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Jörg Sadelers

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Beschreibung

Deutschland in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts. Der Versicherungskaufmann Pascal Schauer und seine reizende Frau Vanessa führen gemeinsam mit ihrem einzigen Kind, dem zwar noch kleinwüchsigen, aber bereits ungewöhnlich und bemerkenswert aufgeweckten Jungen Sascha Schauer, ein scheinbar ungefährdetes Dasein in gesicherten Bahnen. Doch dieses Mal zeichnen sich im Genuss des alljährlichen Urlaubs im eigenen Ferienhaus unter der spanischen Sonne Widrigkeiten in bislang ungekannter Zahl und ungekanntem Ausmaß ab, mit denen sich die sympathische Kleinfamilie auf die sie kennzeichnende, unerschrocken tapfere Weise auseinanderzusetzen hat.

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Jörg Sadelers

 

Unverwandt

 

Roman

 

 

© Jörg Sadelers 2021

Schimmelbuschstr. 20

40699 Erkrath

EinVorwort

Lassen sie mich zuvorderst, als verantwortlicher Erzähler gewissermaßen, einige Worte der Erklärung, – der Einführung und auch der prophylaktischen Erläuterung verlieren (ein abenteuerlicher Ausdruck für einen derartigen Umstand eigentlich, – verlieren – nicht wahr?).

Dieses Schriftwerk bedient sich primär der prosaischen Form der Erzählung – muss wesentlich als eine Erzählung reinsten Wassers verstanden werden. Eine Erzählung, die zwar schriftlich niedergelegt wurde, aber beinahe ebenso gut den Charakter einer mündlichen Überlieferung vermitteln oder als eine solche verstanden werden könnte. Lebhafter und spontan feuriger Dialog kann unzweifelhaft nicht als eine Domäne dieser Schriftform angesehen werden, hier muss man auf das 'Theatralische' verweisen, und so ist der kultiviert sachkundige und wechselseitige Dialog in diesem Buch so selten, wie im richtigen Leben und ist, falls er stattfindet, meistenteils seinerseits eingebunden in den formalen Stil des Monologes, einer mündlichen Erzählung – ihrerseits in diesen Seiten festgehalten, wobei man durchaus noch den dreifachen Zustand gar, einer in eine Erzählung eingebundenen Erzählung vorfinden mag, die dann wiederum hier in diesen Seiten festgehalten ist. – Aber, so ist es gesetzt und gefasst, – und so ist es gemeint, dieses Schriftwerk, doppelt und dreifach angelegt findet sich manches in den unzähligen Absätzen, die, bis man das Ende der Geschichte erreicht hat, überwunden werden wollen.

Und manches lässt sich recht umständlich an, gemessen an dem, was üblich und normal ist, in diesen Tagen, in denen so vieles direkt und geradeheraus ausgesprochen wird, man sich so freimütig und ohne Umschweife über die unterschiedlichsten Dinge äußert, über die in früheren Zeiten geschwiegen oder in umständlichen Floskeln und ungelenken Wendungen gehaspelt wurde. Manchmal finden sich wohl auch Ausdrücke, Formulierungen und syntaktische Konstruktionen, die den konstruktiv und konsequent auf Vereinfachung ausgelegten sprachlichen Begradigungsbestrebungen der Jetztzeit eindeutig zuwiderlaufen, so dass einiges vielleicht als schnörkelhaft, altmodisch oder einfach nur schrecklich umständlich verstanden werden könnte, – doch so kann es gehen mit Erzählungen und Überlieferungen, – sie verwinden sich in sich selbst, verschlingen und verknäulen sich mitunter und, je nach Begabung und Talent des Referierenden, verlaufen sie sich, erstrecken sich langatmig über Nebensächliches, wiederholen häufig und verpassen dann am Ende noch den gelungen pointierten Ausstieg, der den Leser von dem Werk mit einem Gefühl, einer konglomeratischen Mischung aus Freude über eine fruchtbare, fesselnde Darstellung und einer fast schwerer wiegenden Wehmut darüber, dass sie nun schon zu ihrem Schluss gekommen sei, kurz – mit dem angenehmen, bekömmlichen Gefühl, sich hierbei sowohl gut unterhalten, als auch persönlich bereichert zu haben, Abschied nehmen lässt.

Nun – dafür, dass dieser wohlige Zustand des inneren Glücks und der sättigenden Befriedigung im Genusse dieser Zeilen eintreten wird, kann niemand irgendeine Garantie übernehmen, aber falls die Voraussetzungen gegeben sind, die Disposition stimmt und die Bereitschaft den verbalen Ausschweifungen Stück für Stück, Seite um Seite nachzufolgen besteht, mag dies durchaus, besonders vielleicht auch für diejenigen, die der facettenarmen sprachlichen Geradlinigkeit, der sich heute jedermann, bei all der Nuancenlosigkeit, die das zwingend nach sich zieht, befleißigt, überdrüssig sind, ein lesenswertes Exemplar Literatur sein. Zumal hier auch noch gewisse Formen des Anstands, des Taktes und Feingefühles beachtet und eingehalten werden, wie man es ›selbstverständlich‹ nicht mehr voraussetzen kann. – Die Charaktere werden ausführlich und vorurteilsfrei behandelt und da beinahe ein jeder, dem ein Auftritt zugebilligt wurde, eingehendst dargestellt wird, kann man sagen, ein jeder von diesen nimmt auf seine Weise die Rolle eines ›Protagonisten‹ ein.

Hier lässt man die Leute noch ausreden, selbst wenn sie nicht viel zu sagen haben, wird da niemandem das Wort abgeschnitten, erhält jeder, der für den Verlauf der Handlung irgendwie von Belang ist, echte Gelegenheit zur unverfälscht subjektiven Selbstdarstellung oder wird in dieser Weise aus anderer Sicht dargestellt. Sollten sie dennoch mit dem Inhalt nicht glücklich oder wenigstens zufrieden sein, ist es ihnen unbenommen, wie sie in ihrem Unmut und in den verzweifelten, innerlich aufwühlenden Gefühlen der Enttäuschung und des Betrogenseins mit diesem Werk verfahren. Sollte es ihnen in Form eines Buches vorliegen (was derzeit sicherlich immer noch der wahrscheinlichste Fall ist), sei ihnen völlig freigestellt, die kompakte, vielblättrige materialistische Hülle, auf der etwas, was sie dann vielleicht als die krankhaften Ausgeburten eines hoffnungslos verkommenen Geistes bezeichnen würden, niedergelegt ist, mit großer Wucht und Vehemenz, als deutlichen Ausdruck ihrer Wut und ihres Aufruhres, in den Winkel eines Raumes, des Zimmers, in dem sie sich vielleicht soeben befinden mögen, zu schleudern, wenngleich man einfügen sollte, dass das Papier an der Vergewaltigung, die man ihm zukommen ließ, gewiss keine Schuld hat, oder aber sie verwenden den handlichen Einband, ein Angebot, das in hochsommerlichen Tagen kaum jemand ausschlagen wird, in einer Art Synthese aus Wurfgeschoss und Fliegenklatsche, wofür sich sicherlich die preiswerten Taschenbuch Ausgaben, mit ihrem nachgiebig flexiblen Rücken, besonders eignen, und ich kann ihnen versichern, auch ich selbst habe mich schon, ohne Ansehen der Bedeutsamkeit des Werkes und der Person des Verfassers, in Notlagen und Situationen der körperlichen Bedrängnis durch allzu aufdringliche, auf Blutsaugerei ausgerichtete Zuneigungsbekundungen lästiger Kleinstinsekten spontan dazu hinreißen lassen, im günstigsten Moment, selbst mit einem Einband begnadeter und erfolggekrönter Weltliteratur, diese Tiere an eine Wand zu klatschen und dortselbst, zwischen unüberwindlichen Massen, zu zerquetschen, und ich kann sie weiterhin versichern, gerade die schwergewichtigen, unhandlichen Bände erfüllen dies Aufgabe mitunter exzellent – insofern muss man sich also, besonders was diese Schöpfung hier anbelangt, gewiss keine unnötige oder zögerliche Zurückhaltung auferlegen.

Sollten sie allerdings der Sorte von Menschen angehören, denen in ihrer Erziehung noch gelehrt wurde, Werte und Güter, gleich welcher Art und welcher Herkunft, zu achten, zu respektieren und sie schonend und behutsam zu behandeln und darüber hinaus zu Disziplin, Ordnung und Selbstbeherrschung angehalten worden sein, was man in dieser erschöpfenden Konstellation nun leider nicht häufig mehr findet, so muss man sie erstens dazu beglückwünschen und ihnen zweitens angeraten sein lassen, da man bei den Tugenden, die man bei ihnen vorfinden wird, davon ausgehen darf, dass sie das Buch beim Durchblättern oder Lesen so pfleglich behandelt haben, dass man ihm den einmaligen Gebrauch nicht ansieht, es wieder an einem schützend bergenden Ort zu verstauen – sie wissen sicherlich einen, haben dort vielleicht schon mehrere solche Gegenstände – und es dort verweilen lassen, bis sich die Gelegenheit bietet, ein Geburtstag oder irgendeine andere Festlichkeit, es wieder herauszunehmen und es, aufgrund seines neuwertigen und unbeschadeten Zustandes, als ein Geschenk für jemanden, dem man sich nicht so sehr verbunden fühlt – sie wissen sicher jemanden –, ein freundliches Mitbringsel für weitläufige Bekannte oder nur als eine nette Anerkennung zu verwenden und so die Ausgabe, für einen beinahe schon gereuten Erwerb, wieder hereinzuholen.

