernst!
Ich war etwas kräftiger gebaut, die Größte in meiner Klasse. Meine Schwester war hingegen klein und sehr dünn. Zu dieser Zeit besuchte sie die erste Klasse in derselben Schule. Ich war eher schüchtern. Die Äußerungen der letzten Jahre hatten mich sehr geprägt. Etwas zu sagen oder gar zu bemängeln hätte ich mich nie getraut. Ich meine, welche Mutter opfert einen Urlaub, um ihrer Familie alles recht zu machen – und welcher Vater fährt jede freie Sekunde ins Ausland, damit seine Kinder abwechslungsreich leben und Spaß haben? Ich wüsste keine zweite Mutter, die so etwas tut und keinen zweiten Vater. Die meisten Eltern der Schüler meiner Schule waren Raucher und total desinteressiert, was ihre lieben Kinder angeht. Man könnte sagen, sie haben sich ihr Benehmen von zuhause abgeschaut. Doch irgendwann reicht diese Ausrede nicht mehr, um sich vor deren Beleidigungen zu schützen.
Mein Vater nutzte meine Gutmütigkeit aus. Ich wollte nicht, dass es im Streit endet. Also hielt ich meine „Klappe“, so wie er es ausdrücken würde. Wenn Mama ihm sagen würde, ich bräuchte ein wenig Pause, würde er uns als undankbar und verwöhnt bezeichnen. Wir ehren seine Mühe nicht. Dabei wollte ich bloß sichergehen, den Übergang ins Gymnasium zu schaffen. Für mich war es ein großes Ziel, welches ich unbedingt erreichen wollte. Ich blieb also still und lächelte, wenn sie mich fragte, wie der Urlaub oder die paar Tage des Reisens so waren. Ich vermisste meine Mutter. Ich war fünf Tage in der Woche in der Schule, sah sie kaum und am Wochenende war ich weg. Weit weg.
Dass ich nicht mehr reisen wollte, oder zumindest nicht so viel, war eins meiner Geheimnisse, so wie viele andere über meinen Vater. Ich wusste schon damals, dass er zwei Gesichter hat. Dass er in seiner Praxis oder vor Mama anders ist, als bei mir. Selbst bei meiner Schwester war er eine komplett andere Person!
Mein größtes Geheimnis war: Ich wusste, dass er trinkt. Abends, wenn er meint, wir schlafen schon. Er holt immer eine Weinflasche raus und trinkt sie. Als er jedoch wegen Herzproblemen Medikamente einnehmen musste, war er gezwungen, den Alkohol abzusetzen. Da begann mein Kampf, nicht aufzufallen. Ich durfte nicht bedrückt und traurig wirken. Ich war ein „Gute-Laune-Bär“.
Durch seinen Entzug wurde er oft lauter und aggressiv. Er schrie mich an und packte des Öfteren fester zu. Ich verkroch mich sehr oft in meinem Bett und drückte den Teddy von Mama ganz fest an mich.
Manchmal hatte ich auch Angst, wegzufahren.
Eines Tages, als wir im Urlaub waren, fuhr ich mit dem Fahrrad zum Apartment. Ich wollte mir etwas zu trinken holen und schlich mich ins Zimmer. Als ich dann aber hörte, was mein Vater zu meiner Tante sagte, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein! Er erzählte mit beinahe tränenden Augen, meine Mutter täte nichts für uns, sie würde nie etwas kochen und würde ihn immer ausschließen, wenn sie etwas mit uns unternimmt. Er arbeitet den ganzen Tag und erwartet doch bloß etwas lecker Gekochtes und ein sauberes Haus, wenn er nachhause käme.
In diesem Moment dachte ich nicht weiter darüber nach und fuhr weiter. Dennoch grübelte ich später den restlichen Tag lang, was das zu bedeuten hätte. Ich beschloss, abzuwarten und wenn ich mehr hörte, würde ich es Mama sagen. Ich wollte dennoch meine Glaubhaftigkeit testen und erzählte Papa von meinen Sorgen in der Schule. Von den Beleidigungen und dergleichen. Er sagte, er hilft mir abzunehmen und dann hört das schon auf.
Als wir nachhause kamen, erwartete uns Mama wie gewohnt mit viel Liebe. Das ganze Haus duftete nach Essen und meine Schwester warf sich fast schon auf ihren Stuhl in der Küche. Mama umarmte uns, doch Papa ignorierte sie. Heute wird es Streit geben, ahnte ich.
