Unvergängliches Blut - Die Erben - S.C. Keidner - E-Book

Unvergängliches Blut - Die Erben E-Book

S.C. Keidner

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Beschreibung

Romantische High Fantasy - Dreißig Winter sind seit dem Rebellenkrieg vergangen. Nach Maksim D'Aryuns Abdankung ernennen die Vampire des Qanicengebirges Damien Tyr zum Herrscher über die Stämme. Für seine Tochter, die Kriegerin Mariana, beginnt eine aufregende Zeit. Sie verliebt sich ausgerechnet in Milo, Damiens Bruder im Blute, der nach Tyr zurückkehrt mit dem Auftrag, die Wajaren - Banditen, Mörder und Wegelagerer - auszumerzen. Ihre Liebe halten Mariana und Milo geheim, wohl wissend, dass Damien sie ablehnen wird. Und dann gibt es da zwei Fürsten, die sich um Mariana bemühen, dabei aber ihre ganz eigenen Ziele verfolgen. Als Mariana sich der Jagd auf die Wajaren anschließt, kommt es zur Katastrophe …

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S.C. Keidner

Unvergängliches Blut - Die Erben

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Impressum neobooks

Kapitel 1

»Das kommt nicht überraschend.« Taran legte den Kopf an seine Schulter.

Die Flammen des Kaminfeuers tauchten das Schlafgemach in rötliches Licht und warfen flackernde Schatten auf ihre Haut. Ein Scheit zerfiel knisternd, Funken stoben in den Schornstein. Der Frühlingssturm, der um die Türme von Burg Tyr tobte, rüttelte an den Fensterläden, die die Mägde zum Schutz gegen das Sonnenlicht verschlossen hatten.

»Ja, Maksim hat über die letzten Winter des Öfteren von Abdankung gesprochen.« Damien lag auf dem Rücken, einen Arm um seine Gefährtin geschlungen, den anderen hinter dem Kopf verschränkt. Er starrte gedankenverloren auf die holzvertäfelte Decke des Gemachs. »Ich kann es verstehen. Rodica wird alt. Niemand kann sagen, wie lange sie einander noch haben werden. Sie möchten die ihnen verbleibende Zeit auskosten.«

Taran zog die Schultern hoch. »Das weiß ich doch. Ich gönne es ihnen von ganzem Herzen. Aber mir auszumalen, dass Mutter sterben wird, ist fürchterlich. Natürlich war es mir schon immer klar, als Mensch hat sie nun einmal eine begrenzte Lebensspanne. Doch jetzt, wo es näher rückt ‒.«

Er hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel. Auch wenn es ihn schmerzte, seine Gefährtin bedrückt zu sehen, mochten ihm keine tröstenden Worte einfallen. Der Lebensweg der Menschen endete unwiderruflich. Gut, auch Vampire und Ewige waren gegen den Tod nicht gefeit. Sie konnten in einer Schlacht oder durch einen Unfall sterben. Das ließ sich verhindern, indem man seine Kampfkünste verbesserte oder sich in gefährlichen Situationen umsichtig verhielt. Doch es war etwas anderes, mit der Gewissheit zu leben, dass der Tod eines Tages unausweichlich an die Tür klopfte.

»Für Mariana und Arik ist es schwer«, sagte Taran. »Ganz besonders für Arik. Er vergöttert seine Großmutter.«

»Sie werden lernen, damit umzugehen. Ich glaube, dass es tatsächlich Rodica ist, die die geringsten Schwierigkeiten hat, das Sterben anzunehmen. Verglichen mit ihr komme ich mir wie ein Schwächling vor. Als hätte ich niemals dem Tod ins Auge geblickt.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Mutter hat mir verboten, darüber nachzugrübeln. Sie sagt, wenn sie keine Angst davor hat, dann brauchen wir auch keine zu haben.« Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich auf den Bauch und musterte ihn. Ihr silbernes Haar, das Zeichen der Ewigen, der Mischlinge aus Mensch und Vampir, fiel über die nackten Schultern nach vorn. Er hob die Hand und steckte es ihr hinter den Ohren fest.

»Wie geht es dir inzwischen mit deiner neuen Berufung?«, fragte sie.

So, wie es vor langer Zeit bestimmt worden war, würde er Maksim als Herrscher nachfolgen. Sie hatten darüber im Laufe des Winters gesprochen und es heute Nacht der Familie und dem Rat verkündet. Außer Taran wusste niemand von den Zweifeln, die ihn dann und wann überfielen und an seiner Überzeugung nagten, der Aufgabe gewachsen zu sein. »Es ist eine große Herausforderung. Ich habe diese Momente, in denen ich mich frage, ob ich das Richtige mache.«

»Wieso nicht? Du sitzt seit vielen Wintern im Rat der Stämme und hast Maksim bei den Regierungsgeschäften unterstützt.«

»Nun, ich werde nicht mehr nur Ratschläge geben, sondern Entscheidungen treffen.« Die das Leben von Abertausenden von Vampiren, Menschen und Ewigen im Qanicengebirge beeinflussen würden. Im schlimmsten Fall bedeuteten sie Tod und Verderben, im besten die Fortführung des friedlichen Daseins, das seit dem Ende des Rebellenkriegs herrschte. Der Friede war Maksims Vermächtnis, das er erhalten musste. »Es ist eine große Verantwortung, vor der ich Respekt habe. Manchmal erdrückt es mich. Wie nannte Maksim es vorhin im Kaminzimmer? Eine Bürde?«

»Es gibt niemand Besseren für diese Bürde als dich.«

»Nun, das wird sich zeigen müssen. Aber du hast recht. Ich habe mich über viele Winter vorbereitet. Das ist nicht, was mir die meiste Sorge bereitet. Es geht mir um dich und Mariana und Arik. Für euch wird sich vieles ändern. Maksim und ich haben diese Entscheidung getroffen, ohne euch anzuhören.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin die Tochter des Herrschers und das ganze Brimborium darum gewohnt. Und ich verspreche, mich aufzuführen, wie es sich der Gefährtin des Herrschers über die Stämme geziemt.«

Er grinste. »Indem du in Lederhosen durch die Gegend läufst und den Schwertkampf übst?«

»Schwertkampf ist sehr viel nützlicher als Sticken. Oder Nähen. Und es macht mehr Spaß.«

»Das kann ich nicht beurteilen.«

Taran lächelte. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn sacht, löste ihre Lippen aber viel zu schnell von den seinen. Sein unwilliges Knurren ignorierend sagte sie: »Was Mariana und Arik angeht: Sie haben immer gewusst, dass du Maksims Nachfolger werden sollst.«

»Bisher waren es Gedankenspiele. Maksim ist unsterblich. Er könnte noch hunderte von Wintern regieren. Jetzt sind Mariana und Arik von einem Tag auf den anderen die Kinder des Herrschers. Einer der beiden wird als mein Nachfolger benannt werden.«

»Mariana«, sagte sie leise, fast widerstrebend.

Mariana. Sein kleines Mädchen, das er stets beschützen würde. Das hatte er sich am Tag ihrer Geburt – sie lag winzig, schrumpelig und rot auf seinem Arm – geschworen. Aber er hatte feststellen müssen, dass seinem Schutz Grenzen gesetzt waren.

Mariana war ein lebendiges Kind gewesen. Immer wieder war sie ausgebüxt und hatte sich in den Kammern und Gängen der Burg versteckt. Mit vier Wintern rannte sie einmal aus der großen Halle hinaus in den sonnigen Tag. Ihr entzücktes Kichern verhallte im Hof. Panisch folgte er ihr. Sie würde in der Sonne verbrennen! Auf der Treppe brach er brüllend vor Schmerz zusammen und roch versengtes Fleisch. Sein eigenes. Sein Bruder im Blute, Milo, und die Krieger zerrten ihn mit Gewalt in die Halle zurück und hielten ihn dort trotz seiner verzweifelten Gegenwehr fest. Er konnte seiner Tochter nicht helfen. Seine Sonnenempfindlichkeit hielt ihn hinter den dicken Mauern gefangen.