Eine Rückerstattung des Kaufbetrages, für den Fall der durchdringenden und nachhaltigen Unzufriedenheit, kann ich aber, als der Autor dieser Zeilen, verständlicherweise nicht versprechen, was beileibe nicht an mir liegen sollte, vielmehr darin begründet liegt, dass die ökonomische Vorherrschaft über diese Prozesse nicht bei mir, sondern bei dem dieses Werk publizierenden Verlag und dem hiermit verbundenen Handel liegt und dort sitzen echte Geschäftsleute, während der Verfasser hier, als idealistischer und nonkonformistischer Windbeutel gelten muss, der an den Ausgeburten seines Geistes, ohne die hilfreiche Unterstützung dieser Menschen, keinen Pfennig verdienen würde, vielleicht allenfalls knapp oberhalb eines Existenzminimums, wo immer so etwas liegen mag, dahinvegetieren würde, gäbe es nicht diese gewieft kaufmännisch denkenden und handelnden Menschen und daher ist es nur recht und billig, dass der größte Teil der Einnahmen wieder in die Hände der Leute zurückfließt, die sie erst möglich machten, weshalb mir an dieser Stelle nun nichts weiter übrig bleibt, als einem hoffnungsfrohen (wie ich denke) Leser viel Vergnügen zu wünschen!Der Autor

EingrünerFlecken

An einer Stelle, an der eine Autoschnellstraße sich spreizte, auseinanderlief und von einer weiteren tangential eingefangen wurde – was man gemeinhin als ›Autobahndreieck‹ bezeichnet – hätte man, auf dem, inmitten der sanft geschwungenen Einbuchtungen des Dreiecks liegenden, für den gemeinen Menschen nicht zugänglichen, nutzlosen Flecken begrünten Landes, erzwungen durch die verkehrstechnische Notwendigkeit einer Schnellstraßenverknüpfung, im trüben Mittagslicht eines wolkenumfangenen, mitteleuropäischen Sommertages, den folgenschweren Kampf zweier Lebewesen grundverschiedener Gattung beobachten können, – wäre nicht das Betreten einer solchen Fläche allein der Belegschaft der Betriebsdienste dieser Verkehrswege, und diesen wohlbedacht nur in Ausübung ihrer pflegerischen Verpflichtungen, vorbehalten.

So jedoch ereignete sich, zwischen diesem losen und abgeschieden gelegenen Buschwerk, das wohl leidlich umhegt wurde, von den Bediensteten einer Autobahnmeisterei oder eines Gartenbetriebes, im Auftrag derselben, – von Menschen also, die dem einwandfreien Ablauf des Straßenverkehrs beruflich verpflichtet waren – und das in seiner nur mäßig gefällig gestalteten Anordnung, seinem äußerlich schlichten Erscheinungsbild, einem überdies verschwendeten und unbrauchbaren Flecken Land, den Augen derjenigen, die, daran vorbei, diese Fernverkehrsstraße befuhren, kaum schmeicheln konnte, ein eigentümliches Gefecht, völlig unbeobachtet und akustisch nur umhüllt von dem linden, einförmigen Rauschen des vorbeifließenden Verkehrs, das ganz selten nur aufbrach durch scharf einschneidende Aufprall- oder Sirenengeräusche. (Womit durch die Existenz dieser Zeilen erneut bewiesen wird, dass unbeobachtete, nahezu unbeobachtbare Vorgänge nicht zwangsläufig einer Erzählung auf immer verloren sind.)

Ein Rabe, der sich eher wahllos und zufällig auf dem unwirtlichen, für den Nahrungserwerb an sich wenig vielversprechend anmutenden Grundstück, in seinem schwarzen, buchstäblich pechfinsteren und seidig schimmernden Gefieder auf einem Strauch, dessen Gestrüpp eine gewisse statistische Verteilung an Blattwerk aufwies, rastend niedergelassen hatte, beäugte mit einer, für einen möglichen Beobachter, augenscheinlichen und unverhohlen starken Anteilnahme das Subjekt einer Gattung, das für ihn, so könnte man meinen, strenggenommen kaum auf irgendeine Weise von Interesse sein durfte. – Schließlich gilt dieses Tier, im menschlichen Ansehen, vorwiegend als Aas- und Körnerfresser.

Eine Ratte war es, die er beäugte.

Ein mutmaßlich aus Gefangenschaft entwichenes, auffällig weißgeflecktes Zuchtexemplar des Types Rattus Norvegicus, und diese musste naturgemäß der Ansicht sich anschließen, dass ein Rabenvogel (falls sie je zuvor einen zu Gesicht bekommen hatte) – den ihre feinen Sinne im Übrigen lange schon ausgemacht hatten, bevor seine Krallen das dürre, brüchige Geäst des morbiden Gebüsches umfasst hatten – grenzenloser Selbstüberschätzung unterliegen würde, sollte er ernsthaft eine ausgewachsene, an Körpermasse und Volumen ihm etwa ebenbürtige, wenn nicht überlegene Wanderratte – denn Norvegicus ist eine sehr aggressive Art – noch dazu in der Blüte ihrer Jahre, in seine Strategie der Nahrungsbeschaffung einbeziehen und am Ende hoffen, sie überwältigen zu können.

Sie ließ sich daher weiter nicht stören und unterbrach nur wenige Augenblicke, während des im geräuschvollen Lärm von den Verkehrstangenten untergehenden, flatternden Landeanfluges des Vogels, die Untersuchung des Innenraumes einer schon etwas verblichenen, halb eröffneten und vom feuchten Gras fast völlig überwucherten Milchtüte.

Es bot sich dem schwarzen, in den morschen Ästen wippenden und jonglierend mit seinem Gleichgewicht ringenden Gesellen vorerst nur ein auf den nackten, schuppigen Schwanz – der als einzig verbleibender Körperteil aus der einstmals bunten Papptüte lugte – dezimierter Anblick einer Ratte.

Unter, nach menschlichen Maßstäben, bedenklichen Verrenkungen des Halses, balancierenden Auf- und Abbewegungen, die der Abmilderung der Körperschwingung in den von böenhaftem Wind bewegten Ästen dienten, bei gleichzeitigen, fortwährenden hundertachtzig Grad Drehungen des hornbewehrten Schädels – es schien als traute das eine Auge dem anderen nur wenig – verweilte er auf seinem Platz, immer noch animiert durch die anziehend schlängelnden Bewegungen, die die Ratte mit ihrem schlanken und blanken, wurmartigen Wirbelsäulenfortsatz während ihres offenkundig aber unergiebigen Durchstöbern der, beim vorausgegangenen, erkundenden Schnuppern, womöglich zunächst verheißungsvoll duftenden Überreste einer Milchverpackung vollführte.

Nach längerem, in dieser Position fraglos sehr energiereichen Betrachten der hier, in geringer Ferne, sich abspielenden Vorgänge, schien eine Abwägung ohnehin spärlicher Alternativen der Futterbeschaffung, in einer Nachbarschaft aus grau Betoniertem, aus Gläsernem und Stählernem und die, auch für einen Rabenvogel, nicht eben kümmerliche Verlockung von schon greifbar nahem, frischen Fleisch, ein Urteil zuungunsten der sich augenscheinlich immer noch völlig ungefährdet dünkenden Ratte heraufbeschworen zu haben.

Ob es der Anschein grundsätzlicher Abwegigkeit eines Vorhabens in der Art, der naturgemäß auch einem menschlichen Betrachter ins Auge sprang, oder das berechtigte Gefühl körperlicher Ebenbürtigkeit war, das den Nager sorglos und unbeirrt mit der Untersuchung, in und um sein kärgliches Inspektionsobjekt herum, fortfahren und deshalb den Raben ignorieren ließ, keinerlei Absichten, Schutz oder gar das Weite zu suchen, erkenntlich waren, trotz aller eindeutigen Anzeichen und einer nunmehr schon mehr als auffälligen, und wenigstens augenfällig zielstrebigen Annäherung eines Vogels, der – wenn er auch nicht zur Gattung der Raubvögel gerechnet wurde – doch keineswegs als Kostverächter gelten konnte, muss auf immer fraglich bleiben.

Dieser hatte sich inzwischen, in einem kurzen Aufflattern, mit wenigen kräftigen Flügelschlägen seines unkomfortablen Spähsitzes entledigt, Momente lang Zwischenstation auf den verbogenen Rohren eines nahe des Schauplatzes, zwischen den beiden schmächtigen Tiergestalten, aus dem Rasen ragenden, stumpf-chromigen, mehr wohl rostigen Kinderwagengestelles gehalten und von dort behutsam auf den Boden hinabtropfen lassen, um, nach Rabenart, mit kurzen hoppelnden und federnd elastischen Sprüngen, immer eines seiner Krallenbeine gerade, fast wie im Stechschritt, vorstreckend, über die Bauch und Brust pinselnden Grashalme hüpfend, der weiterhin eifrig und selbstvergessen stöbernden Ratte näherzukommen.

Unterdessen aber der Rabe an die mit dieser vergammelten Milchtüte vermeintlich zu einer Einheit verschmolzenen Ratte, bis auf kürzesten Abstand, heran gelangte, durfte eine Reaktion von ihr, angesichts der anrückenden, im Hohlraum des Pappkörpers verstärkten Raschelgeräusche, nicht mehr lange ausbleiben.

Das Nagetier zog in einem, wegen der räumlichen Enge, etwas unbeholfenen, ruckartigen und windenden Rückwärtsgang seinen dabei struppig verwirbelnden Fellkörper aus dem schmuddeligen Behältnis und dessen verführerisch nach organischer Zersetzung duftenden Inhalt zurück und bekundete, durch eine schräge, halbseitige Leibesdrehung und eine damit verbundene wippende Schnupperbewegung des fast halslos am Rumpf aufsitzenden Kopfes, ein unverhohlenes, wenn auch noch etwas träges und geringschätziges Interesse an dem dort Nahenden. Immer wieder hob die weiße Ratte angestrengt den auf der Stirnseite abgeplatteten, spitz zulaufenden Schädel, bald in diese, bald in jene Richtung, dass man meinen musste, sie sähe den schwarzen Gesellen, direkt vor ihr, nicht wirklich, wüsste nicht eigentlich, wo er sich genau befände. Aber ihre zierliche und spitze, rosarote Nase schnupperte munter, war dabei in heftig pulsierender Bewegung, bebte und ruckelte, dass die seitlich angebrachten Tasthärchen in starkes Zittern gerieten und sog dabei die mit aromatischen Duftessenzen behaftete Luft, in Zuordnung ihrer Herkunft, ein.

Leider bleibt dem menschlichen Betrachter der geradlinige Zugang zu den inneren Gemütsbewegungen eines, wohl nicht mit gleichrangiger, aber doch mit vergleichsweise hoher Intelligenz ausgestatteten Lebewesen verschlossen, da der Mangel an der Aufklärung förderlichen oder an universal gebräuchlichen Gesten oder gar übertragbarer Mimik und sicherlich die Differenz in der grundsätzlich andersartigen Lebensweise, eine eindeutige Zuordnung der Reaktionen und Handlungsweisen von Lebewesen der untergeordneten Biosphäre, nach menschlichen Maßstäben und Normen, sehr erschwert.

Jedoch sind Begehrlichkeiten und Motive der unterschiedlichen Lebensformen einander nicht völlig entfremdet, und sicherlich in vielerlei Hinsicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wozu in diesem Fall das menschliche Abstraktions- und Urteilsvermögen einen entscheidenden Beitrag leistet, und man daher also, bei behutsamer Vorgehensweise, die Deutung des Verhaltens einer Ratte, unter Abstrichen zwar, aber doch mit verhältnismäßig hoher Sicherheit, wagen kann.

