Dämonenstern - S.C. Keidner - E-Book

Dämonenstern E-Book

S.C. Keidner

0,0
3,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Science Fiction / Fantasy Romance - Das Jahr 2057. Für die ehrgeizige Astrobiologin Lissa erfüllt sich ein Traum: Sie wird Mitglied der ersten Expedition der Menschheit in ein Paralleluniversum. Als ob das nicht schon genug wäre, verliebt sie sich auch noch in den charismatischen Anders. Doch was als Erforschung eines unbewohnten Planeten beginnt, wird zur tödlichen Falle, gestellt von Angehörigen einer mächtigen und uralten Spezies, die man auf der Erde als Dämonen kennt. Lissa muss erkennen, dass nicht jeder das ist, was er vorgibt zu sein …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 413

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



S.C. Keidner

Dämonenstern

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

Epilog

Quellen

Weitere Bücher von S.C. Keidner

Impressum neobooks

Prolog

Er war an die Oberfläche gegangen, stand im Torbogen des verfallenen Tempels, in dessen weitläufigen Katakomben er und seine Kämpfer Zuflucht gefunden hatten.

Die Lavalandschaft erstreckte sich bis zum Horizont, einstmals glühende Flüsse, die während der großen Feuer die Stadt der Alten, nahe der der Tempel lag, verschlungen hatten. Mauertrümmer und verfallene Dächer, die Überreste einer Zitadelle und eines Glockenturms ragten in der Ferne aus dem anthrazitfarbenen Gestein.

An den Wänden des ehemaligen Andachtssaals hinter ihm erahnte man noch die Malereien, die die Seelenwanderung durch die sechzehn Sphären beschrieben. Die hohe Decke wurde von mächtigen Marmorsäulen getragen und Vulkanasche kroch durch die leeren Höhlen der zerborstenen Fenster.

Trotz der Zeit, die seit den großen Feuern vergangen war, hatte die Natur die Gegend kaum zurückerobert. Dürre Büsche wuchsen im Geröll ein paar Schritte von ihm entfernt. Flammenechsen, durch sein Erscheinen aufgeschreckt, huschten unter Steine. Graue Staubwolken verschleierten den Himmel, die drei Monde waren kaum zu erkennen. Ein scharfer Wind, Vorbote des nächtlichen Orkans, zerrte an seinem Umhang, der ihn wie ein silbernes Segel umflatterte.

Der Hohe Rat war misstrauisch geworden. Sie hatten die Manipulationen bei der Entwicklung der Portaltechnologie auf Gaia bemerkt und die Portale zu den Sphären per Dekret geschlossen. Aber das war jetzt gleich.

Ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Das Dekretwar zu spät gekommen. Seine Gelehrten hatten den Gaianern innerhalb weniger Sonnenumrundungen eine Technologieentwicklung ermöglicht, die ansonsten Generationen gebraucht hätte. Damit würde er Nyx wieder die Herrschaft über die Sphären zu verschaffen, wie damals unter KönigDavdrut, der diesen Triumph nicht mehr erleben durfte.

Seine mumifizierte Leiche bahrten sie in jeder Zuflucht auf, eine Erinnerung an das Opfer, das der Königwährend des Bürgerkriegs mit seinem Leben gebracht hatte. Sobald sie ihren Sieg errungen hatten, würde er in einem prachtvollen Grab in Sakallas Totenstadt bestattet werden.

Doch bevor es soweitwar, mussten sie den Hohen Rat vernichten. Dazu bedurfte es mehr als der Attentate, mit denen sie seit dem Ende des Kriegs Angst verbreiteten.

Er hatte die Figuren in Position gebracht. Dass es die letzte Möglichkeitwar, ein geradezu verzweifelter Akt, um doch noch zu siegen, das musste er sich mit einem bitteren Geschmack im Mund eingestehen. Den erbärmlichen Rest seiner Kämpfer, des stolzen Heers der Davdrut, hatte man in diese trostlose Region tief im Süden Rydinias vertrieben. Sie waren Vogelfreie. Die Schwadronen jagten sie ohne Gnade. Einen militärischen Sieg konnte es nur mithilfe der Gaianertechnologie geben.

Sein Plan war verwegen. Schlug er fehl, war der Kampf endgültig verloren.

Lief es wie vorhergesehen, würden sie die Ordnung, die unter König Davdrut geherrscht hatte, wiederherstellen.

Die Zeit, die er damals auf Gaia verbracht hatte, war ihm noch so präsent, als sei es gestern gewesen, auch wenn seitdem über sechshundert Sonnenumrundungen vergangen waren. Er hattesich zum König eines wilden Landes in den Bergen gemachtund seine gaianischen Untertanen Gehorsam gelehrt. Sie nannten ihn den Sohn des Teufels und brachten ihm den Respekt entgegen, der ihm gebührte.

Denn Nyxanerwaren die Herren der Sphären, ganz gleich, was die verfluchten Mystiker faselten. Aber die Mystikerund die, die ihnen nahestanden, hatten den Bürgerkrieg gewonnen. Ihre giftigen Ideen von der Seelenwanderung durch die Sphären führten zum Verbot der Reisen. Nur Gelehrte durften die Sphären erforschen, ohne in das Leben dort einzugreifen, eine Scheinheiligkeit sondergleichen. Selbst das hatten sie jetzt unterbunden.

Der Kriegwar zwar lange verloren, aber der Kampf noch nicht aufgegeben. Der Hohe Rat war ahnungslos, hieß es doch, die Davdrut seien keine Gefahr mehr.

Er schnaubte abfällig. Die Gaianer würden ihm helfen, dafür hatte er gesorgt. Jetzt musste er warten, bis Morrigu ihm die Ausführung des Plans bestätigte. Aber dannhätte er gesiegt. Endgültig.

In Gedanken versunken starrte er noch eine ganze Weile auf die Lavalandschaft, bevor er sich umdrehte und durch den Saal in die Finsternis der Katakomben zurückkehrte.

1

Die Mondfähre, ein weißerPunkt, bewegte sich in gerader Linie über den nächtlichen Himmel, an dessen östlichem Horizont sich das erste zarte Rosa des Tages zeigte. Sie brachte Arbeiter und Materialien für den Bau des Observatoriums im Peary-Krater auf den Erdtrabanten.

Einmal im Monat, immer zu dieser Zeit, überquerte die Fähre Europa, aber es war das erste Malseit langem, dass Lissa sie beobachtete. Als der Punkt gegen die Helligkeit des neuen Tags nicht mehr zu sehen war, seufzte sie, wandte sich vom Fenster ab. Das Licht des HDU, des Holographic Display Units, blinkte, forderte sie auf, die Nachricht abzuspielen.

Aus der Küche hörte sie die Stimmen von Anni und der künstlichen Intelligenz, die sie einfallslos James getauft hatten, aus dem zweiten Schlafzimmer drangen Fetzen von Carls Heavy Metal Musik.

Sie blendete die Geräusche aus. Auf dem HDU wartete seit einer halben Stunde eine Nachricht der Global Space Agency. Mehrmals hatte sie den Sprachbefehl zum Abrufen der Nachricht geben wollen und war immer in letzter Sekunde zurückgeschreckt. Der Forschungsartikel, den sie über Nacht Korrektur gelesen hatte, lag vergessen auf dem Schreibtisch.

Wochenlang hatte sie die Antwort der GSA herbeigesehnt undjetztwar ihr vor Nervosität übel. Hatten sie sie ausgewählt? Oder bedeutete die Nachricht das Aus für ihre Träume? Musste sie sich einen neuen Job suchen?

Das Licht am HDU blinkte ungeduldig. Die Antwort auf diese zermürbenden Fragen war einen Sprachbefehl entfernt. Was würde sie machen, falls ihr ein lautes Nein beim Abspielen entgegenschallen würde?

Lissa hatte keine Ahnung.