Nach einer ihm schier endlos erscheinenden Zeit brachte Taran Mariana mit unversehrter Haut und einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht zurück. Seine Tochter hatte sich als Sonnenwandlerin entpuppt. Sie ertrug die für andere Vampire tödlichen Strahlen. Sie war die Erste ihrer Art gewesen. Inzwischen gab es mehrere von ihnen, allesamt Kinder von Vampiren, die sich Ewige als Gefährten genommen hatten.

»Arik kann nicht mein Nachfolger sein«, sagte er sanft. »Er ist ein Ewiger, kein Vampir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Auch wenn er ein Vampir wäre: Arik ist dafür nicht geeignet. Und er weiß noch nicht, was er will. Ganz anders als Mariana.«

Ja, Arik war sehr verschieden von seiner Schwester. Nicht nur, dass sein Blut für Vampire tödlich war, während Mariana Menschenblut zum Überleben brauchte. Auch vom Wesen unterschieden sich die Geschwister wie Feuer und Wasser. Mariana war zupackend und handelte schnell, manchmal zu schnell. Arik war zögerlich. Er musste noch herausfinden, was er vom Leben wollte.

Damien war sicher, dass sein Sohn seinen Weg machen würde. Er war jung, vierzehn Winter, hatte alle Zeit der Welt, sich zu orientieren! Taran hingegen machte Ariks Ziellosigkeit Sorgen. Er lernte den Schwertkampf, wie seine Schwester vor ihm. Aber im Gegensatz zu Mariana, die unverdrossen und über das Tagessoll der Krieger hinaus übte, brach Arik die Übungen ab, sobald der Pflicht Genüge getan war. Das Einzige, für das er sich begeisterte, waren Bücher. Jeden Abend steckte er seine Nase in einen anderen verstaubten Band.

»Es ist nur«, fuhr Taran fort, »dass Mariana gerade fünfundzwanzig Winter alt ist. Du warst viel älter und erfahrener, als Maksim dich damals zu seinem Nachfolger bestimmt hat. Du hattest Schlachten geschlagen und am Rebellenkrieg teilgenommen.«

»Und mich in eine Ewige verliebt.« Er umfasste ihren Kopf und zog sie zu sich herunter. Der Kuss war lang und vielversprechend. Er brummte enttäuscht, als sie ihn unterbrach.

»Ja, auch das wird Mariana passieren. Was meinst du, wie viele Männer sich um die zukünftige Herrscherin über die Stämme bemühen werden?«

Die Vorstellung irgendwelcher Kerle, die sabbernd um seine Tochter schlichen, gefiel ihm gar nicht. »Ich werde auf sie aufpassen. Ich werde nicht zulassen, dass ein dahergelaufener Glücksritter sie für sich einnimmt.«

»Damien, Mariana ist eine mündige Frau und eine Kriegerin, kein Mädchen mehr! Sie kann auf sich aufpassen!«

»Gerade eben sagtest du noch, dass sie jung ist!«

»Für eine mögliche Nachfolgerin des Herrschers über die Stämme, ja. Sie konnte nie die Erfahrungen sammeln, die du gemacht hast. Stell dir vor, sie müsste dir jetzt, zu diesem Zeitpunkt, nachfolgen. Was wäre, wenn jemand Krieger um sich schart und versucht, die Herrschaft an sich zu reißen? Du musst das nicht befürchten, denn deine Stellung ist gefestigt.«

»Das ist der Grund, warum ich sie so früh als meine Nachfolgerin benenne. Sie kann sich ihren Ruf und ihre Stellung in Ruhe erarbeiten.«

»Da hast du allerdings recht«, meinte sie nachdenklich. Dann lächelte sie verschmitzt.

»Was willst du mir mit diesem Lächeln sagen?« Er verschränkte seine Arme hinter ihrem Rücken, hielt sie sanft gefangen.

»Es ist lustig, dass du Mariana auf der einen Seite zutraust, deine Nachfolgerin zu werden, aber auf der anderen Seite der Meinung bist, sie vor der Männerwelt beschützen zu müssen.«

»Sie hat keine Erfahrung mit Männern! Die werden sie wegen ihrer Stellung umschwirren! Ich werde sie davor bewahren!«

»Sie ist fünfundzwanzig Winter alt. Denkst du nicht, dass sie bereits Erfahrung mit Männern gemacht hat?«

»Was?«, fragte er empört. Doch nicht Mariana! Sie war viel zu jung!

»Ach, Damien. Versprich mir bitte, nichts Dummes zu machen, was Mariana und Männer angeht. In Ordnung?«

»Was könnte ich denn ›Dummes‹ machen deiner Meinung nach?« Jetzt war er gereizt.

»Eben versuchen zu verhindern, dass sie sich verliebt. Sie muss ihr Glück allein finden.«

Er knurrte. Mariana und sich verlieben! Das war abwegig!

»Vertrau ihr, Damien. Das ist alles. Sie wird das Richtige machen. Genauso, wie sie es machen wird, wenn sie an deiner Seite und im Rat der Stämme arbeitet.«

»Na gut«, murmelte er und zog ihren Kopf wieder zu sich herunter. »Was kriege ich dafür?«

»Was? Wofür?«

Er fuhr mit seinen Lippen über die ihren, eine sanfte Berührung nur, und genoss, wie ihre Atemzüge flacher und schneller wurden. »Ich denke, ich verdiene eine Belohnung, wenn ich mich so verhalte, wie du es möchtest.«

»Belohnung? Damien!«

Er grinste und verschloss ihren Mund mit einem nachdrücklichen Kuss, den er nicht mehr gedachte abzubrechen.

Kapitel 2

Der Aufprall der Schwertklingen vibrierte in den Knochen. Sie umklammerte den Knauf ihrer Waffe umso fester. Jetzt bloß nicht nachgeben! Wie sie es beabsichtigt hatte, lag Goswins Klinge über der ihren. Hochhebeln! Mariana drehte das Schwert und drückte es nach oben. Die Bewegung schmerzte in den Armen, hielt Goswin doch mit aller Kraft dagegen. Es nützte ihm nichts. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gewunden, wirbelte durch die Luft und prallte auf den sandigen Boden des Kampfplatzes.

Von der Umzäunung hörte sie die anerkennenden Rufe der Krieger. Ihr Bruder im Blute zischte einen Fluch, als sie ihm triumphierend die Spitze des Schwerts auf die Brust setzte.

»Sehr gut!« Frans, Schwertmeister der Ewigen, kam zu ihnen. »Mariana, nur etwas schneller, du hast zu lange überlegt, bevor du Goswin entwaffnen konntest. Goswin, diesen Moment hättest du nutzen können, achte beim nächsten Mal darauf. Wer kommt jetzt?«

Mariana nickte und stellte sich mit Goswin hinter den hölzernen Zaun. Sie wiederholte die Bewegung mit dem Schwert. Frans hat recht. Es muss schneller gehen, wie eine instinktive Handlung.

Goswin fuhr mit dem Daumen über seine Klinge, bevor er sie in die Scheide steckte. »Manchmal glaube ich, ich werde die Kampftechniken der Ewigen nie beherrschen.«

»Das geht mir genauso. Ich muss immer noch überlegen, wie ich eine Taktik am besten anwende. Deswegen geht es nicht schnell genug. Aber wir werden es schon noch lernen.«

»Hoffen wir’s.«

Sie lernten die Kampfkünste der Ewigen seit zwei Wintern. Frans hatte prophezeit, dass es lange dauern würde, sie zu meistern. Sie unterschieden sich von den Techniken der Vampirkrieger in feinen, aber wichtigen, Nuancen. Wenn Mariana und Goswin geglaubt hatten, ihr Können als Vampirkrieger verschaffte ihnen einen Vorteil, dann waren sie eines Besseren belehrt worden.