Legte man also an die Körper- und Kopfbewegungen, die eine in Rückständen und Bodensatz herumwühlende Ratte, als Folge der Annäherung durch einen Raben ausführte, eine Messlatte an, entnommen dem Verhaltensrepertoire eines sehr viel höher, sozusagen höchstentwickelten Produktes der Evolution, und fügte einen guten kräftigen Schuss der dem als Gipfelpunkt aller biologischen Daseinsformen anerkannten Wesen innewohnenden Intuition (vielleicht sogar weiblichenIntuition) hinzu, so drängte sich wiederum der unwiderrufliche Eindruck auf, der kleine Nager maß dem frech heranhoppelnden, körperlich äquivalenten Gegenüber, nach wie vor, nicht die geringste Bedeutung bei.

In seiner hoppelnden Weise näherte sich der Rabe allmählich der, mit ihrem inzwischen strubbeligen und verklebtem Fell, immer noch ungehemmt stöbernden Ratte, seine Augen, in der schon beschriebenen Art, wechselweise fest auf dies aktive Subjekt geheftet.

Schließlich, nach kleineren Ausweichmanövern, bedingt durch vereinzelt herumliegenden Unrat, trennten sie nur noch wenige Zentimeter voneinander. In geringer Entfernung hielt der schwarz gefiederte Vogel inne und begutachtete das lebhafte Opfer seiner Begierde eingehend. Und während die Ratte mittlerweile ihre inspizierende Tätigkeit auf die äußere Hülle der verblichenen Milchtüte verlagert hatte und sich auch weiterhin nicht um den zudringlichen Vogel kümmerte, begann der – probeweise –, als wolle er testen, womit er hier zu schaffen habe, an ihrem, der Pflege indessen stark bedürftigen Fell, herumzuzupfen und – zunächst noch vorsichtig – auf die Ratte einzupicken.

Sei es, dass die Erfolglosigkeit der bisherigen Nahrungssuche Gefühle des Unmutes und der Frustration in dem empfindsamen Gemüt des Nagetiers entfacht hatten oder aber es schlagartig klar wurde, dass die Zupfereien des zudringlichen Vogels nicht mehr den harmlosen Eindruck rechtfertigten, den sie erweckten, – jedenfalls warf die Ratte in einer plötzlichen Bewegung ihren Leib jäh herum und hieb mit ihren beiden Zähnen, den paarigen, oben wie unten, denn nur diese beiden langen und spitzen standen ihr zur Verfügung, kräftig nach dem Raben. Den scharfen Augen des Vogels jedoch entging der Ansatz der Bewegung nicht, denn sein Gesichtssinn war ganz offensichtlich der überlegene, so dass er, in scheinbar spielerisch, gelassener Manier, auf seinen Krallen federnd, ein Ausweichmanöver vollführen konnte und die Attacke der Ratte völlig ungefährdet abwehrte.

Wer jetzt annähme, die beiden so grundverschiedenen Geschöpfe würden nun wieder, nachdem sie ihre Kräfte aneinander geprobt hatten, ihrer bestimmungsgemäß getrennten Wege gehen, sah sich getäuscht.

Zwar schien die Situation für die Ratte bereinigt und erledigt, – der Rabe jedoch wollte, trotz der gefährlich drohenden Schneidezähne, sein ungesundes Interesse an dem zerzausten Nagetier nicht mehr ablegen. Wieder und wieder, unter zwischenzeitlich eingeschobenen Einschnitten, die der Begutachtung des Fortschritts seiner Arbeit dienten, pickte er auf diese ein und rupfte heftig herum an dem rundlichen, fellbespannten Körper, in einer stummen, lautlos verbissenen Leidenschaft, und steigerte auch laufend die Härte seiner Hiebe.

Letzten Endes sollte ein herzhaft rauer Umgang, wie diese Zwei ihn miteinander pflegten, weder für den einen noch für den anderen völlig ohne Spuren bleiben.

Das Fellkleid der Ratte präsentierte sich mittlerweile in einem sehr stark zerzausten und gerupften Zustand, während dem Raben dagegen seine große Achtsamkeit zustatten kam, er tatsächlich bisher faktisch unversehrt geblieben war und mittlerweile mehr gegen seine eigene Erschöpfung, als mit seinem Gegner kämpfte.

Dabei durfte er sich keine Nachlässigkeit erlauben, denn auch ihm hätte jede noch so kleine Verletzung, durch die spitzen Nagerzähne, gefährlich werden können.

Doch waren nun die Bewegungen, die die Ratte zu ihrer Verteidigung ausführte, weit weniger elanvoll, als noch zu Beginn dieses zuerst so harmlos wirkenden Zwistes und ihre anfänglich sehr desinteressierte und nachlässige Haltung wirkte sich nun stark zu ihrem Nachteil aus, weil der allmählich erschlaffende Widerstand des Tieres dem Raben ermöglichte, immer wirkungsvollere Attacken mit immer verhängnisvollerem Ergebnis auszuteilen.

Eine offene Wunde von nicht mehr zu übersehender Größe klaffte alsbald auf dem Rücken, durch das gerupfte Fell hindurch.

Hiebe über Hiebe prasselten nieder auf das nun fast wehrlos dahindämmernde Geschöpf, ausgeführt von einem durch seinen nahen Erfolg befeuerten und angespornten Raben, und der realistisch und nüchtern denkende Beobachter konnte keinen Zweifel mehr haben über den Ausgang dieses Kampfes – wenden wir uns also einem anderen Thema zu.

Im selben Moment nämlich, in dem, an diesem zugleich öffentlichen und doch, auf seine Weise, sehr intimen, inmitten der mehrspurigen Schnellstraßenverknüpfung gelegenen Platz, der gnadenlose Todeskampf der beiden Individuen stattfand, glitt der junge Familienvater und diplomierte Kaufmann, Pascal Schauer, in seinem jüngst neu erworbenen Fahrzeug der automobilen Mittelklasse, vorüber.

Die Reifen, eine Hochgeschwindigkeitsausführung von breitem Format, summten leise, sacht und ruhig rollend – in sicherem Bodenkontakt, auf dem Asphalt, ohne dabei in lästiger Weise bis an das Gehör des Fahrers vorzudringen. Sein Gesichtsausdruck spiegelte volle Zufriedenheit über den ruhigen, elastischen und seidenweichen Lauf der im Motorraum arbeitenden Maschine wieder, wobei durch die unfreiwilligen Stockungen, die erzwungenen Hemmnisse im Verkehrsablauf, – die angespannt dichte Lage der Verkehrsverhältnisse an sich, nicht der absolute, der unverdorben reine Genuss der Laufkultur des ausgezeichneten, mehrzylindrigen Triebwerks ermöglicht wurde, so ließ dennoch das langsame Dahinschwimmen im frühen Feierabendverkehr keinen Zweifel an den wahren, den potenziellen Qualitäten, den augenblicklich im Verborgenen schlummernden Fähig- und Möglichkeiten des Fahrzeugs aufkommen.

Die Farbe, nach bewusster Auswahl des Besitzers, in einer eleganten, dunklen Tönung, einer dezenten Abstufung eines Anthrazit-Metallictons gehalten, signalisierte nach außen eine feine Ausgewogenheit des Geschmacks, ansprechendes Stilgefühl in einer erdenklich distinguierten Form, eine Wahrnehmung, die zusätzlich durch die – in farblicher Abstimmung zur lackierten Stahlkarosserie – abgedunkelte und thermisch abschirmende Verglasung lanciert wurde.

Der Innenraum – es setzte hier sich fort, was der Blick auf die äußere Schale bereits erahnen ließ – befand sich in einem wohltemperierten Zustand. Ein Zustand, der mit Hilfe einer gezielt zum Zwecke der Klimatisierung von der Außenwelt abgeschiedenen Räumlichkeiten entwickelten Anlage geschaffen wurde und Unabhängigkeit von der Willkür und den Unbillen des mitteleuropäischen Wetters herstellte, dem, bei seiner Unberechenbarkeit und seinen Launen, verständlicherweise niemand frohmütig und freiwillig, willen- und hilflos ausgesetzt sein wollte, sofern die ökonomischen Möglichkeiten und Mittel zur Verfügung standen, dies zu verhindern, so dass sich die trübe Wetterstimmung dieses, in seiner Ausprägung fragwürdigen und zweifelhaften Sommertages, auf ein individuelles, dem Insassen angenehmes Niveau regulieren ließ. Die Atmosphäre, die die Einrichtung der Räumlichkeit zudem zu kreieren vermochte, trug den ihrigen Teil zu dem wohligen, heimeligen Eindruck bei, den man als aktiver oder auch passiver, bequem zurückgelehnt genießender Passagier in diesem Fortbewegungsmittel erhalten konnte.

Die Sitze – nach orthopädischen Gesichtspunkten geformt, stützend in den Bereichen der Wirbelsäule, in denen dies erforderlich und nutzbringend war, zudem durch elektrische Verstelloptionen individuell anzupassen, was besonders auch dem älteren Fahrgast die Last der sitzenden Fortbewegung erheblich lindern helfen sollte, und dazu mit seitlichen, schalenartigen Abstützungen, die den Körper in Fällen hoher Querbeschleunigungswerte in seiner zweckmäßig vorgesehenen Position halten sollten, gedacht vornehmlich für Anhänger zügiger und sportlicher Fahrweisen und mit Bezügen aus synthetischen, samtartigen, dunklen Fasern versehen, deren dichte, pelzig kurzgeschorene Anordnung beim Darüber-hinweg-streichen und -fühlen einen Schauer von Wohlgefühl und Prickeln hervorriefen – diese Sitze also, nahmen den größeren Teil des Innenraumes für sich in Anspruch, während der Boden mit textiler Hochflorware eines dazu harmonisch abgestimmten Farbtons ausgeschlagen war, sowie die seitlichen Verkleidungen der Türen in eben demselben gehalten waren. Vor seinen Augen leuchtete dem Fahrer eine Vielzahl von Instrumenten rundlichen Erscheinungsbildes in ergonomischer, abgewinkelt geschwungener Anordnung, die einen ihn ansatzweise umlaufenden Halbbogen beschrieb und ihn jederzeit und kontinuierlich über die jeweils relevanten Fahrzustände auf aktuellem Stand hielt.

Pascal Schauer schätzte besonders die funktionelle Ausgewogenheit dieses Typs.