„Reiß dich zusammen“, murmelte sie schließlich. Zögern brachte nichts. Die Nachrichtwürde sie sooderso erreichen. Sie stählte sich, nahm einen tiefen Atemzug und sagte: „Nachricht abspielen.“

Die Luft über dem HDU flimmerte. Macs lächelndes Gesicht erschien. „Hallo, Lissa! Ich habe gute Neuigkeiten. Mission EPU-001 ist genehmigt und du wirst zum Expeditionsteam gehören. Das ich leiten werde. Die offizielle Bestätigung kommt per E-mail, aber ich wollte dir schon mal Bescheid geben. Wir starten am 3. September. Neben dir wird übrigens-“

Es dauerte zehn Sekunden, dann verstand Lissa. Sie hatte die Mission! Sie hatten sie ausgewählt!

„YES!“ Sie tat einen Luftsprung, der den HDU gefährlich ins Wanken brachte. Die Abbildung von Macs Gesicht schwankte wie ein Baum im Wind. „Anni!“ Sie rannte in den Flur und zur Küche, eine Strecke, für die man exakt vier Schritte brauchte.

„Was ist?“ Ihre Mitbewohnerin stand im Morgenmantel und mit vom Schlaf verquollenen Augen vor dem Küchenautomaten, einem mannshohen mit dem Kühlschrank verbundenen Monstrum, das alle gängigen Getränke und Gerichte zubereitete. Vorausgesetzt, man verstand mit ihm umzugehen. „Verdammt, ich will Kaffee, nicht Tee! KAFFEE!“

„James, Kaffee, schwarz“, sagte Lissa seufzend.

„Guten Morgen, Lissa“, kam ein wohltönender Bariton aus dem Off. „Einmal Kaffee, schwarz. Kommt sofort.“ Der Automat fing an zu arbeiten und zerkleinerte mit Getöse Kaffeebohnen.

„Wieso hört er auf dich, aber nicht auf mich?“, beschwerte sich Anni.

„Du musst ihm eindeutige Befehle geben. Wie oft muss ich es dir noch erklären? Du kannst nicht laut überlegen, ob du Tee oder Kaffee oder vielleicht doch nur Orangensaft möchtest. Das bringt ihn durcheinander.“

„Und sowas nennt sich künstliche Intelligenz“, murmelte Anni unwillig. „Erst letzte Woche habe ich es so gemacht und einfach Spiegeleier verlangt. Aber nein, nichts!“

„Da hattest du vergessen, die Einkäufe aus der Postbox mit nach oben zu nehmen. Wenn die Sachen nicht im Kühlschrank stehen, kann James sie auch nicht verarbeiten!“

„Okay, du hast ja Recht“, gab Anni missmutig zu, doch Lissa wusste, dass sie die Erklärungen zum Umgang mit James in fünf Minuten wieder vergessen haben würde. Aber es gab Wichtigeres.

„Hör zu: Nachricht von der GSA, von Mac!“

Anni wurde augenblicklich lebendig. „Und? Erzähl schon!“

Lissa grinste. „Rate mal, wer als Astrobiologin an der Mission EPU-001, die am 3. September 2057 startet, teilnehmen wird?“

„EPU ... EPU, das ist -“

„Exploration of Parallel Universes! Das Paralleluniversum! Welt 001!“

Anni kreischte auf und fiel ihr um den Hals. „Oh! Mein! Gott! Das ist der Wahnsinn!“

„Ich weiß! Ich kann es kaum glauben!“ Lissa drückte ihre Mitbewohnerin festan sich. „Ich bin Astronautin!“

„Was schreit ihr denn hier so rum?“ Carl, Annis Freund, kam gähnend hereingeschlendert. Er war nur mit Boxershorts bekleidet und stellte soseine nicht unbeträchtlichen Muskeln und die vielen Tattoos zur Schau. Die Heavy Metal Musik hatte er dankenswerterweise abgestellt.

„Lissa hat ihre Mission!“

„Glückwunsch!“ Carl nahm den Becher dampfenden Kaffees aus dem Automaten. „Wo geht’s hin?“

„Es ist die erste Mission in ein Paralleluniversum! Ich habe euch davon erzählt! Welt 001! Die wir mit dem Rover erforschen!“ Lissa ließ sich auf einen der einfachen Plastikstühle am Küchentisch sinken. Sie konnte es noch nicht wirklich erfassen. Das war die Mission, von der sie geträumt hatte. Die bis vor einem Jahr noch in der Schwebe hing, war es doch erst da gelungen, zum erstenMal ein stabiles Wurmloch zu erzeugen. Am anderen Ende dieses Wurmlochs lag Welt 001, eine Erde in einem Paralleluniversum, von der der Rover seit drei Wochen Bilder einer Wüste mit Felsformationen, durchzogen von Canyons, schickte. Eine Welt, auf der es Leben gab, Moose, Flechten, spinnenartige Tiere, Echsen. Die sie live erleben werdenwürde, nicht nur in Form vonBildernund Analysedaten!

Carl lehnte sich gegen den Kühlschrank und legte den Arm um Anni. „Hm, mal sehen, ob ich mich erinnere ... ja, du hast diese Parallelerde und Paralleluniversen einmal erwähnt.“

„Nein, ich glaube, zwei Mal“, korrigierte Anni ihn.

„Eher drei, vier oder noch mehr Male“, sagte Carl. Er lachte, als Lissa das Gesicht verzog. „Aber pass bloß auf, dass du dir da nicht selbst begegnest! Ich habe da mal diesen Film gesehen -“

„Wie oft soll ich dir noch erklären, dass -“

Er hob abwehrend die Hand, die die Kaffeetasse hielt, und krauste gespielt grübelnd die Stirn. „Ja, ja, wie war das noch? Also, abhängig von den Ereignissen jetzt verzweigt sich jedes Universum in neue Universen. So wie meine Entscheidung, diesen grässlichen Kaffee zu trinken, zu diesem Universum geführt hat. In einem anderen habe ich ihn weggeschüttet, in wieder einem anderen -“

„Habe ich dich, weil du mir den Kaffee klaust, aus der Wohnung geworfen. So wie du hier stehst. In Unterhose“, sagte Anni und strahlte ihn an.

„Natürlich, Schatz“, fuhr Carl ungerührt fort. „Deswegen gibt es unendlich viele Universen. Die in jeder Sekunde immer mehr werden. Auf eins mit einem exakten Doppelgänger zu treffen, ist daher eher unwahrscheinlich.“

„Hmmm“, machte Lissa. „Sehr laienhaft ausgedrückt. Aber ja: Nach der Quantenmechanik teilt sich das Universum, falls es eine Wahl zwischen mehreren Zuständen gibt. Also du in Unterhose in der Küche oder draußen vor der Tür.“ Carl lachte. „Alle diese möglichen Zuständen werden realisiert. Damit verzweigt sich das Universum in immer mehr Paralleluniversen. Die übrigens identisch sind bis auf das Ereignis, das zur Spaltung geführt hat. Und wenn man sich vorstellt, wie viele dieser Ereignisse zu jedem Zeitpunkt auf jeder Ebene stattfinden! Ich meine, es sind auch Ereignisse wie, ob ein radioaktives Atom irgendwo jetzt gerade zerfällt, oder -“

„Stopp!“, unterbrach Anni sie energisch. „Verstanden, Lissa!“

„Entschuldigt.“ Lissa zuckte mit den Achseln. Es war ihr nicht neu, dass ihre Freunde genervt auf ihre Vorträge reagierten. Sie lebte für die Wissenschaft und da gingen die Pferde manchmal mit ihr durch. „Es ist nur so aufregend! Welt 001 ist unserer so ähnlich! Die Atmosphäre ist fast genau die gleiche wie bei uns und es gibt Pflanzen und Tiere! Gut, wir wissen nicht, ob der ganze Planet aus Wüste besteht oder nicht. Soweit kommt die Drohne des Rovers nicht. Vielleicht gibt es -“ Sie hielt inne und hob beschwichtigend die Hände. „Ich höre auf, versprochen!“

Carl sah sie versonnen an. „Wer weiß, vielleicht triffst du auf Welt 001 endlich mal einen Mann, der mit dir fertig wird. Nicht so wie Ben.“

Dass Carl die Sache mit Ben gerade jetzt ansprechen musste! Anni, die Lissas Gesichtsausdruck richtig interpretierte, stieß ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite. „Halt die Klappe, Carl! Das sind nur noch acht Monate, Lissa!“

Es traf sie wie ein Schlag. In acht Monatenwürde sie losfliegen. Und bis dahin neben der weiteren Auswertung der Daten des Rovers die Expedition vorbereiten. Die Teammitglieder kennenlernen. Die Ausrüstung zusammenstellen.