Sie drehte sich um. Die Pflastersteine des von Fackeln erleuchteten Burghofs glänzten vom Nieselregen, der schon die ganze Nacht fiel. Die Hunde in den Zwingern bellten einen mit Holz beladenen Wagen an, der schwerfällig durch das Tor rumpelte. Am Zaun des Kampfplatzes standen etwa zwanzig Krieger, die auf ihren Waffengang warteten. »Bis zum Morgenmahl ist noch Zeit und die Regenwolken haben sich fast verzogen. Warum reiten wir nicht ins Tal und üben da mit den Pferden?«, schlug sie vor. »Hier kommen wir sowieso nicht mehr dran.«

Für Kampfübungen zu Pferd war der Hof zu klein. Tyr lag auf steilen Felsklippen hoch über den Tälern des Qanicengebirges und wurde überragt von schneebedeckten Gipfeln. An regnerischen Tagen verschlangen graue Wolken die Burg. Der Hof, in dem neben dem Kampfplatz die Gärten und der Brunnen lagen, war von der Halle mit den daran anschließenden Wohngemächern, dem Haus des Bundes der Ewigen, Wirtschaftsgebäuden, Ställen, Scheunen und Werkstätten umgeben. Um all dies zog sich die aus dem schwarzen Stein des Gebirges erbaute Mauer mit den wuchtigen Wehrtürmen, die den Wachen einen ungehinderten Ausblick in die Ferne erlaubten. Burg Tyr hatte nur einen Zugang, den über das Tor, zu dem ein steiler Weg aus dem bewaldeten Tal weit unterhalb der Felsklippen führte.

»Gute Idee!«, sagte Goswin. »Lass uns ‒.«

»Mariana!« Die breitschultrige Gestalt ihres Vaters, mit kahl geschorenem Kopf und gekleidet in ein weißes Hemd und Lederhosen, stapfte auf sie zu. Er grüßte die älteren Krieger und Frans mit Handschlag. Die Jüngeren wichen respektvoll zurück und neigten die Köpfe. Wie jeder, der im Rebellenkrieg gekämpft hatte, war er eine Legende.

»Goswin.« Vater nickte ihrem Bruder im Blute zu, der den Gruß ehrerbietig erwiderte. »Das war ein guter Waffengang.«

Goswin errötete.

»Jawohl.« Frans grinste. »Noch fünf oder sechs Winter und die beiden sind halbwegs brauchbar als Kämpfer der Ewigen. Jetzt entschuldigt mich, ich muss sehen, ob das nächste Paar das genauso gut hinkriegt.« Er begab sich auf den Kampfplatz, wo sich Vlad und Lys bereits gegenüberstanden.

Mariana verzog das Gesicht. ›Halbwegs brauchbar‹! Goswin und sie hatten besser gekämpft als Sandor und Reyk, die erfahrene Krieger waren!

Ihr Vater lachte und sagte: »Mariana, ich möchte mit dir sprechen.«

»Natürlich, Vater. Entschuldige, Goswin.«

Der zuckte mit den Schultern. »Ich reite ins Tal. Komm einfach nach«, entgegnete er und machte sich auf den Weg zu den Ställen.

»Er ist ein exzellenter Kämpfer. Er braucht nur mehr Selbstvertrauen«, meinte ihr Vater. »Lass uns in mein Studierzimmer gehen.«

Das Studierzimmer lag in dem Turm über dem Tor. Mariana hatte hier oft mit ihrem Vater gesessen. Bei ihrem allerersten Gespräch in diesem Raum war sie gerade sechs Winter alt geworden und hatte ihn informiert, dass sie Kriegerin werden wollte. Er hatte gelächelt und sich ernsthaft mit ihr darüber unterhalten, ob es ratsam sei, auf ihrem Pony Schneeflocke in die Schlacht zu ziehen.

Das Zimmer war sparsam eingerichtet, mit einem Tisch, einfachen Holzstühlen und einem Regal. An den mit dunklen Holzpaneelen verkleideten Wänden hingen Öllampen und ein kunstvoll geknüpfter Teppich, der eine Jagdszene darstellte. Durch das Fenster sah man den Weg, auf dem Goswin und eine kleine Gruppe von Kriegern ins Tal hinuntertrabten. Es gab ihr einen Stich, sie davonreiten zu sehen, wäre sie doch gerne dabei gewesen.

Ihr Vater nahm an dem Tisch Platz, der, wie das Regal auch, mit Pergamenten und Büchern überladen war. Sie setzte sich ihm gegenüber. Er kam sofort zum Punkt. »Du wirst wissen, was ich mit dir besprechen will.«

»Ja. Was wird, wenn du der Herrscher bist.«

»Das ist richtig. Du wirst als meine Nachfolgerin benannt werden. Sollte mir etwas zustoßen, wirst du die Herrschaft übernehmen müssen.«

Sie schluckte. »Ich hoffe, das wird niemals passieren.«

Er sah sie prüfend an. »Machen dir deine neuen Verantwortlichkeiten Angst?«

»Nein, ich habe keine Angst.« Sie nestelte an einem Faden, der unter dem Armschutz ihrer Lederrüstung hervorlugte. »Ich freue mich darauf, mehr über die Regierungsgeschäfte zu erfahren. Das, was du mit Maksim morgens vor dem Kamin beredest, klingt spannend. Zumeist jedenfalls.« Er lachte und auch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nun ja, welche Menge an Pelzen an die blaue Stadt gesandt wird, finde ich nicht besonders faszinierend. Nein, es ist eher die Verantwortung, die mir Unbehagen bereitet. Du hast so viel Erfahrung, genau wie all die Fürsten, die im Rat sitzen. Ich habe gar keine. Ich … ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du wirst dich auf lange Winter einstellen müssen, in denen du lernst, worum es in Regierungsgeschäften geht. Du wirst mit mir zusammenarbeiten und in den Rat aufgenommen. Zunächst als Gast, also ohne Stimmrecht.«

Das klang nicht mehr ganz so furchteinflößend.

»Es stimmt, wir binden dich sehr früh in all dies ein. Aber so hast du Zeit, um Erfahrungen zu sammeln, ohne dass man weitreichende Entscheidungen von dir erwartet. Du sollst zunächst einmal zuhören und lernen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Sie nickte entschlossen. »Das werde ich, Vater.«

»Gut. Ich werde den Rat zum Teil neu besetzen. Einige Räte haben angekündigt, dass sie zu ihren Stämmen zurückkehren möchten. Andere werden ohne Maksim nicht im Rat verbleiben wollen. Ich will die Entscheidung, wer sie ersetzt, bis zu Maksims Abdankung getroffen haben. Wir benötigen fünf neue Räte. Ich möchte, dass du mit mir die Kandidaten durchgehst.«

»In Ordnung. Aber was bedeutet das für mich? Ich meine, ich werde mit dir arbeiten, aber werde ich noch eine Kriegerin sein?« Das bereitete ihr die meisten Sorgen. Es würde ihr schwerfallen, das Kriegerleben aufzugeben.

»Ja. Du wirst deine Kampfübungen wie gewohnt fortsetzen. Also wirst du zukünftig sehr viel mehr zu tun haben und musst dir deine Zeit gut einteilen.«

Sie atmete auf. Die Gefahr, fortan in düsteren Zimmern gefangen zu sein, um beim schummrigen Licht einer Kerze auf verstaubten Pergamentrollen herumzukritzeln, war also nicht gegeben. Ein Mehr an Arbeit fürchtete sie nicht.