Sicher litt das Raumangebot etwas unter der sportlichen Konzeption, doch der Komfort genügte auch gehobenen Ansprüchen und speziell die ergonomische Anordnung aller Bedienungselemente und sonstigen, häufig zu nutzenden Funktionen und Anzeigen bewies im täglichen Gebrauch ihre durchdachte Anlage und unbedingte Alltagstauglichkeit.

Manche, die gelegentlich oder auch regelmäßig in den Genuss kamen – den Vorzug genossen – Mitreisende, oder einfacher, Mitfahrende, schlicht: Beförderte zu sein, offenbarten die Neigung, die Stimmung oder die Aura des Sitzabteils mit dem Attribut ›wohnlich‹ oder ›behaglich‹ zu belegen.

Diese Zustandsbeschreibung jedoch, konnte nicht in dem Maße das Wohlgefallen des Eigners erregen, in dem es die, solche Ansichten Äußernden, beabsichtigt hatten: als eine gefällige, vielleicht sogar einschmeichelnde Bemerkung, – sondern erzeugte vielmehr einen unverhofften und impulsiven Widerspruch, der nun keineswegs zu erzeugen beabsichtigt war, und der weniger gute Bekannte oder mit den persönlichen Eigenheiten und Empfindsamkeiten Pascal Schauers nicht so sehr Vertraute, aufgrund seiner Gefühlsgeladenheit, sogar etwas verlegen stimmte und deren Gemütsverfassung in das Gegenteil dessen, was sie soeben noch als eine angenehme Empfindung zum Ausdruck hatten bringen wollen, umkehren konnte. Die Attribute, die atmosphärischen Eigenschaften, die dem Inhaber genehm und angemessen erschienen, waren angelehnt an ein Vokabular Sportlichkeit und Dynamik bezeichnender Adjektive, die einzig und allein in ihrer Umschreibung die suggestive Kraft entfalten konnten, die von ihm als treffend empfunden wurde.

Der gutgläubig und ahnungslos mitfahrende Zeitgenosse stieß dabei unvermutet auf ein sehr spezifisches Verhalten, – eine fast weltanschauliche Haltung, mit der er im Voraus kaum hatte rechnen können und die Ausdruck einer speziellen, dem Außenstehenden wenig begreiflichen Philosophie war, die peinlich bedacht schien auf eine Aura, geradezu eine Botschaft, das Phänomen einer ganz besonderen Ausstrahlung, die sich vornehmlich dem gezielt auf eben diese abzielende Abnehmer eröffnete, da er sich für ein hierauf projiziertes Begehren, dessen Erfüllung das hochtechnologische Produkt erwirkte, empfänglich zeigte und die einem von diesen Qualitäten und Besonderheiten unberührten Menschen dauerhaft – wenn nicht gar ewig – verborgen und verschlossen blieben.

Im Vollgefühl dieses einzigartigen, nicht willkürlich und wahllos jedermann zugänglichen Genusses schwebend, bewegte sich Pascal Schauer im feierabendlichen Tempo über die geräumig ausgebaute Schnellstraße, die ihrer Bezeichnung derzeit wahrhaft keine Ehre machte.

Sein Blick streifte nur flüchtig, hin und wieder, als er das Dreieck durchfuhr, über die anliegende Grünfläche, die ihm durch seinen täglichen Weg zur Arbeit schon ein vertrauter und deshalb nicht weiter anziehender Anblick war. (Daher entgingen auch ihm die dramatischen Ereignisse auf der kleinen Einöd, wie wohl den meisten, der dort achtlos Vorbeirauschenden.)

Sein Blick waren vielmehr gefesselt durch den dichten Verkehr, der seine ganze Aufmerksamkeit abverlangte und momentan insbesondere durch das unmittelbar vor ihm fahrende, kleine Auto, ein niedrig über der Straße liegendes Importmodell, älterer Bauart, das, ob des unkonventionellen Fahrstiles, die hektischen und häufigen Spurwechsel und die obendrein sehr augenscheinlichen, äußeren Reize der Fahrzeuglenkerin, ihn und auch einige der weiteren Verkehrsteilnehmer schon Nerven gekostet hatte.

Am Steuer des Kleinwagens saß eine ›flippig‹ aufgemachte, junge Frau, wie von hinten schon an dem zu einem Zopf hochgebundenen, schrill bunt gefärbten und ondulierten Haarschopf zu erkennen war. In der linken, am Lenkrad aufliegenden Hand hielt sich zwischen den Fingerkuppen von Zeige- und Mittelfinger eine fast aufgerauchte Zigarette, die im Takt mit den auffällig großen, modisch flächenhaften Ohrringen wippte, wenn die durch die Betonfugen der Fahrbahn verursachten Stöße, fast ungehindert von der dürftigen Federung, an den Insassen weitergeleitet wurden.

Sie war schrill und doch adrett und recht hübsch dazu, aber sie ignorierte völlig die freundlichen Blicke, die Pascal ihr, wenn er im Verkehrsstau für einen Moment neben ihr fuhr, hinüberwarf. Dabei musste sich Pascal Schauer, was sein äußeres Erscheinungsbild betraf, nicht verstecken, durfte sich vielmehr selbst zu den auffälligeren Gestalten männlicher Gattung zählen.

Er war von mittelgroßer, schlanker Statur, mit ausgeprägten, männlich breiten Schultern, die aber weniger breit waren, als sie erschienen, sondern nur im Vergleich zu den schmalen Hüften stark abstachen, so dass er athletisch und sportiv auf den gefälligen Betrachter wirkte, und dass dieser Eindruck, im Gegensatz zu manchem anderen Zeitgenossen, keine Täuschung war, werden wir an anderer Stelle noch erfahren.

Die Zeit hatte ihm die sechsunddreißig Lebensjahre mit viel Toleranz in sein immer leicht gebräuntes Gesicht geschnitten.

Ein Gesicht, das eine ausführliche Betrachtung nicht nur wert war, sondern sie latent, von jedem, der seiner ansichtig wurde, geradezu herausforderte. Wenn Pascal Schauer sich auf der Straße oder an welchen Stellen und Orten auch immer auf diesem inzwischen dichtest belebten Stern – einfach überall dort, wo Menschen zuhause waren – bewegte und es dann zu unvermeidlichem Zusammentreffen mit Artgenossen kam, spielte sich eine für ihn schon durch jahrelange Erfahrung zur Gewöhnung gewordene Prozedur ab, die selbst einen hinter ihm Wandelnden, dem der Anblick der Vorderansicht nicht vergönnt war, aufmerksam und neugierig auf diese Vorderansicht gemacht hätte.

Nun war ein wesentlicher Unterschied in der Aufmerksamkeit des einen, wie des anderen Geschlechts kurioserweise häufig nicht festzustellen, man im Gegenteil oft den Eindruck gewann, gleichgeschlechtliche Artgenossen schienen nicht minder neugierig, forschenden Blickes die Physiognomie Pascal Schauers zu erkunden und vielleicht trat dieses Gehabe der männlichen Artgenossen, gegenüber dem der weiblichen, sogar unverhohlener und deutlicher zu Tage. Allerdings mag auch die dezente, abwartende Zurückhaltung, der sich die Weiblichkeit immer noch, oft wohl gerade aus Scham und ausgerechnet dann, wenn das Verlangen am stärksten ist, befleißigt – und dies trotz aller emanzipatorischer Bemühungen der vergangenen Jahre – die Ursache für einen solchen, scheinbaren Widerspruch sein. (Andere denkbare Ursachen werden an dieser Stelle vorerst nicht diskutiert.)

Sicherlich prägte in diesen Fällen, unter den Umständen eines flüchtigen Rendezvous, des flüchtigen aneinander Vorbeilaufens, sowohl die jeweilige Situation, als auch der Charakter, die aktuelle Empfänglichkeit des oder der Entgegenkommenden, den Verlauf solcher Begegnungen, die man nun eigentlich nur als Begegnungen und sonst nichts weiter verstehen konnte, da deren Dauer von immanenter Kürze war, so dass ein durchgreifend nachwirkender Eindruck nicht verbleiben konnte – aber ein gewisses Stereotyp in der Verhaltensweise ließ sich dennoch nicht verleugnen.

Im Allgemeinen liegt in dem zum hundertfachen Alltag gehörenden Zusammentreffen von einander unbekannten Personen, an allen nur denkbaren Orten und Plätzen dieser Erde, keine nennenswerte Besonderheit begründet, und doch erstellt jeder auf seine Weise und nach seinem Muster und der Maßgabe seiner Sinneseindrücke und Erfahrungen ein Raster, eine unterbewusste Norm des Durchschnittsmaßes, an dem er alles misst und alles prüft und jede noch so geringfügige Un-Passung, kleine und größere von der Norm des Gewohnten abweichende Einzel- oder Besonderheiten, registriert und so sich selbst und sein Gewissen beruhigt durch die Feststellung – die individuelle Zementierung eines Status Quo –, dass die Veränderungen in der Welt, was die Äußerlich- und Wandelbarkeiten der menschlichen Gestalt angeht, sich in den üblichen, erträglichen Grenzen halten. Hin und wieder allerdings kann das wohl ausgewogene, sorgfältig ausbalancierte Gleichgewicht um eine winzige Kleinigkeit, nur wenige Zehntelgrade, aus der Mitte geraten und einen gerade noch mit sich selbst zufriedenen und treulich sorglos vor sich hindümpelnden Menschen, auf eine unerwartete, entzaubernde Weise berühren, – einen Hauch von Nachdenklichkeit, vielleicht sogar Unzufriedenheit verbreiten, als wäre ein verdeckt liegender, wunder Punkt berührt oder ein weit zurückliegendes, vergessen geglaubtes und gewünschtes Ereignis wieder in den Tempus der Gegenwart aufgerückt.

Nachdenklichkeit, aber sicherlich nicht nur Nachdenklichkeit erzeugender Natur schienen eben solche Begegnungen zu sein, die, vom Zufall erzwungen, mit Pascal Schauer zusammenführten oder besser nur an ihm ›vorbei‹ führten.