All die Bewerbungsschleifen, Tests und das lange Training hattensich gelohnt. Kurse, in denen sie Raumfahrt, Aerodynamik und Raumflugmechanik gebüffelt hatte. Lernte, wie sie die Raumfähre, mit der sie durch das Wurmloch fliegen würde, bediente und wartete, und in ihr Experimente durchführte. Das harte körperliche Training, in dem sie die Schwerelosigkeit in sich im steilen Sinkflug befindenden Flugzeugen erlebt hatte, in Zentrifugen umhergeschleudert wurdeund Überlebensübungen in der Wildnis machte.

„Erde an Lissa“, holte Annis Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. „Alles in Ordnung?“

„Was? Oh, entschuldigt. Ja, alles okay. Es ist nur irgendwie beängstigend, dass es plötzlich wahr wird.“

„Frau Doktor Elisabeth de Vries“, sagte Anni tadelnd. „Du hast dein ganzes Herzblut in diese Sache gesteckt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Zeit mit seiner Arbeit verbringt! Jetzt mach dir bloß nicht in die Hose!“

„Stimmt.“ Carl nickte. „Die vielen Abende, an denen du uns mit Wurmlöchern und außerirdischen Staubkörnern gelangweilt hast, müssen sich doch gelohnt haben. Also, freu dich gefälligst!“

Lissa kicherte. „Ihr seid unmöglich. Natürlich freue ich mich! Und überhaupt habe ich nie etwas über Staubkörner gesagt! Aber die Moose, die wir mit dem Rover analysieren -“

„Muss weg. Dusche“, verabschiedete Carl sich eilig und drückte Anni den leeren Kaffeebecher in die Hand.

„Feigling!“, rief Anni hinter ihm her. „Das feiern wir! Heute Abend haben wir doch alle frei. Wir kaufen etwas Leckeres ein und machen ein schönes Dinner!“

„Eine tolle Idee!“ Lissa drückte ihrer Mitbewohnerin einen dicken Schmatzer auf die Backe. „Ich seh mir die Nachricht von Mac noch mal an. Er hat erwähnt, wer sonst noch an der Expedition teilnimmt. Das habe ich in der Aufregung vollkommen überhört!“

„Lasst mich nur hier stehen!“, maulte Anni. „Ich kümmere mich um das Frühstück, während ihr der Körperpflege nachgeht und Hologramme anguckt!“

„Danke!“, kam Carls Stimme aus dem Bad.

„Ja, danke dir!“, rief Lissa, schon längst wieder an ihrem Schreibtisch.

Sie gab den Sprachbefehl, die Nachricht abzuspielen, und Macs Gesicht tauchte vor ihr auf.

John MacAlastair, genannt Mac, Raumfahrtingenieur und ehemaliger Kampfpilot, war einer ihrer Ausbilder beim Raumfahrttraining gewesen. Er trug sein rotes Haare militärisch akkurat getrimmt. Sein Shirt zeigte das Logo der GSA, einem von Olivenzweigen umgebenen Erdkreis, über dem sieben Sterne standen, für jeden Kontinent einen.

„Hallo, Lissa! Ich habe gute Neuigkeiten. Mission EPU-001 ist genehmigt und du wirst zum Expeditionsteam gehören. Das ich leiten werde. Die offizielle Bestätigung kommt per E-mail, aber ich wollte dir schon mal Bescheid geben. Wir starten am 3. September. Neben dir wird übrigens Rio Almeida als zweiter Biologe mit an Bord sein. Ein paar Teammitglieder müssen noch bestätigt werden, aber das sollte in den nächsten drei bis vier Wochen durch sein. Deswegen habe ich jetzt schon das erste Teambriefing festgesetzt. Am Donnerstag, 1. März, in Nowosibirsk. Schick mir eine kurze Nachricht, damit ich weiß, dass du da sein wirst. Bis dahin!“

Rio, einer ihrer ehemaligen Dozenten, hatte das Astronautentraining mit ihr durchlaufen. Das Programm hatte sie nach Houston, ins chinesische Jiuquanund nach Star City in der Nähe von Moskau geführt. Und zum GSA-Center bei Nowosibirsk, das mit dem Projekt EPU, der Erforschung von Paralleluniversen, betraut war.

Lissa zeichnete eine Antwort auf, in der sie bestätigte, dass sie zum Briefing in Nowosibirsk sein würde. Sie lachte, als sie sie vor dem Versenden noch einmal abspielte. Ihre kurzen dunkelblonden Haare standen wirr vom Kopf ab. Man sah an den Ringen unter den Augen, dass sie nicht geschlafen hatte, war die Nacht doch für den Forschungsartikel draufgegangen, in dem es um die Moose auf Welt 001 ging. Sie arbeitete für die GSA in einem Labor der Goetheuniversität Frankfurt und pendelte regelmäßig nach Nowosibirsk. Aber diese Arbeit würde nun erst einmal der Vergangenheit angehören!

„Nun ja, Mac geht es nicht um meine Model-Qualitäten“, sagte sie zu niemand Besonderem, schickte die Nachricht ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

Ihr Schreibtisch stand am Fenster, aus dem sie einen Blick zwischen Wohnhochhäusern hindurch in die Ferne hatte zur schemenhaften Skyline Frankfurts. In ihrer Nachbarschaft stand ein Block neben dem nächsten, beengten Wohnraum bietend in einer Region, die schon vor Jahrzehnten überbevölkert gewesenwar. Jeder Wohnturm war von Bändern von Balkonen umschlungen, auf denen im Sommer Blumen, Sträucher und Gemüse wuchsen. Auf den Dächern wetteiferten Sonnenkollektoren um den knappen Platz. Zwischen den Türmen lagen Gärten und Kinderspielplätze, in Ordnung gehalten von eifrigen Rentnern. Doch Lissa war in Gedanken woanders als bei Rentnernund dem Katz und Mausspiel, dass die sich mit Jugendlichen, die sich gern auf den Spielplätzen zusammenrotteten, lieferten.

Sie sagte: „Eva anrufen.“

Eva, ihre Pflegemutter. Lissawar fünf Jahre altgewesen, als ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Noch heute erinnerte sie sich, wie eine fremde Frau bei der Nachbarin, die auf sie aufgepasst hatte, auftauchte und ihr mit vorsichtigen Worten erklärte, dass ihre Mama und ihr Papa nun im Himmel seien. Lissawar wortlos aufgestanden und auf die Terrasse gegangen, wo sie den Kopf in den Nacken legteund in den Himmel sah. Es war Abend, die Sonne schon untergegangen, ein warmer Wind wehte. Sternefunkelten. „Sind Mama und Papa auf einem der Sterne da?“, wollte sie wissen. Die Nachbarin schluchzte auf und die fremde Frau legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja, das sind sie“, hatte sie gesagt. Erst da hatteLissa angefangen zu weinen. Die Sternewarenweit weg und Mama und Papa würden nicht wiederkommen.

Eva warschon auf. Ihre grauen Locken tanzten und ihr Lächeln vertiefte die Falten um die Augen. „Lissa, so schön dich zu sehen! Hast du schon was gehört?“

„Hallo Eva! Ja, deswegen melde ich mich. Ich habe die Mission!“

„Herzlichen Glückwunsch! Anton, hast du das gehört?“ Im Hintergrund hörte LissaAnton, Evas jüngstes Pflegekind, etwas sagen, konnte ihn aber nicht verstehen. Er war wahrscheinlich in einem Spiel unterwegs, hatte die Augmented Reality Brille aufgesetzt und das Wohnzimmer in ein feuchtes Verlies verwandelt. Anton präferierte Spiele, die im Mittelalter angesiedelt waren und in denen möglichst viele Monster getötet werden mussten.