»Während der ersten Monde geht es darum, dass du dich einfindest und verstehst, welcher Art die Regierungsgeschäfte sind. Dann wirst du nach und nach Aufgaben übernehmen. So wächst du in deine neue Rolle hinein.« Er zog zwei Pergamente aus dem Stapel vor ihm. »Hier sind die Mitschriften der letzten Ratssitzungen. Lies sie dir bitte bis morgen Nacht durch. Bis dahin habe ich eine Liste der Kandidaten für den Rat erstellt. Sei bei Einbruch der Nacht morgen hier, dann können wir sie gemeinsam durchgehen.«

Mit sinkendem Herzen nahm sie die Pergamentrollen. Soweit zu dem Plan, für den Rest der Nacht ins Tal zu reiten. Die Rollen waren dick. Es würde dauern, sie zu lesen.

»Darüber hinaus werdet Arik und du repräsentative Pflichten haben. Wenn wir Gäste erwarten oder zu den Stämmen reisen. Und natürlich auch bei den Zeremonien zur Abdankung und Ernennung des Herrschers. Dazu gibt es festgelegte Abläufe, mit denen ich euch vertraut machen werde. Aber das kann warten, es gibt Wichtigeres.« Er seufzte. »Auch wenn die Schneider da anderer Meinung sind, wie mir deine Mutter sagte. Ihr bekommt für die Zeremonie neue Festgewänder. Wundere dich also nicht, wenn dich einer der Schneider in eine Ecke zerrt und deine Maße nimmt.«

Sie lachte. Gegen neue Kleider hatte sie nichts einzuwenden. Aber Arik würde es hassen, eines seiner heiß geliebten Bücher dafür aus der Hand legen zu müssen. Ihr Vater grinste. »Und jetzt ab mit dir. Ich erwarte, dass du morgen Abend alles über die letzten Ratssitzungen weißt.«

Mariana studierte die Pergamentrollen bis weit in den Morgen hinein. Ihre Befürchtungen hatte sie rasch vergessen und war tief in die Angelegenheiten des Qanicengebirges eingetaucht. Die Bandbreite der Aufgaben überraschte sie, auch wenn sie durch die Gespräche zwischen ihrem Vater und Maksim bereits viel mitbekommen hatte. Abgaben wurden festgesetzt und verteilt, der Handel von Weizen und Fleisch diskutiert. Da war der Fall eines Fürsten, der ohne Erben gestorben war – die Ursache seines Todes blieb unklar, es gab vage Hinweise auf einen Schwertkampf um eine Frau – und dessen Stamm in einen benachbarten aufgehen sollte. Der Rat bestimmte, mit wie viel Gold und Kriegern die Stämme unterstützt wurden, die die Grenzen zum Niemandsland und den nördlichen Grasländern bewachten. Es wurde debattiert, wie man den Wajaren – Banditen, Mördern und Wegelagerern – beikommen konnte, deren Zahl stark angestiegen war und die Stammesfürsten immer mehr Gold und Krieger kosteten, um ihre Liegenschaften und Untertanen zu schützen. Außerdem sprach der Rat bei Streitigkeiten zwischen Stämmen und bei Kapitalverbrechen Recht.

Am interessantesten aber fand sie die Beziehungen zu den von Menschen beherrschten Gebieten. Mit der blauen Stadt, weit im Westen jenseits der Grasländer an der Küste des Meeres gelegen, herrschte ein lebhafter Austausch. Es gab einen regen Handel. Die Bewohner des Qanicengebirges versorgten die Städter mit Pelzen, Fleisch und Erzen und bezogen dafür Handwerkskunst wie Schmuck oder Keramik. Dies war dem Einfluss des Bundes der Ewigen geschuldet, der in der blauen Stadt sein Haupthaus unterhielt. Die Ewigen hatten Maksim während des Rebellenkriegs unterstützt und waren mit Frans als ihrem Schwertmeister auf Burg Tyr im Rat der Stämme vertreten.

Mit den beiden anderen Städten der Menschen, Insan und Quadin, in den Grasländern nördlich des Gebirges gelegen, gab es keine Beziehungen. Grußworte wurden nicht erwidert und in den Debatten des Rats ging es darum, wie man das ändern konnte.

Einige Räte waren laut den Mitschriften nicht an der Änderung dieses Status Quos interessiert. Sie hielten das für vergebliche Mühe und verbrachten mehr Zeit darauf, über das Niemandsland nachzudenken, dessen bewaldete Hügel sich zwischen dem westlichen Rand des Gebirges und den Grasländern erstreckten. Hier lebten Menschen ohne eine Regierung. Die versprengten Dörfer und Weiler verwalteten sich selbst. Es gab Räte, die argumentierten, dass das Niemandsland von einer Herrschaft der Vampire profitieren würde. Der Großteil des Rats lehnte diese Überlegungen ab.

Wie es wohl in den Städten und Dörfern der Menschen aussah? Vampire lebten zumeist in Festungen, deren Mauern sie vor der Sonne schützten. Von Menschen oder Vampiren bewohnte Flecken gab es im Qanicengebirge, aber das waren in der Regel nicht mehr als zwei oder drei Häuser, etwa rund um eine Mühle, Erzmine oder einen Bauernhof. Und das Meer! Die blaue Stadt, hatte Frans erzählt, lag hoch oben auf den Klippen über dem Ozean. Bis zum Horizont sah man nichts als Wasser, das in einer ewigen Brandung an die Felsen rollte und über dem Abertausende von Seevögeln kreisten.

Sie berichtete ihrem Vater in der folgenden Nacht von diesen Gedanken.

Er nickte. »Ja, die Beziehungen zu den Menschen sind schwierig. Einige unserer Bediensteten, die Verwandte in Insan oder Quadin haben, sagen, dass wir dort als menschenmordende Blutsauger verschrien sind.«

»Aber die Städte haben doch nie unter den Vampiren gelitten. Die Grasländer, so ganz ohne Höhlen, sind für uns wegen unserer Sonnenempfindlichkeit unüberwindbar. Ich könnte die Angst verstehen, wenn die Städte im Niemandsland gelegen und überfallen worden wären, aber so?«

»Nun, inzwischen sind die Grasländer für einige Vampire kein Hindernis mehr.« Er schmunzelte. Mariana stieg die Hitze in die Wangen. Ab und an vergaß sie, dass sie sich in diesem Punkt grundlegend von anderen ihrer Art unterschied. »Viele Menschen haben auch heute noch Angst vor uns. Wir Vampire haben über lange Zeit Menschen versklavt. Zwar waren davon die Menschen im Niemandsland betroffen, aber die Erzählungen sind bis zu den Städten gedrungen. Das Ganze hat erst durch den Rebellenkrieg und Maksims Machtübernahme vor dreißig Wintern geendet. Die Erinnerung an die alten Verhältnisse ist lebendig. Es wird lange dauern, bis die Menschen uns voll vertrauen.«

»Deswegen immer noch die Grußworte nach Insan und Quadin. Um Vertrauen aufzubauen.«

»Ja. In der Hoffnung, dass dies dazu führt, irgendwann mit den Menschen in diesen Städten einen Austausch zu pflegen.«

Dann fragte er nach ihrer Meinung zu dem Stamm, der in einem anderen aufgehen sollte, und kam schließlich zu den neuen Mitgliedern des Rats. »Wir verlieren fünf Fürsten, die zu ihren Ländereien zurückkehren werden.« Er deutete auf die Namensliste, die auf dem Tisch lag. Mariana kannte jeden von ihnen. Einer der Räte war Vater geworden und wollte zukünftig bei seiner Familie sein. Die Fürsten Rakta und Dhiig waren auf Maksims Bitten in den Rat gekommen und würden mit ihm abdanken. Dann gab es zwei Fürsten, die sich fortan auf die Geschäfte ihrer Stämme konzentrieren wollten. »Ich habe mir Gedanken zu ihren Nachfolgern gemacht. Wir müssen darauf achten, dass alle Gegenden des Qanicengebirges gleich repräsentiert werden. Und wir brauchen Leute mit Erfahrung. Insgesamt kämen acht Fürsten oder Krieger in Frage.«

Die meisten Namen auf der zweiten Liste sagten Mariana nichts. Bei einem der zwei, die sie kannte, sank ihr Herz. »Mir sagen nur diese beiden etwas. Bei der Fürstin Shazad habe ich einen Teil meiner Kriegerausbildung absolviert. Und Milo Yirdar kenne ich aus deiner und Mutters Erzählungen.«

Yirdar war Vaters Bruder im Blute und hatte mit ihm im Rebellenkrieg gekämpft.