Nichtsahnende, in ihrer eigenen, kleinen Welt Befangene, liefen durch Straßen und schmale Gassen, über weitläufige Plätze, in lichtdurchfluteten, glasverkleideten Foyers und winkeligen Passagen, schweiften umher mit ihren Blicken, die sie verweilen ließen, hier und da, auf blinkenden, in grellen Pastellfarben gehaltenen Schriftzügen, in Fenstern quadratmetergroßer Ausdehnung, voller sorgsam arrangierter Auslagen, auf großformatigen Werbeflächen, mit überdimensionalen, blasig aufgewölbten Menschenkörpern, aber auch auf leibhaftigen Menschenkörpern durchschnittlichen Formats, ›Momente lang‹ nur verweilen ließen, weil derer so viele waren, dass dem Einzelnen kein Innehalten vergönnt war, von immer neuen Reizen getrieben, rastlos weitertastend, bis, ja, bis der Blick auf eine Gestalt fiel, wie sie hier eingehend eingeführt wird, und sich dort verhakte, einklinkte, wie ein Gummiball, eingefangen von einem elastischen Band, nach schwerelosem Taumel, immer wieder zurückgezogen zum Zentrum seiner Anziehung, um letztendlich dort haften zu bleiben, fasziniert kleben zu bleiben auf einem solchen Wesen, – etwas, das so sehr von der Norm des Alltäglichen abweicht, dass man es kaum übersehen kann und unweigerlich in seinen Bann gezogen wird und wenn es nur für einen Augenblick sein sollte.

Aber, wer weiß – vielleicht ist das auch alles maßlos übertrieben oder wir bilden uns das alles nur ein?

Das Antlitz Pascal Schauers war schmal und länglich oval in seiner Form, was das erhöhte Jochbein hervorhob und seine ohnehin leicht einfallenden Wangenpartien höhlenartig abstechen ließ. Ein Gesicht, das fast hager und abgemagert erschien, so wie man es in einer vom Wohlstand verwöhnten Zeit nur selten noch zu sehen bekam. Die Nase ›sprang‹, sozusagen, nicht weit aus dem Gesicht, eine bei männlichen Wesen häufig auftretende Unart, sondern schwang sich gleichsam im leichten Bogen von der Wurzel zur Spitze, ohne allzu keck und vorwitzig in die Luft zu ragen, sich dabei mehr als nötig von der eigentlichen Hauptmasse des Fleisches zu entfernen, und dem Besitzer nicht als beständige Mahnung in den inneren Augenwinkeln zu sitzen. Die Spitze selbst war eher stumpf und schmal, die Nüstern leicht sichelförmig nach oben geschwungen.

Nie hätte auch nur ein einziges Haar aus dieser Nase gelugt, wie überhaupt der Pflegezustand der Gesichtshaut, der gesamten Epidermis schlechthin, über jeden Zweifel erhaben war. Keine einzige der unzähligen Hautporen, selbst nicht auf den exponierten Positionen der Nase, hatte sich geweitet, geschweige denn über das Normalmaß hinaus mit innersekretorischen Ablagerungen gefüllt oder wäre gar von einem Talkpfropfen verstopft und verschlossen.

Die Rasur war immer makellos und mit der Gründlichkeit, in der Pascal Schauer sie von sich selbst erwartete, sicher nur durch eine dicht über der schäumend befeuchteten Haut schneidenden, rasiermesserscharfen Klinge zu erreichen.

Kontrastierend zum immer etwas dunkel und ebenmäßig eingefärbten Teint blitzten blendend weiße Zähne zwischen den anmutig geschwungenen Lippen hervor. Zähne, die sich wahrlich sehen lassen konnten, die sich nicht in der dunklen, feuchten Mundhöhle vor den Blicken anderer Menschen verstecken mussten, sondern für einen Auftritt in der luftig-freien Öffentlichkeit geschaffen waren. Hellweiß und regelmäßig in ihrem Bau und in der Anordnung, war es eine Freude den Bestandteilen dieses Gebisses, noch dazu umrahmt von einem herzlichen Lachen, vollständig entblößt, zu begegnen und, als wüsste er um die anziehende Wirkung seines Lachens, unter der magischen Strahlkraft dieser gesunden Zähne, erprobte er diese Wirkung, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, weshalb er auch unter Freunden und Kollegen als eine Art ›Sonnenkind‹ galt, nach der allseits gültigen Fasson: ›Immer ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.‹

Zwischen der Öffnung, die die bezaubernde Zahnreihe in ihrer alltäglichen, manchmal Minuten andauernden Schaustellungs- und Vorführungsübung ließ, drangen dann aus dem Grund der Kehle Laute hervor, die dem Gehör eines jeden einschmeicheln mussten. – Die niedrige Frequenzlage eines tiefen Baritons, der in Anklängen einer sonor stimmungsvollen Tonlage nicht entbehrte. Eine Stimme, die manchmal so voller raspelnder, knisternder und knarrender Schwingung war, dass man meinen musste, es würde dort im Untergrund der Kehle, dem in die uneinsichtige Dunkelheit hinabtauchenden Schlauch der Luftröhre, harte mechanische Arbeit geleistet, wie man sie aus der handwerklich geordneten Welt der Holz- und Metallbearbeitung kannte, als würde dort gesägt, geraspelt und gefeilt, was das Werkzeug und das Material hergab und man müsse Befürchtungen hegen, dieser permanent ertönende Zustand, in Anklängen an heftigste mechanische Reibung, müsste irgendwann in sich zusammenbrechen, weil das Material aufgebraucht, das Werkzeug verschlissen sei und dann die Stimme ihren Dienst versagen. Dennoch, obwohl mancher, der diese Stimme zu Gehör bekam, im Stillen diesen unfeinen, ja, hämischen Gedanken nachhängen mochte, – insgeheim darauf wartete, dass dies unentwegte Knarzen und Knattern endlich ein Ende finde, konnte er sich nicht enthalten, dem Geräusch unablässig, solange es ertönte, seine Aufmerksamkeit zu widmen, ja – es war schwierig diesen Ton zu überhören, nicht aufzumerken und sich nach seiner Quelle umzusehen, wenn man ihn das erste Mal, von irgendwoher erschallend, vernahm und man konnte oft nicht umhin, fühlte sich abgelenkt von den Gegenständen seines Interesses oder gestört in seiner Beschäftigung, falls man gerade Besseres zu tun hatte, als ausgesprochen dort zuzuhören, wo dermaßen Aufmerksamkeit heischend gesprochen wurde, und es konnte deshalb gar Ressentiments wecken, bei manchem – obwohl es unschuldig und reine Natur war, kein unruhiger, lässiger Lebenswandel oder der überschwängliche Gebrauch irgendwelcher Genussmittel, wie Alkohol, Rauchwaren oder Ähnliches – denen oft unbewiesenermaßen unterstellt wird, eine Veränderung stimmlicher Anlagen nach sich zu ziehen – vorlag, der diese Ausprägung der Stimme etwa hervorgerufen hatte.

Das Haar. – Haar trat nur dort auf, wo es auch tatsächlich erwünscht und passend war, aber dann in überreichlicher, geradezu ausschweifender Form. Das blonde Haupthaar des Schopfes lag in dichten Wellen, mit geringfügiger Unterstützung durch festigende Mittel und den warmen, formstabilisierenden Luftstrom eines Haartrocknergebläses in seine Position gebracht und dort gehalten, dabei, ohne jede Steifheit oder Künstlichkeit, seitlich gescheitelt und nach rückwärts geschwungen, auf dem Kopf, endete aber nach unten hin schon deutlich oberhalb des Nackens, wodurch Hemd und Jackenkragen von Beschmutzung freigehalten wurden. Dieses füllige, mit reichlich variierenden Schattierungen blonder Strähnen durchsetzte Oberhaar bedeckte somit nur den oberen Teil des Kopfes, denn zur Seite hin und um die Ohren musste der Coiffeur, auf Wunsch unseres Freundes, sehr dicht an der unterliegenden Kopfhaut abschneiden, ja regelrecht, mit Unterstützung eines kräftig brummenden, elektrischen Schneideapparates, ganz knapp und kurz scheren.

Die Augen! – Nicht, dass sie nicht der Erwähnung wert wären, doch begründete sich ihr sicherlich hervorstechendstes Merkmal vorwiegend in der Tatsache, dass sie in einer solchen begünstigten und förderlichen Umgebung lagen und es daher häufig eintrat, dass bewundernde, sogar wahrhaft metaphysische Dinge über sie in Umlauf gebracht wurden, zumeist von Geschöpfen, deren eigener Blick während solcher Schilderungen mehr als verklärt schien. Wesentliches wäre eigentlich schon beschrieben, hielte man allein die Farbe der Augen fest, die eine nicht sehr ungewöhnliche blaue, allenfalls ganz leicht graustichige Tönung aufwiesen. Was aber eine dezente Einfärbung der Iris in einer durchaus gängigen, fast schon alltäglichen, jedenfalls kaum bemerkenswerten Farbmodifikation zu gegebener Stunde an emotionalen Äußerungen des Entzückens und der Verwirrung hervorrufen kann, ist nun seinerseits wiederum bemerkenswert und sollte an anderer Stelle in jedem Falle eingehende Würdigung finden.

In jugendlichem Alter schon, denn auch als kleiner Junge erregte er, aufgrund seiner in ihrer Anlage bereits vollständig ausgeprägten Qualitäten, das allgemeine Interesse seiner Umgebung, war er Zentrum von Müttergesprächen, auf Kinderspielplätzen und anderenorts, während deren Verlauf er sich wiederholt von ihm oft völlig unbekannten Frauen, mit von der Hausarbeit schändlich aufgerauten und zerspülten Händen, durch das Haar streichen lassen musste, unter der dauernden, umgangssprachlich formulierten Beteuerung: »Junge, was sind das für Haare, dicht und dick, eine richtige Wolle!« – schon in diesem frühen Stadium menschlicher Selbstfindung und Charakterbildung also, wurden grundlegende Strukturen geprägt, die die Gewöhnung an Anteilnahme und schmeichelhaftes Entgegenkommen, aber auch an den Neid und die Missgunst, die vermeintlich Benachteiligte, denen alles Gönnerhafte fehlte, gegenüber von der Natur Begünstigten hegen, verfestigten und die, in den folgenden Jahren, zum normalen, selbstverständlichen Bestandteil seines Lebens gediehen und seinem Auftreten eine offensichtlich gewachsene, von manchem schon als aufreizend und etwas großspurig empfundene Ausstrahlung verliehen, die aber durch den jahrelangen Gewöhnungsprozess und die eigene Unverantwortlichkeit an den beschriebenen Vorgängen entschuldigt werden muss.

Wollte man eine Art Resümee ziehen, die Sache auf eine kurze bündige Form bringen oder es nur einfach mit einem Wort ausdrücken – was wir allerdings in einem Werk, wie diesem, sicher nicht zur Regelmäßigkeit werden lassen wollen, allein schon um nicht über alle Maßen an Differenziertheit und Nuancenreichtum zu verlieren – dann könnte man auch schlicht sagen dieser Mensch war, nach dem allgemeinen Urteil seiner Mitmenschen, – sehr gut aussehend oder einfach nur schön, und dennoch, wir tun uns etwas schwer damit, die Sache auf diese banale, vereinfachende Formel zu bringen.