Als Mama schnell noch etwas aus dem Lager holte, flüsterte Papa mir zu: „Also, wie war das mit den Beleidigungen? Du musst abnehmen. Iss einfach jeden Tag statt Schokomüsli in der Früh ein wenig Obst und einen Jogurt, mittags einen Teller von deinem Mittagessen und abends nur noch einen Apfel. Bis Mitte März hast du sicher abgenommen.“ Er deutete auf meinen hervorstehenden Bauch und sagte: „Der ist dann auch weg. Aber halte dich daran.“
Mama kam wieder herein. Papa hörte sofort auf zu flüstern. Mein Magen knurrte. Ich hatte Hunger. Sie stellte meiner Schwester einen Teller hin. Diese nahm sich gleich viel zu essen. Ich schaute nur so drein. Mein Vater sah mich mit einem prüfenden Blick an und packte die Koffer aus. Er schien Mama aus dem Weg zu gehen.
„Willst du etwa nichts?“
Mama schaute mich entgeistert an.
„Hab keinen Hunger“, sagte ich vollautomatisch.
Ich sah Papa noch lächelnd ins Wohnzimmer gehen.
Ein siegendes Lächeln. Nicht ein Glückwunsch-Lächeln.
„Ich nehme einen Apfel“, fügte ich hinzu.
Mama sagte nichts mehr und setzte sich zu meiner Schwester.
Da steht ein Stuhl
Man nennt es auch Sessel.
Das ist Freiheitsberaubung.
Ich nenne es Fessel.
Gefangen unter einer Kuppel
So eine Art große Schüssel
Ich kann nicht entweichen
Du hast den Schlüssel.
Jedes Mal wird’s hell und dunkel
Tag und dann kalte Nacht
Ist schon beeindruckend
Du hast die volle Macht.
Kann es sein, dass es dir gefällt
Wie meine kleine Kinderwelt
In tausend psychisch kranke Teile
Zerfällt?
Ich legte mich zu Bett. Als Mama mich fragte, was denn los sei, schwieg ich still und lächelte. Als sie gegangen war, spürte ich eine Träne auf meiner Wange. Mein Magen knurrte. Ich zog mich zusammen, damit es aufhört.
In der Früh stellte mir Mama mein gewohntes Frühstück hin. Die Schokoflocken. Sie sagt, vor der Schule sei Frühstück wichtig, sonst kann ich mich nicht konzen-trieren.
Den gestrigen Vorfall hatte ich irgendwie gerade ausgeblendet und griff beherzt zu. Bei dem dritten oder vierten Löffel kam Papa herein. Mich traf der Schlag. Sofort legte ich den Löffel weg und tat so, als wäre ich satt. Schnell unterbrach ich die Stille: „Wann fahren wir?“
„Gleich“, sagte er.
Ich nahm meine Jacke, die neben mir am Stuhl lag, sprang auf und zog mir Schuhe an. Wir fuhren los.
„Ich hab nur wenig davon gegessen und gestern Abend aß ich auch einen Apfel!“, versuchte ich mich im Auto zu rechtfertigen.
„Es wird dein Problem sein, ich muss mir nichts von den Kindern anhören“, sagte er eiskalt.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich habe versagt.
In der Pause packte ich meine Semmel aus. Ich hatte starken Hunger. Als ich es gegessen hatte, kaufte ich mir noch drei Schokoriegel. Ich aß sie alle.
Im Unterricht konnte ich mich kaum konzentrieren. Tausend Gedanken flogen mir durch den Kopf. Ich fühlte mich wegen irgendwas verantwortlich. Ich schätzte Papas Mühe nicht, mir zu helfen.
Zuhause kam ich total traurig an. Mama fragte, was los sei. Und ich öffnete ihr mein Herz.
Ich wollte nachts ein Licht
Welches mich führt.
Brauchte etwas,
das meine Schmerzen spürt.
Ich wollte etwas,
das mir Wärme gibt.
Ich suchte wen,
der mich liebt.
Und dann sah ich,
ich hab es schon.
Meine Mutter,
die wundervollste Person.
Ich sagte: Ich fühle mich nicht mehr wohl. Eigentlich schon lange nicht mehr. Doch seit kurzem denke ich nur noch über mein Gewicht nach.“
Mama sagte, sie hilft mir. Wir würden jeden Tag spazieren gehen und auf zu viel ungesundes Essen verzichten. Aber aufhören zu essen sei völliger Schwachsinn und bringe mir nichts. Irgendwann komme der Heißhunger. So wie bei mir heute.