Die Fürstin war die Mutter von Jesko. Tief drinnen hoffte Mariana, dass Vater sie nicht zur Rätin ernannte, denn dann würde Jesko auf Tyr auftauchen. Jesko, in den sie sich verliebt und dem sie sich hingegeben hatte. Nur, um von ihm irgendwann einmal erklärt zu bekommen, dass es ihm leidtäte und er sie nicht liebte. Einige Nächte danach hatte sie gesehen, wie er mit der Tochter eines Fürsten, der zu Besuch auf Shazad weilte, in seinem Gemach verschwand. Mariana war neunzehn Winter alt gewesen und hatte sich, um ihn zu vergessen, mit Vehemenz in ihre Kampfübungen gestürzt. Das Ergebnis war eine Reihe zufriedener Schwertmeister, die ihr eine große Zukunft als Kriegerin vorhersagten. So ist aus dem Fiasko mit Jesko doch noch Gutes entstanden, dachte sie bitter.

»Was hältst du von der Fürstin?«

»Sie ist streng, aber gerecht.« Und hatte ihren Sohn zum Frauenhelden erzogen, aber das konnte sie ihrem Vater nicht sagen. »Mehr weiß ich nicht von ihr. Sie hat sich um unsere Ausbildung nicht gekümmert, dafür war ihr Schwertmeister zuständig. Wenn es Dispute gab, dann hat sie die gerecht gelöst.«

»Das deckt sich mit dem, was ich über sie gehört habe. Sie war schon einmal Mitglied des Rats, ist dann aber auf ihre Ländereien zurückgekehrt. Maksim hält große Stücke auf sie. Ich würde sie gern zur Rätin ernennen.«

Mariana biss sich auf die Lippen. Vielleicht hatte sie Glück und Jesko kam nicht mit seiner Mutter nach Tyr. Seit dem Tod seines älteren Bruders war er ihr Erbe und würde sich, falls die Fürstin der Ernennung zur Rätin zustimmte, zu Hause um die Belange des Stammes kümmern müssen. Das hoffte sie zumindest.

»An Milo erinnerst du dich nicht? Er hat Tyr verlassen, als du fünf Winter alt warst.«

Sie verband kein Gesicht mit dem Namen. »Nein. Wohin ist er damals gegangen?«

»Milo ist ein Abenteurer. Ihm wurde nach dem Ende des Rebellenkriegs auf Tyr langweilig. Dann wurde er gebeten, einen der Stämme bei der Vernichtung von Wajaren zu unterstützen. Seitdem zieht er auf Wajarenjagd durch das Gebirge.«

»Seit zwanzig Wintern?«, fragte sie verblüfft. Aus den Erzählungen vor dem Kamin wusste sie um Yirdars Wajarenjagd, nicht aber, dass er sie schon so lang betrieb.

»Ja. Er ist nicht besonders sesshaft. Und die Wajarenjagd bedingt es, dass er in alle möglichen Gegenden reisen muss, um die Banditen auszuräuchern.«

»Denkst du nicht, dass ihm wieder langweilig werden wird, wenn er dauerhaft auf Tyr sein muss?«

»Nein. Damals war er ein Krieger, der nach dem Krieg außer Kampfübungen abzuhalten nichts zu tun hatte. Jetzt wird Milo Mitglied des Rats sein. Seine Erfahrung ist für uns von unschätzbarem Wert. Wie du weißt, haben sich die Aktivitäten der Wajaren verstärkt und wir müssen ihnen beikommen.« Er deutete auf die anderen Namen. »Hroar Gisher ist ebenfalls ein guter Kandidat. Ich mag ihn nicht besonders. Aber er ist der Fürst eines großen Stammes und hat ein herausragendes strategisches Verständnis, das für den Rat wichtig ist.«

»Du würdest jemanden in den Rat holen, den du nicht magst?«

»Ja. Der Rat soll alle möglichen Meinungen reflektieren. Es werden keine guten Entscheidungen getroffen, wenn ich nur Leute habe, mit denen ich gern Wein trinke. Der Rat führt dann keine kontroversen Diskussionen.« Er lächelte. »Das war eine der ersten Lektionen, die ich von Maksim gelernt habe. Wir herrschen über ein Volk, das die unterschiedlichsten Meinungen hat und ebenso unterschiedlich lebt, sei es als Krieger, Fürst, Bauer oder Minenarbeiter. Wir brauchen Räte, die all diese Meinungen und Gegebenheiten abdecken. Ganz gleich, ob einige dieser Räte mir nun gefallen oder nicht.«

Sie nickte nachdenklich. »Wieso magst du Hroar Gisher nicht?«

»Er hängt sein Fähnchen gern in den Wind. Ich hingegen mag es, wenn man einen festen Standpunkt hat. Außerdem vertritt Gisher überholte Ansichten, was unseren Umgang mit den Menschen angeht. Wobei er nicht der Einzige ist, der diese Ansichten hat.«

Er spielte auf die Diskussionen um das Niemandsland an. Mehr als einmal hatten er und Maksim das beim Beisammensein der Familie im Kaminzimmer besprochen und Mariana es jetzt in den Mitschriften gelesen. Die Argumente für die Unterwerfung des Niemandslandes waren verworren. Dort lebten nur Menschen. Es gab keine Bodenschätze und keine wertvollen Ackerflächen oder Weidegründe. Die Fürsten, die für die Vereinnahmung des Niemandslandes plädierten, beriefen sich auf die altmodische Ansicht der Überlegenheit der Vampirrasse. Eine Herrschaft der Vampire täte den Menschen gut und brächte Ordnung in ihr Leben. Mariana hingegen glaubte, dass es den Fürsten mehr um die Erfüllung ihrer Machtgelüste als um das Wohl von Menschen ging.

»Dann würde ich gerne noch Alek Nitshav und die Fürstin Amirad in den Rat aufnehmen. Ihre Stämme sind klein und beide regieren schon lang. Mit dem Weggang der Fürsten Rakta und Dhiig sind viele der großen Stämme im Rat vertreten und wir können die Machtgewichtungen so wieder glattziehen.« Ihr Vater sah gedankenverloren auf die Namensliste. »Damit hätten wir fünf neue Räte. Ich werde Maksim nach seiner Meinung fragen, dann können wir sie benachrichtigen.«

»Haben Maksim und Rodica bereits beschlossen, was sie nach seiner Abdankung machen werden?«

»Sie ziehen sich auf eine kleine Festung zurück. Maksim befürchtet, dass er in Regierungsgeschäfte verwickelt wird, sollte er auf Tyr bleiben. Unrecht hat er da nicht.«

Maksim und Rodica wären nicht mehr auf Tyr. Das traf sie. »Ich werde sie vermissen«, sagte sie leise. »Burg Tyr ohne Rodica und Maksim … es fühlt sich nicht richtig an.«

»Die Welt, in der du lebst, ist ihnen zu verdanken. Sie ist ihr Vermächtnis. Ein Teil von ihnen wird immer hier sein, selbst ‒.« Er verstummte kurz und fuhr mit fester Stimme fort: »Selbst nach Rodicas Tod.«

Sie schauderte. Der Tod von Rodica, der einzigen Sterblichen in ihrer Familie. Eine fürchterliche Vorstellung.