„Ich denke, sein muffeliges Gebrabbel soll ebenfalls ‚herzlichen Glückwunsch‘ bedeuten“, sagte Eva kopfschüttelnd. „Teenager! Und, wann geht es los?“

Sie berichtete noch einmal von der Mission. „Es ist unfassbar, dass sich das jetzt so erfüllt“, meinte sie am Schluss. „Tausende hattensich bei der GSA um Laborstellen und das Astronautentraining beworben. Schon die befristete Stelle alsAstrobiologinwar so ein ungeheurer Glückstreffer, vom Astronautentrainingganz zu schweigen! Und jetzt gehöre ich zu den ersten Menschen, die eine Parallelwelt erforschen werden! Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass sie nur erfahrene Astronauten auf diese Mission schicken und ich zum Mond oder zum Mars fliegen würde.“

„Ich freue mich so für dich!“, rief Eva. „Wann geht es denn los?“

Nachdem Lissa ihr den Ablauf geschildert hatte, sagte Eva: „Mich beruhigt, dass du nicht so lang im Weltraum herumfliegen wirst. Lustig, dass der Flug in ein anderes Universum so viel kürzer ist als bis zum Mars. Wirklich nur zehn Tage? Nein, du brauchst es nicht zu erklären, Liebes, ich verstehe es ja doch nicht. Es klingt toll! Du hast es verdient!“

„Du hast deinen Teil dazu beigetragen.“

Ihre Pflegemutter lächelte verhalten. Sie sprachen kaum über Lissas erste Jahre bei ihr. Es war eine schwierige Zeit gewesen. Nachdem sie sich eingelebt hatte, schien alles gut zu werden, bis es zu diesem einen Erlebnis kam. Lissa warinzwischen routiniert genug, um es zu verdrängen. Damals, als Kind, hatte es diese Routine nicht gegeben, hatte sie Panikzustände erlebt, nächtelang geweint, undwar in psychologischer Betreuung gewesen. Jahre späterhatte sie endlich gelernt, damit umzugehen. Alle, auch Eva, waren der Meinunggewesen, es sei eine verspätete Reaktion auf den Verlust ihrer Eltern. Lissa hatte gelernt, sich nach außen hin dieser Meinung anzuschließen, aber tief drinnen war sie überzeugt, dass es real gewesen sein musste. Auch wenn sie es nicht erklären konnte.

„Nein, es ist dein Verdienst, Lissa, das Ergebnis harter Arbeit. Ich bin so stolz auf dich. Warte, bis ich allen Nachbarn erzählt habe, dass meine Pflegetochter Astronautin ist!“

Lissa lachte. „Der alten Meierbrinks wird das gar nicht passen.“

„Ihr werde ich es besonders reinreiben. Ich habe mir lange genug die Erfolgsgeschichten ihres Enkels anhören müssen. Jetzt bin ich dran!“

„Viel Spaß dabei!“

Eva lächelte. „Deine Eltern wären stolz auf dich, Lissa.“

Ja, das wären sie. Lissa erlaubte sich einen Anflug von Wehmut. „Es wäre schön, wenn sie es noch erlebt hätten.“

„Das stimmt. Du kommst vor deiner Abreise nach Nowosibirsk sicher noch einmal zu Besuch, oder?“

„Aber natürlich! Ich erlaube dir sogar, mich dann der alten Meierbrinks vorzuführen.“

Eva lachte. „Wie ich mich darauf freue!“

2

Alocas, Soldat der Schwadronen, war von einer Erkundung zurückgekehrt, als sein Kommandant ihn zu sich rief.

Er hatte am Tag zuvor eine Gelehrte, die sich weigerte, nach Nyx zurückzukehren, auf der Wasserwelt Pontos aufgespürt. Es war eine einfache Erkundung gewesen. Die Gelehrte ließ sich durch ihren Kommunikator leicht orten. Sie war mit einem der Nicors, der Wassermänner, zusammen undbeschworAlocas sie laufen zu lassen. „Bitte, Soldat, er ist mein Seelengefährte!“, hatte sie unter Tränen gefleht. Alocashatte den Kopf geschüttelt. Das Dekret besagte, dass alle zurückkehren mussten, ohne Ausnahme. Er löschte die Erinnerung des Wassermanns und brachte die Gelehrte zurück. Was er den Gefängniswärtern übergab, war eine gebrochene Frau, aber es war ein Auftraggewesen. Er erledigte Aufträge ohne Wenn und Aber.

„Hubur, der Vorsitzende des Hohen Rats, hat eine neue Erkundung für dich“, informierte ihn der Kommandant.

Sie standen auf der Galerie einer der Trainingshallen und beobachteten den Drill der Rekruten auf der weiten Fläche unter ihnen. Sie übten Verteidigungstechniken des Nahkampfs, warfen mit lautem Brüllen ihre Trainingsgegner zu Boden. „Es geht um Gaia. Er möchte mehr Informationen über die Portaltechnologie, die sie dort entwickeln.“

Alocas war überrascht. Nicht sosehr, dass man ihn für eine Erkundung auf Gaia ausgewählt hatte. Er kannte sich mit gaianischen Gepflogenheiten bestens aus, sprach die notwendigen Sprachenundmusstesichals Angehöriger des Volks der Syd nicht wandeln, sein Aussehen nicht verändern. „Aber wäre das nicht etwas für einen Gelehrten? Gut, ich habe die Vorbildung, um die Gaianer zu täuschen, könnte aber nicht die Forschungen über die Technologie anstellen, die der Hohe Rat erwartet.“

„Es geht um die Sammlung von Informationen, nicht um Forschungen. Hubur vermutet, dass es bei der Entwicklung der Technologie nicht mit rechten Dingen zugeht. Falls diese Vermutung zutrifft, möchte er einen Soldaten vor Ort wissen. Er erwartet dich im Portalraum.“

Damit begab Alocas sich zum Portalraum, der in der sechzehnten und untersten EbeneSakallas, der Hauptstadt von Nyx, lag. Man erreichte den Raum nur über die Säle des Hohen Rats. Hubur und seine langjährigen Weggefährten, die drei anderen Ältesten, hatten so volle Kontrolle über diesen Raum und über die Schlüssel, mit denen man temporäre Portale schaffen konnte.

Bis auf ein gelegentlichesleises Wummern, das die Ankunft eines Transports in der zwei Ebenenhöher gelegenen nördlichen Station ankündigte, war es still. Die Wände des Raums, der im Kontrast zu seiner gewichtigen Rolle als Durchgang zu den Sphären kleinund unscheinbar erschien, bestanden aus grauschwarzem Gestein, in dem Mineralkörner funkelten. Die beiden Portalwächter hielten sich diskret im Hintergrund. Orange und rot glühende Lichtpunkte neben der Tür zeigten, dass die Kraftfelder aktiv waren. Wäre Alocas Biosignatur nicht als für den Portalraum autorisiert geführt worden, hätten ihn die Kraftfelder in ein Stück gegrilltes Fleisch verwandelt.

An Mobiliar gab es einen Eisentisch, an ihm eine Bank aus verschlungenem Drahtgeflecht. Ein kleiner Metallkasten befandsich auf dem Tisch. Die Gasleuchte an der niedrigen Decke warf ein schummriges gelbes Licht und die reihum an den Wänden montierten mannshohen Portale waren, bis auf das, vor dem sie standen, schwarz. Der Tunnel nach Gaia warf eine blendende Lichtspur auf den felsigen Boden.