Ich vertraute ihr und wir zogen es auch durch. Schon an diesem Tag ging ich mit ihr ein wenig spazieren. Sie kochte Reis mit Fisch. An den Salat musste ich mich erst noch gewöhnen. Ich erzählte auch Papa davon.
Seine Reaktion war nur: „Mach, wie du es willst.“ Ohne jegliche Emotion. Er konnte es nicht leiden, wenn Mama gewann.
Wir fuhren am Wochenende wieder fort. Die ganze Woche über hatte ich Hunger. Ich war es nicht gewohnt, geregelte Mahlzeiten zu haben. Wir fuhren zu Oma. Ein Festmahl wartete auf uns. Essen. Essen. Essen. Das war alles, an was ich denken konnte. Ich setzte mich hin und begann alles in mich hineinzuschaufeln. Ganze zwei Tage lang. Als wir dann auf dem Weg nachhause noch ein Schwimmbad besuchten, kam eine von Papas Patientinnen zu mir und sagte: „Oh, da hat wohl jemand ordentlich zugeschlagen.“ Dabei deutete sie auf meinen Bauch. So wie Papa damals.
Ich sagte: „Mir geht’s gut.“
So war es aber nicht. Ich ertappte mich immer wieder beim Lügen. Was war bloß in mich gefahren?
Als ich zuhause ankam, plagte mich ein schlechtes Gewissen. In den folgenden Tagen füllte ich meine Leere mit Süßem. Schon da begann der Teufelskreislauf und mein Selbstwertgefühl sank bis unter den Boden.
Doch eines konnte ich allen beweisen: Ich kann es in das Gymnasium schaffen und dann bin ich diese Kinder hier los!
Und tatsächlich. Ich schaffte es mit der Durchschnitts-note zwei in das Gymnasium. Wir zogen zu dieser Zeit auch um und meine Schwester wechselte auf eine andere Grundschule in der zweiten Klasse. Sie fuhr selbstständig mit dem Bus zur Schule und kam auch mit dem Bus wieder nachhause. Ich ebenfalls. Das Haus in das wir gezogen waren, war groß. Es hatte einen Garten und jeder bekam sein eigenes Zimmer. Sogar Mama und Papa waren getrennt. Schon damals ahnte ich, irgendetwas ging hier gewaltig schief. Bereits einen Monat nach unserem Umzug stellte sich meine Vermutung als Wahrheit heraus.
Paar simple Worte am Altar
Nimmt jeder Mensch anders wahr
Bei einem „ja ich will“
Wird der ganze Saal ganz still
Und diese drei Worte
Bringen sie auf ferne Orte
Eine schöne Hochzeitsreise
Da kreischt keine Frau nur leise
Ein Essen am Meer mit Musik
Ist ein Wunsch nach roter Romantik
Zum Spielen von lauten Geigen
Kann man auch kurz von der Wolke steigen.
Irgendwann jedoch war es nicht mehr so toll
Einer der beiden hatte die Hosen voll.
„Ich packe die Sachen, jetzt ist es vorbei
Ich ziehe endgültig aus, jetzt bist du frei.“
Als erneut die Ferien vor der Tür standen, fuhren wir wieder mit Papa fort. Ich hatte mich schon an das Gymnasium gewöhnt und nahm das zu lernende Material mit in den Kurzurlaub. Die Fahrt bis zu unserem Ziel dauerte sechs Stunden. Nach knapp der Hälfte der Fahrt schlief ich ein und erwachte zum Klingeln seines Mobiltelefons. Er nahm ab und sprach eine Sprache, die ich nur brüchig verstand. Früher hatten wir über ein Jahr in Mallorca gewohnt. Ich dachte, es sei schlechtes Spanisch, doch nach und nach kam ich drauf, dass es Italienisch war. Ich tat weiterhin so, als würde ich von alledem nichts mitbekommen und als würde ich noch immer schlafen. Doch in Wirklichkeit hörte ich jedes einzelne Wort.
Er sagte: „Wir sind bald da. Ich liebe dich.“
In diesem Moment konnte ich an nichts denken und sah einfach aus dem Fenster des Autos. Genau dann bogen wir in eine andere Straße ein, wie wir eigentlich müssten, doch Papa schien so ruhig, ich glaubte, wir hätten uns nicht verfahren. Ein paar Minuten später hörte der Spuk nicht auf. Wir bogen in Straßen und Gassen ein, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Plötzlich hielt der Wagen an. Wir waren da.