Er schien ihre Gedanken zu lesen. »Bedenke, wir sind nicht so unsterblich, wie wir glauben. Du bist eine Kriegerin. Würden wir in Schlachten ziehen, müsstest du dem Tod bei jedem Kampf ins Gesicht sehen.«

»Ich weiß.« Sie lächelte unglücklich. »Aber wir haben es in der Hand, oder? Ich hätte nicht Kriegerin werden müssen, ich habe es mir ausgesucht. Rodica hat keine Wahl, ob sie stirbt oder auf ewig weiterlebt.«

Er seufzte und legte seine Hand in einer tröstenden Geste auf die ihre. »So ist es nun einmal, Mariana, und wir müssen damit fertigwerden. Du und Arik könnt eure Großeltern besuchen. Die Festung, an die Maksim denkt, ist die an den Wasserfällen. Sie ist nicht einmal einen halbenNachtritt entfernt.«

Kapitel 3

Die Vorbereitungen für seine Ernennung zum Herrscher waren in vollem Schwung und Damien wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es vorbei sein möge.

Burg Tyr wurde von oben bis unten geputzt. Kein Raum, in dem man nicht über Wassereimer stolperte. Die Täfelungen der Flure und Gemächer wurden mit Öl poliert, die silbernen Türgriffe in der Form eines Wolfskopfs auf Hochglanz gebracht, Gemälde abgestaubt, Teppiche geklopft, die Wände der Halle geweißt und die Quartiere der Gäste vorbereitet. Im Waschhaus arbeiteten die Bediensteten Nacht und Tag, um die Laken, Decken und Tücher, die man benötigen würde, sauber zu bekommen. Die Knechte trieben die Schafe und Ziegen auf Bergwiesen in der Nähe, damit in den Ställen Platz für die Pferde der Gäste geschaffen wurde. Rodica plante mit den Köchen das Festessen. Wein musste eingekauft werden und die Jäger bekamen den Auftrag, eine ausreichende Zahl an Hirschen und Rehen zu erlegen. Musikanten solltendas Mahl mit kurzweiligen Melodien begleiten. Wie vorhergesagt, stürzten sich die Schneider auf sie. Die Frauen erhielten Festkleider. Maksim, Arik und er sollten aufwendig bestickte Hemden und Umhänge zu schwarzen Hosen und Stiefeln tragen.

Damien flüchtete vor alldem in sein Studierzimmer. Taran war zu ihren Schwertübungen gegangen. Er hätte sich ihr gern angeschlossen, aber es galt, die Korrespondenz zu erledigen.

Heute war wieder ein Stoß Briefe aus allen Himmelsrichtungen gekommen, Dankesworte für die Einladung zu den Feierlichkeiten und Grußworte, die ihm zur Ernennung zum Herrscher gratulierten und der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die beidseitigen Beziehungen fruchtbar sein mögen. Das Schöffenkollegium der blauen Stadt dankte Maksim für die Zusammenarbeit und zwei Stämme bestätigten die Zahl der Krieger, die an den Feierlichkeiten teilnehmen würden.

Außerdem hatte ein Bote einen Brief von Milo gebracht.

Damien schob die anderen Pergamente beiseite und riss das Wachssiegel auf. Er hatte Milo in seinem letzten Schreiben gebeten, über eine Stellung im Rat nachzudenken, und die Antwort gespannt erwartet. »Bruder, du hast eine Sauklaue«, murmelte er und überflog die zwei Bögen, bevor er sich in sie vertiefte: Bruder, ich danke Dir für Dein Schreiben. Es hat mich im tiefen Süden des Gebirges erreicht. Es gab Wajaren, die dachten, sie könnten hier ungestraft Viehdiebstähle begehen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Sie haben falsch gedacht. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Deiner Ernennung zum Herrscher über die Stämme. Maksim hat den richtigen Nachfolger gewählt! Seine Gründe für die Abdankung kann ich nachvollziehen. Ich wünsche ihm und Rodica noch viele glückliche Winter. Deinen Vorschlag, Mitglied des Rats zu werden, nehme ich gern an. Schließlich benötigst du jemanden, der Dich auf den Boden der Tatsachen zurückholt, wenn Dir die Anbetung durch Deine Untertanen zu Kopf steigt! Was die Bekämpfung der Wajaren angeht, habe ich durchaus Ideen. In den letzten Wintern erschien es mir immer mehr wie ein sinnloser Kampf: Kaum hat man Wajaren in einer Ecke des Gebirges erledigt, tauchen sie in einer anderen wieder auf. Und sie geben sich nicht mehr mit Raubzügen zufrieden. Ich denke, die Gerüchte über Blutshäuser werden Tyr erreicht haben. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass man das Übel an seiner Wurzel packen muss, um es auszulöschen. Wajaren sind von den Stämmen Verstoßene. Es entbehrt nicht der Ironie: Die Fürsten denken, sie lösen ein Problem, wenn sie von ihrem Recht auf Bestrafung kleiner Verbrecher Gebrauch machen und Diebe oder Betrüger von ihren Ländereien vertreiben. Stattdessen fällt das Problem mannigfaltig auf sie zurück, wenn aus dem Dieb oder Betrüger ein Wajare wird. Ich frage mich, ob man da nicht einhaken sollte. Kann die Bestrafung nicht eine sein, die diese Männer und Frauen nicht zu Wajaren macht? Wie das Einkerkern? Oder Strafzahlungen? Das treibt mich seit einiger Zeit um. Eine Position im Rat würde meinen Vorschlägen zur Lösung des Problems dienlich sein. Näheres, wenn ich auf Tyr eintreffe. Trotz der zahlreichen Winter, die ich durch das Gebirge gestreift bin, habe ich erstmalig den Süden aufgesucht. Er unterscheidet sich stark vom Norden. Keine Täler, Schluchten und Flüsse, keine Wälder. Das Land ist karg und trocken, es regnet selten. Die Gebirgskuppen liegen weit auseinander, zwischen ihnen erstrecken sich Ebenen ähnlich der Grasländer, in denen verkrüppelte Büsche und Bäume wachsen. Verstecke vor der Sonne gibt es wenige, ein Grund, warumhier eine überschaubare Anzahl von Vampiren lebt. Ich habe einen kleinen Stamm mit vierzig bis fünfzig Angehörigen und halb so vielen Menschen kennengelernt, die für sie arbeiten. Sie leben von der Viehhaltung und konnten den Wajarenbanden nichts entgegensetzen. Jetzt, nach der Lösung ihres Wajarenproblems, leben sie wieder ihr friedliches Leben. Welches mir persönlich zu friedlich ist. Wie geht es Taran und den Kindern? Erinnere Deine umwerfende Gefährtin bitte daran, dass sie mir Revanche angedroht hatte, nachdem ich sie bei meinen letzten Schwertübungen auf Tyr besiegt habe. Ist das wirklich zwanzig Winter her? Ich mache mich umgehend auf den Weg in den Norden. Ein Bote mit einer Antwort auf dieses Schreiben wird Schwierigkeiten haben mich zu finden, also: Warte ab, bis ich auf Tyr auftauche. Gehabe Dich wohl, oh allmächtiger Herrscher über die Stämme! Dein Bruder im Blute, Milo

Damien lachte. Das war Milo, wie er leibte und lebte.