Woran mag das liegen? Vielleicht ist es die Tatsache, dass es sich hier um einen ›Mann‹ – letztlich die denkende, handelnde, wie lenkende Instanz menschlicher Gesellschaft schlechthin – handelt, in gewissem Sinne ausschlaggebend für dieses Unbehagen und man es daher ungern allein bei einem solchen oberflächlichen, einseitigen Attribut belassen möchte – aber, wir werden uns bemühen, den Charakter erschöpfend zu behandeln, ihn in all seinen Schattierungen zu beleuchten und man wird sehen, wie lange und wie weit und eingehend wir dazu leuchten müssen.

Nun bewegte dieser von der Natur so sehr begünstigte Mann sein Fahrzeug auf der alltäglichen Heimfahrt, umgeben von hunderten von Gesinnungsgenossen, mit ganz ähnlichen Intentionen, was allerdings in ihm keinerlei Gefühle der Verbundenheit aufkommen ließ, vielmehr seine Ungeduld nährte und er sich seine unfreiwilligen Weggefährten an einen Ort wünschte, der, für das ›Vergehen‹, das sie hier begingen – das genau genommen keines war und wenn es eines war, dann kein geringeres als das seinige – allerdings eine unverhältnismäßige Bestrafung dargestellt hätte, nur damit er endlich wieder in freien Raum vorstoßen konnte und sich der lästigen, unerwünschten Begleitung mittels eines sanften Druckes auf das Gaspedal entledigte.

Schließlich gelang es ihm, trotz dieser gegenwärtig kritischen und volle Konzentration fordernden Verkehrslage, dank seiner langjährigen Fahrroutine, entspannendere Gedanken zu entwickeln, Gedanken der Vorfreude, Vorfreude auf die häusliche Umgebung, einen Feierabend in familiärer Gemeinsamkeit in dem neuerbauten und gerade erst bezogenen Haus.

In die zu seinem Wohnsitz führende Straße einbiegend, fiel die Last des zurückliegenden Arbeitstages restlos von ihm ab, so dachte er, und er glaubte fast, sie zerschellen zu hören, als sie hinter ihm auf dem Boden aufschlug. Die ebenmäßige Fahrbahn aus dunklem, kaum abgefahrenen Asphalt stach rechtwinklig von einer viel genutzten Durchgangsstraße ab, die, von Pendlern und Auswärtigen gleichermaßen frequentiert, aus dem Zentrum der Großstadt herausführend, den ansonsten eher ruhigen Vorort, in dem Pascal Schauer mit seiner Familie sich niedergelassen hatte, etwas belebte. Leicht abschüssig und schmal war sie, von bestechend gerader Linienführung und gesäumt von alternierend angeordneten, massiven Betonkübeln, die an ihren Kanten mit einer auffälligen Warnfarbe markiert und mit immergrünem Strauchwerk bepflanzt waren und deren Sinn und Zweck es war, den diesen Weg Befahrenden eine gemächliche Art der Fortbewegung zu verordnen, die ein eiliger Fußgänger an Geschwindigkeit fast erreichen konnte, weshalb Anwohner immer wieder zu beklagen hatten, dass einzelne Besucher, sogar einige der dort Ansässigen und andere, die sich aus nicht näher erklärten Gründen über diese Straße bewegten, dem Widerspruch zwischen dem Leistungsvermögen ihres Fahrzeuges und den willentlich und künstlich auferlegten Beschränkungen der Leistungsentfaltung desselben, nicht standzuhalten vermochten und daher mit erheblich erhöhter, sozusagen zu hoher Geschwindigkeit fuhren.

Die anliegenden Häuser standen geflissentlich von Zäunen umfriedet, Zäune unterschiedlichster Gattung und Qualität, Zäune, die durch halbhohe Mauern, verklinkert oder betoniert, untersetzt, als einfache Drahtgeflechte von schmalen Eisenstangen gehalten oder aus den verschiedensten Varianten von Hölzern beschaffen waren. Die abgelegene Lage und der unmittelbar angrenzende Wald begünstigten die Entwicklung des Stadtteils zu einem fast ausschließlich als Schlaf- und Wohnstätte genutzten Areal, so dass das Format der einzelnen Gebäude dieser Gegend und speziell derer, die dieser Straße anlagen, das von Ein- oder Zweifamilienhäusern im Allgemeinen nicht überschritt.

Einfahrten, gepflasterte und geteerte, seitlich eines jeden Gebäudes gelegen, eröffneten den Blick auf Garagen, hinter deren, weitgehend, wellen- oder rillenförmig profilierten, grauen Blechtoren die Fahrzeuge der Eigner oder Mieter eine sichere, geborgene Heimstatt hatten. Der Baustil der Häuser erweckte beinahe den Eindruck, als hätten die Bauherren untereinander eine geheime Absprache getroffen, die eine allzu ausschweifende Formenvielfalt verhindern und den einheitlichen Eindruck der Wohnsiedlung bewahren sollte. Fassaden, vorwiegend aus schlichtem Rauputz, erstrahlten in reinstem Titanweiß, vereinzelt sprangen auch rot verklinkerte Flächen in das Auge, hielten sich aber deutlich in der Minderheit, während allerseits das bewährte Satteldach, mit schwarzen bis braunen Ziegeln, angenehm kontrastierend zu der hellen Fassadenfarbe, den Vorzug erhalten hatte, vor dem nur gelegentlich anzutreffenden Flachdach.

Da die gesamte Siedlung sichtlich jüngeren Datums war, standen viele der Häuser fast frei, – frei von Bepflanzung und Bewuchs, regelrecht nackte, weiße, steinerne Gebäude, die nicht selten an ihrer bodennahen Wandfläche bis hin zur Hüfthöhe, wenn nicht gar höher, vorbeugend, schonend, schmutzabweisend und bunt gefliest waren – allein der junge und schon dichte, weil schnell wachsende Rasen, der, von motorisierten Stutz- und Frisiermaschinen ebenmäßig niedrig gehalten, zu seinen Rändern hin, die rechtwinkelige Grundstücksform nachahmend, an ausgehobene Beete oder heranwachsende Hecken, vorwiegend Koniferen und andere Nadelhölzer, stieß, bildete eine akkurate Matte, die, aus erhabener Position betrachtet, an ein fein säuberlich mit Förmchen ausgestanztes Rechteck erinnerte, in das ein Haus eingelassen war. Einzig die ältesten, der dort vorzufindenden Gebäude, verbargen oftmals einen Teil ihrer Fassade, beinahe unsichtbar für den auf der Straße Wandelnden, hinter sicherlich etwas kleinwüchsigen, dafür aber sehr ertragreichen und leicht abzuerntenden Obstbäumen oder sonstigen Nutzhölzern, die in lockerer Folge und im Wechsel mit Edeltannen, Fichten oder auch exotischen Nadelbäumen auf dem Grün platziert,  korrekt beschnitten in der Form und ohne allzu freizügige Wucherung, einer sorgsam umhegten Zukunft entgegen sahen.

Den Wagen auf den letzten Metern ausrollen lassend, bog Pascal Schauer, unterdessen einzelne, verstreute Kiesel unter den Rädern knirschten und an den Unterboden des Wagen geschleudert wurden, in die Einfahrt zu seinem Grundstück ein und konnte die vehemente Verzögerung, die die der Fahrleistung des schnellen Fahrzeugs angepassten Bremsen boten, ein letztes Mal auskosten. Mit deutlicher Erleichterung drehte er den Zündschlüssel zurück, so dass die Maschine erstarb und zog ihn ab. Als er ausstieg, den von der rückwärtigen Bank ergriffenen Aktenkoffer in seinen Händen, fand das Profil der elastischen Schaumsohlen seiner neuen Wildlederschuhe, die er heute erstmalig trug, sofort sicheren Halt auf einem aus rosaroten, puzzlehaft ineinander gefügten Betonsteinen gepflasterten Zufahrtsweg.

Ein flüchtiger Blick streifte den Vorgarten, in dem, entgegen der allgemein gebräuchlichen Praxis, bislang keinerlei Rasen angelegt war, denn das Haus hatte, zugunsten eines weitläufigeren, rückwärtigen Garten, einen, soweit wie zulässig, bis an die Straße vorgezogenen Standplatz, sondern die Anfänge einer vielfältigen Pflanzenkultur der unterschiedlichsten Gewächsformen, unter dem wachsamen Auge der dort hin und wieder korrigierend eingreifenden Frau des Hauses, erstanden, innerhalb des ihnen zugewiesenen Raumes, und das, wie er sich zum wiederholten Male vergewissern konnte, augenscheinlich mit Erfolg. Nach wenigen Schritten bereits erreichte Pascal Schauer den seitlichen Hauseingang und mühte sich, aus einem stattlichen Schlüsselbund den gesondert markierten Haustürschlüssel herauszusuchen, was er jedoch nicht genötigt war, zu Ende zu führen, da die Türe, ganz ohne weiteres Zutun seinerseits, aufschwang und seine bezaubernde Frau, – lächelnd, eine Hand am Türgriff und die andere am Rahmen, in ansprechender Haltung, dahinter erschien.

»Ich habe dich schon kommen sehen. Hallo!«, rief sie, mit dem kokett selbstbewussten Lächeln, das ihr zu eigen war und beugte sich vor, die Lippen zu einem trockenen Begrüßungskuss aufgeschürzt.

Man hätte nun sicherlich viel Zeit aufwenden können, eine eingehende Schilderung der beachtlichen, äußerlichen Qualitäten dieser Frau zu erstellen, allerdings hätte man dann sicherlich den Vorwurf der Voreingenommenheit, zumindest aber den einer unverhältnismäßig ausführlichen, etwas enthusiastisch – wenn nicht gar euphorisch geratenen Beschreibung fürchten müssen – ein Vorwurf, dem man sich nicht gerne aussetzt. Daher wird es eine derartige Schilderung, in dieser Form und an dieser Stelle, natürlich nicht geben!

Stattdessen eine uneingeschränkt objektive Darstellung, ohne jede Übertreibung, weder dem Inhalt noch der Länge nach, die allerdings über die schnöde Feststellung der Tatsache, dass die rechtmäßig angetraute Frau des bisher einzig aufgetretenen Charakters dieses Schriftstücks in ihrer Erscheinung gleichsam sein weibliches Ebenbild war, bei weitem hinausgeht, wenn auch ein solcher Eindruck, unter der Einschränkung, dass dies dann als grobe Verkürzung gelten muss, gerechtfertigt schien.