Ich traute mich nicht, zu fragen, wo wir denn nun genau waren, denn eigentlich wäre das Ziel ja bei meiner Tante gewesen. Wir stiegen aus. Plötzlich kam uns eine Frau entgegen. Alles passierte so schnell. Es war eine große, blonde Frau, die auf uns zu kam. Ich kannte sie nicht. Sie begrüßte uns sehr freundlich und gab Papa einen Kuss. Ich konnte nicht mehr klar denken. Sie rief uns zum Essen. Es gab Schnitzel. In ihrem Haus waren viele Schmuckstücke und Dekorationen aus aller Welt zu sehen. In ihrem Garten wurde gerade ein Swimmingpool gebaut. Papa fing an zu reden: „So, Kinder, das ist meine neue Freundin.“
Also war mein Verdacht nun sicher bestätigt, dass Papa und Mama eigentlich nichts mehr miteinander zu tun haben.
„Wenn ihr alt genug seid, erkläre ich euch alles genau.“ Das war seine Standardausrede, wenn er uns nicht sofort etwas erzählen wollte.
Ich schwieg, nickte und lächelte beiden verständnisvoll zu. Dann griff ich beherzt zu und als wir mit dem Essen fertig waren, ging ich die Treppen hoch, zu dem Schlafplatz meiner Schwester und mir. Ich schrieb Mama eine SMS, dass wir gut angekommen waren und schon gegessen hatten.
Nach ein paar Stunden, als wir gerade draußen im Garten waren, rief mich Mama hektisch an: „Wo seid ihr?!“
Ich verstand gar nichts mehr. Wusste sie etwa nicht, wo wir sind? Ich wusste es ja selbst nicht mal! Wie ferngesteuert antwortete ich: „Bei Papas neuer Freundin!“
„Wem?!“, rief Mama ins Telefon. Sie fuhr fort: „Wie heißt sie denn und wo seid ihr denn jetzt?!“
„Weiß ich nicht.“ Ich wusste noch immer nicht, wo wir waren. Na gut, irgendwo in Ungarn, aber … mehr auch nicht. Ich hörte ihr die Verzweiflung deutlich an und sagte ihr noch den Namen dieser Frau. Mama erzählte mir, es sei die Exfrau von ihrem Cousin. Sie schließe alle Menschen, die kein Geld haben, aus ihrer Umgebung aus und verabscheue sie. Dieser Frau ginge es nur um das Geld und deshalb hatte sie auch den Cousin von Mama sonst wohin geschickt, weil dieser sie nicht mehr „bezahlen“ konnte. Eine Bluse hier, eine Jeans dort und diese Handtasche auch noch. Jetzt ist wohl mein eigener Vater in diese Falle getappt. Er war Zahnarzt, er hatte wohl Geld. Auch wenn er mir nie sagen wollte, wie viel er verdient.
Papier bedruckt mit Zahlen
Bereitet dir oft Qualen
Diese Rechnung, dies und das
Aber ich sag dir was!
Geld ist nicht das wichtigste
Auf der Welt
Es ist die Liebe,
die hier zählt.
Ich war schockiert und sprachlos, genauso wie Mama. Sie bat mich, Papa das Handy zu geben, damit sie mit ihm reden könne. Als er das Handy entgegennahm, redete er vielleicht zwei Minuten mit seiner Ehefrau und warf danach das Handy zu Boden. Wie sollte ich Mama jetzt Bescheid geben? Ich hatte nichts mehr, womit ich sie hätte erreichen können. Papa verteidigte sich, in dem er sagte, er hätte es aus Versehen zu Boden fallen lassen. Mir war alles egal.
Er sagte uns, Mama wolle nicht, dass wir hier sind, denn sie behauptet, seine neue Freundin sei eine gemeine Schlampe. Wir sollen sofort unsere Sachen packen und zu meiner Tante fahren. Er entschuldigte sich bei seiner Freundin und fuhr mit uns weg.
Ich flüsterte zu meiner Schwester: „Alles wird gut, alles wird gut!“
Die ganze Fahrt lang schrie er. Mir kam es vor, als würde das Auto beben.
Bei einer Ampel fasste er sich an den Brustkorb und sagte nahezu außer Atem: „Ich rege mich nur wieder wegen eurer Mutter auf, nur wegen ihr, verdammt.“
Ich wagte mich nicht, ihm zu widersprechen und Mama zu verteidigen, denn ich dachte bloß an die zahllosen Schläge und Beschimpfungen die ich mir eingefangen habe, nur, weil ich etwas besser – oder sehr viel besser - gebaut war, als meine kleine Schwester. Doch bevor ihr und Mama etwas passiert, sollte er mich lieber fertigmachen und sooft auf mich einschlagen, wie er wollte.