Er lehnte sich zurück und sah versonnen durch das Fenster auf die dunkle Silhouette der Berge gegen den nächtlichen Himmel. Er und Milo kannten sich seit Kindertagen. Milo, ein Waise, hatte mit ihm die Kriegerausbildung durchlaufen. Sie wurden Brüder im Blute, Kampfgefährten, die in Schlachten aufeinander achtgaben und sich gegenseitig den Rücken deckten. Sie hatten seinem Vater, Raiden Tyr, gedient, bis dieser Maksim die Insignien der Macht entrissen und sich zum Herrscher über die Stämme gemacht hatte. Die Grausamkeiten, die er dabei beging, waren der Grund für Damien und Milo, ihm die Gefolgschaft zu versagen und sich Maksims Rebellion anzuschließen. Damien wurde von seinem Vater lebensgefährlich verletzt und Milo unterstützte Taran bei seiner Pflege. Auch als sich Damiens Bruder Zyrian nach dem Ende des Krieges das Leben nahm, war Milo für ihn da. Nachdem Maksim Raiden getötet und die Macht im Qanicengebirge zurückerobert hatte, war Milo rastlos und zum Wajarenjäger geworden.

Damien fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Mariana und dann auch Maksim hatten den Finger auf die Wunde gelegt. Entgegen dem, was er ihnen gesagt hatte, hegte er durchaus die Befürchtung, dass Milo das Weite suchen würde, falls ihm auf Tyr langweilig wurde, Ratsposition hin oder her.

Wie verhinderte er, dass das passierte? Die Ratsgeschäfte würden Milo in Anspruch nehmen. Aber wie lange füllten sie ihn aus? Er brauchte seinen Bruder im Blute und wollte ihn nicht nur für ein paar Winter an seiner Seite wissen. Zusammen konnten sie vieles bewegen, wenn er es schaffte, Milo auf Tyr zu halten.

Einige Räte würden die Stirn runzeln, Milo neben sich sitzen zu haben, war er doch kein Stammesfürst. Seine unbekümmerte Art machte es nicht einfacher. Aber er hatte einen großen Erfahrungsschatz, der ihnen nutzte. Das würden auch die skeptischen Räte bald bemerken.

Milos Gedanken zu den Wajaren waren vielversprechend. Es stimmte, was er sagte. Die meisten Fürsten vertrieben Stammesangehörige, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, aus ihrem Gebiet. Es ging um kleine Ganoven, die mit ihrer Verstoßung zu den Wajaren kamen und dort rasch zu Mördern und Frauenschändern wurden. Wenn man andere Strafen als die Verstoßung vorsah, entzog man den Wajaren den Nachschub an Kämpfern. Aber diese Bestrafungen kosteten Gold. Gefangene mussten bewacht und verköstigt und Verliese vielleicht erst gebaut werden.

Zu diesem Thema würde es in jedem Fall eine lebendige Debatte im Rat geben.

Kapitel 4

Die Festung, auf die Maksim und Rodica umzuziehen gedachten, lag in der Nähe der Wasserfälle. Kaskaden eiskalten Gletscherwassers stürzten von bemoosten Felsen in einen Teich, aus dem ein tosender Gebirgsbach seinen Anfang nahm und nach vielen Meilen in den Qanaxini-Fluss mündete. Bei geöffneten Fenstern hörte man das Rauschen des Wassers. So stellte Arik sich das Geräusch der Meeresbrandung vor.

Ihm gefiel die Festung. Sie lag westlich von Tyr, nahe einem Reisepfad ins Niemandsland. Auf ihr wurden die Pferde der Tyr großgezogen. In den weitläufigen Ställen standen tragende Stuten, Fohlen und Jungpferde, deren Ausbildung zu Schlachtrössern im Alter von drei Wintern begann. Das Wohngebäude war klein. Es bot Raum für ein Dutzend Krieger und doppelt so viele Knechte und Mägde. Daneben gab es Scheunen, eine Schmiede, einen Brunnen und die unerlässliche Wehrmauer. Vor dem Tor lagen Bergweiden, auf denen die Pferde gehütet wurden.

Rodica stand mit glänzenden Augen in dem leeren Raum, den sie gerade besichtigten. »Das wird unser Wohngemach«, verkündete sie. »Man kann von hier weit ins Land blicken!«

Mariana trat an das offen stehende Fenster. Sonnenstrahlen fielen auf den Steinfußboden. Das Gemach lag im obersten Stock des Wohngebäudes und ermöglichte den Blick über die Mauer. »Über die Weiden und den Wald bis hin zu den Wasserfällen! Seht nur, wie das Wasser diesen glitzernden Nebel über dem Teich bildet! Es ist wunderschön.«

»Gleich nebenan ist das Schlafgemach«, fuhr Rodica fort. »Mit derselben Aussicht.«

Ariks Schwester lief in den angrenzenden Raum. »Oh, hier ist viel Platz! Du kannst bestimmt noch deinen Sekretär und das kleine Bücherregal aufstellen!« Ein Quietschen und Knarren ertönte, dann kam sie zurück. »Das Bleiglas im Fenster drüben hat einen Sprung. Ihr solltet den Glasmacher bitten, das zu reparieren, bevor ihr einzieht. Und die Scharniere müssen geölt werden.«

»Richtig, das hatte ich ganz vergessen.« Rodica blickte sich zufrieden um. »Ich denke aber, dass ich den Sekretär hier unterbringen werde. Wir werden nur Sessel aufstellen, keinen Diwan. Und Maksim braucht keinen Tisch für Pergamente oder Karten.«

Arik blendete die sich entspinnende Diskussion, welche Einrichtungsgegenstände wo hingehörten, aus, wanderte zum Fenster und beugte sich hinaus. Im Hof flickten zwei Knechte Zaumzeug und Sättel. Die Bediensteten waren Menschen, die ihren Pflichten tagsüber nachgingen. Die Krieger bestanden zur Hälfte aus Ewigen und Menschen und zur anderen Hälfte aus Vampiren, die sich die Tages- und Nachtwachen über die Festung und die Herde teilten. Er, seine Schwester und eine Handvoll Ewiger hatten Rodica hierherbegleitet, damit sie entscheiden konnte, welche Möbelstücke sie und Maksim benötigten. Gleich würden sie nach Tyr zurückkehren, ein kurzer Ritt, der den halben Nachmittag dauerte, und auf dem sie vier Pferde, deren Ausbildung beendet war, mitnahmen.

Er würde Rodica und Maksim vermissen. Sicher, er gönnte ihnen von ganzem Herzen, dass sie sich zurückzogen und das Leben genossen. Maksim konnte seiner Passion für die Pferdezucht frönen und Rodica wurde befreit von der Notwendigkeit, dem Haushalt der Burg vorzustehen. Das war es nicht, was ihn trübsinnig machte. Es war etwas anderes. Rodica würde sterben. Damit wäre nichts mehr wie früher. Keine Gespräche mit ihr über die Bücher, die sie genauso gern las wie er. Die Geschichten vor dem Kaminfeuer, wie sie Maksim kennengelernt hatte oder über ihre Winter im Niemandsland. Oder ihr Verständnis für seine Nöte mit dem Schwertkampf. Er seufzte. Am schlimmsten wäre, dass sie einfach nicht mehr da sein würde.

»… schaue mal, wie weit sie mit den Pferden sind. Wir müssen bald los, wenn wir rechtzeitig zum Abendmahl zurück sein wollen!«, brachte ihn die Stimme seiner Schwester und der nachfolgende Knall der zuschlagenden Tür in die Wirklichkeit zurück.

Rodica legte den Arm um ihn. »Ist alles gut, Arik?«

Erstaunt stellte er fest, dass ihm die Augen feucht geworden waren. Er räusperte sich verlegen. »Ich … ich werde euch vermissen.«

Sie drückte ihn an sich. »Keine Sorge, wir verlangen Besuche von unseren Enkeln. Und die Festlichkeiten auf Tyr werden wir uns nicht entgehen lassen! Es wird Spaß machen, als Gast dort zu sein, ohne Sorgen, ob der Braten durch ist oder der Wein schmeckt.« Das Bild, wie Rodica mit dem Hofmarschall im Schlepptau durch die Burg eilte, um Unterkünfte für die Gäste herzurichten, die Jäger zu instruieren, und die Tischordnung festzulegen, würde sich ihnen nicht mehr lange bieten.