„Dein Kommandant wird dir gesagt haben, dass es um die Portaltechnologie auf Gaia geht“, begann Hubur, nachdem sie sich grüßend zugenickt hatten. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Sein Umhang raschelte auf dem Steinboden. „Sie haben vor mehr als zehn Sonnenumrundungen mit der Entwicklung angefangen, es aber bis vor kurzem nicht weit gebracht. Gelehrte, die wir über die Jahre eingeschleust hatten, berichteten von Problemen mit der Energieversorgung und der Stabilisierung der Tunnel, die die Gaianer nicht in den Griff bekamen. Wir waren der Meinung, dass es mindestens noch zwei Generationen dauern würde, bis sie Portale zu den Sphären erschaffen können. Es sah sogar so aus, als würden sie die Entwicklung der Portaltechnologie ganz aufgeben. Also zogen wir unsere Beobachter ab.“ Er krauste die Stirn. „Nun, es hat sich gezeigt, dass wir uns geirrt haben. Vor knapp einer Sonnenumrundung konnten sie plötzlich einen stabilen Tunnel erzeugen. Und haben jetzt eines ihrer Raumschiffe zu der Welt am anderen Ende des Tunnels geschickt.“

Alocas hob die Augenbrauen. Das wartatsächlich ein rasanter Fortschritt.

„Wie du weißt, haben wir, als wir von den stabilen Tunneln erfahren haben, das Reisen zu den anderen Sphären erst einmal verboten. Zu allen Sphären, um sicherzugehen. Diese schnelle Entwicklung war uns nicht geheuer.“

„Du vermutest, dass jemand ihnen geholfen hat.“

„Ja“, bestätigte Hubur düster. „Wieso und warum, kann ich nicht sagen, aber die Gaianer haben von einem Tag auf den anderen fundamentale Änderungen an ihrer Technologie vorgenommen, die die gewünschten Resultate erbrachten. Technologie entwickelt sich von alleine nicht so schnell.“

„Jemand von Nyx, ein Gelehrter, hat geholfen?“

„Ja.“

„Weißt du, wer?“

„Nein.“

Alocas musterte den Ratsvorsitzenden verwirrt. „Aber du bist sicher, es war ein Nyxaner?“

„Soweit wir bei den jetzigen Erkenntnissen sicher sein können. Das Raumschiff, das den Tunnel durchquert hat, ist auf der Welt, die sie entdeckt haben, gelandet. Es war unbemannt. Sie setzen dort ein Fahrzeug ein, das Bilder macht. Ein paar von denen sind jetzt veröffentlicht worden, der Portalwächter auf Gaia hat sie geschickt. Eines zeigt die drei Monde.“

Alocas runzelte die Stirn. Die besondere Form der Monde von Nyx – drei unregelmäßige Kugeln umgeben von Ringen aus grauem Eis und Gesteinsbrocken – war unverwechselbar. Die Gaianer hatten Nyx entdeckt. Oder eine Sphäre, die Nyx sehr ähnlich war.

Hubur fuhr fort: „Die Bilder reichen nicht, um mit Sicherheit zu sagen, ob es sich um Nyx handelt. Oder um den Ort, an dem sich der Tunnel öffnet, zu bestimmen. Auf keinem sind Sternbilder zu erkennen. Die Bilder zeigen eine Wüste. Wir suchen mit Gleitern nach dem Raumschiff und dem Fahrzeug, aber das Gebiet, wo sie sein könnten, ist riesig.“ Nyx hatte einen Kontinent, Rydinia, der etwa ein Drittel des Planeten ausmachte. Zwei Drittelwaren von Wasser bedeckt. Die Küstenregionen waren bevölkert und fruchtbar. Im Innern des Kontinents lagen gigantische Trockengebiete. Diese Gebiete, meist Steinwüsten, waren unbewohnt, wenn man von verstreuten Erzminen und Eremiten, die sich einem Leben in der Wildnis verschrieben hatten, absah. Es gab Bergketten, deren Aussehen sich unter dem Einfluss von Wind und Wetter ständig veränderte. Felszinnen wurden innerhalb weniger Sonnenumrundungen zu flachen Hügeln, während anderswo der Sturm neue Felsformationen vom Sand befreite. So boten die Wüsten kaum Anhaltspunkte für Ortsbestimmungen, es sei denn, man hatte einen klaren Himmel mit freier Sicht auf Sternbilder.

„Könnten wir die Fahrzeuge oder den Tunnel nicht über Radiowellen orten?“

„Wir versuchen es, bisher aber ohne Erfolg. Der Tunnel wurde verkleinert, um Energie zu sparen und ist daher nicht zu orten. Was das Fahrzeug angeht, hat der Portalwächter herausgefunden, dass es in unregelmäßigen Abständen und nur sehr kurz Daten sendet, auf wechselnden Frequenzen und mit einem Verschleierungssignal. So können wir es nicht finden. Oder wir finden es nicht, weil sich das Fahrzeug nicht in unserer Sphäre befindet. Das wäre der beste Fall.“

„Also ist meine Aufgabe, festzustellen, wo sich der Tunnel öffnet. Beziehungsweise, ob sie tatsächlich Nyx gefunden haben.“

„Ja, das ist dein dringlichster Auftrag.“ Hubur seufzte. „Aber es gibt eine weitere Komplikation: Die Gaianer haben angekündigt, eine Expedition zu schicken. In etwas weniger als einer Sonnenumrundung.“

Alocas zischte einen Fluch undHubur nickte. „Wir werden dich in die Anlage der Gaianer einschleusen. Und in das Expeditionsteam. Wie gesagt, dein dringlichster Auftrag ist, festzustellen, ob sie tatsächlich Nyx gefunden haben. Falls nicht, kannst du zurückkehren. Falls doch, nimmst du an der Expedition teil. Deine Aufgabe wird dann sein, uns Informationen über die Portaltechnologie und ihre schnelle Entwicklung zu beschaffen. Mit Fokus auf die Identifizierung desjenigen, der das alles ermöglicht hat. Es ist anzunehmen, dass er an der Expedition teilnimmt. Warum hätte er helfen sollen, den Tunnel zu bilden, wenn er ihn nicht nutzt?“

„Du glaubst, dass er sich noch in der Anlage befindet?“

„Es wäre möglich. Trotz des Dekrets gibt es immer noch Gelehrte, die nicht zurückgekommen sind. Du selbst hast ja gerade erst jemanden zurückgeholt. Die Liste derjenigen, die auf Gaia verschollen sind, und alle anderen Informationen zu deiner Erkundung findest du da.“ Er deutete auf den auf dem Tisch stehenden Metallkasten. „Es sind insgesamt vierzehn Nyxaner, zwölf Gelehrte und zwei Soldaten, die noch unter Davdrut auf Gaia verschwunden sind. Vielleicht sind die beiden Soldaten tot, wer weiß. Aber wir haben keine Wahl, wir müssen sie finden. Bei unserer Langlebigkeit besteht die Chance, dass sie noch nicht gestorben sind. Kameraden von dir befinden sich auf Gaia, um sie zu suchen. Wir sagen dir Bescheid, sobald sie jemanden gefunden haben, das reduziert die Anzahl der Verdächtigen. Es sind Bilder der Gelehrten dabei, aber verlasse dich nicht darauf. Derjenige, den wir suchen, wird sich wahrscheinlich gewandelt haben. Er wird sich schon länger auf Gaia aufhalten.“

Das machte Sinn. Eine Wandlung, das Suggerieren eines anderen Aussehens mithilfe von Geisteskräften, war normalerweise nicht zu durchschauen. Als es gelungen war, Biosignaturen, die einzigartige chemische und biologische Zusammensetzung jedes Lebewesens, zu identifizieren, hatte man die Kraftfelder um den Portalraum entsprechend eingerichtet. Biosignaturenändertensich durch Wandlung nicht. Auchwaren sie zu komplex, um den Kraftfeldern mit Geisteskräften suggerieren zu können, dass man die Signatur einer autorisierten Person hatte. So reisten nur die, die der Rat dazu ermächtigt hatte. Allerdings war dieser Durchbruch erst vor wenigen Sonnenumrundungen gelungen. Davor hatte man gewandelt durch die Portale reisen können, ohne dass es auffiel.