Bei fairer Behandlung des Sachverhalts und unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände muss nun festgehalten werden, dass die momentane Verfassung der betörenden Persönlichkeit, die der reizvolle Gegenstand dieser Ausführungen ist, zwar wohl, – gemessen an der Norm des Alltäglichen – jederzeit mehr noch als  Entzückung bei zahlreichen männlichen Bewunderern hervorrufen würde, – jedoch, unbeeinflusst und nüchtern gesehen, derzeit ihr Maximum an Ausstrahlung und Glanz nicht erreichte, da die Strapazen, – der Ballast häuslicher Arbeit, deutliche Spuren hinterlassen hatten. (Obwohl – es soll ja sogar Leute geben, die die weibliche Natur gerade in einem solchen ›abgekämpften‹ Zustand als besonders reizvoll erachten, aber eine derartig irreführende Abweichung von der Norm wollen und können wir, da sie zudem nicht ganz frei von absonderlichen Neigungen scheint, nun beim besten Willen nicht weiterverfolgen.)

Gestand man dieser Frau jedoch ein Mindestmaß an Zeit für eine geringfügige Vorbereitung zu, so übertraf das Ergebnis alle nur denkbaren Erwartungen, verdrängte aus dem Gedächtnis des Betrachters jede, – aber auch jede Erinnerung, sei sie auch noch so frisch, an ähnliche (›Vergleichbares‹ gab es in diesem Moment nicht mehr), ganz entfernt konkurrenzfähige Bilder weiblicher Wohlgestalt, überschrieb diese, löschte sie aus und machte sich selbst auf eine parasitäre, nassauerhafte und alles vereinnahmende Weise dort breit.

Ihre Haare, sie waren lang – schwebten offen in Höhe der Taille – und von einem beinahe naturreinen, hellblond melierten Ton. Sie reflektierten gedrehte und geschraubte Wellen, formvollendet geschwungene Bögen, noch im spärlichen Licht eines beginnenden Sommerabends, warfen aber nur einen Teil des Lichtes unmittelbar zurück und fingen, durch mehrfache Brechung, den größeren Teil des Lichts, um dann einen goldähnlich gleißenden Schimmer zu entlassen. Ein Effekt, der bei verminderter Beleuchtung eine fast fluoreszierende Wirkung entfaltete, weshalb die Leuchtkraft ihrer Haare, Vanessa – so lautete der Rufname des anmutigen Geschöpfs – bislang eine kaum noch zu ermittelnde Zahl von, aufgrund des überwiegend schlichten Artikulationsvermögens ihrer Verehrer, zwar etwas stereotypen, aber dennoch immer begehrt aufgenommenen Komplimenten eingetragen hatte. Nun durften allerdings die Überbringer solcher Komplimente keinerlei einladende oder überschwängliche Reaktionen erwarten, denn, wie sich der achtsame Leser sicher inzwischen vergegenwärtigt hat, ließ sich eine Frau, die ein glanzvolles Ebenbild schon beschriebener Qualität an ihrer Seite wusste, keineswegs von leichthin gesprochenen Worten, geschweige denn sprachlichen Ausgeburten einfältigen Geistes und mehr oder weniger gekonnt in Szene gesetztem weltmännischen Charme beeindrucken, zumal sie, ganz analog zu den Erfahrungen ihres Gatten, auf eine wahre, rückblickend fast schon endlos erscheinende Chronik vorwiegend kümmerlicher Anbiederungsversuche zurückzublicken imstande war.

Es durfte also durchaus etwas mehr sein – wie viel mehr werden wir später noch erfahren.

Im Laufe der Jahre, sie zählte inzwischen dreiunddreißig Lenze, entwickelte sie Mechanismen, die es ihr ermöglichten, souverän in der Reaktion, freundlich und bestimmend zugleich, Abstand und Respekt gebietend und doch noch einladend und Hoffnung erzeugend wie aufrechterhaltend, die unverhältnismäßig häufigen männlichen Gunstzuweisungen kontrolliert zu behandeln und sie in ihrem Sinne und zu ihrem Vorteil einzusetzen, ohne dabei etwas ihrer selbst preisgeben zu müssen…

Aber wir vernachlässigen die begonnene Beschreibung!

Selbst bei anscheinend unbewegter Luft trieb eine der menschlichen Wahrnehmung unzugängliche Kraft – vielleicht schwächste thermische Strömungen? – Bewegung in die lockere Haarpracht, so dass jeder einzelne der vielen Millionen Keratinfäden, unabhängig von seinen Nachbarn, einem wiegenden Rhythmus unterlag, bestimmt durch die dem Material innewohnende Elastizität und den unersichtlichen Luftstrom, der, dank seiner wechselhaften Natur, ein geheimnisvolles Bild unruhiger und dauerhaft belebter Bewegung schuf.

Eingebettet darin lag ein Gesicht, oder vielmehr ein ›Gesichtchen‹ puppenhafter Niedlichkeit, denn die alles umwallenden Haare hüllten den zierlichen Kopf soweit ein, dass selbst aus seitlichem Blickwinkel kaum die zierlich spitze Nase zu erkennen war, – und was aus frontaler Sicht zu sehen war, wirkte gegenüber dieser ausladenden Haarpracht nahezu unterproportioniert.

Auf Dreiunddreißig wurde sie natürlich nie geschätzt, wenn auch das Gros der Schätzungen häufig in einem Bereich innerhalb der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts lag, rief die Angabe des wirklichen Alters immer wieder ungläubiges Staunen hervor, das von ausufernden, dementierenden Kommentaren und allgemeinen Verwirrungsäußerungen über die grobe Fehlschätzung begleitet wurde.

Tatsächlich hielt selbst das morgendliche und nächtlich strapazierte Antlitz, frei von allen kosmetischen Beschönigungs- und Korrekturhilfen, dank der dunklen und ebenmäßigen Tönung der Haut einer intensiven Betrachtung, auch aus nächster Nähe, stand – war sozusagen lupenrein, – obwohl sich um die Augen herum einige wenige Fältchen gebildet hatten und die weit verbreiteten Lachfalten, als hauchfeine Verbindungsfurchen, zwischen den Mundwinkeln und der Nasenwurzel, auf diskrete Weise allmählich in Erscheinung traten.

Vanessa, die sich selbst und damit ihrem Äußeren, wie man es von allen Frauen – auch und gerade von den besonders hübschen – gewöhnt ist, durchaus kritisch gegenüberstand, trug jedoch Sorge in dieser nicht ganz perfekten Verfassung niemandem unter die Augen zu treten, von den unvermeidlichen, interfamiliären Begegnungen einmal abgesehen, so dass jeder Außenstehende nur ein makelloses und perfekt hergerichtetes Gesicht – immer auf der Schwelle zu einem hinreißenden Lächeln – zu sehen bekam.

Und dieses Lächeln – Lachen überhaupt, herzliches, perlendes Lachen, entlockten ihr oft schon geringste Anlässe, die genügten, ihre unbeschwerte Heiterkeit durch die blendend weißen Zähnen zu präsentieren, denn sie liebte die Heiterkeit, an sich, liebte es auch Lebenslust und Lebensfreude zu zeigen, unbeschwerte Momente voll auszukosten, genoss sie immer vollkommen und nutzte jede Gelegenheit, dies zu zeigen, denn es war ihr wichtig, dass jeder es sehen konnte und es fügte eine weitere Attraktion ihrem ohnedies reichlich aufsehenerregenden Äußeren hinzu, wobei die angenehme Stimme – ja, auch sie hatte eine angenehme Stimme, eine sehr modulationsfähige zudem, die, ganz nach ihrem Willen, in einem glockenhellen Sopran bis hin zu überaus wohliger Heiserkeit erklang – dazu beitrug, auch diejenigen auf sie aufmerksam zu machen, die sie überhaupt noch gar nicht entdeckt hatten, noch keine Notiz von ihr genommen hatten.

Manchmal ergab es sich, im Beisein ihres Mannes, dass aus leichten und fröhlich ausgelassenen Stimmungen ein kleiner, jedoch, im Grunde seines Wesens, absolut harmloser Dissens erwuchs, da Pascal Schauer zwar sehr wohl die heitere Natur seiner Frau zu schätzen wusste und sowohl die Aufmerksamkeit, die sie erregte, als auch die wohl temperierte Stimme genoss, manchmal aber, ja, manchmal, nicht sehr oft, aber doch hin und wieder, die große Lautstärke der Fröhlichkeitsbekundungen sein empfindliches Gehör traf – denn hohe Frequenzen ertrug er nur schlecht – er die Stimme gar nicht mehr wohllautend, sondern eher schrill und überdreht fand, – ja, das gesamte Gehabe seiner zweifelsohne von ihm verehrten Gattin ihm exaltiert und nervtötend schien.

Als er zum ersten Mal Anzeichen eines leichten Widerwillens gegen ihre sprachliche und stimmliche Übermacht verspürte – lange war das schon her – da hatte er sie einst, in schalkhafter Manier den geraden Zeigefinger auf die übertrieben vorgestülpten Lippen gelegt, durch einen prustend zwischen diesen hindurchgestoßenen Zischlaut: »Pschschscht« und seine ernste Miene, erfolgreich zum Abbruch eines endlos plappernden Wortschwalles gebracht, dass sie unvermittelt inne hielt, ihn erstaunt anblickte und fragte: »Was ist denn?« – woraufhin er dann, in möglichst unschuldigem Gesichtsausdruck, verkündete:

»Nichts! Nichts besonderes, eigentlich. Es ist nur so herrlich, jetzt auf einmal diese Ruhe. Diese unvergleichliche Stille. Hör mal, – hör mal genau hin! – Nichts! Einfach nichts zu hören. Ist es nicht schön?«

Damit konnte er natürlich nicht wirklich Veränderung bewirken. Außer einem Gelächter, kein Ergebnis. – Womit auch diese Möglichkeit, den spontanen Impulsen seiner Frau zu gackerhafter Lautstärke einen schonungsvollen Dämpfer zu versetzen, endgültig ausschied.

Doch ein wirklich ernstzunehmendes Problem stellte diese Verstimmung, die überdies selten von langer Dauer war, bislang nicht dar und gerade jetzt, in dem Augenblick, in dem Pascal Schauer, nach einem strapaziösen, arbeitsreichen Tag, Angesicht zu Angesicht seiner Frau gegenüberstand, war nicht der leiseste Hauch einer Missstimmung zu verspüren, im Gegenteil sprach die feste Basis des wortlosen Einverständnisses, begründet durch eine langjährigen Partnerschaft – so musste es auf den Außenstehenden wirken – aus dem Zusammentreffen der beiden.