»Aber wenn du ‒.« Er verstummte hilflos.

»Ich bin immer noch da, Arik. Und werde auch noch eine ganze Weile da sein.«

»Aber irgendwann ‒.«

»Irgendwann werde ich sterben, genau. Ich sage dir, was ich bereits deiner Schwester gesagt habe: Das ist nun einmal so und wir können es nicht ändern. Du sollst dir keine Gedanken darüber machen.« Ihre Stimme hat den Befehlston, den er gut kannte. Es war derselbe Ton, mit dem sie ihm und Mariana verboten hatte, sie ›Großmutter‹ zu nennen. Alt werde sie früh genug, da brauche man sie nicht schon vorab alt zu machen, hatte sie damals gesagt. Seitdem nannten sie ihre Großeltern beim Namen. »Lebe dein Leben, Arik, das ist das schönste Geschenk, was du mir für meine letzten Winter machen kannst, ganz gleich, ob es zwei, sieben oder fünfzehn sein werden. Es wäre schwer für mich zu ertragen, wenn du wegen mir Trübsal bläst. Das will ich nicht! Versprichst du mir das?«

»Aber ‒.«

»Arik.«

Er senkte den Kopf. Wenn sie in dieser Stimmung war, brauchte er nicht weiterzureden. »Es ist nur um so vieles schöner, wenn du da bist«, murmelte er hilflos. Sie hatte ja recht, es ließ sich nicht ändern. Aber er konnte sich nicht auf Befehl glücklich fühlen.

»Deswegen sollt ihr mich ja besuchen. Ich finde es nämlich schön, euch um mich zu haben. Du musst mir von den Büchern berichten, die du liest! Und von all den anderen Abenteuern, die du noch erleben wirst!«

»Welche Abenteuer? Ich übe den Schwertkampf, das ist nicht besonders abenteuerlich.«

Sie lächelte geheimnisvoll. »Du wirst schon sehen, Arik.«

Verwirrt sah er sie an. Was meinte sie damit? Doch bevor er nachhaken konnte, erscholl von unten ein Ruf. »Es scheint, dass wir losreiten«, sagte Rodica. »Komm!«

Gehorsam eilte er ihr nach in den Hof, wo Mariana und die anderen bereits aufsaßen. Die vier jungen Pferde führten sie an Stricken mit sich. Er schnappte sich den Strick eines kräftigen Rappen und Rodica nahm sich einen Fuchs.

Mariana lenkte ihr Pferd an seine Seite, als sich der Tross in Bewegung setzte und aus dem Tor auf die Weiden trabte. »Alles in Ordnung, Arik? Du bist so still.«

»Ja.« Er seufzte. »Dieser Ausritt hat mir vor Augen geführt, dass Rodica sterben wird. Das ist ein trauriger Gedanke.«

Sie nickte langsam. »Ich habe mit ihr darüber gesprochen. Sie will nicht, dass wir trauern.«

»Das hat sie mir auch gesagt.« Er warf einen Blick über die Schulter. Rodica ritt neben einem der Kämpfer und unterhielt sich angeregt mit ihm. »Sie hat es mir verboten. Und mir gesagt, ich soll mein Leben leben.«

»Die Standpauke habe ich auch bekommen. Ich habe nachgedacht. Wenn es das ist, was Rodica glücklich macht, dann werde ich es tun, habe ich beschlossen. Es fällt mir allerdings schwer. Ich habe ein schlechtes Gewissen dabei.«

»Ich auch. Aber dann denke ich, wenn wir sie andauernd umschwirren, können wir es nicht ändern. Und wir verärgern sie. Dann sind alle unglücklich.«

Mariana lachte. »Wie wahr! Das würde zu etlichen Standpauken führen.«

Er grinste schwach. Rodicas Standpauken, genau wie die ihrer Mutter, wollte man nicht allzu oft zu hören bekommen. »Da ist es besser, ihren Befehlen zu gehorchen, das stimmt. Aber es ist schwer.«

Seine Schwester langte zu ihm hinüber und drückte kurz seine Hand. Ivor, der an der Spitze ritt, rief einen Befehl und der Tross verfiel in langsamen Galopp. Die Geschwister schwiegen für den Rest des Wegs, jeder in Gedanken versunken, aber verbunden in der Sorge um Rodica.

Kapitel 5

»Das nehmen wir zurück, dann passt es einwandfrei.« Gioll, der Schneider, steckte Nadeln in den Ärmel von Marianas Festgewand. Das Kleid war aus schimmernder nachtblauer Seide genäht, mit einem Kranz aufgestickter roter Edelsteine um den Ausschnitt. Am Oberkörper lag es eng an, der Rock bauschte sich glockenförmig.

Mariana fand das Gewand wunderschön, aber die lange Anprobe ließ ihre Ungeduld wachsen. Die Zeit konnte sie mit wichtigeren Dingen verbringen. Aus einem Schwertkampf wurde heute nichts mehr. Die Sonne kroch bereits über die Bergspitzen, was die Vampirkrieger hinter die Mauern der Burg trieb. Sie beschloss auszureiten, sobald Gioll mit ihr fertig war. Ihr Pferd Winterstern, eine hochbeinige Apfelschimmelstute, hatte sie länger nicht bewegt.

»Autsch!« Arik stand ihr gegenüber, die Arme abgespreizt. Giolls Gehilfe steckte ihm das Hemd ab. Man hatte ihn für die Anprobe von einem Buch weggeholt, was seine Laune auf den Tiefpunkt hatte sinken lassen. »Pass mit den Nadeln auf!«

Dem Gehilfen, einem dürren Bürschlein, waren Ariks Befindlichkeiten gleich: »Bleib still stehen, dann passiert auch nichts.«

Ihr Bruder seufzte ergeben. »Bin ich froh, wenn das Fest vorbei ist!«

»Ein Junge in deinem Alter freut sich doch für gewöhnlich auf solche Festlichkeiten!« Gioll schüttelte den Kopf. »Das Festessen, die Zeremonien, Musik. Das ist doch mal eine Abwechslung auf Burg Tyr!«

»Ja, schon. Aber dieses ganze Getue, bevor wir feiern können?«, maulte Arik. »Wozu brauche ich neue Hemden? Und dann noch mit diesen weibischen Stickereien? Und Hosen, die genauso aussehen wie meine alten? Wieso kann ich nicht die anziehen? Auf mich schaut doch sowieso niemand.«

»Im Gegenteil.« Gioll trat einen Schritt zurück und musterte Mariana mit zusammengekniffenen Augen. »Du bist der Sohn des Herrschers. Alle werden dich anschauen. Ganz besonders die Frauen! Denen willst du doch gefallen, oder?«

Von Arik kam ein würgendes Geräusch.

Mariana lachte. Wenn Gioll so weitermachte, würde ihr Bruder die Flucht ergreifen, um all den Frauen, die sich vermeintlich auf ihn stürzten, zu entkommen.

Der Schneider grinste. »Du bist fertig, Mariana. Seid bitte vorsichtig, wenn ihr es auszieht«, wies er seine Gehilfin an, die im Nebenraum wartete, wo Mariana aus dem Gewand stieg, in Lederhosen und Hemd schlüpfte und sich den Schwertgürtel umlegte.

Sie rief Gioll und Arik, bei denen es inzwischen um den Umhang ging, einen Abschiedsgruß zu, bevor sie die Treppe nach unten nahm und kurz in das Studierzimmer ihres Vaters sah, um ihm zu sagen, dass sie einen Ausritt machte.

»Bleib nicht zu lang weg«, sagte er stirnrunzelnd. Er mochte es nicht, wenn sie tagsüber allein unterwegs war, nahm ihre Ausflüge aber zähneknirschend hin. »Ich werde nachher mit deiner Mutter im Kaminzimmer sein. Komm bitte zu uns, wenn du wieder da bist.«