„Warum sollte jemand von Nyx den Gaianern helfen wollen?“ Alocas nahm den Metallkasten an sich. „Wenn, dann war es ein Gelehrter, der so und so zu den Sphären und zurück reisen durfte. Warum sollte so jemand einen derartigen Aufwand treiben wollen, um einen Tunnel nach Nyx zu bekommen?“

„Das ist es, was wir nicht verstehen. Wenn der Tunnel nach Nyx führt, macht es, wie du richtig sagst, keinen Sinn. Und wenn er zu einer Nyx ähnlichen Sphäre führt? Keine Ahnung. Wir hoffen, dass deine Erkenntnisse uns weiterhelfen werden.“

„Und dass niemand den Gaianern geholfen hat, ist nicht wahrscheinlich?“

„Möglich wäre es. Einige der Gelehrten sind der Meinung, dass die Gaianer die Portaltechnologie selbst entwickeln können. Und durchaus auch schnell. Dass sie ausgerechnet einen Tunnel nach Nyx öffnen, liegt auch im Rahmen des Möglichen, sagen sie. Man kann theoretisch zwar Tunnel zu jeder Sphäre öffnen, aber stabile Tunnel, durch die man reisen kann, gibt es nur zu wenigen. Wir selbst haben ja sechzehn, was in Anbetracht der unendlich vielen Sphären vergleichsweise lächerlich ist. Ein Gelehrter meint, dass unser Tunnel nach Gaia zu einer Anomalie führt, die den Gaianern bei der Suche nach stabilen Tunneln die Sphären liefert, zu der es schon welche gibt. Also Nyx.“

„Verstehe. Es ist also alles möglich.“ Das machte seine Erkundung nicht einfacher. Jemanden zu suchen, von dem man nicht wusste, ob es ihn überhaupt gab und wie er aussah, würde schwierig werden. Aber eins nach dem anderen: Zunächstmusste er feststellen, ob die Gaianer tatsächlich Nyx gefundenhatten. Vielleicht löste sich das Ganzeso in Wohlgefallen auf.

„Ja, du darfst nichts ausschließen. Im besten Fall haben sie alles selbst entwickelt und nur eine Sphäre, die Nyx ähnlich ist, gefunden. Im schlechtesten Fall-“ Er stockte. „Wir müssen gegebenenfalls Maßnahmen gegen die Gaianertechnologie ergreifen. Deswegen wollte ich einen Soldaten dort einschleusen und keinen Gelehrten.“

Alocas nickte. Notfalls musste die Gaianertechnologie zerstört werden. „Verstanden. Wie kommunizieren wir?“

„Durch den Tunnel“, sagte Hubur. „Der Schlüssel, den du in dem Kasten findest, lenkt ihn auf deinen jeweiligen Aufenthaltsort auf Gaia. Du kannst ihn nutzen, um zu kommunizieren und im Notfall schnell zurückzukehren. Das aber wirklich nur im Notfall. Nimm das permanente Portal für Reisen.“ Um einen Tunnel passieren zu können, musste man ihn vergrößern. Dazu benötigte man ungeheure Mengen an Energie, was wegen des daraus entstehenden Lärms und Bebens der Erde nicht unbemerkt bleiben würde. In den Sphären warenpermanentePortale daher in einsamen Gegenden eingerichtet. Die Kommunikation hattediese Auswirkungen nicht.

Hubur räusperte sich. „Noch etwas: Nur wenige wissen von dieser Erkundung. Neben mir und deinem Kommandanten auch meine Stellvertreterin Jeqon, die drei anderen Ältesten und ein paar Gelehrte, denen ich vertraue. Sprich also mit niemandem darüber. Solange wir nicht wissen, ob und warum den Gaianern geholfen wurde, will ich es bei diesem kleinen Kreis belassen.“

„Verstanden“, wiederholte Alocas.

„Wir haben den Tunnel zu der Gegend, in der du tätig wirst, umgelenkt, damit du dir ein erstes Bild machen kannst.“ Hubur deutete auf das erleuchtete Portal, in dem sich ein Bild von Gaia in einer Kugel zeigte, die umrahmt war von dem verzerrten Spiegelbild des Portalraums. Flaches Land mit weit auseinanderstehenden Bäumen auf dicken Teppichen aus niedrigen mit Schnee überstäubten Sträuchern, Gräsern und Moosen, aus denen vermodertes Holz ragte. Ein blassblauer wolkenloser Himmel darüber. Grelles Sonnenlicht. Zwischen den Bäumen der Ausblick auf eine große Ansammlung von Bauwerken, die umgeben waren von einer doppelten Zaunreihe, hinter der Wachposten in dunklen Uniformen patrouillierten.

„Du wirst morgen reisen. Finde dich beim ersten Tageslicht hier ein, ich werde das Portal öffnen. Der Portalwächter wird dich auf Gaia erwarten, ausstatten und unterweisen.“ Hubur sah Alocas scharf an. „Es versteht sich von selbst, Soldat, aber ich sage es trotzdem: Sei vorsichtig. Wir müssen auf Gaia jedes Aufsehen vermeiden. Es ist aufwändig, dich einzuschleusen, da die Gaianer hohe Sicherheitsvorkehrungen haben. Ist das klar?“

3

Eine gefühlte Ewigkeit war Morrigu nun auf Gaia gestrandet. Es gab schlimmere Orte, an denen man feststecken konnte, aber sie vermisste Nyx sosehr, dass es schmerzte. Nachts träumte sie von der Wildheit ihrer Heimatwelt.

Sicher, Gaia war lieblich. Die Witterung war moderat und nie hatte sie so blaues Wasser oderso grüne Landschaften gesehen. Es war nicht verwunderlich, dass die Mystiker Gaia alshöchsteSphäre ansahen, die letzte, in der man auf seiner Seelenwanderung wiedergeboren wurde, bevor man ins Paradies einging. Doch es war nicht ihre Heimat.

Unddann das Dekret, das ihren ohnehin schwierigen Auftragfast unmöglich machte. Sie hatteLuhiundIlu, die zuletzt für Haagenti an dem Projekt der Gaianer gearbeitet hatten, zurückschicken müssen. Beide waren für den Hohen Rat auf Gaia und ihre eigentlichen Forschungsaufträge, irgendwelche sinnlosen Beobachtungen von Atomkraftwerken, wurden durch das Dekret gestoppt. Falls sie nicht zurückgingen, würden die Schwadronen sie holen und sie hättenvielleicht mehr verraten, als den Davdrutlieb sein konnte. Beide hatten von Haagenti gezwungen werden müssen, für die Davdrut zu arbeiten, und sie würden in einer Befragung zusammenbrechen.

Morrigu hatte sich nach dem Dekret noch tiefer eingegraben.

Sie war vor langer Zeit mit dem NamenundAussehen einer von Haagenti getöteten Gelehrten nach Gaia gereist. Ihre Legenden hatte sie danach alle paar Jahre geändert, hatte jede von ihnen solange genutzt, wie sie ihr die Teilnahme am Projekt der Gaianer erlaubte. Wandlungen hatte sie irgendwann bleiben lassen, weil sie anstrengend waren, undsich auf die auf Gaia üblichen Arten, sich zu verändern, verlassen, mit neuen Frisuren, Haarfarben und Kosmetik.

Ursprünglich hatte sie für Haagenti herausfinden sollen, wie es um die Portaltechnologie der Gaianer stand. Als klar wurde, dass die Gaianerallein nicht vorankamen, hatteHaagenti ihr befohlen zu bleiben und begonnen, Gelehrte zu schicken, die den Gaianern auf die Sprünge halfen.

Ihre Aufgabe änderte sich. Sie passte auf die Gelehrten auf. Nur die Wenigsten von ihnen arbeiteten neben ihren offiziellen Forschungen aus Überzeugung für Haagenti. Morrigu stelltesicher, dass sie auf Gaia nicht die Gelegenheit zur Flucht ergriffen und erinnerte in regelmäßigen Abständen an die Familien auf Nyx, die leiden würden, falls man nicht spurte. Oder nach der Rückkehr nach Nyx den Hohen Rat alarmieren wollte.

Jetzt war sie wiederallein. Sie war perfekt positioniert. Aber das allein reichte nicht, um den Plan erfolgreich auszuführen, wie sie kurz nach der Abreise von LuhiundIlu feststellen musste. Plötzlich sprachen die Gaianer von Kosteneinsparungen undänderten einige Modifikationen an der Raumfähre, die durch den Tunnel fliegen sollte. Dummerweise waren es von Haagenti benötigte Spezifikationen. Ihr erstes Entsetzen darüber wargroßgewesen. Panik war in ihr aufgestiegen. Haagentiwürde außer sich sein und in seiner Wut war er fürchterlich. Nächtelang hatte sie nicht geschlafen, dachte über nichtsanderes mehr nach.