Vanessa wandte sich nach der kurzen Begrüßung, auf dem Absatz drehend, wieder um, kaum hatte er Gelegenheit das »Hallo!« zu erwidern und eilte einer Tätigkeit entgegen, die anscheinend um seiner Ankunft willen kurz unterbrochen wurde und die jetzt anscheinend keinen längeren Aufschub duldete.

Während Pascal eintrat, sein Jackett in der im Flur eingelassenen Garderobe auf den Bügel hängte, umschweiften seine Gedanken noch die zarte, hochbeinige Figur seiner im Hintergrund verschwindenden Frau und er musste sich selbst, zum wiederholten Male, sagen, dass auch das häusliche Ambiente der sinnlichen Ausstrahlung seiner Frau keinen Abbruch tat, ja in gewisser Weise verkörperte ihre Aufmachung in diesem Stil eine ganz ungewöhnliche Synthese eines sehr erotischen, ausgesprochen weiblichen Typs mit einem durchaus haushälterisch kompetent und verbrauchskritisch wirkenden, mütterlichen Typ, wobei er sich selbst immerzu fragte, wie es ihr gelang, diesen Eindruck zu vermitteln, all diese Dinge unglaublich in sich zu vereinen, und es erleichterte ihn immerhin, dass er wusste, mehr wusste als andere, dass es um ihre haushälterischen Qualitäten, sowie um die als Köchin, nicht eben zum Besten bestellt war.

Kaum aber hatte er den verzierten, dunkel brünierten Holzbügel in der Hand, als an seine Ohren ein Geräusch drang, das er bereits erwartet hätte, in dem Moment, in dem er durch die Haustür trat, denn es war ihm vertrauter als manches andere in diesem Haushalt und untrennbar mit seinem allabendlichen Eintreffen verbunden.

Es kündigte sich zunächst nur durch ein entferntes, rhythmisch wechselndes Kratz- und Schabgeräusch an, gewann dann aber rasch an Lautstärke und steigerte sich zu einem prasselnden Getrappel, das, von der kahlen Akustik des gefliesten Vorraumes verstärkt und von atemlosen Hecheln begleitet, schließlich in den ansatzlosen Sprung eines schwergewichtigen, zottelhaarigen Retrieverrüden an die Brust seines heimgekehrten Herrchens mündete. Es war ein Golden Retriever, ein ausgewachsenes und kräftiges Tier.

Abwehrende Haltung, schützend vorgestreckte Arme und beschwichtigendes Zureden haben auf dieser Welt sicher noch keinen Hund davon abgehalten, einen von ihm eindeutig anerkannten Rottenführer auf die diesem, nach hündischen Verhaltensregeln, gebührende Art und Weise zu begrüßen, weshalb die abwehrenden Gebärden und die monoton beschwichtigenden Reden Pascal Schauers, wie: »Ja, ist ja gut! Ist ja gut!«, auch weniger als ernsthafte Versuche, nahende Verschmutzung und Beseiberung zu verhindern, gesehen werden durften, denn als rein resignativ mechanische Gesten, die Unvermeidliches kaum zu verhindern vermochten.

Jedenfalls war er den ungestümen Zuneigungsbeweisen des Hundes hilflos ausgeliefert, oder ließ es so erscheinen, – zweifellos fehlte ein energischer, schrankenweisender Einsatz – eher herrschte wohlwollende Nachgiebigkeit gegenüber soviel unermüdlicher und nicht nachlassender Gunstbezeugung und wirklich kann man sagen, dass Pascal Schauer, der erst mit dem Abschluss dieses Rituals seine Ankunft als vollzogen betrachtete, schon so sehr daran gewöhnt war, dass er es sogleich vermisste und ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg, wenn dieser kleine Schauakt der Begrüßung, aus welchen Gründen auch immer, ausfiel.

Der Hund, nachdem er seine formalen Pflichten erfüllt glaubte, drehte, immer noch mechanisch den buschigen Schweif schwingend, ab und steuerte unsicheren Schrittes, als liefe er auf dem Eis eines zugefrorenen Sees, über den blanken und blitzenden, gefliesten Boden der Küche entgegen, aus der er den hellen Lockruf seiner Herrin vernommen und sofort, einer entsprechenden Tonfallzuordnung zufolge, den darin verborgen liegenden Aufruf, eine für ihn vorbereitete Mahlzeit einzunehmen, erkannt hatte.

Die Verkürzung des Begrüßungsrituals entsprach insofern durchaus dem Ansinnen des verschmäht stehengelassen Herrchens, weshalb dieser, noch über den abrupten Nachlass an tierischer Zuwendung, zu dem dieser Ruf ihm verholfen hatte, schmunzelnd, in den größten Wohnraum des Untergeschosses eintrat.

Der Aktenkoffer plumpste in eine Ecke und schlug dumpf auf dem wollenen Untergrund auf, einem hellbeigen, aus langen, zotteligen Schlaufen geknüpften Teppich (gegen den der Pelz des Retrievers geradezu edel und fein war), und er ließ sich, mit einem Stoßseufzer, in die halboffene Polstergarnitur aus grünem Alcantara fallen. Tief sog er den frischen, limonenartigen Duft, der auch im Hausflur, dort nur in geringerer Intensität, sein Odeur verbreitete, in seine von Abgasen strapazierten Lungen, schlug die Beine übereinander und griff gewohnheitsmäßig nach der Tageszeitung, die, in unmittelbarer Reichweite und halb aufgeschlagen, auf der Tischkante des kniehohen Glastischchen abgelegt war. In der entlegensten Ecke, halb im Dunkel, flimmerten bewegte Bilder über die bemerkenswert große, matte Scheibe eines Fernsehgerätes. Er schaute kurz hinüber, schenkte ihnen aber weiter keine Beachtung.

Die Zeitung routinemäßig bis zum Sportteil durchblätternd, warf er einen Blick durch das große, mehrteilige Glasfenster, das die äußere Trennwand des Raumes fast völlig ersetzte, hinaus in den angegliederten Garten.

Leicht geöffnet stand die Schiebetür, als ein getrenntes, großes Abteil ausgebildet, so dass ein permanenter, schwacher Lufthauch durch den Raum zog.

Nachdem er den störenden Luftzug ausgemacht hatte, sah er sich, zu seinem Leidwesen, gezwungen die Ursache dieses lästigen Übels zu beseitigen, stand also auf und schlurfte, mit von Unmut umwölkter Stirn, auf seinen Socken – die Schuhe waren dem Wunsch nach mehr Bequemlichkeit zum Opfer gefallen – zu dem Schiebefenster.

Die immens hohe Gleitfähigkeit des auf Hochglanz gewienerten Parkettbodens konnte ihn momentan, in seiner etwas ermatteten Gemütslage, nicht dazu animieren, wie er es sonst womöglich mit seinem Sohn zusammen, – im Spiel und spaßeshalber in einer Art Hetzjagd tat – über das schlüpfrigen Parkett zu schlittern. Manchmal taten sie das, rutschten dabei, auf von Teppich nicht beschirmten Flächen, kurze Distanzen, mit um Gleichgewicht ringenden und rudernden Armen, bei lautem Geschrei und Gelächter und er schrie vielleicht: »Jetzt krieg ich dich!« – während er seinem Sohn auf den Fersen war und der erregt angstvoll dazu quietschte. Nein, – in solch einer Verfassung war er jetzt wahrhaftig nicht, eher in einer etwas reizbaren, nörglerischen Grundstimmung, der auch geringe Anlässe genügten, ausfallende Äußerungen zu entwickeln. Und, siehe da, schon erwies es sich, dass ein hinreichender Anlass gefunden war, ohne dass man ihn eigentlich herbeisehnen musste.

Er schaute aufs Parkett und stutzte.

Der Hund…? – Er sinnierte, schaute dabei hinauf in die Luft an die kalkweiße, glatte Betondecke und begann sich zu erinnern, dass das Fell um den Brustkorb herum spürbar feucht, oder wohl doch regelrecht nass gewesen war, ein Blick in die Innenflächen seiner Hände bestätigte üble Befürchtungen, Schmutz! – Dieses halsstarrige Tier, immer wieder ließ es zügellos seinen Instinkten freien Lauf und ignorierte alle Bemühungen um häusliche Reinlichkeit, machte mühevolle Stunden verzehrender Putz- und Säuberungsarbeiten zunichte, die seine Frau, und vor allem die ihr regelmäßig assistierende Haushaltshilfe, viel Schweiß und Arbeit und ihn nicht zuletzt einiges Geld gekostet hatten.

Ganz gewissenhaft und akribisch wurde das Parkett dabei jedes Mal mit Hilfe eines extra und ausschließlich zu diesem Zweck angeschafften, elektrischen Gerätes behandelt, das, von emsig rotierenden Bürsten vorwärtsgezogen, den Boden in vergleichsweise kurzer Zeit, kraft eines additiv eingesetzten Bohnerwachses, in eine seidig glänzende und spiegelnde Fläche verwandelte und dabei einen vielleicht etwas sterilen, aber zweifellos sehr duftigen, aromatischen Geruch verbreitete.

Offensichtlich hatte sich die erst kürzlich investierte Mühe in die aufwendige Reinigung des Bodens wiederum nicht bezahlt gemacht, denn im Eingangsbereich, rund um die halb geöffnete Glasschiebetür, strahlten ihm schmutzige, bräunlich gesprenkelte Flecken entgegen, die, allmählich an Intensität verlierend, dem Zimmerausgang zustrebten.

Vanessa pflegte, so konnte er angesichts derartiger Affären beobachten, einen kurzen, spitz heiseren Schrei des Entsetzen auszustoßen und mitunter – je nach Ausmaß der Verschmutzung – bei weit geöffnetem Mund, die Hände förmlich auf dem Kopf, den Wangen präzise gesagt, zusammenzuschlagen oder auch eine Hand flach auf die Brust zu legen, mit der anderen in den Haaren zu raufen und man hörte zugleich einen decrescendierenden Seufzer.

Da ihm solche Gebärden fremd waren und er auch in diesem Moment keine Veranlassung sah, sie im Entferntesten nur nachzuahmen, sondern vielmehr auf gefasste, mannhafte Art mit diesem Problem umzugehen wusste, drehte er auf der Stelle um und steuerte die Küche an, den Ort, an dem er die beiden an diesem penetranten Missstand Hauptbeteiligten vermuten durfte.