Dannhatte sie eine Idee gehabt. Einer von Haagentis Gelehrten könnte ihr Lösungsvorschläge senden, die sie den gaianischen Technikern zuspielen würdeund damit die Spezifikationen rettete. Das hatte nicht geklappt. Da ihr Standort war für eine Kommunikation nach Nyx zu weit vom Portal entfernt war, hatte sie die mühsame Reise dorthin wieder einmal auf sich genommen, nur um festzustellen, dass die Nachricht nicht gesendet werden konnte. Das Portalwartatsächlichgeschlossen worden. Nichtswürde es durchdringen.

Sie war von Nyx abgeschnitten, wirklichundwahrhaftigabgeschnitten. Sicher, das Portal würde ab und zu für die Kommunikation zwischen den Wächtern auf Gaia und dem Hohen Rat geöffnet werden. Nur leider konnte sie hier nicht hinter diesen Büschen kauern bleiben und warten, ob und bis das geschah. Sie musste in der Anlage der Gaianer sein. Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung dessen eingesunken war.

Sie musste sehen, wie sie allein weiterkam.

Es gab nur eine Möglichkeit. Irgendwiemusste es ohne die Spezifikationen an der Raumfähre funktionieren. Sie würdees genau durchdenken und eine Lösung finden.

Ihr Lohn warHaagentis Dankbarkeit und der Platz an seinerSeite, alsseine Königin. Dafür war sie bereit, alles zu geben.

4

Das GSA-Center zur Erforschung von Parallelwelten lag auf einem zehn Quadratkilometer großen, schwer gesicherten Areal nördlich von Nowosibirsk.

Die GSA warals Zusammenschluss der nationalen Weltraumbehörden gegründet worden. Sie unterstand den Vereinten Nationen und führte Weltraummissionen durch, die für ein einzelnes Land zu teuerwaren. Zu den Missionen gehörten der Bau des Mondobservatoriums und die Marsexpeditionen.

Die Erforschung von Parallelwelten war ein Zufallsprodukt gewesen. Man hatte versucht, Wurmlöcher zur Verkürzung von interstellaren Reisen zu bilden, undwar auf Wege ins Multiversum gestoßen, kurz bevor die Bemühungen um die Wurmlochtechnologie nach jahrelangen Fehlschlägen eingestellt werden sollten. Insofern grenzte es an ein Wunder, dass sich in Kürze eine Expedition auf den Weg in ein Paralleluniversum machenwürde.

Lissa war am Tag vor dem von Mac anberaumten Briefing eingetroffen. In Sibirien herrschte noch strenger Frost. Das E-Taxi, das sie am Flughafen abgeholt hatte, fuhr zwischen den roten und grauen Hochhäusern Nowosibirsks hinaus auf das flache Land. Der Himmel war wolkenlos und tiefblau, Birken und Lärchen streckten sich ihm entgegen. Die Fahrt auf der gefühlt schnurgeraden Straße, vorbei an kleinen Ortschaften mit holzverschalten Häusern, deren Gärten von Zäunen aus Latten oder Maschendraht geschützt wurden, war lang. Das Taxi war eines von der altmodischen Sorte. Nicht selbstfahrend, sondern mit einem Fahrer, der pausenlos von den Wissenschaftlern, die er gefahren hatte, erzählte. Als sie sich der Anlage näherten, zeigte er auf einige ramponierte Hütten am Straßenrand. An schief stehenden Holzstangen hängende Stoffbanner flatterten im Wind. Die auf sie gemalten Slogans waren verblasst. Die Tür zu einer der Hütten stand auf. Am Straßenrand lagen ein verrostetes Bettgestell und zerbrochene Stühle, halb von grauem gefrorenem Schneematsch bedeckt.

„Demonstranten!“, rief er empört in seinem gebrochenen Englisch. „Wollen, dass Forschung aufhören! Jetzt, wo Winter, heim zu Mamochka an warmen Ofen! Wenn Schnee weg, Hütten bauen, Zelte bauen! Demonstrieren! Pah!“

Das Projekt zur Erforschung von Parallelwelten war umstritten. Es gab Wissenschaftler, die Bedenken wegen der Erzeugung von Wurmlöchern hatten. Sie befürchteten die Entstehung von schwarzen Löchern, die die Erde zerstören könnten. Einige laufende Gerichtsverfahren beschäftigten sich mit der Frage, ob die Wurmlochtechnologie verboten werden müsste.

Dann gab es esoterischere Ängste. Es war die Rede von Aliens, die auf die Erde kommen könnten. Von einer krankmachenden Strahlung, die durch die Technologie verursacht wurde. Oder von geheimnisvollen Eliten, die durch das Wurmloch außerirdische Technologie auf die Erde holen wollten, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Wobei unklar blieb, wer diese ‚Eliten‘ sein sollten und warum sie die Weltherrschaft anstrebten, wenn sie sowieso schon die Elite waren.

Die Gegner der Technologie kamen seit der Einweihung der Anlage jeden Sommer hier zusammen. Die GSA hatte versucht, das Hüttendorf verbieten zu lassen, es aber nur geschafft, Mitgliedern einer radikalen Gruppierung, die offen für Anschläge auf die Anlage plädierte, den Aufenthalt zu untersagen.

Als Konsequenz waren die Sicherheitsmaßnahmen erhöht worden. Neben den allgegenwärtigen Wachrobotern gab es waffentragendes Wachpersonal, doppelte Elektrozaunreihen, Drohnen, die das Gelände überflogen, Kameras, Bewegungsmelder, Alarmanlagen, Flutlichter, bemannte Wachtürme und Hunde. Man konnte die Anlage nur durch Körperscanner betreten und verlassen. Computer verglichen pausenlos Bilder der in der Anlage Arbeitenden, wie Wissenschaftler, Wachleute, Verwaltungsangestellte, oder Putzleute, mit Fahndungsbildern, um Attentaten vorzubeugen. Extensive Firewalls sollten Hackern das Leben schwer machen.

Die meisten Einheimischen hielten von den Demonstranten nichts. Für sie war die Anlage ein wichtiger Arbeitgeber und Kunde. Soauch für den Taxifahrer. „Nix Arbeiten, aber demonstrieren!“, beendete er seine Tirade ein paar Kilometer weiterund setzte Lissa am Tor ab.

Sie wurde von einem gelangweilten Sicherheitsbeamten registriert. Er informierte sie, dass sich die sensiblen Bereiche – die Laboratorien, das Technikzentrum, das Flugzentrum und die tief unter der Erde liegende Energiegewinnung – nur über Retinaerkennung öffneten. Alles anderewar per Fingerabdruck zugänglich. Sie sei für die Sektionen, die sie betreten durfte, freigeschaltet. Trotzdem müsse sie den Mitarbeiterausweis stets tragen, wobei Name und Bild sichtbar sein mussten.

Sie stieg in den chromblitzenden Fahrstuhl zur unterirdischen E-Bahn, die die Gebäude miteinander verband. Die automatisch fahrenden Wagen hielten am Trainingszentrum, an den Bürogebäuden, den drei Kantinen und dem Auditorium, bevor sie an den Unterkünften der Mitarbeiter ankamen. Von dort fuhren sie in einem Bogen zu den sensiblen Sektoren weiterund kehrten zum Eingangsbereich zurück.

Die Mitarbeiterquartiere waren auf dem hinteren Teil des Geländes untergebracht. Der hotelähnliche Bau hatte zehn Stockwerke mit Einzelzimmern, jedes mit einem kleinen Bad. Aus den Fenstern sah man über hohe Zäune, die oben mit Natodraht versehen waren, auf die Taiga. Gegessen wurde in den Kantinen, aber es gab auf jedemStockwerk eine Küche, in der man sich Kaffee kochen oder eine Pizza im Ofen warm machenkonnte. Im Erdgeschoss lagen die Rezeption, der Aufenthaltsraum – komplett mit 3D-Filmanlage, Snack- und Getränkeautomaten und Billardtischen – ein großer Raum mit Computerarbeitsplätzen, das Fitnesscenter und die virtuelle ‚Höhle‘, in der Avatare Kurse in Tai-Chi oder Yoga abhielten.

Die KI, die künstliche Intelligenz, begrüßte sie, als sie ihr Zimmer betrat: „Guten Tag, Frau Doktor de Vries. Was kann ich für Sie tun?“

Es war nicht zulässig, die eigene KI auf dem Gelände zu nutzen. Zu großwar die Gefahr, dass vertrauliche Informationen nach draußen gelangen konnten. James, der Lissa sonst auf ihrer Smartwatch begleitete und von dort auf das System ihrer jeweiligen Unterkunft zugriff, war im wahrsten Sinne des Wortes zu Hause geblieben. Sie hattesich für Nowosibirsk eine zweite Smartwatch zugelegt, die nur mit der KI des GSA-Centers kommunizierte. Lissa hatte sich die männliche KI, die auf den Namen Max hörte, ausgesucht.

„Danke, Max“, sagte Lissa und ließ ihn, während sie auspackte und duschte, ihre E-Mails vorlesen. Dann stellte sie Temperatur, Lüftung und Weckzeit ein undmachtesichschließlich auf den Weg zur nächstgelegenen Kantine, um etwas zu essen. Seit einem hastigen Frühstück hatte sie nichts zu sich genommen.

Kaum hatte sie die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen, hörte sie jemanden mit exotischem Akzent sagen: „Ah, Lissa, Liebe meines Lebens! Hast du mich vermisst?“

Sie drehte sich lachend um. „Hallo, Rio! Und wie ich dich vermisst habe, mein Schatz!“

„Komm her, mein Liebling!“ Der schlanke Brasilianer, angetan mit einem roten Pullover und verwaschener Jeans, zog sie an sichund küsste sie auf beide Wangen. Seine dunklen Augen glitzerten. Die langen schwarzen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Neben ihm stand LouisFlechet, einer der Geochemiker, der wie Lissa im Labor arbeitete, und sie anlächelte, als Rio ihr die Küsschen aufdrückte. Louiswar das Abziehbild des Franzosen mit halblangen nach hinten gekämmten Haaren, einem im V-Ausschnitt seines dunkelblauen Pullovers steckenden Halstuchs und sandfarbenen Hosen, die er mit eleganter Lässigkeit trug.

„Hallo, Louis!“, sagte sie und tauschte auch mit ihm die obligaten Wangenküsse aus.

„Hallo, Lissa!“ Louis grinste. „Sag mal, willst du wirklich mit diesem Verrückten durch den Weltraum reisen?“

„Man wächst an seinen Herausforderungen“, erwiderte sie philosophisch.

„Ha.Ha.Ha“, kam es von Rio. „Du würdest am liebsten mit uns fliegen, Louis, aber du hast ja eine Scheißangst vor dem Wurmloch!“

„Hey, das Gefährlichste an der Expedition wird sein, dass du dabei bist!“, sagte Louis. „Dagegen ist das Wurmloch ein Kinderspiel!“

„Pah. Gerade noch hast du mir einen Vortrag über die Gefahren des Wurmlochs gehalten, Amigo.“ Rio schüttelte den Kopf. „Wenn alle Forscher so wären wie du, dann säßen wir heute noch in Höhlen und würden mit Keulen jagen!“

„Habt ihr wieder diese Diskussion?“, fragte Lissa.

Wurmlöcherwurdenauch in der Anlage kontrovers diskutiert. Jeder Ingenieur und Physiker schien zu einem bestimmten Aspekt des Wurmlochs mindestens drei Meinungen zu haben, wenn nicht sogar fünf. Lissa fand das ermüdend. Sie vertraute darauf, dass jeder sein Bestes gab, um die Passage durch das Wurmloch unfallfrei ablaufen zu lassen, musstesich aber ständig Streitgespräche zu Themen wie ‚Wurmlochteleportation‘ und ‚Verknüpfung von schwarzen Löchern‘ anhören.

„Jap. Unser Freund hier hat kein anderes Thema.“

„Habe ich wohl!“, protestierte Louis.

Lissaseufzte. „Okay, jetzt ist gut. Rio, wie geht es Amanda und den Zwillingen?“

„Ach, Lissa, da wollte ich Louis gerade davon überzeugen, was für ein Schwerenöter ich bin und du zerstörst all das mit dieser einen Frage!“ Er grinste spitzbübisch. „Es geht ihnen hervorragend. Und Amanda sagt ‚hallo‘. Und, weißt du was?“

„Nein, was?“

„Er hier“, er deutete mit dem Kopf in einer übertriebenen Bewegung auf Louis, „will heiraten!“

„Tatsächlich? Herzlichen Glückwunsch, Louis! Wann ist es soweit?“

„Wenn mein Vertrag mit der GSA ausläuft. Ich kehre im September nach Perpignan zurück und Anfang Oktober heiraten wir!“

„Ha!“, machte Rio. „Da sind wir auf Welt 001! Wir werden eine Gläschen auf euch trinken!“

„Das werden wir“, bekräftigte Lissa.

„Véronique wird sich freuen, dass man Millionen Lichtjahre entfernt an uns denken wird.“ Louis warf einen Blick auf seineSmartwatch, die zu summen begonnen hatte. „Sorry, Leute, ich muss los! Telefontermin. Wir sehen uns!“

„Der muss sich wohl bei seiner Véronique zum Rapport melden. Ja, das süße Singleleben ist für Louis vorbei!“, meinte Rio, sah dem davoneilenden Louis kopfschüttelnd hinterher und drückte Lissa noch einmal. „Gut siehst du aus!“

„Hm.“ Sie war nicht überzeugt von diesem Kompliment. Die hektischen Wochen seit Macs Anruf hatten ihre Augenringe vertieft. Sie hatte ihre Projekte an Kollegen übertragen, einen Forschungsaufsatz beendet undsich von allen verabschiedet. Ganzbesonders Anni machtesich Sorgen um Unfälle der Raumfähre und es waren mehrere Abende und Rotweinflaschen notwendig gewesen, um sie zu beruhigen. Eva hatte sie versprechen müssen, sich regelmäßig zu melden, ganz gleich, ob es etwas zu berichten gab oder nicht. „Ich habe seit heute morgen nichts gegessen. Kommst du mit in die Kantine?“

Rio verzog das Gesicht.

„Du musst ja nicht mitessen“, sagte Lissa schnell. Rios großes Hobby warseine Figur. Kantinenessen gehörte zu den Dingen, die er nicht zu sich nahm. Wahrscheinlich hatte er den Kühlschrank in der Küche ihres Stockwerks schon mit Tiefkühlgerichten seiner neuesten Diät vollgestopft und Stunden damit verbracht, die KI für deren korrekte Zubereitung zu programmieren, ungeachtet der Tatsache, dass das auf den Packungen vermerkt war und von der KI einfach eingelesen wurde.

„Trink einfach eine Cola, während ich esse“, setzte sie boshaft hinzu.

„Cola!“, sagte Rio empört. „Da kann ich ja gleich eine Packung Zucker essen!“

Sie lachte. „Dann eben Wasser!“

Sie gingen in die große Kantine, die das reichhaltigste Essensangebot hatte. Lissa bestellte sichSaté-Spieße mit Erdnusssauce, dazu einen scharfen Krautsalat, Reis und Mangopudding. Rio kam nach langer Suche am Salatbüffet mit einem Teller Blattsalat und Tomaten an den Zweiertisch, an dem sie sich niedergelassen und mit dem Essenlängst begonnen hatte. Ihre Spießewären kalt geworden, hätte sie auf ihn gewartet. Mit Rios Essensmarotten hatte sie genügend Erfahrung gesammelt.

„Also“, sagte sie und biss in ein Stück Fleisch. Himmlisch! „Erzähl. Hast du die anderen schon getroffen?“ Sie wusste die Namen ihrer Mitstreiter aus dem Schreiben und